Ulrich W. Slawinski


Weit war der Weg zurück ins Heimatland


 Ulrich W. Slawinski

Weit war der Weg zurück ins Heimatland

Meine Erlebnisse als Soldat

und Kriegsgefangener in Russland/Sibirien

 Alle Rechte vorbehalten

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Copyright © by Ulrich W. Slawinski


Deutsche Erstveröffentlichung

Dezember 2015

printed in Germany

Cover von Andrea Langer (M.A. Literatur u. Medien)

FSC-zertifiziertes Papier

ISBN 978-3-7375-7971-1

 Vorwort

Das Buch verdankt seine Entstehung zunächst der wiederholten Aufforderung von Verwandten, Freunden und Bekannten, meine Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg und in den langen Jahren in russischer Gefangenschaft zu schildern. Als ich an meinem 90. Geburtstag erneut darum gebeten wurde, begann ich mit der Niederschrift. Nun ist es endlich soweit! Ein Jahr brauchte ich, um meine Erlebnisse unter „brauner“ und „roter“ Diktatur zu Papier zu bringen. Ich möchte damit auch dem Wunsch derer nachkommen, die ihre Väter kaum oder gar nicht kennen lernen durften, weil diese ihr Leben im oder nach dem Zweiten Weltkrieg in Russland verloren haben.

Alle Begebenheiten sind in meiner Erinnerung noch so lebendig, als sei es gestern gewesen. Solche Erlebnisse sind eben nicht auszulöschen!

Am Ende meines langen Lebens, das mir geschenkt wurde, beschäftigt mich immer noch die Frage, warum ich als junger Mensch diesen schweren Weg gehen musste, vielleicht, um die Erkenntnis zu vermitteln, Hoffnung und Glauben niemals aufzugeben.

Mein besonderer Dank gilt meiner Frau Elisabeth für ihre hilfreiche Unterstützung. Ein ganz großes Dankeschön geht an unsere Tochter Dorothee und unseren Enkel Andreas mit seiner Verlobten Andrea, die in vorbildlicher Weise ihre Freizeit geopfert haben, um meine Erinnerungen in diesem Buch erscheinen zu lassen!

LandkartelinksLandkarterechts

I. Einberufung zum Wehrdienst

Geboren bin ich, Ulrich Wilhelm Slawinski, im Inflationsjahr 1923 in Siegen als jüngstes Kind der Familie Friedrich Slawinski. Nach dem Mittelschulabschluss 1940 folgte ein zweijähriges Praktikum vom 1. April 1940 bis 31. März 1942. Während dieser Zeit wurden alle, die nicht Hitler-begeistert waren, der HJ1-Feuerwehr zugeteilt. Wir mussten abwechselnd nachts Wache schieben, falls es zu Luftangriffen kommen sollte. Im Januar 1942 erkrankte ich an einer schweren Rippenfellentzündung. Es wurde schon längere Zeit gemunkelt, unser Jahrgang würde im April eingezogen. Mein Vater schrieb auf Grund meiner Erkrankung an das Wehrbezirkskommando, mich wegen des schlechten Gesundheitszustandes zurück zu stellen. Die Antwort vom 19. März 1942 lautete: „Ihr Sohn wird mit seinem Jahrgang zum aktiven Wehrdienst einberufen!“ Ich war nach meinen beiden Brüdern Friedrich und Lothar sowie meinem Schwager Herbert der vierte aus unserer Familie, der zum Wehrdienst eingezogen wurde. Mein Vater gehörte keiner Partei an. Alle meines Jahrgangs bekamen im März bereits ihren Einberufungsbescheid, ich erst am Samstag, dem 10. April 1942. Darin stand: „Sie werden zu einer kurzfristigen militärischen Übung am 18. April 1942 eingezogen!“ Nur noch eine Woche!

Es waren 750 junge Leute aus dem Kreis Siegen, die sich morgens um sieben Uhr beim Wehrbezirkskommando in Siegen, Friedrichstraße, zu melden hatten. Mit einem Sonderzug fuhren wir über Wetzlar und Gießen nach Marburg an der Lahn. Dort ging es in die alte Jägerkaserne.

Wir waren mit 26 Mann auf einer Stube! Beim Einkleiden hatte man mir ein Paar ausgetretene Schuhe verpasst. Mit diesen musste ich nachmittags beim Sport einen 10-Kilometer-Lauf machen. Dazu herrschte hochsommerliche Hitze. Meine Füße waren geschwollen und die Fußsohlen voller Blasen. Aber als Soldat muss man ja durchhalten, wie später an der Front! In den folgenden acht Tagen gab es einen Wetterumsturz. Wir bekamen kühles Maiwetter. Da ich durch die Rippenfellentzündung im Januar noch sehr empfindlich war, musste ich immer mit einem Rückfall rechnen. Der kam auch in Form von Kehlkopfkatarrh. Wir hatten morgens eine Stunde Schulung. Hauptmann Hilpisch fragte etwas und zeigte auf mich. Ich stand auf, um seine Frage zu beantworten, konnte aber nicht eine Silbe herausbringen. Hauptmann Hilpisch sagte: „Der Kerl kann ja gar nicht sprechen. Setzen!“

10. Mai 1942 – Es gab Schießübungen. Ich hatte Glück und schoss 34 Ringe, zweimal 12 und einmal 10. Als erster Siegerländer bekam ich auf diese Weise Sonntagsurlaub. Um 15 Uhr ging mein Zug ab Marburg Hauptbahnhof, den ich humpelnd erreichte. Etwa um 18 Uhr kam ich im Heimatbahnhof Geisweid an, brauchte aber eine Stunde vom Bahnhof bis nach Hause, ein Weg, den man normalerweise in 10 Minuten zurücklegt. Ich ging nur auf den Fersen. Alle waren entsetzt, als sie meine Füße sahen. Am Sonntag musste ich schon den Zug um 16 Uhr zurück nach Marburg nehmen, da ich um 22 Uhr in der Kaserne zu sein hatte und der nächste Zug erst um 22.30 Uhr in Marburg angekommen wäre.

In der nächsten Woche machten wir Geländeübungen in Cyriaxweimar, südwestlich von Marburg. Da ich wegen meiner kaputten Füße behindert war, scheuchte man mich extra. Keiner der Kameraden machte den Mund auf, um mich zu rechtfertigen. Nach einem weiteren 30-Kilometer-Marsch mittags in einer Gluthitze rund um Marburgs Osten hinkte ich in der letzten Reihe derart nach, dass Unteroffizier Brust mir das Gewehr abnahm und es für mich trug! Anschließend wurde gefragt, wer fußkrank sei. Ich war nicht der einzige. „Ab ins Krankenrevier!“ Eine Woche vor Pfingsten. Der Sanitäter konnte mir die Haut unter den Füßen abziehen. Meine Mutter hatte sich zu Besuch über Pfingsten angemeldet. Da ich ja eine Woche im Revier gelegen hatte, konnte ich nicht mit ihr in die Stadt gehen. Mein Bruder Friedrich kam auch überraschenderweise nach Marburg, um mich zu besuchen! Da wir Slawinskis dieselbe Fußform hatten, gab er mir seine Stiefel – sie passten – nur hätten sie eine halbe Nummer größer sein können. Aber ich habe den nächsten 40-Kilometer-Fußmarsch in der Woche nach Pfingsten mitgemacht ohne Beschwerden. Alle Vorgesetzten waren fassungslos und konnten nicht begreifen, dass ich keinerlei Fußbeschwerden hatte! Tags darauf Stiefelappell. Oh weh, die Stiefel meines Bruders sahen noch so neu aus und hatten keine Nägel unter den Sohlen. Jeder Stiefel sollte laut Vorschrift mit 32 Nägeln versehen sein. Wehe, es fehlte einer! Was nun? Guter Rat war teuer! Die Stiefel zum Benageln abgeben war nur in der Mittagspause möglich! Da in unserem Kasernengebäude auch noch eine „Genesungskompanie“ untergebracht war, lieh ich mir dort von einem älteren Kameraden gegen eine Schachtel Zigaretten dessen Stiefel aus. Ich dachte, hoffentlich merkt keiner beim Appell etwas, wenn er diese alten ausgetretenen Stiefel sieht. Aber alles ging glatt.

Der Zufall wollte es, dass ich Dienst in der Gerätekammer hatte. Unteroffizier Lissi, dem die Gerätekammer unterstand, sah wohl in mir den geeigneten Soldaten. Er erkundigte sich bei mir nach irgendwelchen körperlichen Einschränkungen wie Herzfehler, Asthma… Ich berichtete, dass ich Herz- und auch Atembeschwerden hätte! Er daraufhin: „Gehen Sie morgen früh sofort zum Arzt ins Krankenrevier und lassen sich untersuchen, alles weitere veranlasse ich.“ Am nächsten Morgen, Samstag, dem 20. Juni, meldete ich mich beim Revierarzt. Der horchte mich ab: „Luft holen, nicht atmen!“ Ich hielt die Luft an; dann hieß es: „Donnerwetter, der Kerl holt ja gar keine Luft, ab in die Poliklinik!“ Diese befand sich damals schon in der Deutschhausstraße. Dort wurde ich gründlich untersucht. Es wurde auch ein EKG gemacht. Dann ging Oberarzt Dr. Irle hinaus und kam und kam nicht wieder. Neugierig, wie ich schon immer war, sah ich mir das EKG an und dachte: „Oh weh, alles gleichmäßig, keine Unregelmäßigkeiten, jetzt ruft der Arzt gewiss ein Kommando, das mich als Simulant abholen soll.“ Mit klopfendem Herzen wartete ich den ganzen Vormittag bis kurz vor zwölf Uhr. Dann kam die Stunde der Wahrheit. Sofort ins Lazarett! Mir fiel ein Stein vom Herzen. Da mein Vater mich an diesem Wochenende besuchen wollte, fragte ich: „Hat es nicht bis Montag Zeit?“ „Nein, das Bett ist schon freigemacht!“ Dieser Arzt hatte ein furchterregendes Gesicht, ähnlich dem einer Bulldogge, aber dahinter verbarg sich ein guter Kern. Nun eilte ich zurück in die alte Jägerkaserne; dort brüllte man schon: „Wo bleibst du denn? Du sollst die Latrine schrubben. Heute am Samstag ist unsere Stube mit Revier reinigen dran!“ Ich sagte: „Ihr müsst das ohne mich machen! Ich muss ins Lazarett!“ Ich ging erst noch in den Speiseraum, um mein Mittagessen einzunehmen; es war mittlerweile 13 Uhr. Es gab Nudelsuppe mit Kartoffeln. Ich habe mich das erste Mal in den neun Wochen Kaserne satt gegessen. Als Innendienstleistender hatte ich beim Umräumen im Vorratskeller Fässer mit Gurken entdeckt, in denen es nur so von Maden wimmelte! Da war mir der Appetit vergangen. Es stellte sich heraus, dass ich 7,5 kg abgenommen hatte. Wie ich später erfuhr, hatte man den „Spieß“, die Mutter der Kompanie, wegen Veruntreuung von Lebensmitteln degradiert und wohl inhaftiert.

Nach einem kurzen Gang durch die Stadt meldete ich mich im Reservelazarett 1, der medizinischen Klinik, an. Wir lagen dort mit 22 Soldaten in einem Saal; für heutige Begriffe unvorstellbar, aber ich denke immer gern an diese Zeit zurück. Abends stand ein Mann im dunkelblauen Anzug am Fußende meines Bettes, sah mich kurz an und ging wieder weg. Ich nahm an, dass es ein Besucher gewesen war. Da wurde ich von meinem Bettnachbarn informiert, dass es sich hier um den Chefarzt handelte! Er trug, da er wohl kein Anhänger des Dritten Reiches war, keine Uniform, sondern immer den Dunkelblauen! Er kam kurz darauf wieder, erkundigte sich nach meinen Beschwerden und untersuchte mich. Ich fragte: „Bekomme ich keine Arznei?“ „Nein, Sie bekommen hier nach alter Marburger Art dreimal täglich für zwei Stunden einen Brustwickel und essen Sie so viel Sie können! Sie haben nasse Rippenfellentzündung!“ Das Wasser wurde verschiedene Male punktiert! Jeden Abend wurden alle bettlägerigen Soldaten zur Sicherheit wegen Fliegeralarm ins Hauptgebäude gefahren.

Nach etwa drei Wochen schrieb mein Vater, mein Bruder Lothar sei durch einen Bauchschuss schwer verwundet worden, sodass man mit allem rechnen müsse! Dann hatten

meine Eltern ihren Besuch angemeldet! Just an dem Tage, es war vielleicht der 20. Juli, kam morgens ein Brief von meiner Schwägerin aus Wien: „Nun hat unser lieber Lothar alles überstanden!“ Für mich brach eine Welt zusammen; ich konnte es nicht fassen! Und schon ging die Tür zum Saal auf und meine Eltern traten ein, ganz in schwarz gekleidet. Mein Puls war so hoch, dass ich am Abend nach 18 Uhr immer noch 146 Pulsschläge zählen konnte! Mein treusorgender Vater hatte auch eine Unterredung mit Oberstabsarzt Dr. Habs wegen meines Gesundheitsbefunds. Seine Meinung: „Ihr Sohn wird nur noch arbeitsverwendungsfähig werden und nicht mehr zum Kriegsdienst tauglich sein, weil Lunge und Rippenfell miteinander verwachsen sind. Damit er keine Tbc bekommt, schicken wir ihn noch in ein Kurlazarett für Lungenkranke. Der Antrag liegt schon dem Generalarzt in Kassel zur Genehmigung vor.“

Dr. Habs machte Urlaub, oh weh! Wer würde ihn vertreten? Es war Oberarzt Dr. Irle! Ich dachte, wenn das gut geht! Vielleicht ist er so eingestellt, schnell alle gesund zu schreiben, um zu glänzen? Nun kam Dr. Irle! Ich war der Elfte in der Bettreihe, jeder hatte ein Schild am Kopfende des Bettes mit Namen, Geburtsdatum, Dienstgrad und darunter die Fiebertafel und so weiter. Er blieb vor meinem Bett stehen und fragte: „Slawinski, sind Sie der verhungerte Ziegenbock, den ich hierher eingeliefert habe?“ „Jawohl, das bin ich.“ Irgendwie stellte sich dann in der nächsten Zeit heraus, dass Dr. Irle einer der bekanntesten Siegerländer Familien entstammte. Da ich über den Familienstamm Irle im Bilde war, kam dann durch die Blume heraus, dass er auch mit der Irle Brauerei verwandt war. So hatten wir von nun an ein gutes Verhältnis!

Jeden Morgen kamen etwa ein Dutzend Medizinstudenten, um an uns Untersuchungen durchzuführen. Erst kamen sie noch in Zivil, nach drei Wochen dann in Uniform als Sanitätsunteroffiziere. Einmal wurde festgestellt, mein Herz wäre zwei Zentimeter nach links verschoben. Schließlich war ich die Bemalung auf meinem Körper mit blauen und roten Farbstiften leid und erklärte den Studenten, sie dürften an mir keine Untersuchungen mehr vornehmen, ich sei so schwer krank, dass ich sonst einen Rückschlag bekommen und es mit mir noch schlimmer werden würde. Von da an hatte ich Ruhe.

Die tragischste Erinnerung an meine Zeit im Lazarett war die Einlieferung eines 35 Jahre alten Familienvaters von zweijährigen Zwillingen. Er litt an Darmverschluss und ist bei vollem Bewusstsein innerlich verbrannt. Die Ehefrau saß hilflos da, und die Kinder wollten mit dem Papa spielen. Ich kann das Bild des Grauens nicht auslöschen!

Nachdem ich länger als sechs Wochen das Bett gehütet und auch mein Normalgewicht von 70 kg erreicht hatte, bat ich immer wieder darum, bei sonnigem Wetter an die frische Luft gehen zu dürfen. Endlich hieß es: „Heute dürfen Sie eine Stunde an den Lahnwiesen spazieren gehen.“ Ich war glücklich. Aber ich schaffte es nicht mehr ganz zurück, wohl auf ebener Erde, aber nicht die Treppen hinauf! Die Krankenschwestern erklärten mir: „Das Bett zehrt!“

Meine Eltern hatten einmal bei einem Besuch versehentlich einen kürzeren Weg in die medizinische Abteilung durch die Chirurgie genommen. Als mein Vater dort das Elend mit den Verstümmelungen gesehen hatte, äußerte er sich, es wäre besser tot zu sein, als ohne Arme oder Beine leben zu müssen.

1Hitler-Jugend

In Königstein im Taunus

 Am 2. September morgens hieß es auf einmal: „Sie fahren heute ins Kurlazarett nach Königstein im Taunus. Der Dienstälteste hat die Marschpapiere. Ihr Zug geht um so und soviel Uhr ab Marburg Hauptbahnhof, über Gießen nach Frankfurt, umsteigen in die Kleinbahn, die dann über Höchst nach Königstein führt.“ Wir fuhren durch den schönen Taunus. Man hätte aussteigen und nebenher laufen können, so langsam war das Züglein. Das Reservelazarett 1 befand sich in einem ehemaligen Grandhotel. Als sich in den 20er Jahren die englischen Besatzungstruppen dort einquartieren wollten, ließ der Eigentümer Kasernen in der Nähe errichten. Diese dienten während des zweiten Weltkrieges dem Reichsarbeitsdienst als Unterkunft.

Da wir als Soldaten im Gang des Zuges zu stehen hatten, wo es natürlich trotz großer Hitze von den Türen her ständig zog, bekam ich einen Rückfall. Zunächst kamen wir Neuen alle auf einer Isolierstation für Tbc-Kranke in Quarantäne. Ausgerechnet, als sich meine Eltern zum Erholen in Königstein für zwei Wochen angemeldet hatten, lag ich da oben im Dachgeschoss und hätte brüllen können vor Schmerzen. Nun hatte ich linksseitig trockene Rippenfellentzündung. Die Krankenschwester pinselte mich mit Jod ein. Und weil ich nun halb farbig aussah, pinselte man mir aus Sympathie auch noch die rechte Seite ein. Die Hölle kann nicht schlimmer sein. Nach ein paar Tagen kamen meine Eltern und mein Bruder Friedrich, um mich zu besuchen. Sie durften nicht zu mir, da ich ja auf der „Mottenstation“ isoliert war und ich selbst durfte auch nicht zu ihnen. Das ehemalige Hotel hatte aber zwei Treppenaufgänge für den Notfall. Ich schlich mich, in der Hoffnung ungesehen zu sein, den Notausgang hinunter in den Park zu meinem Besuch. Kaum unten angekommen, erschien eine Schwester: „Sofort rauf, Sie haben hier nichts zu suchen. Sofort ins Bett!“ Ich war schockiert, meine Eltern und mein Bruder saßen dort im Park an einem wunderschönen kleinen Teich, in dem sich das Grandhotel spiegelte. Bei einer Unterredung mit dem Chefarzt stieß mein Vater auf taube Ohren, bis sich mein Bruder Friedrich als Dr. Ing. der Architektur vorstellte. Da wurde der Herrgott in weiß gesprächig, er wandelte sich um 180 Grad. Man fand auch eine Lösung. Ich wurde auf Station 2 für leichtere Fälle verlegt und musste morgens und nachmittags zwei Stunden Liegekur machen bei einer Temperatur bis zu sechs Grad Außentemperatur. Ich durfte nun auch nach draußen gehen. Die Zeit meines Ausgangs war kurz bemessen: 15 bis 18 Uhr Ich bekam ein Bett in einer Suite des früheren Grandhotels, belegt mit drei Soldaten, mit Blick zum Feldberg und bis Frankfurt. Es war eine schöne Zeit. Uns wurde viel geboten. Die Opel-Werke sowie die Farbwerke Hoechst hatten eigene Aufführungsgruppen. Zu diesen Veranstaltungen musste der Speisesaal geräumt werden.

Wir Lungenkranke bekamen zusätzlich jeden Morgen ein zweites Frühstück in Form von einem halben Liter Milch, zwei Scheiben Brot, 20 Gramm Butter sowie einem Ei! Milch und Eier wurden jeden Morgen vom Rettershof mit einem sogenannten Milchwagen angeliefert. Ich habe nie wieder Milch und Eier von so guter Qualität genossen wie vom Rettershof, der damals einer Nichte des Außenministers von Ribbentrop gehörte, ebenso das Café Rettershof. Dort verkaufte man uns Soldaten immer noch Kuchen, ohne Brotmarken dafür zu verlangen. Die sieben Kilometer dorthin zu laufen, fiel mir jedoch ziemlich schwer.

Einen Ausflug zum Feldberg zu machen, war immer mein Traum gewesen. Es hatte lange gedauert, bis ich ein Clübchen beisammen hatte, das mir zuliebe dann eines Sonntagnachmittags den Aufstieg über das Reichenbachtal, das Wildgehege von Falkenstein rechts liegen lassend, über den „Fuchstanz“ zum Feldberg wagte. Endlich oben. Wir waren enttäuscht, denn der Fernsehturm, damals neu erbaut, war von der Luftfahrt besetzt. Der eigentliche Feldberg-Turm befand sich etwas weiter weg, auch den haben wir noch geschafft. Dann ging es über die normale Straße nach Königstein zurück, wir mussten ja um 18 Uhr im Hause sein. Auf dem Heimweg begegnete uns eine Gruppe von etwa 30 jungen Leuten mit Mandolinen und Gitarren. Sie waren nicht in Uniform. Ich war überrascht, hieß es doch immer, alle deutschen Jungen gehörten der Hitlerjugend an. Ich wusste damals noch nicht, dass Frankfurt trotz Drittem Reich links eingestellt war.

Am Samstag, dem 5. Dezember, überwies man mich in ein HNO-Lazarett in Frankfurt. Dort sollte eine Nasenscheidewandverkrümmung operiert werden, die man in der Klinik in Marburg festgestellt hatte. Kaum angekommen, wies man mich ab mit der Bemerkung: „Es gibt keinen freien Platz.“ Daraufhin fuhr ich zurück nach Königstein und aß dort zu Mittag. Als ich mich beim Zahlmeister zurückmeldete, meinte dieser besorgt und verzweifelt, er hätte keine Verpflegung für mich, da ich nicht gemeldet wäre. Er gab mir Essensmarken und Geld für zwei Tage. Die Marken schickte ich nach Hause, ebenso Brotreste, die übrig geblieben waren. Ich schrieb dazu: Brot für die Hühner. Aber meine Eltern kochten daraus eine Brotsuppe für sich, es wäre für die Hühner zu schade. So durfte ich noch den Dezember in Königstein verbringen. Heiligabend gab es für alle Speiseeis. Ich bekam ein Schachspiel, das ich immer noch habe. Ebenso bekam ich ein Buch von Goebbels, darin stand unter einer der Geschichten: „Alle Menschen sind Komödianten.“

Am 5. Januar 1943 kam ich nach Frankfurt zur Operation der Nasenscheidewand. Von dort kehrte ich in meine Garnison in Marburg zurück, die sich nun in der neuen Jägerkaserne befand. Ich bekam dann noch zwei Wochen Genesungsurlaub. In dieser Zeit – ich war kaum zu Hause – fiel Stalingrad, und der Chefarzt und seine Oberschwester in Königstein wurden wegen Lebensmittelverschiebung verhaftet. Nach Beendigung des Urlaubs und Vorstellung beim Truppenarzt fragte dieser nach meinen Beschwerden. Ich nannte: „Atemnot beim Laufen auf Grund der dreimaligen Rippenfellentzündung.“ Die Antwort: „Wenn der Russe hinter Ihnen ist, können Sie laufen!“

Nun hieß es: Neu einkleiden sowie Waffenempfang. Ich erhielt ein Gewehr 98 k1. Unser Marschbefehl lautete: Fulda, Konstantin-Kaserne. Abends um 21 Uhr kamen wir dort an. Am nächsten Tag wurde ein Marsch-Bataillon ZbV2 B9 zusammengestellt. Danach drillte man uns zwei Wochen lang mit Exerzieren, Scharfschießen und so weiter, um ein Manövrieren im Team zu üben.

1deutsches Gewehr mit verkürztem Lauf

2zur besonderen Verwendung


IV. Gefangenenlagerliste

Lager

Ort

Zeitraum

Auffanglager

PL/Nähe Grodno

01.08.1944-12.08.1944

Sammellager

PL/Rudnik

12.08.1944-06.09.1944

Dulag

PL/Przemyśl

09.10.1944-09.10.1944

Erholungslager 172

U./Koltubanka

27.10.1944-27.05.1945

Kolchosenlager 172

U./Worosowka

27.05.1945-10.07.1945

Lagerlazarett 172

U./Koltubanka

10.07.1945-10.08.1945

Kgf.-Lazarett

U./Busuluk

10.08.1945-26.11.1945

AL 7369-7

U./Tschkalow

27.11.1945-März 1946

AL 7369-1

U./Tschkalow

März 1946-Juni 1947

Kolchosenlager

U./Tschkalow

Sept. 1946-Okt. 1946

AL 7369-7

U./Tschkalow

Juni 1947-Juli 1947

NWD-Sowchose

U./Tschkalow

01.06.1947

AL 7369-1

U./Tschkalow

07.1947-21.08.1947

Stadtgefängnis

U./Tschkalow

21.08.1947-27.10.1947

AEL 1

U./Tschkalow

27.10.1947-04.11.1947

AEL 3

U./Tschkalow

04.11.1947-04.10.1948

AEL 3-303

OS./Bratsk

27.10.1948-Jan. 1949

Zentralkrankenhaus

OS./Bratsk

01.02.1949

AEL 2-216

OS./Bratsk

02.03.1949

AEL 2-213

OS./Bratsk

03.-22.05.1949

Zentrallazarett

Taischett

22.05.-Aug. 1949

Kurlazarett Anzebi

OS./Bratsk

Aug.-Okt. 1949

AEL 1-113

OS./Bratsk

Okt. 1949-Feb. 1950

Dulag 2-212

OS./Bratsk

01.03.1950

AEL 2-214

OS./Bratsk

01.03.1950

AEL 2-208

OS./Bratsk

April 1950-Juni 1950

AEL 4-404

OS./Bratsk

Juni 1950-Juli 1950

AEL 2-208

OS./Bratsk

Juli 1950-Feb. 1951

AEL 4-407

OS./Bratsk

01.03.1951-26.04.1951

Stabslager 4-417

OS./ Ust'-Kut

26.04.1951-27.04.1951

Dulag

Zajarsk

28.04.1951-18.05.1951

Dulag

Krasnojarsk

18.05.1951-19.05.1951

Durchgangs-Gefängnis

Nowosibirsk

25.05.1951-26.05.1951

Durchgangs-Gefängnis

WS./Swerdlowsk

28.05.1951-29.05.1951

AL 476-1

WS./Swerdlowsk

29.05.1951-12.06.1953

AL 476-2

WS./Swerdlowsk

13.06.1953-22.09.1953

Arbeitserziehungslager=AEL

Durchgangslager=Dulag

Arbeitslager=AL

Ural=U.

Westsibirien=WS

Ostsibirien=OS

An der Ostfront