Darleen Alexander

 

 

 

Wölfe des Ragnarök

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Roman

 


1. Kapitel

 

Josi fiel. Cassandra wurde plötzlich übel und sie rannte noch schneller auf die Stelle zu, wo Josi eben noch gestanden hatte. Ohne weiter zu überlegen, sprang sie hinterher. Zum Glück war die Brücke nicht sehr hoch, aber das Wasser war eiskalt und Barbara hatte auf Josi geschossen. Cass drehte sich im Wasser herum und suchte nach Josi. Nichts. Nur Dunkelheit. Sie schwamm wieder an die Oberfläche, um Luft zu holen, und tauchte dann erneut ab. Immer wieder musste sie auftauchen. Die Zeit schien rasend schnell zu vergehen. Dann sah sie auf einmal etwas Weißes im Wasser treiben. Sie schwamm darauf zu und bemerkte sofort, dass es Josis lebloser Körper war. Sie zog ihn an die Wasseroberfläche und die Angst schien sie zu lähmen. „Josi! Atme!“ Doch sie reagierte nicht.

 

Cass nahm ihre ganze Kraft zusammen, packte Josi am Oberkörper und schwamm zusammen mit ihr an den steinigen Rand der Brücke. Erik war schon dort, sichtlich blass und verängstigt. Wären Cassandras brennende Lungen nicht gewesen, die wie verrückt arbeiteten, um Sauerstoff in die misshandelten Muskeln zu bringen, wäre sie wahrscheinlich auch in wilde Panik verfallen.

Erik raufte sich immer wieder die Haare und als sie näher kam, watete er bis zum Hals ins verhasste Wasser, um ihr Josi abzunehmen. Das war Liebe in ihrer reinsten Form.

Würde Josh ebenso leiden, wenn sie fast starb? Sie stutzte und biss sich fast im selben Moment auf die Zunge. So hatte Josh reagiert, als sie bei der Geburt fast gestorben war. Mit einem Kopfschütteln versuchte sie, die Gedanken zu vertreiben. Sie konnte jetzt nicht darüber nachdenken. In ihrem Kopf wirbelte sowieso gerade alles durcheinander. Das Hauptziel war im Moment, dass sie Josi und das Baby retteten.

»Sie ... atmet nicht. Mund ... zu ... Mund ...« Cass zog sich selbst an Land und ließ sich mit einem lauten Klatschen auf den Boden fallen. Von dort aus beobachtete sie Eriks Bemühungen, seine kleine Familie zu retten.

Er blies seiner Gefährtin immer wieder lebensspendenden Atem in die Lungen und wechselte dann schnell zur Herzdruckmassage. Das dauerte viel zu lange. Sie dachte an Charly und seine Erzählungen aus dem Medizinstudium und dem Krankenhausalltag.

Babys konnten im Mutterleib zehn Minuten ohne Sauerstoff auskommen. Hatte sie diese kurze Zeitspanne schon überschritten? Lebte das Baby noch? Cass war immer noch völlig außer Atem und schloss für einen Moment die Augen, um wieder ihre innere Ruhe zu finden.

Wenn sie und Erik in Panik verfielen, würde das Josi kaum helfen. Sie musste einfach hoffen, dass das Baby länger durchhielt. Langsam begannen ihre Finger zu kribbeln und die Kälte kroch ihr bis ins Mark. Sie musste sich unbedingt bewegen. Sie musste Erik und Josi helfen.

Dieser bemühte sich weiter mit der Widerbelebung, starrte immer wieder kurz auf Josis Bauch, als hoffte er, eine Reaktion sehen zu können. Cass konnte ihm deutlich die Angst um seine kleine Familie ansehen. Hatte Josh damals auch so ausgesehen, als sie Carmen zur Welt gebracht hatte?

Sein ängstlicher Blick wanderte schließlich zu seiner Schwägerin und panisch rief er: »Sie wird bald erwachen und dann ist wieder alles gut.« Trotz dieser Aussage waren weder Erik noch Cassandra beruhigt. Als sie sich wieder etwas abgeregt hatte und zu Atem gekommen war, krabbelte sie zu den beiden und kniete sich neben Erik.

»Aber das Baby kann nicht überleben. Nicht so.« Erik wurde wieder blass. »Wir müssen das Kind holen, sonst stirbt es.« Erik schien sie nicht gehört zu haben. Sein wirrer Blick wanderte immer wieder zwischen Josi und dem Babybauch hin und her. Cassandra versetzte ihm einen recht kräftigen Stoß gegen den Oberarm und schrie: »Erik! Reiß dich zusammen! Deine Frau und dein Kind brauchen dich jetzt!«

Er erwachte aus seiner Benommenheit und Cass reichte ihm ihren Dolch. Plötzlich war sie froh, dass sie mehrere bei sich trug und sie erst vor kurzem geschärft hatte. Mit etwas sanfterer Stimme erklärte sie: »Versuch, nicht zu tief zu schneiden. Nicht dass du das Kind verletzt.«

Einen Moment lang war sie sich nicht sicher, ob er diesen Weg gehen würde, aber dann nahm er ihr den Dolch aus der Hand und wandte sich an seine Geliebte. Mit zitternder Hand legte er den Dolch an und schnitt unterhalb des Bauches. Obwohl sie nicht gläubig war, betete sie stumm für Josi und das Kind. Ihnen durfte einfach nichts passieren. Dafür war Josi ein zu guter Mensch und das Baby einfach noch zu unschuldig.

Sie hievte sich auf ihre wackeligen Beine und ging auf die andere Seite, wo sie besser sehen und vor allem besser an das Baby kommen konnte. Einmal tief Luft holen. Ich schaffe das. Schon seit Tausenden von Jahren halfen Frauen bei Geburten. Zwar nicht unbedingt bei einem Notkaiserschnitt an einer Rabenhexe, aber es gab für alles ein erstes Mal.

Cass wartete, bis Erik den Schnitt ausgeführt hatte, und als das Blut zu fließen begann, fuhr sie mit den Händen in Josis Leib. Es fühlte sich so fremd an. Sie hatte erwartet, dass es sich kalt und ekelig anfühlen würde, aber als sie sich durch das Gewebe und das Blut arbeitete, fühlte es sich an, als würde sie ihre Hände in lauwarmes Wasser tauchen.

Dann stießen ihre Finger an eine letzte Barriere. Die Fruchtblase. Eine ihrer Krallen fuhr heraus und sie zerstach den letzten Widerstand. Und da - plötzlich fühlte sie das Baby. Tränen des Glücks schossen in ihre Augen und sie tastete es vorsichtig ab. Als sie mit einer Hand den Kopf und mit der anderen einen Oberschenkel erfassen konnte, begann sie, es behutsam aus Josis Leib zu ziehen.

 

»Da ist es.« Cass hob vorsichtig das Baby heraus und Eriks Blick wanderte zu dem Gesicht seiner Geliebten. So war das alles nicht geplant gewesen. Er hatte sich eine normale Geburt im Krankenhaus oder in der Villa gewünscht, aber nicht so etwas.

Plötzlich blieb sein Herz für einen Moment stehen. Babys schrien doch normalerweise bei der Geburt. Aber dieses war still. Kein Schrei, wie sie es erwartet hatten. Angst schnürte ihm den Hals zu. Sie waren nicht schnell genug gewesen. Und immer noch konnte er seinen Blick nicht von seiner Geliebten abwenden. Ihr Gesicht so blass. Die Lippen blau.

»Gib mir deine Jacke!« Erik zog sie mit unkoordinierten Bewegungen aus und reichte sie Cass, ohne auch nur zu blinzeln. Er wollte Josi in die Augen sehen, wenn sie erwachte. Sie würden sich mit Tränen füllen. Genau wie seine. Sie würden gemeinsam trauern.

»Sie wird es nicht verkraften. Sie hat das Kind schon vergöttert, als es noch nicht da war. Jetzt eine Totgeburt ...«, da zerschnitt ein Schrei die Luft. Sämtliche Gedanken lösten sich in Nichts auf. Alles war nebensächlich. Das Einzige, was für ihn wichtig war, war dieser Schrei.

»Totgeburt? Schau dir deine kleine zornige Prinzessin mal an! Sie ist sehr lebendig.« Er wandte den Blick kurz ab und sah in Cassandras Arme. In seine Jacke eingehüllt, lag ein kleines Wesen, das schrie und zappelte. Er konnte schwarze kurze Haare erkennen und ihre Stirn lag in Falten. Das kleine Gesicht war dunkelrot und ihre kleinen Hände waren zu Fäusten geballt.

Tränen des Glücks sammelten sich in seinen Augen und für einen Moment war sein Herz erfüllt von Wonne. Er war der Vater dieses kleinen Mädchens und er würde sie für immer beschützen. Und doch zog es seinen Blick nach wenigen Momenten wieder zu Josi. Zu seinem dunklen Engel, der ihm an diesen einem Tag so viel geschenkt hatte.

Über ihnen ertönte das Quietschen von Reifen und mehrere Männer sahen suchend und etwas ungläubig zu ihnen herab.

»Da unten sind sie.« Das war sein Bruder. Josh würde sie hier herausholen und dann könnte er mit Josi und dem Baby nach Hause gehen. Seine kleine Familie. Sein ein und alles. Sein Leben. Cass sah nach oben und rief ihrem Mann zu: »Wir brauchen einen Krankenwagen. Josi ist ertrunken und wir mussten das Kind holen.« Hektik brach aus. Dann richtete sie sich wieder an Erik.

»Du musst deine Pflicht als Vater noch erfüllen.« Pflicht als Vater? Was meinte sie damit? Ein kleines Schmunzeln erhellte ihr Gesicht und sie wirkte nicht mehr so blass wie zuvor. »Die Nabelschnur.« Er hatte gar nicht mitbekommen, dass sie die Nabelschnur abgebunden hatte. Jetzt hielt sie wieder den Dolch in der Hand, der erstaunlicherweise relativ sauber aussah.

Erik schluckte schwer und seine Hand zitterte wie vorher, als er den Bauch seiner Geliebten hatte öffnen müssen. Aber bei diesem kleinen Schnitt konnte nichts passieren. Das Baby war auf der Welt. Sicher in den Armen seiner Tante. Einer Tante, der Erik mehr zu verdanken hatte, als er je in seinem Leben wieder gutmachen konnte.

 

 


2. Kapitel

 

 

Nachdem der Krankenwagen unverrichteter Dinge wieder abgezogen war, brachte Erik seine neue Familie nach Hause. Josi war bereits wenige Minuten, nachdem Erik die Nabelschnur durchtrennt hatte, wieder zu sich gekommen und hatte sofort ihr Kind sehen wollen. Cassandra konnte sie so gut verstehen. Und um ehrlich zu sein, beneidete sie Josi sogar. Sie hatte sich damals so sehr gewünscht, ihre kleine Tochter auch direkt in die Arme nehmen zu können, aber das war ihr verwehrt worden.

Auch der provisorische Kaiserschnitt, den Erik und sie vornehmen mussten, war bereits zusammengewachsen und sie konnte sich ohne Schmerzen bewegen. Ob das an ihrem Blut lag? An den heilenden Kräften? Oder waren Mischlinge prinzipiell besser, was die körperliche Konstitution anging? Egal.

Dem Notarzt hatten sie erzählt, dass Josi das Kind normal bekommen hatte. Immerhin gab es keine Wunde am Bauch. Zum Glück hatte Josi ziemlich vehement darauf bestanden, nicht untersucht zu werden. Denn der Arzt hätte auch keine normalen Geburtsverletzungen gefunden. Dieser hatte nur schnell das Baby durchgecheckt und gesagt, dass sie bald ins Krankenhaus kommen sollten, um sich über Impfungen und dergleichen zu informieren.

Joel war ein paar Minuten nach Josis Erwachen mit einer verletzten Shirin aufgetaucht. Nachdem er seine Nichte in der Welt begrüßt hatte, wanderte sein besorgter Blick immer wieder zu der schönen Kriegerin, die wie ein Fels in der Brandung neben ihm stand. Obwohl sie blutete und den Arm nicht bewegen konnte, jammerte sie nicht oder drängte darauf, dass die Ärzte nach ihr sahen. Aber nach ihrem ersten Zusammentreffen wusste Cass, dass Shirin keine normale Frau war. Sie war etwas Besonderes. Als sich die kleine Gruppe auflöste, brachte Joel die Kriegerin nach Hause. Und sie hatte ihm deutlich die Erleichterung angesehen, als Shirin keine Widerworte verlauten ließ.

Cass schmiegte sich erschöpft an Josh und stieß ein erleichtertes Seufzen aus.

»Alles okay bei dir?« Josh legte seinen Arm schützend um ihre Schulter und zog sie halb auf seinen Schoß. Er war so warm und sie trug immer noch die durchnässten Sachen am Körper, die nach Fluss und Schlamm rochen. Und sie erinnerte sich an das Blut. Viel Blut. In ihren Fingern zuckte es regelrecht, als sie an Desinfektionsmittel und Seife dachte. Ihr war richtig schlecht geworden, als sie Erik den Dolch hatte reichen müssen, der weder sauber noch steril gewesen war. Aber das war vorbei. Alles war gut gegangen. Mutter und Kind ging es ausgezeichnet.

»Nichts, was eine heiße Dusche nicht wegwaschen könnte.« Sie würde es nie zugeben, aber der Schreck steckte ihr immer noch tief in den Knochen. Josi so leblos zu sehen, die Angst, dass das Baby sterben könnte. Wenn sie zuhause ankam, würde sie als Erstes nach Carmen sehen.

»Was ist eigentlich genau passiert?« Josh strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht, wo wahrscheinlich noch viele andere an der Haut klebten.

»Wir waren einkaufen und da hat diese Verrückte erzählt, dass sie das Baby mitnehmen wollte. Das haben wir erst nicht für ihren Ernst gehalten, aber dann hat sie uns mit einem Schwert angegriffen. Wir sind geflohen, soweit Josi konnte, aber dann kamen wir nur noch langsam vorwärts.« Sie sah ihm tief in die Augen und wieder ergriff sie dieses Gefühl der Hilflosigkeit. »Sie war tot. Ich hatte furchtbare Angst, dass sie nicht wieder aufwachen würde.« Sie wandte den Blick ab und atmete tief ein. »Als ich dann das Baby in meinen Händen hatte … «, aufgewühlt hielt sie inne. Der Kloß in ihrem Hals schien keine weiteren Worte zulassen zu wollen.

»Schh. Beruhig dich.« Sie spürte, wie ihr die ersten Tränen über die Wange rollten. Das musste der Schock sein, der sie nun einholte. All ihre Ängste und Emotionen stürzten auf sie ein. Sie löste ihren Gurt und krabbelte auf Josh, der sie mit seinen Armen willkommen hieß. Ihr Mann. Ihr Geliebter. Ihr Seelenverwandter. Sie ließ ihren Tränen freien Lauf und Josh strich ihr tröstend über den Rücken. Das war so wunderbar, innig und vertraut.

Nach einer gefühlten Ewigkeit, obwohl das Herrenhaus nur wenige Kilometer entfernt war, beruhigte sie sich wieder und drückte ihm einen Kuss auf den Mund. Nichts Sexuelles. Einfach nur ein Dankeschön für seinen Trost.

»Müssten wir nicht längst da sein?« Er reichte ihr ein Taschentuch und sie putzte sich die Nase. Erst jetzt bemerkte sie, dass das Auto stand. Als sie aus dem Fenster blickte, erkannte sie die Eingangstür des Herrenhauses.

»Ich wollte dich nicht stören. Das hast du gebraucht und ich auch.« Er sah sie mit seinen herrlichen Augen an und fuhr sichtlich erleichtert fort: »Ich bin tausend Tode gestorben, als ich die Nachrichten von dir gehört habe. Ich dachte, ich würde dich verlieren.« Cass lächelte, als er sie wieder an sich zog und an seine Brust drückte.

»Tut mir leid. Wollen wir reingehen, bevor sie sich Sorgen um uns machen?« Eine letzte, feste Umarmung und er ließ sie los. »Außerdem brauche ich jetzt unbedingt eine Dusche.«

 

Josh hörte Cass nebenan im Bad und trocknete sich selbst die Haare mit einem Handtuch ab. Die Dusche hatten sie gemeinsam genommen. Er hatte sich einfach noch nicht von ihr lösen können. Danach war Cass zur Entspannung in die Wanne gestiegen, wo sie sich noch immer befand. Dieses Erlebnis hatte sie zutiefst aufgewühlt und an ihre eigene Geburt erinnert. Und das war etwas, dass er eigentlich von ihr fernhalten wollte.

Als er an seinem Schreibtisch vorbeiging, bemerkte er das Fax von Richard. Die Prophezeiung von der Hexe. Er hatte es die letzten Wochen immer wieder durchgelesen und dann beiseitegelegt, um über die einzelnen Wörter nachzudenken. Jetzt wurde er nachdenklich. Er schmiss das Handtuch auf das Bett und setzte sich mit dem Zettel daneben. Immer und immer wieder las er die wenigen Zeilen. Das waren einfach zu viele Übereinstimmungen. Oder war das alles nur ein Zufall? Legte er das Geschriebene vielleicht falsch aus? Sehr deutlich hatte sich die Hexe nicht ausgedrückt.

»Was hast du da?« Cass setzte sich zu ihm, nur mit ihrem jadegrünen Morgenmantel bekleidet. Er wusste, dass sie nichts darunter trug. Mit seiner feinen Nase konnte er ihren reinen und unvergleichlichen Duft wahrnehmen, der sonst immer von Kleidung abgeschwächt wurde. Sein Wolf wollte sich gerade auf sie stürzen, als sie ihm den Zettel aus der Hand nahm und ihn konzentriert las. Nach wenigen Momenten runzelte sie die Stirn.

»Meinst du, damit könnte Josi gemeint sein?« Was sollte er antworten? »Von keiner lebenden Frau geboren ...« Cass sah ihn nachdenklich an. Dann runzelte sie erneut die Stirn und sah zur Tür, als würde sie gleich zu Josi rennen wollen.

»Es könnte möglich sein. Aber solange wir nicht hundertprozentig sicher sind, würde ich Josi nur ungern verängstigen. Sie hat heute schon genug erlebt, woran sie knaupeln muss.« Cass lehnte sich wieder an seinen Arm und sagte leise: »Ich hoffe, dass es nicht so ist. Stell dir vor, Carmen müsste mit Dämonen kämpfen und die Welt vor ihrem Untergang retten.« Sie spürte sicher den Schauer, der über Josh hinwegstrich. Das wäre das grausamste Szenario, dass sich das Schicksal ausdenken könnte.

»Nein, das will ich mir nicht vorstellen.« Sie nickte zustimmend. Und doch sah er deutlich, dass sie immer noch grübelte.

»Du hast recht. Behalte deine Vermutung für dich. Ich will Josi jetzt nicht noch weiter beunruhigen.« Sein Blick wanderte zu ihrem Busen, den er in dieser Position sowohl spüren, als auch sehen konnte. Zumindest den Ansatz. Innerlich wand er sich. Sollte er schon wieder über sie herfallen? Er hatte sie eben erst in der Dusche und trotzdem war sein Körper schon wieder mehr als bereit für die nächste Runde. Aber nach diesen traumatischen Erfahrungen des Tages wollte sie jetzt sicher schlafen oder sich zumindest ausruhen.

Während er noch immer ein innerliches Gefecht mit sich selbst austrug, legte seine Frau den Zettel beiseite und krabbelte rittlings auf seinen Schoß. Und dann traf es ihn wie einen Vorschlaghammer. Sie war erregt. Sein Mund wurde trocken und sein Schaft drohte, die Enge seiner Hose zu sprengen. Cassandra wollte ihn auch.

»Ich brauche dich. Bitte lenk mich etwas ab, sonst drehe ich noch durch.« Ihre gehauchten Worte berührten ihn tief und er packte sogleich ihre Hüften, um sie auf das Bett zu werfen und sich auf sie zu legen.

»Immer. Für dich würde ich alles geben, was ich habe.« Und das tat er auch die nächsten Stunden.

 


3. Kapitel

 

 

Joel war sich sicher gewesen, dass Doro in Ohnmacht fallen würde, aber die Ärztin der Raben hatte schnell reagiert und sich an das Säubern und Verbinden gemacht. Shirin schwieg und saß unbeteiligt auf der Liege. Die Wunde war tief und sah ziemlich schmerzhaft aus, aber dieses verdammte Weib verzog keine Miene, als Doro in der Wunde herumstocherte und sie desinfizierte. War sie eine Maschine?

»Was siehst du mich so an?« Shirin blickte mit ihren hübschen Augen in seine Richtung und wieder einmal fühlte er sich wie ein grüner Junge und nicht wie der Anführer der Raben.

»Hast du keine Schmerzen?« Verwundert hob sie die Augenbrauen und sah verwirrt zu Doro. »Was erwartet er?«

Die Ärztin lächelte und arbeitete einfach weiter, während sie antwortete: »Ich glaube, er erwartet, dass du weinend vor Schmerz zusammenbrichst.« Shirin lachte nun auch, während sie sich wieder zu ihm umwandte.

»Ich bin keine Heulsuse und ich werde wegen so einer kleinen Wunde nicht in Tränen ausbrechen.« Kleine Wunde? Es hatte ein Schwert in ihr gesteckt und zwar sehr nahe am Herzen. War es falsch, in dieser Situation etwas ängstlich zu sein? Nein!

Doro legte seelenruhig alles beiseite und holte aus ihrer Tasche ein kleines Etui hervor. Darin lag Nähbesteck. Immer noch verzog Shirin keine Miene. Hatte sie überhaupt keine Angst vor Schmerzen? Wollte sie nicht nach einer Betäubung fragen? Wenn seine Männer mit solchen Wunden zurückkamen, waren sie für mindestens eine Woche nicht mehr ansprechbar. Diese Frau stellte seine besten Männer in den Schatten. Er war sich sicher, dass sie nach dem Verbinden sofort wieder in den Kampf ziehen würde, wenn er nicht schon beendet worden wäre. Joel war nie zimperlich gewesen, aber sie war erstochen worden! Mit einem silbernen Schwert!

»Leg dich hin.« Shirin bewegte sich auf Doros Anweisung hin keinen Zentimeter. Als die Ärztin das bemerkte, ging sie hinter Shirin und drückte auf eine Stelle an ihrer Schulter. Die Kriegerin schrie laut auf und funkelte Doro vernichtend an.

»Ich habe gesagt, du sollst dich hinlegen.« Mürrisch gab Shirin nach und legte sich mit den Worten: »Eine richtige Ärztin könnte mich auch im Sitzen nähen« hin.

»Wenn du nicht aufpasst, nähe ich dir gleich noch deinen vorlauten Mund zu, junge Dame.« Es amüsierte Joel, die beiden Frauen so reden zu hören. Seine bisherigen Liebschaften waren alle etwas sensibler. Schon bei einer feindseligen Andeutung brachen sie förmlich in Tränen aus und wollten, dass er denjenigen bestrafte.

»Ich bin bei Weitem älter als du. Und hätte er mich nicht hierher gebracht, hätte ich die Wunde selbst genäht.« Das traute er ihr ohne weiteres zu.

»Ach ja? Mit dem gleichen Ergebnis wie bei deiner Schulter?« Schulter? Hatte sie deswegen aufgeschrien? Er hatte gedacht, es hätte an einem bestimmten Druckpunkt gelegen, den Doro als Ärztin kannte. Anscheinend hatte er sich getäuscht.

»Was ist mit ihrer Schulter?« Beide Frauen sahen Joel an, ohne auch nur die Miene zu verziehen. Sie waren gut.

»Nichts«, erklärten beide unisono. Dann begann Doro, ohne ein weiteres Wort, die Wunde zu nähen. Als sie schließlich fertig war, setzte sich Shirin wieder auf und zog sich ihr Shirt über. Schade. Er hatte so einen schönen Blick auf ihre Brüste gehabt.

»Für dich gibt es mindestens zwei Wochen kein Training. Wenn du denkst, du bist wieder fit, will ich mir die Wunde erst ansehen.« An Joel gerichtet sagte sie: »Pass bitte auf, dass sie sich daran hält.«

Doro schien die Kriegerin gut zu kennen. Ohne etwas auf die Aussage der Ärztin zu erwidern, hüpfte Shirin von der Liege und ging Richtung Tür. Er würde jetzt nicht zulassen, dass sie sich in ihrem Zimmer verbarrikadierte. Nicht nach diesem Kuss.

»Ich will mit dir reden. Und das ist ein Befehl.« Plötzlich kam ihm die Frau in den Sinn, mit der er sich vor wenigen Stunden noch im Bett vergnügt hatte. Ob sie wohl noch da war? Er konnte sich noch nicht einmal mehr an ihren Namen erinnern. »Wir gehen in dein Zimmer.« Sicher war sicher.

Shirin schien weniger begeistert, fügte sich aber seinem Befehl. Was sollte sie auch sonst tun? Sie verließen zusammen das Arztzimmer und betraten kurz darauf Shirins Räumlichkeit. Na ja – eigentlich war es Amams Zimmer gewesen und sie hatte auch nichts an der Einrichtung geändert. Alles sah noch genau so aus, als würde Amam jeden Moment hereinkommen und Joel dafür umbringen, was er mit Shirin zu tun gedachte.

Als er die Tür geschlossen hatte, wollte er sich gerade zu ihr umdrehen, als sie sich auf ihn stürzte und ihn gegen die Tür drückte. Dafür, dass sie so viel Blut verloren hatte, war sie immer noch ziemlich kräftig.

»Du hast es nie gezeigt.« Er hob fragend eine Augenbraue und wusste nicht, worauf sie hinaus wollte. Aber ihr Körper an seinem war auch beinahe schon so viel, dass sich sein Gehirn verabschiedete.

»Was?« Ihre Augen funkelten und ihr Blick wanderte zu seinen Lippen.

»Wie gut du kämpfen kannst. Sogar im Training hast du dich immer zurückgehalten. Aber das heute«, sie rieb ihre Hüfte an seiner, »war so ... männlich.« Er stutzte. Hatte sie ihn vorher nicht für männlich gehalten? Gerade als er etwas erwidern wollte, riss sie seinen Kopf an den Haaren herunter und drückte ihre Lippen auf seine.

Und ja. Es war genauso atemberaubend, wie der Kuss zuvor. Wie konnte etwas Verbotenes nur so gut sein? Sie krallte ihre Finger in sein Hemd und zog ihn mit sich zu ihrer Couch. Hatte sie etwa vor, ihn zu verführen? Woher kam dieser plötzliche Sinneswandel? Hatte Doro ihr irgendetwas gegeben? Aber er konnte sich nicht erinnern, etwas in dieser Art gesehen zu haben. Und doch musste er auf Nummer sicher gehen.

»Was tust du da?« Er klang atemlos und als er in ihre Augen sah, erblickte er nichts als reinen animalischen Hunger. Sie wollte ihn. Und ihr Lächeln machte das nur zu deutlich.

»Das weißt du doch ganz genau. Stell dich nicht so an.« Das war wohl das Letzte, was er aus dem Mund einer Priesterin erwartet hätte. Und genau so musste er wohl auch ausgesehen haben. Shirin trat ein paar Schritte zurück und schien sich zu sammeln. Hatte er jetzt seine Chance auf ein kleines Stelldichein mit ihr vergeigt?

Nachdenklich begann sie im Zimmer auf und ab zu laufen, während er sich auf dem Sofa niederließ. Ja, er hatte es vergeigt. Mist. Und dabei hätte er in diesen Moment schon ihre hübschen Brüste berühren können. Als sie nur im Sport-BH auf der Untersuchungsliege gesessen hatte, war ihm mehr als einmal die Hose eng geworden. Und dabei sah er noch nicht mal hübsch aus. Er war Spitzenunterwäsche gewohnt, teurer Fummel, der weniger bedeckte als er zeigte. Shirin blieb vor ihm stehen und sah in seine Augen.

»Ich weiß das klingt etwas verrückt, aber ich will dich wirklich.« Sie klang verzweifelt.

»Aber du bist doch eine Priesterin.« Zumindest hatte sie das immer behauptet.

»Das war nur eine Ausrede, um unerwünschte Avancen abzulehnen.« Er hatte es doch gewusst. Sie ging näher zu ihm und stellte sich zwischen seine Beine. »Aber jetzt ...«

Joel zog sie zu sich auf den Schoß und legte die Arme um sie. Er wusste, wie schwer ihr das gefallen sein musste. Und er würde sie dafür nicht verhöhnen.

»Warst du schon mal mit einem Mann zusammen?« Sie lehnte sich vertrauensvoll an ihn. Sie war so weich und warm. Leckte sie ihm gerade über den Hals?

»Ja. Du brauchst keine Angst vor einer errötenden Jungfrau zu haben.« Er drückte sie etwas mehr an sich. Wollte mehr von ihr spüren und die Sicherheit, dass sie nicht wieder verschwinden würde. Sie knabberte an seinem Ohr und das war das erotischste, was er bis jetzt erlebt hatte. Natürlich hatten das schon andere Frauen vor ihr gemacht, aber von ihr erwartete er eine solche Geste nicht. Sie war dafür einfach zu kühl. Zu emotionslos.

»War es schön für dich?« Er spürte, wie sie sich anspannte und von ihm abrücken wollte. Und doch musste er wissen, ob sein Verdacht hinsichtlich Amam richtig war. Die Unwissenheit und der Zwiespalt, indem er die letzten Wochen gelebt hatte, waren kaum noch zum Aushalten.

»Warum willst du das wissen?« Ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen.

»Neugier.« Er stellte viele Fragen, das wusste er. Und sie wurde immer misstrauischer. Auch das entging ihm nicht.

»Da es das erste und einzige Mal war, war es nicht berauschend.« Dann schwieg sie kurz. Der verträumte Blick, den sie nun bekam, warf ihn fast um. »Meine Mutter war mit meinem Vater sehr glücklich. Sie hat ihn vergöttert. Und ich habe in der Nacht ihre Lustschreie gehört. Also muss es wohl auch für die Frau sehr angenehm gewesen sein.« Was zum Teufel hatte Amam diesem Mädchen angetan? Er muss sie erst vor kurzem entführt haben, denn er hatte sich nur einmal an ihr vergriffen. Aber warum blieb sie dann, wenn Amam weg war? Oder wollte sie Rache, wenn er wieder kam?

Joel senkte seinen Kopf und küsste sie sehr zärtlich. Ihre Hand stahl sich unter sein Shirt und die andere fuhr in sein Haar. Würde er ihr Lust schenken können? Bisher hatte ihn immer nur sein eigener Spaß etwas bedeutet. Aber bei Shirin war das anders. Wenn er zu rabiat an die Sache ging, würde sie sich vielleicht von ihm abwenden. Sie hörte auf ihn zu küssen und sah ihm in die Augen.

»Was ist los? Bei den anderen Frauen warst du schneller, wenn es darum ging, sie ins Bett zu bekommen.« Er rückte sie auf seinem Schoß zurecht und erwiderte nichts. »Bin ich nicht hübsch genug? Oder ist es meine fehlende Erfahrung?«

»Shirin! Wenn es nach mir ginge, würde ich sofort über dich herfallen. Aber ich will dir keine Angst machen.« Sie hob fragend eine Augenbraue und dabei sah sie so unschuldig aus, dass es ihm den Verstand raubte.

»Angst? Wieso sollte ich Angst vor dir haben? Du hattest schon so viele Frauen. Denk mal an die kleine Brünette in Ägypten. Die war die Hälfte von mir und du hast ihr nicht wehgetan. Ich hab euch stöhnen ...« Moment? Ägypten? Das war schon eine Ewigkeit her.

Plötzlich hielt sie inne und sah ihn mit schreckensgeweiteten Augen an. Alle Farbe wich aus ihrem Gesicht und ihr Körper verkrampfte sich in seinen Armen. Nach einem kurzen Moment begann sie sich zu winden und versuchte von ihm loszukommen. Doch er verstärkte seinen Griff nur. Er mochte ein Rabe sein, aber wenn er allein war, absolvierte er ein kleines Training, von dem sein Clan und Shirin nichts wussten. Und dieses kleine Training erlaubte ihm, sich mit stärker aussehenden Raben oder sogar Wölfen anzulegen. Oder mit Shirin.

»Woher weißt du das? Damals kannst du noch nicht bei Amam gewesen sein. Er hätte dich nie so lange vor uns verstecken können.« Er packte sie noch fester, als sie fast einen Arm hatte befreien können.

»Lass mich los!« Er wirbelte sie herum und drückte sie aufs Sofa. Ihre Arme hielt er über ihren Kopf fest und ihre Beine waren zwischen seinen eingeklemmt. Bis auf ihren Kopf war sie komplett bewegungsunfähig und konnte ihn genauso wenig aushebeln.

»Sag mir sofort die Wahrheit.« Sie wurde ruhiger und sah zur Seite. Dann lachte sie bitter auf. Was war das nur für ein Geheimnis, das sie mit sich herumtrug?

»Du willst sie nicht hören. Es würde dich und mich zerstören.« Aber er blieb standhaft. Er konnte förmlich sehen, wie die Gedanken in ihrem Kopf rasten, um eine Erklärung zu finden.

»Ich will die Wahrheit.« Er betonte jedes Wort. Ihr Lächeln schwand. »Du würdest es nicht verstehen. Du würdest mich umbringen. Oder wegschicken. Das kann ich nicht zulassen.« Sie bäumte sich mit ihrer ganzen Kraft gegen ihn auf und versuchte ihn von sich zu schieben. Zum Teufel. Egal was sie verbergen mochte, es konnte doch nicht so schlimm sein, oder?

»Und wenn ich verspreche, dich nicht wegzuschicken? Oder dich umzubringen?« »Dieses Versprechen wirst du nicht halten können.« Sie sah ... traurig aus.

»Meine Güte. Was kann denn so schlimm sein? Bitte sag es mir einfach.« Sie sah ihm tief in die Augen. Wieder hatte sie diesen Blick, als würde sie krampfhaft nach einer guten Ausrede suchen. Und doch seufzte sie ergeben.

»Dann geh von mir runter und stell dich ans Fenster. Ich verspreche, nicht wegzulaufen.« Nach einem Moment nickte er und ließ sie frei. Dann bewegte er sich rückwärts zum Fenster. Sie stellte sich hinter das Sofa und sah ihm direkt ins Gesicht. »Ich weiß, dass ich von Anfang an hätte ehrlich sein sollen.« Er zog die Augenbrauen hoch. Was kommt jetzt? Die schlimmsten Szenarien schossen ihm durch den Kopf. Aber auf das, was sie ihm daraufhin sagte, war er nicht vorbereitet gewesen. »Amam hat nie wirklich existiert. Er war meine Chance mich dir als Leibwächter anzuschließen. Ich musste es tun.«

 


4. Kapitel