Liao Yiwu
Für ein Lied und hundert Lieder
Ein Zeugenbericht aus chinesischen Gefängnissen
Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann
Fischer e-books
Mit dem Gedichtzyklus »Liebeslieder aus dem Gulag« und einem Brief von Liu Xiaobo an Liao Yiwu
Liao Yiwu, geboren 1958 in der Provinz Sichuan, wuchs als Kind von Eltern »ohne dauerhafte Aufenthaltserlaubnis« in der großen Hungersnot der 60er Jahre auf. 1989 verfasste er das Gedicht ›Massaker‹, das in Windeseile Verbreitung fand, auch über die Grenzen Chinas hinaus. Hierfür wurde er vier Jahre inhaftiert und schwer misshandelt. 2007 wurde Liao Yiwu vom Unabhängigen Chinesischen PEN-Zentrum mit dem Preis »Freiheit zum Schreiben« ausgezeichnet, dessen Verleihung in letzter Minute verhindert wurde. 2009 erschien auf Deutsch sein von Kritik und Publikum euphorisch begrüßtes Buch ›Fräulein Hallo und der Bauernkaiser – Chinas Gesellschaft von unten‹, das Menschen vom Bodensatz der chinesischen Gesellschaft porträtiert und in China verboten ist. 2011, als ›Für ein Lied und hundert Lieder‹ in Deutschland erschien, gelang es Liao Yiwu, China zu verlassen. Seitdem lebt er in Berlin. Im November 2011 wurde ihm der Geschwister-Scholl-Preis verliehen.
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Covergestaltung: hißmann, heilmann, hamburg
Eine chinesische Version von Liao Yiwus Gefängniserinnerungen ist im Jahr 2000 im Morrow Publishing House in Hongkong unter dem Titel »Zheng-ci« (»Zeugenaussage«) erschienen. Das Buch ist dort nicht mehr lieferbar, in China ist es verboten. Für die deutsche Ausgabe hat Liao Yiwu seine Erinnerungen überarbeitet und etwas gekürzt.
© Liao Yiwu 2011
Für die deutsche Ausgabe:
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2011
Mit dem Gedichtzyklus »Liebeslieder aus dem Gulag« und einem Brief von Liu Xiaobo an Liao Yiwu
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ISBN 978-3-10-400985-8
Liu Shahe (bürgerlicher Name Wu Xuntan), 1931 als Sohn eines Grundbesitzers in Chengdu geboren, wurde seit 1957 als Rechtsabweichler verfolgt, seine Bücher, das erste erschien 1948, waren bis zu seiner Rehabilitierung 1978 verboten.
Bezeichnung für politische Gegner und unliebsame Personen in politischen Kampagnen.
Eine der acht »originalen« Modellopern, die während der Kulturrevolution die einzigen erlaubten künstlerischen Darbietungen bildeten. Es handelte sich dabei eigentlich um fünf Opern, zwei Ballettstücke und eine Symphonie. Nach 1976 wurde die Anzahl ausgeweitet, mit dem Beginn der Öffnungspolitik wurden die Beschränkungen aufgehoben.
Bezeichnung für Jugendliche mit einer in der Regel einfachen bis höheren Schulausbildung, die zwischen den 50er und 70er Jahren freiwillig oder zwangsweise aufs Land gingen, um dort als Bauern zu arbeiten.
Amitabha-Buddhismus, Sammelbezeichnung für die Schulen des Mahayana-Buddhismus, die sich auf den transzendenten Buddha Amitabha beziehen. Die Lehre entstand im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung in Indien, gelangte ab dem 5. Jahrhundert nach China, von wo sie sich im gesamten ost- und südostasiatischen Raum verbreitete. Der Amitabha-Buddhismus gehört heute zu den am weitesten verbreiteten Formen des Buddhismus überhaupt.
Haizi (1964–1989), postobskurer Dichter, dessen Freitod im Jahr 1989 für viel Aufsehen gesorgt hat.
Hu Yaobang (1915–1989), chinesischer Politiker der »zweiten Generation«, lange Zeit von Deng Xiaoping als Nachfolger favorisiert, infolge seiner für die Hardliner im Politbüro zu nachgiebigen Haltung bei den Studentendemonstrationen 1986 in Ungnade gefallen. Sein Tod am 15. April 1989 hat, neben anderen Auslösern, zu den Massendemonstrationen im Rahmen der Demokratiebewegung geführt, die am 4. Juni im Umfeld des Platzes des Himmlischen Friedens blutig beendet wurden.
Obskure Dichter (menglong shiren), von der Kritik diffamierend gemeinte Bezeichnung für eine Generation von Lyrikern, deren Wurzeln bis in die Kulturrevolution zurückreichen und die mit dem Beginn der Öffnungspolitik Ende der 70er Jahre die literarische Bühne betreten. Ihre von der modernen westlichen Welt geprägte Sprache wird als unverständlich, subjektivistisch und modernistisch kritisiert.
Bei Dao (bürgerlich Zhao Zhenkai), 1949 in Beijing geboren, einer der maßgeblichen Vertreter der Obskuren Lyrik. Das Gedicht »Antwort«, in dem er den politischen Führern in der VR China die Glaubwürdigkeit abspricht, macht ihn Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre über Nacht weltberühmt. Er gründet mit anderen Lyrikern wie Mang Ke die Zeitschrift »Jintian« (Heute), die gegenwärtig im Ausland erscheint. Bei Dao lebt seit 1989 im Exil.
»Roter Fels«, ein von Yang Yiyan und Luo Guangbin verfasster Revolutionsroman aus dem Jahre 1962, der die Untergrundkämpfe der chinesischen Kommunisten in Sichuan nach 1948 beschreibt.
Dieser Satz ist eine Parodie auf eine Zeile von Laozi, Kapitel 60: »Das Regieren eines großen Reiches ist wie das Braten von kleinen Fischen.«
Chinesischer Name des kanadischen Arztes Henry Norman Bethune (1890–1939), der während des antijapanischen Widerstandskrieges in China tätig war und dort 1939 an einer Blutvergiftung starb.
Lei Feng (1940–1962), Soldat der Volksbefreiungsarmee, der ein Jahr nach seinem Tod von Mao Zedong wegen seiner Bescheidenheit und Aufopferungsbereitschaft in der Kampagne »Von Lei Feng lernen« als Vorbild für die Jugendlichen des gesamten Landes aufgebaut wurde.
Namen zweier berühmt gewordener Attentäter aus der Zeit der Kämpfenden Reiche (475–221 v.u.Z.). Der berühmtere von beiden, Jing Ke, versuchte, Qin Shihuangdi, den ersten chinesischen Kaiser, zu ermorden. Auch wenn der Versuch scheiterte, ist er seither Sinnbild für den legitimen Tyrannenmord.
Imre Nagy (1896–1958), zweimaliger ungarischer Regierungschef, der wegen seiner abweichenden Haltung zwei Jahre nach dem ungarischen Volksaufstand von 1956 hingerichtet wurde und seither in Ungarn als Nationalheld verehrt wird.
Der sino-vietnamesische Krieg von 1979, auch als Dritter Indochina-Krieg oder von offizieller Seite in der VR China als »Gegenangriff aus Notwehr gegen Vietnam« bezeichnet, war eine Reaktion der VR China auf den Einmarsch Vietnams in Kambodscha.
Berühmtes Paar aus der chinesischen Tradition, das für König Helü des Staates Lu zwei Schwerter schmieden sollte. Da der Ofen nicht heiß genug war, konnten sie das Eisen nicht zum Schmelzen bringen. Mo Ye kam zu dem Schluss, dem Feuer fehle es an menschlichem Qi, weswegen die beiden ihr Haar und ihre Nägel abschnitten und ins Feuer warfen. Nach einer anderen Version der Geschichte soll Mo Ye sich geopfert und in den Schmelzofen gesprungen sein. Um diese Geschichte ranken sich noch eine ganze Reihe von Folgegeschichten.
Xi Shi (506–? v.u.Z.) ist eine der berühmten großen Schönheiten des alten China, sie soll zur Zeit von König Guojian (s. nächsten Eintrag) in der Hauptstadt des Staates Yue gelebt haben und so schön gewesen sein, dass Blumen vor ihrer Schönheit beschämt die Blüten geschlossen haben.
Guojian regierte 496–465 v.u.Z., er war König des Reiches Yue im Gebiet des heutigen Shanghai und gilt als einer der letzten der fünf großen Hegemonen der Frühling- und Herbstepoche der chinesischen Geschichte (722–481 v.u.Z.).
Das hier angesprochene Gedicht ist sicher eines der bekanntesten, wenn nicht das bekannteste klassische chinesische Gedicht. Es wird Li Bo (Li Tai-peh) (701–762) zugeschrieben und lautet in der Übersetzung des Übersetzers: »Vor dem Bett der Mond, ein Schein/Oder fällt schon Reif herein?/Heb’ den Blick zum Mond/Senke ihn, würd’ gern zu Hause sein.«
Gemeint ist der Aktivist, Menschenrechtskämpfer und Kulturkritiker Liu Xiaobo (1955*), der 2010 den Friedensnobelpreis zugesprochen bekam.
Anspielung auf die daoistische Fünf-Elemente-Lehre, deren Einflüsse sich bis in früheste Zeit zurückverfolgen lassen. Diese Lehre versucht mit dem Wechsel der fünf Elemente (Holz, Feuer, Metall, Wasser und Erde), denen der Rest des Kosmos zugeordnet ist, die Wandlungen der Natur, aber auch der Gesellschaft, etwa den Wechsel von Dynastien, zu fassen.
In den 90er Jahren in China sehr populärer Rock- und Punksänger, der diesen Musikrichtungen in der Volksrepublik zum Durchbruch verhalf – zumindest unter jugendlichen Zuhörern.
Die 1985 gegründete Dichtergesellschaft des »Nicht-Nicht-ismus« wandte sich von den symbolisch-metaphorischen Dunkelheiten und der Missionsgewissheit der Obskuren Lyrik ab und versuchte experimentell, die Sprache auf ihre Funktion jenseits der Zeichenhaftigkeit zu reduzieren. Diesen Weg der mehrfachen Verneinung beschritt die Gruppierung auch in Bezug auf sich selbst und ging in den 90er Jahren in den »Post-Nicht-nicht-ismus« über.
Die Gruppierung der Holistischen Dichter entstand 1984 und löste sich nach 1989 allmählich auf. Nach Vorstellung der Holistischen Dichter bestand die eigentliche Bedeutung des Lebens in der Verbindung der Existenz mit dem großen Ganzen, eine Verbindung, die in den dichterischen Schaffensprozess eingebunden werden soll.
»Bashu« ist einfach der alte Name der Provinz Sichuan, die Bashu-Dichter umfassen eine Reihe von Gruppierungen wie die Holisten und die Nicht-nicht-isten.
»Die Totenstadt« ist der erste Teil eines dreiteiligen, von Liao Yiwu 1986–1987 geschaffenen Zyklus.
Propagandistisch in der VR China bis heute ausgeschlachtete, mittlerweile als Legende entlarvte Heldentat der kommunistischen Truppen auf dem Langen Marsch.
Etwas ungenaue Bezeichnung einer Schicht von Personen im alten China, die auf der einen Seite zu den Absolventen der Beamtenprüfungen gehörte, zum anderen, da sich sonst kaum jemand die aufwendige und langwierige Ausbildung leisten konnte, meist mit dem reichen Landadel oder entsprechend begüterten Beamtenfamilien (oder beidem) verbunden war.
Eigentlich die »Zerschlagt die Vier Alten«, Schlagwort der Roten Garden während der Kulturrevolution, das sich gegen altes Denken, alte Kultur, alte Sitte und alte Gewohnheiten richtete.
Chang’e, die Mondgöttin: eine legendäre Frau, die, nachdem sie ein Lebenselixier ihres Mannes heimlich getrunken hatte, zum Mond geflogen ist.
Yang Hucheng (1893–1949), zunächst Warlord, dann General der Guomindang während des Bürgerkriegs zwischen Kommunisten und Anhängern von Tschiang Kai-shek.
Ikkyu san, Mönch Ikkyu, Zeichentrickserie aus Japan.
Anspielung auf den Opiumkrieg und die anderen Auseinandersetzungen zwischen China und dem Westen Ende der Qing-Dynastie.
Qiao Shi, chin. Politiker (1924*).
Dekabristen oder Dezembristen (nach russisch dekabr = Dezember) waren adlige Revolutionäre, die im Dezember 1825 in Sankt Petersburg aus Protest gegen das Regime, die Leibeigenschaft, die Zensur etc. den Eid auf den neuen Zaren Nikolaus I. verweigerten.
In der VR China werden Gefangene nach dem Untersuchungsgefängnis, das zuvor beschrieben wurde, nach erfolgter »positiver« Untersuchung in ein Gefängnis überstellt, in dem sie auf ihre Verhandlung warten – in der Übersetzung ist das ein begriffliches Problem, weil beides im Deutschen in Untersuchungshaft geschieht und entsprechend beide Begriffe als »Untersuchungsgefängnis« angegeben werden. Wir haben dem Chinesischen versucht Rechnung zu tragen, indem wir den ersten Begriff als »Untersuchungs-«, den zweiten als »Gerichtsgefängnis« wiedergegeben haben.
Julius Fučík (l903–1943), tschechischer Schriftsteller, Journalist und kommunistischer Kulturpolitiker.
Wu Zixu war der Sohn eines Prinzenerziehers im Reich Chu im 6. Jhd. v.u.Z. Als sein Vater durch Intrigen in Ungnade fiel und er sich vor den Häschern des Reiches verstecken musste, wurde sein Haar über Nacht weiß, und er bekam das Gesicht eines alten Mannes. Beides stellte sich als Glück heraus, denn so konnte er nicht mehr erkannt werden und seinen Verfolgern entkommen.
Etwa »Seltsame Geschichten aus Liaos Studierzimmer«, eine Sammlung von über 500 Geschichten des Autors Pöu Songling (1640–1715).
Meng Jiang(nü) ist die legendär gewordene junge Frau eines jungen Mannes, der von den Soldaten des ersten chinesischen Kaisers zwei Tage nach der Hochzeit zum Frondienst an der Großen Mauer gepresst wurde. Als es Winter wird, macht sie sich auf die Suche nach ihm, um ihn mit warmer Kleidung zu versorgen, aber er lebte bereits nicht mehr, und sein Leichnam war in die Mauer eingelassen worden. Sie weinte so lange, bis die Mauer aufbrach und ihren Mann freigab. Sie nahm den Körper und sprang mit ihm ins Meer. An der Stelle, an der die Große Mauer auf die Küste des gelben Meeres stößt, in Shanhaiguan, steht bis heute ein Tempel, der an diese Begebenheit erinnert.
Shang Qin (1930–2010) ist zweifellos einer der in Fachkreisen anerkanntesten und auch international bemerkenswertesten zeitgenössischen taiwanesischen Dichter. Sein Werk hat Anteil an den prägenden Erfahrungen des 20. Jahrhunderts: Krieg, Vertreibung, Exil. Und es nimmt Anteil an den wesentlichen literarischen und ästhetischen Diskussionen seiner Zeit. Die Texte sind von großer Dichte mit für das Chinesische manchmal abenteuerlich komplexen Phrasierungen, in denen sich die Unfassbarkeit und Absurdität der menschlichen Existenz sprachlich manifestiert – ein ganz eigener und unverwechselbarer Ton, der für beide Welthälften, den Osten wie den Westen, Gültigkeit beansprucht und hat. Der von Liao Yiwu hier zitierte Text gehört zu seinen bekanntesten und lautet im vollen Wortlaut (in der Übersetzung von P.H.):
Giraffen
Als der junge Gefängniswärter entdeckte, dass das monatliche Größerwerden, das bei jeder körperlichen Untersuchung der Gefangenen festgestellt wurde, ausschließlich die Hälse betraf, berichtete er das dem Direktor: »Vorsteher, das Fenster ist zu hoch!« Doch die Antwort, die er bekam, lautete: »Nein, sie halten bloß immer Ausschau nach dem Mond und der Zeit.«
Der barmherzige junge Gefängniswärter kannte das Antlitz der Zeit nicht, verstand nichts von der Herkunft der Zeit, wusste nichts vom Aufenthaltsort der Zeit; allein, er ging Nacht für Nacht in den Zoo, patrouillierte um das Giraffengehege und wachte.
Gu Cheng (1956–1993) ist einer der wichtigsten Vertreter der Obskuren Lyrik. Er starb 1993 von eigener Hand im neuseeländischen Exil.
Ein Held aus Qigong-Romanen.
Zhao Zhongxiang (1942*), bekannter Nachrichtensprecher im chinesischen Fernsehen.
Anspielung auf das Buch »Die große Einheit« (Datong) von Kang Youwei (1858–1927), einem der großen chinesischen Reformer Ende des 19. Jahrhunderts.
Ein historischer Roman aus der späten Ming-Zeit von Feng Menglong (1574–1645), in dem die Zeit zwischen dem Ende der Chunqiu-Ära über die Zeit der Streitenden Reiche bis zur Reichseinigung unter dem ersten Kaiser Qin Shihuangdi beschrieben wird.
Leitspruch von Deng Xiaoping, mit dem er u.a. die Vier Modernisierungen Ende der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts in der VR China einleitete.
Der »Traum der roten Kammer« und die »Reise nach dem Westen« gehören zu den bekanntesten klassischen chinesischen Romanen, sie liegen in verschiedenen deutschen Übersetzungen vor.
»Der Mond im Herbst«, ein beliebtes Soldatenlied aus den 40er Jahren, das in den 80ern wieder zu Ehren kam. Es besingt das Heimweh der Soldaten, die an der Grenze Dienst tun.
Bo Le xiang ma, »Meister Bo Le kennt sich mit Pferden aus«, ist ein berühmtes chinesisches Sprichwort. Während der Ausspruch sich ursprünglich auf einen Pferdekenner aus dem Altertum bezieht, beschreibt er später übertragen jemanden, der menschliche Talente zu erkennen in der Lage ist.
1905 von Sun Yatsen, dem Vater der späteren Republik China, in Japan gegründete Gesellschaft, ein Zusammenschluss mehrerer revolutionärer chinesischer Gruppierungen.
Wang Jinxi (1923–1970), ein als »Eisenmann« bezeichneter Modellarbeiter, der nach 1950 zur ersten Generation der chinesischen Bohrarbeiter in der Erdölgewinnung gehörte.
»Sobibor« (Originaltitel: Escape from Sobibor) ist ein englischer Fernsehfilm von 1987.
Der Film behandelt das Leben im KZ Sobibor und dort vor allem den historischen Aufstand von Sobibor, bei dem u.a. jüdischen Gefangenen die Flucht aus dem Vernichtungslager gelingt.
Der chinesische Nationalfeiertag ist am 1. Oktober, an diesem Tag wird der Gründung der VR China 1949 gedacht.
Die »Drei Prinzipien des Volkes« (, sānmínzhyì) wurden vom Begründer der Republik China, Sun Yat-sen, im Jahre 1912 formuliert. Sie lauten minzuzhuyi (»Nationalismus«), minquanzhuyi (»Demokratie«) und minshengzhuyi (»Staats-Sozialismus«).
Die »Pflaumenblütenpartei« war angeblich eine Geheimorganisation der Guomindang auf dem chinesischen Festland, über die während der Kulturrevolution viele Gerüchte im Umlauf waren. Darin hieß es u.a., sie werde auch von Amerika aus unterstützt, es konnten aber nie Beweise für die Existenz dieser Organisation erbracht werden.
Das Huangdi neijing, »Der Innere Kanon des Gelben Kaisers«, eines der ältesten Standardwerke der chinesischen Medizin, das bis heute grundlegend und richtungweisend für die Ausbildung ist.
»Shiji«, die »Aufzeichnungen des Historikers«, das erste große und umfassende Geschichtswerk in der chinesischen Geschichte von den mythischen Anfängen bis zur Zeit seiner eigenen Entstehung in der frühen Han-Dynastie. Es wurde von Sima Qian zwischen 109 und 91 v.u.Z. verfasst.
Die Verstümmelung, auf die hier angespielt wird, geht auf eine Verwicklung Sima Qians in eine Hofintrige zurück, in deren Verlauf er vom Kaiser zum Tode bestraft wurde. Todesstrafen konnten in Geldstrafen umgewandelt werden oder in die Strafe der Kastration. Da Sima Qian nicht über genügend Mittel verfügte, nahm er die Schmach der Entmannung auf sich, um sein Werk zu vollenden.
Diese Militärzeitung wurde von der Guomindang Anfang der 30er Jahre auf dem Festland herausgebracht und unter verschiedenen anderen Namen weitergeführt bis nach 1945, als die Guomindang längst nach Taiwan geflohen war.
Schwarz-weiß-Film von 1954 über die (Versorgungs-)Probleme der völkischen Minderheiten im Grenzgebiet der Provinz Yunnan, die von den Vertretern der neuen Volksregierung der VR China in Angriff genommen und mit Hilfe der einheimischen Bevölkerung gegen alle Widerstände gelöst werden.
Hu Feng (1902–1985), chinesischer Schriftsteller und Literatur- und Kunsttheoretiker. 1954 veröffentlichte er den »Bericht über die Praxis und Lage der Kunst und Literatur in den letzten Jahren«, in dem er sich kritisch mit den Vorstellungen Mao Zedongs über literarischen Realismus auseinandersetzte. 1955 wurde er als Konterrevolutionär verhaftet und inhaftiert und erst 1979 entlassen. 1980 wurde er rehabilitiert.
Der Begriff »zweite Regierung« bezieht sich auf übergangsweise eingerichtete Organisationen, die regierungsabhängig sind, aber nicht direkt zur Regierung gehören, zu ihnen gehören u.a. auch die große Zahl der Branchenverbände. Diese Organisationen werden vor allem wegen ihres Mangels an Effizienz, Transparenz und Professionalität kritisiert. 2009 gab es erste Versuche, z.B. den über 60 000 Branchenverbänden den besonderen Status einer »zweiten Regierung« abzuerkennen.
Die »schweren Schläge« sind ein Kürzel für eine Reihe 1983 (und dann 1996, 2001 und 2010) durchgeführter Schläge gegen die Kriminalität; der Ausdruck geht auf ein Wort Deng Xiaopings zurück, der im gleichen Jahr vor Polizeivertretern in dem Badeort Beidaihe gefordert hatte, »gegen jede Form von schwerer Kriminalität mit schweren Schlägen vorzugehen«.
Diese Pflanze heißt auf Deutsch »Schmetterlingsstrauch« oder »-flieder«, um im Bild zu bleiben, wurde die direkte Übersetzung gewählt.
Der chinesische Name des deutschen »Weißfischs«, gleichzeitig die Bezeichnung eines Fischgerichts aus Sichuan.
Die Spermatorrhoe bezeichnet einen Ausfluss von Samenflüssigkeit aus der Harnröhre ohne sexuelle Erregung, die Ursachen können infektiöser, aber auch psychischer Natur sein.
Han Xin (gestorben 196 v.u.Z.), ein berühmter Militärführer unter dem ersten Kaiser der Han-Dynastie; der Kaiser versuchte ihn aus Angst vor seinen Fähigkeiten zu entmachten, er wurde der Teilnahme an einer Rebellion bezichtigt, in eine Falle gelockt und auf Befehl der Kaiserin hingerichtet.
Der Zuständige Bai: ein fetter Wärter im Untersuchungsgefängnis mit einem grausamen Herzen und einer harten Hand. (Anmerkung von Liao Yiwu)
Zhang Xianzhong (1605–1647), neben Li Zicheng (1606-1645) der bekannteste Rebell am Ende der Ming-Dynastie.
In bestimmten Untersuchungsgefängnissen brennen die Lampen die ganze Nacht, die Gefangenen wissen gar nicht mehr, was Dunkelheit ist.
Eisenhoden-Kung-Fu, eine von einem Shaolin-Mönch entwickelte Form des Kung-Fu. Entgegen dem sonstigen Shaolin-Kung-Fu, das auf Hilfsmittel und Waffen verzichtet, wird hier eine Hand und ein Arm so trainiert, dass er in der Lage ist, die »Eisenhoden«, schwere Eisenkugeln, mit großer Wirkung und Durchschlagskraft sehr weit zu werfen. Eine andere Übersetzungsmöglichkeit wäre »Eisengallen-Kung-Fu« oder »Eisenmut-Kung-Fu«, der Zusammenhang legt allerdings nahe, dass hier die drastischere Variante gemeint ist.
Mein lieber Liao,
warum quälst Du mich so! Wenn ich Deine Stimme höre, frage ich mich immer, ob ich eigentlich das Recht habe weiterzuleben. Ich weine, aber meine Tränen fließen nach innen, danach geht das Leben weiter, so schamlos und leichthin wie immer. Die Menschen sind tot, nur die Hunde sind davongekommen! Bin ich ein Hund? Sind wir alle Hunde? Jetzt nur kein Selbstmitleid! Hunde sind wenigstens noch Hunde, verdammt nochmal, aber sind die Chinesen noch Menschen? Wer findet wohl eher Gnade in den Augen des Schöpfers, Menschen, die keine Menschen mehr sind, oder Hunde, die sich wenigstens noch aufführen wie Hunde? Aber wir sind nicht einmal so viel wert wie Hunde, unsere Nachkommen sind weniger wert als Hunde. Die Chinesen sind nichts. Und wir, diese sogenannte Elite, sind nichts. Das Blut, das vergossen wurde, ist nichts, der Verrat ist nichts, das Vergessen ist nichts. Wegen Deines Gedichts »Massaker« hast Du vier Jahre im Knast gesessen, ich denke, das war es wert.
Der Knast gibt dem einsamen bisschen Gewissen mehr Trost als all die Reue und die ganzen Selbstvorwürfe. Du solltest mit ihnen wirklich keine Lesung veranstalten, Deine Welt ist längst eine andere, während sie doch sehr normal sind und vernünftig, da macht XX keine Ausnahme. Die einzige Rechtfertigung dafür, dass ich mit dieser Schande weiterlebe, ist die, dass ich es für die Unglücklichen tue, deren Blut geflossen ist. Der »4. Juni« war für mich der schwärzeste und der blutigste Tag, und all die Tage und Nächte danach waren weder schwarz noch rot. Wenn Schamlosigkeit eine Farbe hat, dann diese. Womit man nicht fertig wird, damit wird man niemals fertig, selbst wenn wir eines Tages den Unglücklichen Trost spenden können sollten, die für unser Land gestorben sind. Aber ich muss Dir noch danken, und deshalb sage ich Dir mit dem letzten Rest an Ehrerbietung, den ich aufbringen kann: »Ich danke Dir, mein alter glatzköpfiger Freund!«
Xiaobo,
am 24. November 1999, zu Hause.
Am 10. Oktober 1995 stürmte die Polizei überraschend meine Wohnung in Chengdu, konfiszierte das Manuskript dieses Buches, das kurz vor dem Abschluss stand, und verkündete, ich würde nach dem Gesetz für zwanzig Tage unter bewachten Hausarrest gestellt. In dieser Situation blieb mir nichts anderes übrig, als das ganze Buch noch einmal zu schreiben, was mich drei Jahre meines Lebens kostete.
Zuvor hatte die Polizei zwischen dem 16. und 19. März 1990 dreimal meine Wohnungen in Chongqing und Fuling durchsucht. Anlass waren die Geschehnisse, an die dieses Buch erinnern sollte; dabei wurden meine sämtlichen Manuskripte aus den 80er Jahren konfisziert, insgesamt etwa 1 500 000 Schriftzeichen, das sind fast zweitausend Seiten in einer westlichen Sprache. Danach stürmten sie im September 1998, im März 1999 und im Dezember 2002 meine Wohnungen u.a. in Beijing, Jiangyou und Chengdu; ich wurde verhaftet, durchsucht, man raubte mir sämtliche Manuskripte (über 1000 Seiten), darunter auch »Fräulein Hallo und der Bauernkaiser – Chinas Gesellschaft von unten« und die »Aufzeichnung der Justizverbrechen in China«.
Bei jedem dieser Desaster kam mir der gleiche Gedanke in den Sinn wie Solschenizyn, wenn der KGB wieder einmal sein Manuskript des »Archipel Gulag« beschlagnahmt hatte: »Sofort veröffentlichen!«
Aber die Zeiten haben sich geändert, mir bleibt nichts anderes übrig, als Höhlen zu graben, immer mehr Höhlen, wie eine Maus, und die überlebenden Texte immer sorgfältiger an immer entlegeneren Orten zu verstecken …
Im März 1990 hat das Amt für Öffentliche Sicherheit des chinesischen Staates in Chongqing einen außerordentlich großen Fall von Konterrevolution aufgedeckt; überführt wurden ausnahmslos nichtstaatliche Avantgarde-Dichter und Künstler von einem gewissen Einfluss. Es handelte sich dabei um Liao Yiwu, Wan Xia, Liu Taiheng, Li Yawei, Ba Tie, Gou Mingjun und den Videokünster Zeng Lei. In über zehn Städten wie u.a. Chongqing, Chengdu, Fuling, Leshan, Nanchuan, Beijing, Shenzhen und Shanghai wurden Kulturschaffende vorgeladen, vor Gericht gestellt, in Prozesse verwickelt, inhaftiert – darunter die Romanautoren Zhou Zhongling und Wu Bin, die Dichter Shi Guanghua, Liu Xia, Liu Yuan, Zou Jin, Wei Haitian, Zhu Ying, Bai Yunfeng, Song Wei, Li Mai, Liang Yue, Kuang Hongpo, Sun Jiangyue, Zhong Shan, Li Zhen, Kai Yu, Yu Tian; die Ehefrauen überführter Delinquenten wie A Xia, Wei Jixue, Chen Youmin, Liu Xiaoya, Dong Nan, Xiao Xiao; Studenten wie Fan Dongmei und Zhao Panhong und schließlich Xiao Xujia, ein wichtiger Verantwortungsträger in der Einheit, in der Liao Yiwu vor seiner Verhaftung war. Die Polizeibehörden verlautbarten: »Das ist seit dem 4. Juni 1989 auf dem Tiananmen der größte Fall unter Kulturschaffenden!«
Am 31. Januar 1994 wurde Liao Yiwu auf internationalen Druck 43 Tage vor Ablauf seiner Strafe aus dem Gefängnis entlassen. Er hat sich anschließend scheiden lassen und Schulden gemacht, um sein Kind zu versorgen. Dieser »literarische Brandstifter« hat eine Zeitlang sein Unwesen getrieben, aber keine Spuren in der Geschichte hinterlassen, im Gegenteil, er versank, zur Schande der Menschheit versank er in einem Haufen Hundescheiße – von seinen Kollegen ausgelacht, getreten und verachtet, verkroch er sich in die hintersten Winkel und wurde am Ende vergessen. Außer seiner Familie hat sich noch am meisten die Polizei um ihn gekümmert: Wohin er auch kam, eine unsichtbare Wand folgte ihm auf dem Fuß.
Sein Aufenthaltsort für die nächste Zeit wurde ein kleiner Bezirk namens Baiguolin, vor ein paar Jahren noch ein ödes Vorstadtgebiet, wo über Nacht die Läden und Geschäfte explosionsartig aus dem Boden geschossen waren. Seine Eltern kümmerten sich um die Ernährung, und er hatte jede Menge Zeit, im Hof zu sitzen und in den Himmel zu schauen: »Das ist alles so lange her«, dachte er, »der Ritter schaut zu, wie die Schneide seiner Seele langsam verrostet, was ihm noch an Leben bleibt, verbringt er im Kampf mit dem Rost.«
Wenn es dunkel war, drückte er sich draußen an den Mauern entlang, sie waren robuster als ein Gefängnis. Wenn er an einem Betonzaun vorbeikam, zog er den Kopf ein und schaute sich um, nach einem, der reich war, den er ausnehmen konnte, um es, weit weg, seiner armen Frau und seinem armen Kind zukommen zu lassen – und es waren allein die althergebrachten Moralvorstellungen, die man ihm vor vielen Jahren beigebracht hatte, die ihn davon abhielten.
Im Gefängnis lernte er Flöte spielen. Wenn er deprimiert war, spielte er wütend und böse auf diesem metaphysischen, fast schon heiligen Instrument. Das Leben war hart, fast wie die Schneide eines Messers, er hatte nur die Wahl, sich an den Markt anzupassen, weiterzuschreiben oder sich umzubringen.
Er wählte das Schreiben. In der Falle, in der sie saßen, hatte sich eine Reihe von Literaten im Land für das Schreiben entschieden, für ein Schreiben ohne Hoffnung; niemand reichte ihnen eine rettende Hand, zollte ihnen Verständnis oder Anerkennung, niemand trug sie auf Händen, so sah die äußere Realität ihrer inneren Wirklichkeit aus. Sie mussten nüchterner werden, entspannter, offener, sie durften sich nicht zu viele Sorgen machen um die alten düsteren Gesichter, um ihre betagten Eltern, sie mussten weiter die Krallen und Zähne ihrer Erinnerung schärfen, sie durften nicht zu früh Rost ansetzen.
Der Autor des »Archipel Gulag« sagte: »Vergessen heißt, beide Augen verlieren!«
An einem der kältesten Abende im Winter 1994 besuchte Liao Yiwu den schon von Mao Zedong namentlich kritisierten Dichter und Rechtsabweichler Liu Shahe.[1]
Der alte Vagabund saß in ein altes Sofa gekauert, sein Gesicht war blass, aber seine Lippen waren frisch, im fahlen Licht der Lampe sah er aus wie ein abgeschminktes Theatergespenst: »Ich bin ein weltflüchtiger Geist«, lachte er, »ich bin mit dem Leben im Reinen, und mit mir selbst auch.«
Seine Stimme war noch ganz hell, er redete noch immer wie ein Buch, während fast dreier Stunden kam Liao Yiwu nur dreimal zu Wort, und das waren Antworten auf seine Fragen. Er fragte, was er in letzter Zeit gemacht habe, Liao antworte: »Geschrieben, zu Hause.«
»Auch noch Gedichte?« Seine Augen blitzten. Liao schüttelte den Kopf. Er nickte und sagte im Brustton der Überzeugung: »Ich weiß, ich weiß! Du wirst auch keine Gedichte von solcher Vorstellungskraft mehr schreiben können! Wer so vom Schicksal geschlagen ist wie du und ich, der hat Verletzungen davongetragen, die nicht mehr heilen – also, gib den Dichter auf und werde ein Zeuge der Geschichte. Was du sagst, ist dummes Zeug, aber der Himmel hat dir ein ungewöhnliches Talent gegeben, das Schreiben, und er weiß, dass du keine Lügen verbreiten wirst. Er hat dich durch das Fegefeuer geschickt, du solltest die fürchterlichsten Qualen mit eigenen Augen sehen und am eigenen Leib erleben. So viele fallen ihnen in die Hände, aber nur dir wurde die Chance gegeben, da herauszukommen, dich bei klarem Verstand zu erinnern und alles aufzuschreiben. Manchmal ist es auch ein Segen, wenn man durch die Verzweiflung hindurchgeht! Du musst ehrlich sein, wenn du schreibst, und wenn dann der Tag kommt, kann deine Arbeit Zeugnis ablegen oder als Material dienen, sie wird in den Archiven sein, Menschen werden sie ausleihen und lesen, sie können ihnen als Beweis dienen, das ist nicht schlecht. Und wer falsches Zeugnis ablegt, den wird der Zorn des Himmels treffen!«
Liao glühte am ganzen Körper. Um die Schwäche, die ihm in den Knochen steckte, zu kaschieren, fragte er: »Warum schreiben Sie es nicht?«
»Zu alt!«, seufzte der alte Vagabund, »Löcher in den Eingeweiden, die Augen wollen nicht mehr; bevor ich klar gesehen habe, habe ich viel geschrieben, aber seit ich durchblicke, kriege ich mich zu nichts mehr.«
Liao stand auf und verabschiedete sich, wobei ihm ein Kürbis auffiel, der als Raumschmuck ganz nah bei dem grauen Kopf hing, auf ihm stand »Kürbisbube« (ein Ausdruck für einen Verrückten im Dialekt von Sichuan).
Er stieg die Treppe hinunter, es war spät geworden und still. Ein gespenstischer Wagen, der heulende Wind, die vorbeihuschenden Larven der wenigen Passanten. Im Himmel über der Großstadt standen die Sterne wie Lichtzungen, sie drehten, dehnten sich, schrumpften und leckten schmerzhaft über seine Wangen. In diesem Augenblick schien er tatsächlich Gott zu sehen, Gott, auf seinem höchsten Richterstuhl, sein Leben war zu Ende, und seine Seele trat aus ihrer Höhle heraus – war er wirklich bereit, noch einmal die Maske eines Avantgarde-Dichters aufzusetzen, um vor Gericht als Zeuge aufzutreten?
Das waren jetzt bereits drei Jahre, erinnerte er sich, er hatte das vorliegende Buch gerade konzipiert und konnte noch nicht Flöte spielen, später hatte er die fixe Idee, er sei von einem 84 Jahre alten Mönch namens Sima, einem Mitgefangenen, im Flötenspiel und in der daoistischen Bauchatmung unterwiesen worden, jedenfalls brachte er es auf dem Instrument allmählich zu einer gewissen Meisterschaft und pustete seine schriftstellerischen Ambitionen zu einem Gutteil aus sich heraus.
Übrig blieb die Kühnheit, Zeugnis abzulegen.
Früher galten Liao Yiwu und A Xia in ihrem Umfeld als regelrechtes Traumpaar, ein paar Monate vor Liaos Entlassung jedoch bestand ihre Beziehung nur noch dem Namen nach. Ihn quälte das Gewissen, dass sie seinetwegen, schwanger, wie sie war, über einen Monat im Gefängnis gewesen war, den ganzen Tag schwamm sie in Tränen und musste sich doch zwingen, gute Miene zu machen, um die dauernden grausamen Verhöre durchzustehen. Als sicher war, dass man sie entlassen würde, umklammerte sie mit beiden Händen ihr Bündel, tastete sich durch die tiefen Schatten des sonnigen Tages. Sie hatte Mühe, die Treppe am Ende der Gasse hinunterzukommen, da stieß sie jemand in den Rücken, entriss ihr das Bündel und rannte davon. Sie taumelte und fiel in den Staub, ihr Mund stand weit offen, aber sie konnte keinen Laut von sich geben. Die Umstehenden genossen schweigend das Schauspiel und gingen nur zögernd weiter.
»Ich habe gute fünf Minuten gebraucht, um wieder auf die Beine zu kommen«, sagte sie, »ich hatte Angst, das Kind in meinem Bauch hätte was abbekommen.«
Dann kamen Hausdurchsuchungen mit Beschlagnahmen wegen Diebstählen, es kam die Geburt, eine Infektion, eine unbeschreiblich schwere Zeit, von der er erst im Nachhinein erfuhr, als er gewahr wurde, dass aus ihr eine Frau geworden war, die, wenn es nottat, den Mut hatte, bis zum Letzten zu kämpfen. Die Szene ihrer Scheidung war sehr bewegend, sie ließ ihn mit einer einmaligen Zahlung für die nächsten zehn Jahre den Unterhalt für ihre gemeinsame Tochter Miaomiao abgelten, ab sofort sollte jeder Kontakt aufhören; er sagte, ich kann mich nicht scheiden lassen. Sie nannte ihn ein Tier, er sagte, ich bin ein Tier, um genau zu sein, ich bin ein Hund.
Und dieser Hund war gezwungen, die Haut eines Menschen zu tragen.
Als er den Schwanz einzog und sich trollte, stand seine Tochter hinter einer Balkontür und spuckte ihm nach.
»Es hat mir nicht gefallen, dass ein Kind von vier Jahren so voller Verachtung ist«, seufzte er. Und dachte unwillkürlich daran, wie die Literatur seine Frau und ihn einmal verbunden hatte, und jetzt, wenn sie jetzt ein Manuskript von ihm zu Gesicht bekam, fing sie an zu schreien, hysterisch zu schreien.
Das Massaker ging weiter, in ihrem Blut, da war ein Sinologe, der hatte sein Gedicht »Massaker« einfach mit »Der Schrei« übersetzt, der lange Schrei von Menschen, denen keine Wahl mehr bleibt.
Feifei, meine große Schwester, sie kam bei einem Autounfall ums Leben. Sie war 37 Jahre alt. Ich habe darüber jede Menge Gedichte geschrieben, traurig-schön und mit Stil. Ich habe ganz bewusst alles weggelassen, was mit Dreck und Blut zu tun hat, ich fand, so würde ich der Toten, die in ihrer Art nicht von dieser Welt war, gerecht. Ich habe es mir einfach gemacht, zur Wahl standen Wahrheit und Ewigkeit, ich habe mich für die Ewigkeit entschieden. Derartige Traumwelten schüttelt jeder Romantiker wie ich aus dem Ärmel, Feifei wurde zu einem anderen Wesen, sie schwebte empor und verband sich mit den Zehntausend Dingen der Welt.
Ich schwadronierte etwas von »Religion des Blutes« und vergaß dabei, dass die Tote auch Augen gehabt hatte.
An einem bösen Tag im April eines Drachenjahres trug ich dieses Telegramm bei mir: »Autounfall, Schwester tot«. A Xia, die beim Abschied aussah wie eine weinende Niobe, brauchte mit Schiff und Auto für die 1000 chinesischen Meilen von der Bergstadt Fuling im Osten bis nach Mianyang im Westen von Sichuan zwei Nächte, und ich wurde, weil mein Linienschiff von Fuling nach Chongqing Verspätung gehabt hatte, dort einen ganzen Tag aufgehalten. Ich traf zufällig einen Dichterkollegen, einen Arzt, und wir gingen zusammen essen. Es war völlig verrückt, ich fing auf einmal an, irgendwelches sinnlose Zeug von mir zu geben, und ich hatte einen unglaublichen Appetit – und doch das Gefühl, das war nicht mein Mund, der da schwadronierte und vollgestopft wurde. Eine Stimme sagte mir, ich müsste trauern, aber ich konnte es nicht, ich konnte unter dieser strahlenden Frühlingssonne nicht trauern. Wie hätte ich sie auch mit einem Autounfall in Verbindung bringen sollen, meine Feifei, dieser leichte Regen, dieser sanfte Windhauch, mit ihren regelmäßigen, weißen Zähnen, mit ihren wie mit Nadeln gestochenen Grübchen?
Um zehn Uhr abends bestieg ich den Zug in Chongqing und schlief. Mitten in der Nacht wurde ich wach, in kalten Schweiß gebadet, das Abteil war zum Brechen voll, die stickigen Ausdünstungen von Menschen und Abfall drehten mir den Magen um, ich lehnte mich gegen das Fenster, es würgte mich, ein kalter schneidender Wind zog herein und schmerzte in der Lunge. Ich stürzte einen großen Schluck kaltes Wasser herunter und stöhnte: »Rasende Leichenkammer.«
Feifei stand draußen, vor dem Fenster, das lange Haar aufgelöst. Schnell senkte ich den Kopf. Ich würde bald am Ziel sein, immer klarer trat mir ins Bewusstsein, dass ich Angst hatte, Angst, ihre sterblichen Überreste zu sehen, auch wenn ich sie im Traum schon »gesehen« hatte.
Vom Bahnhof in Mianyang hastete ich direkt zu dem vertrauten alten Haus Nr. 87 in der Straße zum Roten Stern, der Kopf der Leiche, die meine Feifei war, war geschwollen, ein Stock, den es nicht brauchte, stützte mich, als ich nach vorn trat, als ich die Hand hob, um anzuklopfen, ging die Tür auf.
Da war keine Tür, ich hatte wie ein Shamane auf dem Land zweimal ins Leere geklopft, die erschrockenen Gesichter der Verwandtschaft rissen mich aus meinem Traum. »Meine Schwester«, ich suchte den Raum mit Blicken ab, »und meine Schwester?«
Niemand beachtete mich. Das Zimmer war schon wieder aufgeräumt, die Trauerbanner lagen dick zusammengelegt in der Ecke, wo der Abendwind hinkam, zerstob draußen auf der Terrasse die schwarze Asche, die vom Verbrennen der Kränze übrig war. Die Verwandten standen im Kreis herum wie ein Teil der alten Möbel und bewachten diese erschütternde Urne, die in der Mitte stand.
»Wieso kommst du jetzt erst?«, fragte meine jüngere Schwester Xiaofei vorwurfsvoll.
»Wir haben drei Tage auf dich gewartet«, hielt mein Schwager mir vor, »es ist warm, wir konnten nicht länger warten.«
»Feifei hat nicht sterben wollen«, seufzte Vater.
Ich zog das Telegramm heraus, streichelte es eine Ewigkeit, als hätte ich sie nicht mehr alle, erst jetzt fiel mir auf, dass es mich zwei Tage zu spät erreicht hatte!
»Wie ist das möglich?!« Alle schauten einander bestürzt an. Ich war wie vom Blitz getroffen, Tränen schossen mir aus den Augen, ach, Feifei, das warst du, deine Seele hat im Himmel dafür gesorgt, dass das Telegramm zu spät kommt, du hast ganz genau gewusst, was für eine Angst dein Bruder vor dem Tod hat!
Das kreischende Entsetzen in meinen Ohren ebbte ab, ich löste die roten Seidenbänder und suchte in der Urne nach Feifei.
»Das ist alles?«, sagte ich traurig.
»Da war nicht mehr!«, sagte mein Schwager hastig, »ich habe die ganze Zeit aufgepasst, ich habe den Ofen nicht aus den Augen gelassen.«
Ich schämte mich in Grund und Boden. Die roten Schleifen waren wie ein Bündel kalter Flammen, ihre feinen Zungenspitzen sogen an meinen Fingern, es tat weh.
»Wenn ich tot bin, dann bringt mich mit ihr heim, nach Lijiaping«, sagte Vater. »Dein Großvater, deine Großmutter, alle sind dort zusammen, unter den Neun Quellen ist es nicht einsam.«
»Wir sollten Feifei in Chengdu begraben«, widersprach meine jüngere Schwester, »sie hat immer nach Chengdu zurückgewollt.«
»Ein Mensch geht aus wie ein Licht«, schluchzte ich, warum auch immer, »es ist doch egal.«
»Wieso soll das egal sein?!«, knurrte Damao.
Feifei war die Erste aus meiner Familie, die ich verlor. Zwar war Anfang des Jahres mein Großvater gestorben, aber dieser alte Großgrundbesitzer in seinem abgelegenen Bergdorf da oben war nie wirklich ein Teil meines Lebens gewesen, meine Trauer um ihn war reine Formalität, es gehörte sich. Aber Feifei war eine Frucht vom gleichen Stamm, sie war unser Blut, Damao, ich, Xiaofei, wir hingen an ihr nicht weniger als an unserer Mutter.
Feifei hat ihr Leben lang geschuftet, als kleines Mädchen war sie es gewohnt, sich in dem Bottich mit den großen Füßen um die Dreckwäsche der ganzen Familie zu kümmern. Wenn sie platschend und plätschernd und voller Enthusiasmus zu Werk ging, schmetterte sie Lieder aus alten Filmen.
Die Gruselgeschichten, die sie erzählte, waren berühmt, vor ihren Totenkammern, Glockentürmen, Geistern von Gehenkten, von deren Zungenspitze drei Meter lange Eiszapfen herunterhingen, huschten wir Geschwister entsetzt unter die Bettdecke und wagten nur noch mit einem Auge nach draußen zu schauen. Einmal war sie mitten in der Nacht plötzlich spurlos verschwunden. Unsere Eltern hasteten in die gemeinsamen Räume, aber Xiaofei und ich beteuerten einmütig, Feifei möge Geister und sei am Ende womöglich einem begegnet.
Am Vorabend der Kulturrevolution kehrte Feifei ihrem Heimatdorf den Rücken und ging weit weg, zur Holzfabrik in Pingwu; unsere Familie wurde zu einem »Nest von Rinderteufeln und Schlangengeistern«[2] gemacht und von der Diktatur auseinandergerissen. Feifei, dies vorahnend, entging dem allem tief in ihren alten Bergwäldern, wo die Pandas lebten. Und nicht nur das, sie erlebte die glücklichste Zeit ihres Lebens. Sie fälschte ihre Klassenzugehörigkeit, mischte sich unter die Propagandaeinheiten, die die Mao-Zedong-Ideen verbreiteten, spielte in der Modelloper »Shajiabang«[3] die A Qing, das ist die Hauptrolle, und war die Sensation in der Hauptstadt Chengdu. Meine Mutter hat heute noch ein vergilbtes Theaterplakat, Feifei, rank und schlank in einem Schneefeld.
Damals hatte Feifei so viele Verehrer, dass sie einen Fan-Club gründeten, doch als es unserem Bruder Damao bei den jugendlichen Intellektuellen[4] nicht gutging, war ihr kein Weg zu weit. Früher oder später fiel auch für Xiaofei und mich etwas von dem Glanz ab.
Einmal sahen wir mit eigenen Augen so einen hübschen jungen Mann, wie er ihr den Hof machte, keinen Erfolg hatte, ein paar Packungen Streichhölzer verschluckte und sich umbrachte. Feifei liefen die Tränen über das Gesicht, aber sie ließ sich durch nichts umstimmen. Als sie später allerdings wirklich an einem Leutnant der Volksbefreiungsarmee Gefallen fand, ging das wegen irgendwelcher Unregelmäßigkeiten im politischen Führungszeugnis schief.
Die Zeit floss dahin, Feifei fand sich einfach damit ab. Sie heiratete, zog um, wurde Mutter von zwei Kindern, schuftete den lieben langen Tag und fand Anerkennung bei den Leuten. Am vierten Tag nach dem Frühlingsfest hatte ich sie in Chengdu zum Bahnhof gebracht, wir ruderten in einem Meer von Menschen zum Fahrkartenschalter, sie zerrte mir ihr Reisebündel von der Schulter, warf es sich über, schnappte sich ihre beiden Kinder, zog sie mit sich weiter, wandte mir noch einmal ganz unwillkürlich den Kopf zu und rief: »Ermao, ich gehe dann mal!« Es war ein Abschied für immer.
Das war eine Szene auf einem Relief, mir lagen Steine in der Kehle. Feifeis Tod nahm alle mit, die Nachbarn in unserer Straße wie die Verbrecherinnen im Gefängnis, überall wurde Geld gesammelt für Trauerbanner, und jede Menge Tränen wurden vergossen. Feifei hatte von Natur aus ein gutes Herz, sie konnte niemanden weinen sehn, ich machte mir Sorgen, dass so viele weinende Gesichter ihre Seele völlig erschöpfen könnten.
Aber ihr gutes Herz ging über ihre Kräfte. Buchstäblich. Dieses Jahr an Neujahr saß die Familie bis tief in die Nacht um den Ofen herum, sie erzählte, dass sie nach Pingwu zurückkehren werde, beruflich, und wenn sie ein wenig Geld zusammenhabe, könnten wir alle zusammen eine Reise machen.
»Papa kann in seine alte Heimat nach Jiangxi fahren, und ich, ich habe so viele Jahre geschuftet, ich sollte auch einmal ein wenig herauskommen.«
Ein wenig herauskommen! Sieben Leute waren im Wagen, aber nur sie ist ums Leben gekommen, dabei konnte sie schon gar nicht mehr sagen, wie oft sie die holprige Straße durch dieses Waldgebiet schon hin- und hergefahren war. Der Kleinbus geriet ins Schleudern und stürzte in einen tiefen Graben, der linke Vorderreifen hing in der Luft, sie wurde aus dem Wagen geschleudert, und in zehn Meter Entfernung bohrte sich eine Baumwurzel dick wie die Öffnung einer Reisschale durch ihre Hüfte. Die Leute zogen sie ganz langsam heraus, ihr Unterleib war blutüberströmt. Ein alter Freund hielt sie im Arm und rief immerzu: »Feifei! Feifei!«
Er drängte den Fahrer, sich auf den Weg zu machen. Ihre Lippen klebten an seinem Ohr, als murmele sie ein paar alte Geschichten. Als sie den letzten Atemzug tat, hob sich ihr Kopf ein wenig, ihr Gesicht war weiß wie ein klarer, endloser Winterhimmel.
Unsere Eltern haben sich in Jiangxi kennengelernt, aus den wenigen Worten, die ihnen dazu zu entlocken waren, bastelte ich mir den allgemeinen Grund für unsere Existenz zurecht. Wu Jiu, mein fünfter Onkel mütterlicherseits und seines Zeichens Besitzer einer Wanderbühne, zog mit seiner ganzen Pekingoper-Truppe von Sichuan weg, sie tourten durch eine Reihe von Provinzen am Yangzi entlang und ließen sich in irgendeinem Kreis am Poyang-See nieder. Wu Jiu war ein hochfahrender Charakter und beleidigte den lokalen Despoten, der ihn totschlagen ließ. Die Theatertruppe war ohne Kopf, und sofort lief alles auseinander. Meine Großmutter mütterlicherseits hielt mit meiner minderjährigen Mutter an der Hand Totenwache und beerdigte Wu Jiu in der Vorstadt. Just als sie vor dem frischen Grab ihr Papiergeld verbrannt, ihre Kotaus gemacht und von der Seele des Verstorbenen Abschied genommen hatten, kam ein Einpauker für Schriftzeichen vorbei, er war auf einem Ausflug ins Grüne. Man erkannte einander am Tonfall, man war aus der gleichen Gegend, es war Schicksal.
Bevor meine Großmutter starb, vertraute sie ihre Tochter meinem Vater an, und so verbrachten die beiden ihr Leben im Streit, mit vielen Aufs und Abs. Mutter sagte: »Die Tage vergehen, was heißt da Liebe?« Daraus entstanden vier Kinder.
In alten Fotografien zu blättern und langsam zu den eigenen Wurzeln zurückzugehen, das ist in vielen traditionellen Familien ein Hauptvergnügen. Leider gab es in meiner Familie keine alten Fotos, die die Zu- und Abneigung aus den frühen Jahren unserer Eltern hätten bezeugen können. Es gibt ein paar Fotos von jedem allein, auf einem ist meine Großmutter mütterlicherseits mit meinem Vater, der Schwester und dem großen Bruder zu sehen – und doch, das alles ist mehr wert als irgendwelche bedeutenden archäologischen Funde.
Feifei glich aus, was unsere Eltern nicht geben konnten, aus dem monotonen gesellschaftlichen Umfeld der Großen Kulturrevolution hat sie uns viele lebendige Fotografien hinterlassen. Wenn man sie aufeinanderstapelt, sind sie einen halben Mann hoch. Achtzig Prozent sind schwarzweiß. Sie hat jeden neuen Abschnitt unserer Familie sorgfältig dokumentiert, das Leben von zwei Generationen ist hier gesammelt.
Die Verwandtschaftsbande griffen von diesem alten Grab auf dem Gebiet von Jiangxi in Kreisen immer weiter in die Welt hinaus, und jetzt war Feifei noch vor ihren Eltern zu diesem alten Grab zurückgekehrt.
Ich steckte die schwarze Trauergaze in den Gürtel und machte, bevor es dunkel wurde, mit zwei Cousinen ein Foto. Der Boden unter mir fing an zu schwanken, als würde die Bühne jeden Augenblick unter mir zusammenbrechen. Ich öffnete einen Vorhang, der gar nicht da war, und ging mitten auf der Straße in Richtung Bühnenvordergrund. Hinterlistig blinzelnde Lampen, Autos, die wie Meeresgetier an mir vorbeihasteten, rechts und links provisorische Häuser, es schien, als könne man mit einem Schritt aus der großen Höhle hinaus. Der Regen wusch die Straße spiegelglatt, über ihm, groß, der Hohlspiegel des Sternenhimmels.
Weiter, weiter, ich hatte Angst, stehen zu bleiben, hatte Angst, wer stehen bleibt, denkt Unsinn. Ich saß, vollkommen durchnässt, mit ein paar Leuten in einem Restaurant, trank und redete über Gedichte. Mir gegenüber saß eine Frau, ihre Blicke waren heiß, sie sah aus wie ihre ältere Schwester, die ich in Hainan kennengelernt hatte. Ich brauchte so einen Körper, so einen Tierkörper, stark und gesund, brauchte das Fieber der Begierde, das mir die Haut verbrannte und das Eis aus den Knochen presste! Auf das Leben war kein Verlass, es war wie ein Weinglas, schnell ging alles zu Bruch. Ich musste eine Frau abschleppen, auf der Stelle, den Kopf zwischen Brüsten vergraben, den Dachtraufen meiner Kindheit, um den Wahnvorstellungen zu entgehen, mit denen der Tod Feifeis mich in Stücke riss.