Splimo_Pirimoy_eCov.jpg

fs_Ebook_logo.psd

Autoren: Christian Lange

Lektorat: Thomas Römer

Korrektorat: Jan Gravert

Umschlaggestaltung und Satz: Oliver Graute

Umschlagillustration: Florian Stitz

fslogo2005_SW.tif

© Feder&Schwert 2017

E-Book-Ausgabe 2017

ISBN 978-386762-292-9

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-86762-291-2

Die Pyramiden von Pirimoy ist ein Produkt der Feder & Schwert GmbH unter Lizenz des Uhrwerk Verlages. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck außer zu Rezensionszwecken nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

Die in diesem Buch beschriebenen Charaktere und Ereignisse sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit zwischen den Charakteren und lebenden oder toten Personen ist rein zufällig. Die Erwähnung von oder Bezugnahme auf Firmen oder Produkte auf den folgenden Seiten stellt keine Verletzung des Copyrights dar.

www.feder-und-schwert.com

www.splittermond.de

Widmung

Für Andrea & Leon.

Kapitel I

Am Hofe des Halbriesen

Sie wusste, dass er log.

So wie er in der Reihe vor dem Audienzsaal des Halbriesen stand, die Fragen des Audienzmeisters beantwortete und seine blaugrünen Augen dem prüfenden Blick des Mannes standhielten, konnte er nur ein Lügner sein.

Ein guter, zweifellos, aber trotzdem ein Lügner.

Der Zauber den sie nutzte, um die Gefühle eines Besuchers oder des Halbriesen zu erspüren, war heute nur mäßig gelungen. Sie konnte nicht genau fassen, worin seine Lüge bestand. Aber dass er log, dessen war sie sich sicher.

Lian reichte ihm einen Becher verdünnten Wein, schaute einen Moment zu lange in seine Augen und sah darin Angst aufblitzen.

Angst hatten viele, die hier in der Reihe standen. Der Halbriese galt zwar als gerechter Herrscher, aber sagte man etwas Falsches, konnte es passieren, dass man den Audienzsaal nicht lebend verließ.

Der Fremde bemerkte ihren Blick und kniff die Augen zusammen. Lian senkte eilig den Blick. Sie hatte ihn zu lange gemustert. Ohne ihm noch einmal in die Augen zu schauen, nahm sie den leeren Becher entgegen und widmete sich dem Nächsten in der Reihe.

Es dauerte nicht lange, dann öffneten sich die hölzernen Tore des Audienzsaals. Die Wartenden setzten sich langsam in Bewegung. Das Wetter war drückend heiß, die feuchte, warme Luft bewegte sich kaum.

Lian ging in die Palastküche und füllte ihren Weinkrug nach, dieses Mal jedoch nicht mit dem Verdünnten. Dann ging auch sie in den Saal.

Eigentlich war es gar kein Saal, hatte einer der Besucher einmal etwas zu laut gemurmelt. Nur wenig später hatte man ihn mit gebrochener Nase herausgeschleift.

Lian mochte diesen Ort, ganz egal wie man ihn nannte. Er bestand aus Holzpfählen, Seite an Seite in den feuchten Untergrund gerammt, dort wo sich die beiden Flüsse trafen, die das Wasser von den Gipfeln des Pangawai zum Schimmermeer trugen. Ab hier hieß der Fluss Awigi und war bis hinab zum Meer schiffbar. Das war vermutlich auch der Grund, warum die Stadt Tonatak hier gegründet worden war.

Zwischen den hölzernen Pfählen gab es noch den einen oder anderen lebenden Baum. Zusammen boten sie einem Teil des Saales unter ihnen Schutz vor Regen oder Sonne – und natürlich war dies der Teil, in dem der Thron stand. Der größte Teil jedoch kam ohne Dach aus. Freier Blick in den Himmel.

Sie atmete tief ein. Dies war der Ort in Tonatak, der ihrer Dschungel-Heimat am Nächsten kam. Hier war die Luft nicht verseucht von den Ausdünstungen zu vieler Menschen auf zu wenig Raum. Hier roch es nicht ständig nach schlechtem Essen und Schweiß.

Nein, hier sah sie das Grün des Urwalds, in all seinen Schattierungen.

Das Tor war bereits verschlossen. Die Dienerin schob vorsichtig die kleine Seitentür auf. Noch hatte die Audienz nicht begonnen. Leise schlich sie sich an ihren Platz in der Nähe des Thrones.

Die große Tür hinter dem Thron öffnete sich. Furko und Jurko betraten den Raum, ihre großen Säbel kampfbereit in den Händen. Die Rüstungen der Zwerge glänzten ölig. Die Beiden musterten kurz die Anwesenden, dann senkten sie ihre Waffen wieder.

Furko stellte sich links neben den steinernen Thron, Jurko bewachte die rechte Seite.

Lian musste ein Schmunzeln unterdrücken. Als sie das erste Mal einer Audienz des Halbriesen beigewohnt hatte, war dieser Auftritt noch beeindruckend gewesen. Der Saal, die beiden Zwerge, und natürlich der große Amboß vor dem Thron. Das alles hatte sie mit großen Augen bestaunt.

Später war ihr Blick tiefer gegangen und sie hatte mehr verstanden. Die beiden Zwerge waren Säufer, die es nur mühsam schafften, zur wöchentlichen Audienz nüchtern zu bleiben – oder zumindest, ohne zu schwanken ihre Plätze zu erreichen.

„Ruhe“, brüllte Furko, obgleich niemand im Raum sprach.

Lian sah seine geröteten Augen. Wahrscheinlich quälte ihn Kopfschmerz, weil er zu viel getrunken hatte. Oder zu wenig.

Dann betrat der Mann den Raum, der auch ohne zwergische Eskorte, Thron und Drohungen alle Aufmerksamkeit band.

Mit seiner Größe von mehr als zwei Schritt überragte er jeden Bewohner von Tonatak, selbst die wenigen Alben die hier lebten. Halbriese nannten sie ihn, und das bezog sich nicht nur auf seine schiere körperliche Überlegenheit. Lian ließ ihren Blick über seinen nackten, muskulösen Oberkörper gleiten. Der Halbriese brauchte seine Zwergengarde nicht. Ihn anzugreifen – und einige wenige hatten es versucht – bedeutete den sicheren Tod.

Lian ließ ihren Blick über die Anwesenden wandern. Einige waren Bewohner Tonataks und zeigten Respekt, aber keine Überraschung beim Anblick des Statthalters. Den Fremden hingegen stand der Mund offen. Der Lügner presste die Kiefer zusammen. Offenbar merkte er was ihm blühen konnte, wenn seine Lüge offenbar wurde.

Die Audienz begann.

Nach und nach traten die Bittsteller vor und trugen dem Halbriesen ihr Anliegen vor. Bei den Einen waren es kleine Streitigkeiten um Geld oder Frauen. Die anderen waren Reisende, die vom Statthalter Tonataks die Genehmigung zur Weiterreise erhalten wollten. Die bekamen sie in der Regel auch, wenn sie die Gebühr bezahlten, die sich völlig willkürlich nach den Waren richtete, die sie mitführten. Dies war eine der Haupteinnahmequellen des Halbriesen.

Lian wartete derweilen an der Seite des Saales. Hin und wieder füllte sie dem Halbriesen seine Weinbecher nach. Dabei spürte sie bisweilen seine Pranke auf ihrem Hintern.

Es war nicht das erste Mal. Es störte sie eigentlich auch nicht. Schließlich hatten sie bereits einige Male das Lager geteilt. Doch vor anderen Männern angefasst zu werden, gefiel ihr nicht.

Aber sie wusste um ihre Möglichkeiten, ihm zu widersprechen, und hier waren weder der Ort noch die Zeit dafür.

Ein Bürger Tonataks sprach als Nächster vor. Er beschuldigte einen auf dem Boden kauernden Mann des Diebstahls. Der Mann war nachts in das Haus des ehrenwerten Händlers eingestiegen und hatte Schmuck gestohlen. Dummerweise war er kurz darauf den Gardisten in die Arme gelaufen, die unter dem Schmuck auch einen Siegelring des Händlers fanden.

Da gab es wenig zu beschönigen und der Dieb versuchte es auch gar nicht. Lian kannte das Urteil in solchen Fällen. Es war schlicht und wirkungsvoll.

Noch heute würde man den Dieb auf den Markt an den Pranger stellen. Morgen zur Mittagsstunde würde dann Furko, oder vielleicht auch Jurko, erscheinen, je nachdem wer nüchterner war, und dem Mann die linke Hand abschlagen. Ein Wundarzt würde den Verletzten danach versorgen. Die Hand würde Furko aufspießen und am Rande des Marktes, dort wo die Geldwechsler ihre Bänke hatten, zur Schau stellen.

Nachdem das Urteil gesprochen und der Verurteilte wimmernd aus dem Saal geschleift worden war, kam nun die Reihe an den Lügner. Der Audienzmeister las laut dessen Namen vor.

„Arko Melasgar, ein Händler aus Arkuri.“

Lian bemerkte wie der Kopf des Halbriesen ein Stück nach vorn ging, so als wollte er den Gast näher anschauen. Es war nur eine winzige Bewegung, doch sie war ungewöhnlich.

„Melasgar, hmm?“, brummte er.

Der Angesprochene trat vor, verbeugte sich tief und umständlich. So wie es nur jene hinbekamen, die ihr Leben lang mit den Reichen und Schönen zu tun hatten.

„Ja, edler Herr. Aus der Familie Melasgar, eine der sechs Familien, welche die Geschicke unserer schönen Stadt Arkuri leiten. Wir handeln seit Generationen mit

„Ich weiß, wer die Melasgar sind“, unterbrach ihn der Halbriese.

„Natürlich wisst ihr das. Ein Mann eurer Qualität und Größe …“

Der Halbriese hob die Hand. Der Lügner verstummte.

„Was willst du?“

„Ich reise nach Pirimoy“, er machte eine kurze Pause, “aus geschäftlichen Gründen.“

Der Halbriese legte den Kopf leicht schief.

„Viele die hier entlangkommen, reisen aus geschäftlichen Gründen.“

Der Lügner nickte zögerlich.

„Ja, durchaus, edler Herr. Aber meine sind besondere Gründe. Gründe, die ich nicht vor aller Ohren bekanntgeben kann.“ Er deutete auf die anderen Bittsteller.

Der Halbriese trank sein Weinglas aus.

„Dann tritt näher. Ich hoffe für dich, dass dein Grund gut genug ist

Lian musste ein Grinsen unterdrücken, als sie sah, wie der Lügner schluckte.

„Wein, Lian“, befahl ihr Herr gleichzeitig.

Sie ließ sich Zeit. Um nichts in der Welt wollte sie verpassen, was der Betrüger dem Halbriesen zu erzählen hatte.

„… von meiner Familie beauftragt, nach Pirimoy zu reisen, um eine der dortigen Pyramiden in Besitz zu nehmen.“

Lian stolperte, einen Moment bevor der Halbriese sein donnerndes Lachen erschallen ließ.

Sie kannte dieses Lachen.

Es war donnernd, laut, mitreißend. Und gespielt.

Der Halbriese gab sich keineswegs dem Amüsement hin. Das tat er selten in der Audienz. Nein, er versuchte, durch das Lachen Zeit zum Überlegen zu schinden.

Lian trat ein paar Schritte zurück. Wenn der Halbriese unsicher war, wollte sie nicht in Reichweite seiner Arme sein.

„Pirimoy also“, stellte der Statthalter grinsend fest.

„Allerdings, edler Herr. Die Familie Melasgar …“

„Verschone mich, Melasgar.“

Der Halbriese schüttete seinen Wein hinunter, winkte sie dann zu sich.

Während Lian Wein nachschenkte, fragte er leise, „Glaubst du ihm?“

Lian versuchte, keinen Wein zu verschütten.

„Nein“, sagte sie dann.

„Du glaubst, dass er lügt?“, der Statthalter schien überrascht.

„Es ist nur ein Gefühl, Herr“, antwortete sie und zog sich mit einer Verbeugung zurück.

Die Piriwatu spürte den Blick des Halbriesen in ihrem Rücken. Doch sie drehte sich nicht um. Auf eine Diskussion wollte sie sich jetzt nicht einlassen.

War es klug gewesen, ihre Meinung zu sagen? Vielleicht würde der Lügner jetzt seine Zunge einbüßen und sein Plan, und damit auch ihr Plan, wäre zunichte.

„Wenn es stimmt was du sagst, dann weißt du auch, dass ich einen Beweis deiner Behauptungen brauche“, hörte sie den Halbriesen sagen.

Der Angesprochene blieb stumm. Lian konnte sehen wie seine Augen blinzelten. Wahrscheinlich suchte er panisch nach einer Idee, was der Halbriese von ihm sehen wollte. Nervös kratzte er sich an der Nase. Dabei hellte sich sein Blick auf.

Lächelnd senkte er die Hände.

„Natürlich, edler Herr“, er deutete eine Verbeugung an. „Ihr braucht eine Bestätigung, dass ich bin, wer ich vorgebe zu sein.“

Der Halbriese nickte langsam.

Der Lügner hob die rechte Hand und streckte sie dem Statthalter entgegen.

Der schob seinen Kopf ein Stück nach vorn und musterte die Hand. Dann nickte er.

Ein Ring, vielleicht einer mit einem Familienwappen, oder einem Siegel, schoss es Lian durch den Kopf.

Der Halbriese lehnte sich zurück in seinen Thron.

„Nun gut, Arko von den Melasgar. Ich sehe, dass du die Wahrheit sprichst.“

Auf dem Gesicht des Lügners zeigte sich Zufriedenheit.

„Aber du weißt auch, dass ich für deine Weiterreise und die Unterstützung, die ich dir und den deinen in der Vergangenheit zukommen ließ, eine gewisse Entschädigung benötige.“

Die Zufriedenheit zerfiel sofort wieder.

„Eine Entschädigung? Ähm, gewiss, edler Herr. Nur leider wurde ich auf der Reise hierher überfallen, so dass ich …“

„Überfallen? Auf meinen Gebiet? Willst du sagen, dass ich nicht für die Sicherheit meines Landes sorgen kann?“, donnerte der Mann auf dem Thron.

Melasgar hob abwehrend die Hände, während die Stimme des Halbriesen lauter wurde.

„Nein, mein Herr. Natürlich nicht. Euer Land ist sicher wie kaum ein anderes. Selten habe ich mich irgendwo so sicher gefühlt. Der Überfall geschah bereits früher, auf dem Mondpfad, um es genau zu sagen. Ein anderer Reisender belauschte mich und meinen Vertrauten eines Nachts und versuchte dann, uns zu bestehlen. Er stahl das Geld und verletzte meinen Vertrauten so schwer, dass ich ihn in Süd-Arkuri zurücklassen musste. Mir blieb nur, was ich am Leib trug und mein Siegelring.“

Der Lügner bedeckte seine Augen mit der Hand, so als wolle er seine Tränen nicht zeigen.

Der Halbriese musterte ihn eine Weile wortlos.

„Nun gut. Du darfst nach Pirimoy reisen. Aber da du kein Geld hast, kann ich dir auch nicht die versprochene Eskorte mitgeben. Mögen die Götter mit dir sein, die meinen und die deinen.“

Der Lügner blickte erstaunt hoch, fing sich dann wieder.

„Ihr seid großmütig, edler Herr.“

Bevor er weiter reden konnte, schob der Audienzmeister ihn in Richtung Ausgang.

In Lians Kopf arbeitete es.

Der Lügner wollte nach Pirimoy und dort eine Pyramide übernehmen.

Pirimoy war einst die Hauptstadt ihres Volkes gewesen. Seit nunmehr vier Jahrhunderten versuchten die Piriwatu, die Stadt zurückzuerobern. Doch sie waren zu wenige und sie waren uneins.

Wenn es eine Lüge war, was Melasgar erzählt hatte, so konnte es ihr gleich sein. Doch wenn dieser Teil seiner Geschichte stimmte, dann musste sie die Gelegenheit ergreifen.

Die Übernahme einer der dreizehn Pyramiden in Pirimoy, heutzutage Symbole der Macht des selbsternannten „Admiralsrats“, würde zweifellos zu einer Verschiebung im wackeligen Kräftegleichgewicht der Stadt führen. Schlummernde Machtkämpfe würden ausbrechen, Freunde würden zu Feinden werden. Wenn man in dieser Schlangengrube von Stadt überhaupt jemanden einen Freund nennen konnte.

Und Pirimoy, die alte Hauptstadt des Piriwatu-Reiches, würde im Chaos versinken.

Genau der richtige Moment, um die Stadt anzugreifen. Die Rebellen mussten von dem Plan des Lügners erfahren.

Langsam ging Lian Richtung Ausgang.

„Mehr Wein, Lian“, donnerte der Halbriese von hinten.

Sie drehte sich um, ging auf die Knie.

„Der Krug ist leer, Herr. Verzeiht mir. Ich besorge sofort neuen Wein.“

Der Halbriese wedelte ungeduldig mit der Hand.

Lian sprang auf und verschwand aus dem Saal.

Gemessenen Schrittes ging sie zur Vorratskammer neben der Küche. Sie stellte den Weinkrug ab, schaute sich um.

Überall wurde geschäftig gewerkelt. Nach der Audienz würde der Halbriese Hunger haben. Also wurde gesotten und gebraten, was das Zeug hielt.

Sie griff sich einen leeren Korb, packte hinein, was ihr in die Finger kam. Getrocknetes Fleich, Obst, einen Wasserschlauch.

„Was tust du da?“, fragte eine Stimme hinter ihr.

Furko. Lian schloss die Augen.

Hatte der Halbriese ihr den Zwerg hinterher geschickt?

„Ich … ähm...“

„Der Wein, wo bleibt der Wein?“

Die Augen des Zwerges waren gerötet.

„Sofort“, antwortete Lian. Sie nahm ihren Krug und tauchte ihn in das Fass mit dem guten Wein.

„Nein, nicht der“, der Zwerg wurde ungeduldig.

„Der ist mir zu süß. Ich brauch den anderen.“

Lian nickte, schnappte sich einen leeren Becher und schöpfte Furko von dem billigen Wein.

Der kippte sich das Gesöff in den Mund, rülpste laut. Dann grinste er.

„Besser“, stellte er fest.

Dann schlug er ihr kräftig auf den Hintern und wankte davon.

Lian blickte ihm hinterher und ballte die Fäuste. Dies war nicht der Moment, sich mit diesem dreckigen Schrumpfsäufer anzulegen.

Ihr Blick fiel auf seinen Dolch, den er hinten am Gürtel trug.

Eilig sprang sie ihm nach, stieß ihn von hinten an.

Grummelnd drehte sich der Zwerg um, hatte die Hand an seinem Säbel.

„Was fällt dir ein?“

Lian fiel auf die Knie.

„Verzeih, ich war ungeschickt.“

Der Zwerg murmelte etwas in seinen ungepflegten Bart, dann ging er wortlos weiter.

Lian hob den Kopf und grinste.

Schnell griff sie in ihren Korb, versteckte den gestohlenen Dolch darin und eilte aus der Küche.

Der Weg zu ihrer Kammer war nicht weit. Eigentlich war es mehr ein Verschlag. Früher hatte sie hier mit ihrer Mutter gelebt, aber seit diese zu den Göttern gegangen war, war eine neue Magd hier eingezogen. Zum Glück sahen sie sich kaum. Sie kamen nur zum Schlafen in die viel zu enge Kammer.

Aber das war jetzt vorbei. Lian stopfte eilig ihre wenigen Habseligkeiten in einen Rucksack, packte das gestohlene Essen dazu und verließ dann die Kammer.

Vor der Tür blieb sie stehen. Wenn sie jetzt weiterging, konnte sie nie wieder zurück. Ihr Auftrag war es, hier vor Ort zu wachen. Der Halbriese duldete keinen Ungehorsam, auch nicht von den Mädchen mit denen er das Lager teilte.

Was aber noch weitaus wichtiger war – sie war Auge und Ohr ihres Volkes am Hof des Halbriesen. Sie lieferte Informationen. Wegzugehen war nicht geplant.

Aber die Umstände waren außergewöhnlich. Es musste einfach sein.

Lian atmete auf, als sie den Palast verlassen hatte. Es war zwar unwahrscheinlich, dass der Halbriese die Tore schließen ließ, nur weil sein Weinmädchen verschwunden war, aber sicher war sicher.

Sie schritt über die Stege und Brücken Tonataks in Richtung Fluss. Auf der anderen Seite des Awigi begann der Karawanenweg Richtung Pirimoy. Sie drehte sich mehrmals um. Nicht nur um etwaige Verfolger auszumachen.

Nein, es war auch ein Abschiednehmen. Seit ihrem zehnten Lebensjahr hatte sie hier gelebt. Anfangs mit ihrer Mutter, später allein. Freunde hatte sie hier keine. Nur ein paar lose Bekanntschaften. Zehn Jahre in dieser Stadt hatten nicht gereicht, sie hier heimisch werden zu lassen.

Auch wenn sie mehr als einmal gern weggelaufen wäre, tat der Abschied nun doch weh.

Lian ging hinab zum Ufer und schaute sich um.

Träge wälzten sich die Wasser des Awigi durch das breite Flussbett. Das Wasser war schmutzig braun.

Kein Boot war auf dem Fluss. Das sprach dafür, dass der Lügner das Wasser noch nicht überquert hatte.

Also setzte sie sich an den großen Steg und wartete.

Es dauerte lange, bis der falsche Arko kam. Viel zu lange. Schon mehrmals hatte Lian überlegt, ob er vielleicht unbemerkt an ihr vorbeigeschlüpft war. Oder er hatte sich umentschieden und den Plan, nach Pirimoy zu reisen, fallengelassen. Er war schließlich ein Lügner, wer wusste schon was in seinem Kopf vorging?

Doch dann kam er endlich. Voller Arroganz schritt er durch die Bettler, die den Weg zur den Booten säumten und warf hier und da ein paar Münzen. Zu wenige und zu kleine Münzen, wie Lian an den enttäuschten Blicken der Bettler sah. Ein Träger ging hinter ihm und schleppte einen viel zu großen Rucksack.

Sie schmunzelte. So wie der Träger sich immer wieder umschaute, war offensichtlich, dass er nicht vorhatte, den falschen Arko lange zu begleiten. Wahrscheinlich würde er warten, bis der Lügner in ein Boot gestiegen war um dann wegzulaufen. Sollte sie ihn warnen?

Lian wartete ab.

Wie vermutet begutachtete der Lügner die Boote und entschied sich dann für eines der Größeren. Während er zu den zwei Ruderern ins Boot stieg und über den Preis verhandelte, rannte sein Träger los. Melasgar brauchte einen Moment, bis er überhaupt merkte, was geschehen war.

„He!“, rief der Lügner, „Haltet den Dieb.“

Ein paar Bettler hoben die Köpfe und grinsten. Doch niemand tat etwas, um den Dieb aufzuhalten. Jetzt rächte sich, dass der falsche Hund vorher so knausrig gewesen war.

Jedoch sparte er es sich, dem Dieb hinterher zu eilen. Was Lian zu der Schlussfolgerung brachte, dass der Lügner den wichtigen Teil seines Besitzes direkt am Körper trug. Immerhin war er nicht dumm.

Sie erhob sich, betrat ebenfalls das Boot und drückte einem der Ruderer wortlos ein paar Münzen in die Hand.

„Wer bist du denn?“, fragte der Lügner.

„Was geht es dich an?“, gab sie zurück.

„Wenn du in meinem Boot mitfahren willst, geht es mich sehr wohl etwas an.“

Lian grinste, „Dein Boot?“

Sie gab den Ruderern einen Wink. Diese nickten grinsend, lösten das Boot vom Steg und legten sich in die Riemen.

Der Lügner verlor das Gleichgewicht, und fiel mit einem erstaunten Ausruf zwischen die Sitzbänke.

„Was erlaubst du dir?“

Sie kniff die Augen zusammen, musterte ihn wortlos. Dann erhob sie sich und ging zu ihm herüber.

Er blieb sitzen und schaute empört zu ihr auf.

Sie lächelte, dann holte sie aus und gab ihm eine schallende Ohrfeige.

Die Ruderer feixten, während der Lügner sie wortlos anstarrte.

Als er sich erheben wollte, zog sie beiläufig ihren schmalen Dolch aus ihrer Stiefelscheide und begann, sich damit die Fingernägel zu säubern.

Das bescherte ihr Ruhe für den Rest der Überfahrt.