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Stephanie Bond

Liebe ist kein Beinbruch

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Christiane Meyer

Dieses Buch ist allen gewidmet, die einmal auf „dem Land“ gelebt haben … und jenen, die davon träumen.

PROLOG

Marcus Armstrong starrte seine beiden jüngeren Brüder, die vor seinem Schreibtisch saßen, ungläubig an. Er traute seinen Ohren nicht. „Solldas ein Scherz sein? Das Letzte, was wir in dieser Stadt gebrauchen können, sind Frauen!“

Kendall, der mittlere der Brüder, wandte den Blick ab und fuhr sich mit der Hand über den Mund. Doch der jüngste, Porter, der schon immer ein Hitzkopf gewesen war, sprang auf.

„Das ist kein Scherz, Marcus, und du bist ein Idiot!“

Marcus stützte sich auf seinen Schreibtisch und erhob sich. „Pass auf, was du sagst, kleiner Bruder! Sonst gibt’s was hinter die Ohren.“

Herausfordernd reckte Porter das Kinn vor. „Das will ich sehen!“

Kendall stand auf und stellte sich mit erhobenen Händen zwischen die beiden. „Das reicht! Wir sollten uns setzen und die Sache wie Geschäftsleute besprechen – und wie Brüder.“

Kendalls beruhigender Tonfall ließ Marcus’ Ärger schnell verpuffen. Stattdessen plagte ihn ein schlechtes Gewissen. Sein ganzes Leben lang hatte Kendall den Schlichter zwischen den Geschwistern gegeben. Marcus musste sich eingestehen, dass sie drei bei ihrem Unterfangen, ihre Heimatstadt wiederaufzubauen, nur durch Kendall so weit gekommen waren. Sweetness in Georgia war vor zehn Jahren von einem Tornado der Stärke F-5 dem Erdboden gleichgemacht worden.

Zum Glück war bei dem Sturm niemand umgekommen. Aber nachdem die Infrastruktur der allmählich aussterbenden, weit abgelegenen Stadt in den Bergen komplett zerstört worden war, hatten die Anwohner ihren Grund und Boden verlassen. Sie waren in sicherere und wirtschaftlich besser gestellte Gegenden abgewandert. Von den drei Brüdern hatte sich nur Porter in der Stadt aufgehalten, als der Tornado über sie hinweggetobt war. Nachdem er anschließend ihre verwitwete Mutter zu deren Schwester in die Nähe von Atlanta gebracht hatte, war er wieder zum Militär gegangen, wo auch seine beiden Brüder dienten. In alle Himmelsrichtungen verstreut hatten sie ihre Aufgaben in verschiedenen Einheiten wahrgenommen. Dann endete – zufällig fast gleichzeitig innerhalb weniger Monate – ihr Dienst, und sie waren ins Zivilleben zurückgekehrt.

Kendall hatte in der Air Force an Wiederaufbauprojekten nach Naturkatastrophen mitgewirkt. Dabei hatte er vieles über das Interesse der Regierung an den Bemühungen, die Städte „grüner“, umweltfreundlicher, zu gestalten, in Erfahrung bringen können. Es war sein Vorschlag gewesen, sich für ein staatliches Programm zu bewerben, um Sweetness mithilfe der boomenden Wirtschaftszweige Alternative Energien und Recycling wiederaufzubauen. Das Recycling war durchaus sinnvoll, denn es gab viele Tausend Tonnen Schutt, der entsorgt werden musste, ehe sie Straßen anlegen und die Grenzen für ihre neue Stadt ziehen konnten. Von der Regierung hatten sie Unterstützung und eine Frist von zwei Jahren bekommen, um einige grundlegende Auflagen zu erfüllen – falls ihnen das nicht gelingen sollte, würde das Land, auf dem sie planten, Sweetness wiederauferstehen zu lassen, in staatlichen Besitz übergehen. Drei Monate arbeiteten sie inzwischen an dem gigantischen Vorhaben und machten Fortschritte. Marcus war froh, dass er und seine Brüder in Fragen des Wiederaufbaus einer Meinung waren – bis auf einen entscheidenden Punkt.

„Kendall“, sagte Marcus. „Du unterstützt doch ganz bestimmt nicht Porters vollkommen alberne Idee, Frauen hierher zu locken, oder?“

Kendall lächelte gequält. Dann zuckte er die Schultern. „Die Männer werden unruhig, Marcus. Sie sind jung und …“

„Geil“, warf Porter ein.

„Genau.“ Kendall seufzte. „Sie wollen ein bisschen weibliche Gesellschaft. Oder zumindest Frauen sehen.“

„Wir haben doch Molly im Dining House“, wandte Marcus ein.

„Molly ist eine nette Frau“, erwiderte Kendall, „aber sie ist so alt, dass viele der Männer ihre Enkel sein könnten.“

„Außerdem war sie Colonel bei der Army“, fügte Porter trocken hinzu. „Also ist sie nicht gerade der warmherzige, großmütterliche Typ. Neulich hat sie mir mit ihrem Holzlöffel eins übergezogen, weil ich diese Pampe, die sie Haferbrei nennt, nicht aufessen mochte.“

„Wir können uns glücklich schätzen, dass wir sie haben“, versetzte Marcus. „Wie sollten wir die Männer sonst versorgen?“

„Marcus, sie führt die Essensausgabe wie eine grässliche Kantine, und das Essen ist schauderhaft.“

„Es ist … genießbar“, entgegnete Marcus, um sie zu verteidigen. „Und es ist gut, dass sie dafür sorgt, dass die Männer nicht aus der Reihe tanzen.“

„Molly ist ein Segen“, gab Kendall zu. „Andererseits wirst du sicher verstehen, dass die Männer eher daran interessiert sind, junge, heiratsfähige Frauen um sich zu haben.“

Marcus schnaubte verächtlich. „Die meisten der Jungs waren beim Militär – sie sind es gewohnt, ohne Frauen auszukommen.“

„Als sie im Irak und in Afghanistan waren!“, platzte Porter heraus. „Jetzt sind sie zurück auf amerikanischem Grund und Boden und möchten ein paar amerikanische Schönheiten sehen.“

„Wir sind doch nur einige Autostunden von Atlanta entfernt“, bemerkte Marcus.

Vier Stunden“, erinnerte Porter ihn.

„Den Männern scheint es nichts auszumachen, wenn sie an den Wochenenden nach Atlanta fahren.“

Kendall seufzte nachdenklich. „Aber jedes Mal kommen ein paar am Montag nicht wieder. Sie sind dann entweder im Gefängnis oder haben sich verliebt.“

Marcus strich sich übers Kinn. Zehn Teams mit jeweils fünfundzwanzig Männern brauchten sie mindestens, damit es auf den unterschiedlichen Baustellen voranging. Zugegeben, es wurde immer schwieriger, neue Bauarbeiter anzuheuern, um die Männer zu ersetzen, die jede Woche unerlaubt wegblieben.

Ein Tumult vor dem Bürocontainer erregte ihre Aufmerksamkeit. Kendall sah aus dem Fenster. Im nächsten Moment stürmte er zur Tür. „Schon wieder eine Prügelei!“

Marcus fluchte und folgte seinen Brüdern nach draußen. Einige Meter weiter rangen zwei Männer miteinander im roten Schlamm. Die Fäuste flogen, während die anderen Arbeiter zusahen und die Streithähne anfeuerten. Kendall und Porter stürzten nach vorn, um die beiden zu trennen. Doch statt den Kampf zu beenden, wurden sie selbst mit in den Schlamm gezerrt. Marcus verdrehte die Augen. Kurz entschlossen schnappte er sich den Wasserschlauch, der aufgerollt in der Nähe lag, und richtete den Strahl auf die kämpfenden Männer. „Lasst den Unsinn!“

Die Männer ließen voneinander ab, sodass Kendall und Porter sie packen und auf die Füße stellen konnten. Sie schleiften sie in entgegengesetzte Richtungen davon.

„Er hat angefangen!“, brüllte der eine.

„Das stimmt doch gar nicht!“, schrie der andere.

„Genug jetzt!“, befahl Marcus. „Noch ein Wort, und euer Lohn wird gekürzt!“ Er wandte sich an die Arbeiter, die herumstanden. „Der Nächste, der hier einen Streit vom Zaun bricht, fliegt, verstanden? Und jetzt zurück an die Arbeit!“

Die Männer grummelten. Aber schließlich trollten sich alle zurück zu dem riesigen Berg von Altreifen. Die unbrauchbaren Reifen wurden durch einen Industrieschredder gejagt, gesäubert und als Mulch in Säcke gepackt. Es war ihr erstes rentables Handelsprodukt. Porter, der geborene Verkäufer, hatte einige staatlich geführte Parks und botanische Gärten überzeugen können, von natürlichem Rindenmulch auf ihr Recyclingprodukt umzustellen, das jahrzehntelang hielt. Alles ging wie geplant voran – abgesehen von den ständigen Reibereien zwischen den Männern.

Kendall und Porter stapften zu Marcus hinüber und wischten sich den Matsch von den Armen. „Es wird nur noch schlimmer werden“, sagte Porter. „Die Kerle sind andauernd zusammen und können nirgends Dampf ablassen.“

„Da muss ich ihm recht geben, großer Bruder“, stimmte Kendall zu und hob den Schlauch auf, um sich den zähen roten Schlamm abzuspritzen.

„Komm schon, Marcus – Frauen hier zu haben wird dabei helfen, die Stadt schneller zu errichten“, drängte Porter. „Wir brauchen Geschäfte und Lehrer und Krankenschwestern …“

„Und Anwälte und Ärzte“, fügte Kendall hinzu und richtete den Wasserstrahl kurz auf Porter.

„Mir ist es egal, wie sie ihren Lebensunterhalt verdienen“, entgegnete Porter grinsend, „so lange sie enge Röcke und High Heels und Parfum dabeihaben. Ich kann es den Männern nicht übel nehmen – ich habe es auch satt, immer nur von schwitzenden, hässlichen Kerlen umgeben zu sein. Und das schließt euch beide mit ein.“

Marcus verzog den Mund. „Also geht es dabei genau genommen vor allem um dich, Porter. Du willst, dass wir die Frauen hierher holen, damit du dich amüsieren kannst.“

„Nein.“ Porter zuckte verlegen die Achseln. „Allerdings habe ich auch nicht vor, nur von der Seitenlinie aus zuzuschauen. Im Gegensatz zu dir, Marcus, hasse ich Frauen nicht!“

Marcus knirschte mit den Zähnen. „Ich hasse Frauen nicht!
Ich weiß nur, dass es unausweichlich zu Unheil von ungeahntem Ausmaß kommen wird, wenn wir eine Schar Frauen in die Stadt holen.“ Er deutete auf das öde, von rotem Lehm bedeckte Gelände, das sich bis zu einem weit entfernten Wald erstreckte. „Wo sollen sie überhaupt untergebracht werden? In der Männerunterkunft?“ Das zweckmäßige rechteckige Gebäude stand am Rande der Baustelle und verschönerte die karge Landschaft nicht gerade.

„Wir könnten gegenüber vom Dining House eine Pension bauen“, schlug Kendall vor und reichte Porter den Schlauch. „Das könnte der erste Schritt zur Gestaltung des Stadtzentrums sein.“

„Was ist mit der schlechten Wasserversorgung?“, fragte Marcus, nahm Porter den Schlauch aus der Hand und drehte den Hahn zu, ehe sein Bruder sich waschen konnte.

„Wir müssten den Wasserturm so schnell wie möglich instand setzen“, gab Kendall zu.

„Je früher wir diesen Ort wieder bewohnbar machen“, bemerkte Porter, „desto früher können wir auch Mutter zurück nach Hause holen.“

Die Worte versetzten Marcus einen Stich – Porter kannte seinen wunden Punkt. Die Sehnsucht ihrer Mutter nach ihrer Heimatstadt war es, der sie antrieb, Sweetness wiederaufzubauen. Es lag praktisch schon in der Luft, dass er nachgeben musste, und Marcus strich sich mit der Hand übers Gesicht. „Und wie, bitte, wollt ihr Frauen an einen Ort locken, an dem Trinkwasser knapp ist und die nächste Einkaufsmöglichkeit einen Helikopterflug entfernt?“

Porters Zähne strahlten weiß in seinem schlammverschmierten Gesicht. „Ich melde mich freiwillig, um nach Atlanta zu fahren und einige Damen anzuwerben.“

Marcus runzelte die Stirn. „In Stripclubs und Bars? Nein, danke.“

„Hast du eine bessere Idee?“, versetzte Porter.

„Ich halte es sowieso für eine schlechte Idee!“, rief Marcus und sah zu Kendall, der wie immer bereitstand, um dazwischenzugehen, falls es nötig werden sollte.

Aber … ich mache mit“, verkündete Marcus. Mit erhobener Hand brachte er Porter, der triumphierend jubelte, zum Schweigen. „Wenn du dich um die Logistik kümmerst, Kendall.“

Kendall riss die Augen auf. „Ich?“

„Ja, du. Porter kann mit den Männern zusammen beginnen, eine Unterkunft zu bauen und den Wasserturm instand zu setzen. Du kannst dir währenddessen überlegen, wie wir die Frauen, die nötig sind, damit Sweetness wächst und gedeiht, hierher locken können.“

Marcus drehte sich um und ging zurück zum Büro. Seine Muskeln waren angespannt. Er ahnte deutlich, dass Unheil drohte.

„Wohin gehst du?“, rief Kendall ihm hinterher.

„Ich gehe in Deckung“, erwiderte Marcus über die Schulter hinweg. „Weil ihr beide dabei seid, eine weitere Naturkatastrophe in dieser Stadt zu entfesseln.“

1. KAPITEL

Porter Armstrong trat von der Metallleiter auf die Plattform des instand gesetzten weißen Wasserturms, der sich über der im Wiederaufbau befindlichen Stadt Sweetness in Georgia erhob. Der Ausdruck „Stadt“ war für das karge Land zu seinen Füßen vielleicht ein bisschen übertrieben. Felder aus nacktem roten Lehm erstreckten sich, so weit das Auge reichte. Unterbrochen wurden die riesigen Flächen nur von einigen Grüppchen verkümmerter Bäume, die noch immer die Spuren des Tornados zeigten, der die kleine Stadt in den Bergen vor zehn Jahren zerstört hatte.

Porter hatte sich mit seinen beiden älteren Brüdern Marcus und Kendall zusammengetan, um Sweetness wiederaufzubauen. Mit einem Heer starker Männer hatten sie große Fortschritte dabei gemacht, den Schutt zu beseitigen und den Grundstein für ein Recyclingunternehmen zu legen, das hoffentlich einmal die wirtschaftliche Basis für die junge Stadt bilden würde. Eine zu hoch und zu perfekt gewachsene Kiefer in der Ferne war in Wahrheit der gut getarnte Funkturm einer Telefongesellschaft, die beim Bau einer umweltfreundlichen Stadt von Anfang an hatte dabei sein wollen.

Ein Projekt, auf das die Brüder besonders stolz waren, war die neu befestigte Straße aus Recyclingasphalt. Wie ein akkurates schwarzes Band führte sie vom Horizont in das neue Stadtzentrum. Zugegeben, dieses Stadtzentrum von Sweetness war derzeit mehr Vision als Wirklichkeit, da es bisher erst aus dem Dining House und einer Pension für künftige Besucher bestand. Doch die Brüder waren zuversichtlich.

Oder, wie andere behaupteten, verrückt.

Colonel Molly McIntyre im Dining House war so jemand. Mit eiserner Hand regierte sie die Männer und das Dining House. Sie fand, wie sie sagte, keinen Gefallen an der Vorstellung, dass „eine Horde geschwätziger Frauen die Stadt übernehmen“ sollte.

Porter schlüpfte aus seinem Arbeitshemd und hängte es über das Geländer, um die so seltene kühle Junibrise zu genießen. Die Sommerhitze war schon jetzt unerträglich, doch würden die Temperaturen und die Luftfeuchtigkeit noch zunehmen, ehe es im Herbst wieder angenehmer werden würde. Er zog ein Tuch aus seiner Hosentasche und wischte sich den Schweiß ab, der ihm den Nacken hinunterlief. Aufmerksam schaute er zum Horizont, um vielleicht eine Bewegung auszumachen – irgendeinen Hinweis darauf, dass die Anzeige, die Kendall in der Zeitung geschaltet hatte, ein Erfolg war. Das Inserat war in einer Stadt im Norden zu lesen gewesen, die besonders stark vom Wirtschaftsabschwung betroffen war. Laut Anzeigentext wurden „einhundert Frauen gesucht, die einen Neuanfang wagen wollen“. Kendall war der Meinung, dass die Frauen eher kommen und bleiben würden, wenn sie nicht allein waren und nicht aus der Nähe stammten. Frauen aus dem nahe gelegenen Atlanta würden, sobald sich die ersten Schwierigkeiten zeigten, vermutlich sofort die Flucht ergreifen und sich auf den Weg nach Hause machen.

Egal, zwischen den Frauen aus dem Norden und denen aus dem Süden bestand wahrscheinlich kein großer Unterschied.

Die Anzeige war vor einer Woche in der Zeitung von Broadway, Michigan, erschienen. Seitdem war Porter einige Male pro Tag auf den Wasserturm geklettert, um zu sehen, ob ein Auto oder ein Umzugswagen in Richtung Sweetness unterwegs war.

Marcus, der älteste der drei Brüder, hatte dem Plan, Frauen hierher zu bringen, von Anfang an nur widerwillig zugestimmt. Er lachte jedes Mal dröhnend, wenn Porter ins Büro zurückkehrte und berichtete, dass es nichts Neues gab. Porter grauste schon davor, wieder seinem schadenfrohen großen Bruder gegenübertreten zu müssen. Marcus war davon überzeugt, dass keine heiratsfähige Frau mit Verstand in ihre abgelegene Stadt in den Bergen kommen würde. Auch nicht, wenn eine ganze Horde bärenstarker alleinstehender Männer aus den Südstaaten lockte.

Was Porter anging, waren Frauen ohne unnötig viel Grips genau diejenigen, von denen er hoffte, dass sie auf die Anzeige reagieren würden. Unbekümmert, reif und bereit, gepflückt zu werden. Er hatte keine Frau mehr gehabt, seit …

Porter fluchte leise, als er das Fernglas von seinem Gürtel nahm. Wenn er sich nicht einmal mehr daran erinnern konnte, wie lange es her war, dass eine Frau ihre Beine um seine Hüften geschlungen hatte, war seitdem entschieden zu viel Zeit vergangen.

Sorgfältig stellte er die Schärfe ein, um die Landschaft in der Ferne erkennen zu können. Er zoomte die brandneue Straße heran. Wegen der entstehenden Kosten und der zusätzlichen Arbeit hatten die Brüder sich entschieden, die gelben Fahrbahnmarkierungen erst dann anzubringen, wenn genügend Autos die Straße befahren würden und es somit nötig werden sollte. Im Augenblick schienen diejenigen, die die Straße am häufigsten nutzten – nämlich Kaninchen, Stinktiere, Opossums und Gürteltiere -, kein Problem damit zu haben, dass die Markierungen fehlten.

Porter hielt Ausschau nach Anzeichen menschlichen Lebens. Früher war der Wasserturm ein Beobachtungsposten gewesen, um Brände durch Blitzeinschlag oder andere Naturkatastrophen möglichst früh zu erkennen. Die Metallbox an der Seite des Tanks enthielt Tornadosirenen. Durch eine seltsame Fügung des Schicksals war der Turm, von dem aus vor zehn Jahren der gigantische Tornado gesichtet und Alarm gegeben worden war, als einziges Bauwerk von der anschließenden Zerstörung weitestgehend verschont geblieben. Tornados dieser Größenordnung waren selten, und dieser war unglaublich gewesen. Sämtliche Bewohner der Stadt hatten wie durch ein Wunder überlebt. Doch alles von Menschenhand Geschaffene, was dem Sturm im Weg gestanden hatte, war dem Erdboden gleichgemacht worden. Für die kleine Stadt, die wirtschaftlich gesehen sowieso dem Untergang geweiht gewesen und mit der es stetig bergab gegangen war, hatte das den Todesstoß bedeutet.

Seine Brüder hatten sich nicht in der Stadt aufgehalten, als es passierte. Aber Porter, damals auf Heimaturlaub von der Army, erinnerte sich noch lebhaft an den Moment, als er aus dem Rübenkeller geklettert war, nachdem der Sturm sich verzogen hatte. Die Fotos, die vom Boden aus gemacht worden waren, und das Bildmaterial der Fernseharchive konnten die vollständige Vernichtung der Häuser, Schulen, Geschäfte und Kirchen nicht annähernd wiedergeben. Nur die Luftaufnahmen von Schutt und Verwüstung zeigten das wahre Ausmaß der Katastrophe. Diese grauenvollen Bilder hatten sich in Porters Gehirn gebrannt – ihr eigenes Haus mitsamt Inhalt war einfach vom Betonfundament gerissen worden. Allein der Briefkasten aus Metall am Ende der Auffahrt zeugte noch davon, dass die Armstrongs einmal hier gewohnt hatten.

Seine Mutter hatte wochenlang wegen ihres verlorenen Eherings geweint. Nach Vaters Tod hatte sie den filigranen Goldring Tag für Tag getragen. Kurz bevor der Sturm so zerstörerisch über die Stadt hinweggefegt war, hatte sie den Ring abgenommen. Tagelang hatte Porter das Grundstück mit einem Metalldetektor abgesucht, ehe er schließlich einsehen musste, dass der Ring sowie alles andere irdische Gut zusammen mit dem ihrer Nachbarn in alle Winde verstreut war.

Als die Armstrong-Brüder vor ein paar Monaten nach Sweetness zurückgekehrt waren, war die zerstörte Hauptstraße von Unkraut überwuchert und unter entwurzelten und umgeknickten Bäumen begraben gewesen. Tiere hatten sich in dem gesplitterten Holz und in den eingestürzten Häusern und Geschäften Nester gebaut. Porter hatte ein Blick auf die Ruinen der Stadt, die von Schling- und Kletterpflanzen überwuchert waren, gereicht – die Aufgabe, die Arbeit, die auf sie zukamen, hatten ihn fast überwältigt. Wenn einer seiner beiden Brüder in dem Moment einen Rückzieher gemacht hätte, wäre er ebenfalls eingeknickt. Kendall hatte die Wüste vor ihnen schweigend betrachtet. Marcus hingegen hatte, wie es seine Art war, nur die Hände in die Hüften gestemmt und gesagt: „Dann mal ran, Jungs!“

Was vor ihnen lag, waren unzählige Stunden harter Arbeit für sie und die Männer, die sie engagiert hatten. Die meisten hatten mit Marcus bei den Marines gedient, mit Kendall in der Air Force oder mit Porter in der Army. Anfangs waren sie am Ende eines Tages zu müde gewesen, um einen Gedanken daran zu verschwenden, dass das Bett neben ihnen leer war. Aber jetzt …

Porter bemerkte eine Bewegung in der Ferne und stellte das Fernglas scharf. Beim Anblick der flirrenden Luft über dem heißen dunklen Asphalt stockte ihm der Atem: Ein Fahrzeug näherte sich – ein großes Fahrzeug. Porter blinzelte und versuchte zu begreifen, was er da sah. Als es ihm bewusst wurde, hätte er beinahe das Fernglas fallen lassen.

Es war kein großes Fahrzeug – es waren mehrere Autos, die näher kamen. Nein …

Dutzende.

Eine Karawane, Stoßstange an Stoßstange, hielt auf Sweetness zu! Und wenn er sich die Arme und Köpfe ansah und vor allem die langen Haare, die aus den Cabrios und heruntergelassenen Scheiben wehten, waren die Wagen voller Frauen. Voller heißer, begieriger, williger Frauen!

Porter schlug sich auf den Oberschenkel und schrie vor Freude auf. Er winkte, obwohl er wusste, die Chance, dass jemand ihn aus dieser Entfernung sehen konnte, war bestenfalls gering. Doch die Anzeige hatte Erfolg gebracht – er konnte es kaum erwarten, Marcus davon zu erzählen! Er be-festigte das Fernglas an seinem Gürtel, während er nach seinem Handy suchte, und eilte zu der langen schmalen Leiter. Mit einer Hand hielt er sich fest und begann den Abstieg. Mit der anderen drückte er die Kurzwahltaste, um seinen Bruder anzurufen. Er wünschte, er könnte dessen dummes Gesicht sehen, wenn er ihm die Neuigkeiten mitteilte.

Plötzlich fiel Porter ein, dass er sein Hemd oben vergessen hatte. Nur ein Moment der Unaufmerksamkeit – und er verfehlte die nächste Sprosse. Er rutschte ab und konnte sich mit einer Hand nicht halten. Sein Innerstes krampfte sich zusammen, als ihm durch den Kopf schoss, wie tief er fallen würde. Wenige Sekunden lang fuchtelte er noch mit den Armen, bevor er aufgab und sich eng zusammenkrümmte, um den unvermeidlichen und sicher grauenvollen Aufschlag ein wenig zu mildern.

Porter fluchte, während er fiel. Typisch für ihn, dass gerade jetzt eine ganze Wagenkolonne mit Frauen ankam – und er würde mit gebrochenem Genick am Fuße des Wasserturms liegen.

2. KAPITEL

Der harte Aufprall ließ jeden Knochen in Porters Körper knacken und raubte ihm den Atem. Sekundenlang lag er auf dem Rücken und wartete darauf, dass der erste Schmerz nachließ, ehe er es wagte, Luft zu holen. Als ihm nichts anderes übrig blieb, registrierte er erleichtert, dass seine Lunge nicht verletzt war. Er konnte nur hoffen, dass seine anderen inneren Organe auch unversehrt waren. Der süße Duft von Gras und der modrige Geruch von Erde stiegen ihm in die Nase. In seinen Ohren rauschte es, und das kam nicht von den Insekten, die in den Gräsern herumschwirrten.

Vorsichtig öffnete er die Augen und sah den Wasserturm, der sich riesenhaft über ihm erhob. Die Tatsache, dass er noch lebte, grenzte an ein Wunder.

„Porter? Porter?“

Als er seinen Namen hörte, blinzelte er verwirrt. Nur langsam wurde ihm bewusst, dass die ferne Stimme aus seinem Handy kam, das neben seinem Kopf lag.

Marcus.

Porter versuchte sich zu drehen, um nach dem Telefon zu greifen. Als der Schmerz durch seinen linken Unterschenkel schoss, schrie er gequält auf.

Porter?“

Er unternahm noch einen Versuch, biss die Zähne gegen den Aufruhr in seinem Körper zusammen und schloss die Finger schließlich um das Handy. Keuchend hob er es ans Ohr. „Ja, ich bin hier.“

„Was ist passiert?“

Porter zuckte wieder zusammen. Zerknirscht erwiderte er: „Ich war auf dem Wasserturm.“

„Und?“

„Und … ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht.“

Marcus seufzte, und in der Leitung knisterte es. „Verrate mir zuerst die gute.“

„Eine ganze Karawane von Frauen ist auf dem Weg in die Stadt.“

„Wenn das die gute Nachricht ist“, erwiderte Marcus säuerlich, „glaube ich nicht, dass ich die schlechte hören will.“

„Die schlechte ist, dass ich vom Wasserturm gefallen bin und mir vermutlich das Bein gebrochen habe.“

Porter hielt das Handy in die Luft, um sich dem Schwall an Flüchen zu entziehen, den sein Bruder ausstieß. Als Marcus sich endlich etwas beruhigte, presste Porter das Telefon wieder ans Ohr. „Kannst du mich holen, oder soll ich nach Hause kriechen?“

„Blutest du?“

Porter hob den Kopf und sah an seiner Arbeitskluft hinab. „Ich glaube, nicht.“

„Nachdem du jetzt nicht mehr beim Bau helfen kannst, sollte ich dich eigentlich da liegen lassen“, knurrte Marcus und fluchte wieder. „Ich werde Kendall Bescheid sagen. Wir sind so schnell wie möglich bei dir.“ Damit beendete er das Gespräch.

Porter ließ den Kopf ins hohe Gras zurücksinken. Marcus hatte recht – sie waren sowieso schon unterbesetzt. Falls er sich das Bein gebrochen hatte, war er für einige Wochen aus dem Verkehr gezogen. Das wäre eine zusätzliche Belastung für seine Brüder.

Und, verdammt, die Frauen kamen! Da gab es gute Gründe genug, um auf den Beinen und unterwegs zu sein. Und er würde im Bett liegen – und das nicht, um Spaß zu haben.

Unter Aufbietung aller Kräfte setzte er sich auf und zog das eine Hosenbein seiner zerschlissenen Arbeitsjeans hoch. Erleichtert stellte er fest, dass keine Knochen aus dem Fleisch ragten. Aber der ständige stechende Schmerz im Knöchel verstärkte seine Befürchtung, dass es sich um mehr als nur eine Prellung handelte. Mit zusammengebissenen Zähnen rückte er auf dem Hintern Stück für Stück mühsam hin zu einem jungen Baum, um sich anzulehnen. Mit einer Hand vertrieb er die lästigen Mücken, bis er endlich das Rumpeln zweier Geländefahrzeuge hörte, die auf ihn zukamen.

Kendall tauchte als Erster auf. Seine Miene wirkte besorgt. Marcus folgte ein paar Meter hinter ihm und hatte wütend die Lippen aufeinandergepresst. Porter winkte, um auf sich aufmerksam zu machen. Sie stoppten neben ihm. Trotz seiner Verärgerung war Marcus der Erste, der von seinem Quad sprang und zu Porter gerannt kam.

„Geht es dir gut, kleiner Bruder?“

„Ja, ganz toll“, stieß Porter unter Schmerzen hervor.

Marcus blickte zum Wasserturm hinauf und dann wieder zu Porter. „Verdammter Idiot! Dachtest du, du könntest fliegen?“

Wut flammte in Porter auf. „Ja, Marcus, ich habe einen Kopfsprung vom Turm gemacht.“

„Wir wissen, dass es ein Unfall war“, beschwichtigte Kendall ihn und kniete sich hin, um Porters Bein zu untersuchen.

„Es ist egal, ob es Absicht war oder nicht“, brummte Marcus. „Das Ergebnis ist dasselbe: Du bist wahrscheinlich für den Rest dieses verfluchten Sommers nicht einsatzbereit!“

„Warum warten wir nicht erst einmal ab, was der Arzt zu sagen hat?“, schlug Kendall vor.

„Welcher Arzt?“, schnaubte Marcus verächtlich. „Einer von uns wird ihn nach Atlanta bringen müssen. Als hätten wir heute nicht schon genügend andere Dinge zu erledigen.“

„Vielleicht sollten wir ihn mit einem Hubschrauber abtransportieren lassen“, schlug Kendall vor.

„So schlimm ist es nicht“, widersprach Porter. „Marcus, wenn du mich von einem der Arbeiter nach Atlanta bringen lassen kannst, suche ich mir eine Notaufnahme und bin schneller zurück, als du gucken kannst.“

Marcus grunzte etwas Unverständliches.

Kendall ging zurück zum Quad und klappte das Staufach auf. „Ich habe eine Stützmanschette aus Neopren aus dem Erste-Hilfe-Raum mitgebracht. Trotzdem wird es eine unangenehme Fahrt nach unten.“ Er kniete sich hin, um die Manschette um Porters im Stiefel steckenden Knöchel zu legen, und gab Marcus dann ein Zeichen, an Porters andere Seite zu kommen. Als sie ihn auf die Beine stellten, raubte der Schmerz Porter den Atem, der Schweiß brach ihm aus.

„Denk an etwas Schönes“, drängte Kendall ihn.

Porter versuchte zu lächeln. „Ich denke … an … all die Frauen … die … in der Stadt … warten.“

„Marcus hat erwähnt, dass du Autos gesehen hättest, die in Richtung Sweetness unterwegs waren.“

„Dutzende von Wagen“, erwiderte Porter und atmete geräuschvoll aus. „Und in allen … saßen … heiße junge Frauen. Wir kommen … gerade rechtzeitig … um Hallo zu sagen.“

„Du wirst einen tollen ersten Eindruck hinterlassen“, sagte Marcus. „Niemand will einen verletzten, pflegebedürftigen Kerl haben.“

„Das sehe ich anders“, entgegnete Porter und presste die Kiefer aufeinander, um den Schmerz auszuhalten. „Die Frauen … werden Schlange stehen … um sich um mich zu kümmern. Genau genommen … war das von Anfang an … mein Plan.“

Marcus reichte ihm einen kleinen Stock. „Hier, beiß drauf.“

„Wegen der Schmerzen?“

„Nein, damit du die Klappe hältst.“

Porter versuchte zu lachen, doch auf das Geländefahrzeug gehoben zu werden war schmerzhafter, als er erwartet hatte. Dasselbe galt für die Fahrt in die Stadt, obwohl Kendall sich bemühte, das Quad möglichst vorsichtig zu steuern.

Als sie ins Stadtzentrum rollten, war Porter bereit, sich hinzulegen – und Schmerzmittel zu nehmen. Aber beim Anblick der vielen Autos, die vor der Pension, vor dem Dining House und überall auf der befestigten Straße parkten, schoss Adrenalin durch seine Adern. Blondinen, Brünette, Rothaarige – es war eine bunte Mischung weiblicher Pracht.

Unzählige Frauengesichter starrten sie durch Windschutzscheiben und geöffnete Fenster fragend an. Und die Armstrongs starrten zurück. Offensichtlich war die Autokarawane auch den Arbeitern aufgefallen, als sie an ihnen vorbeigezuckelt war. Ein klappriger Versorgungstruck tauchte hinter den Armstrong-Brüdern auf. Auf der Ladefläche standen eng zusammengepfercht die Männer. Die Spannung, die in der Luft lag, war beinahe mit Händen greifbar. Es wirkte fast so, als wären sich beide Gruppen der Bedeutung dieses Augenblicks bewusst. Sie taxierten sich gegenseitig.

Porter warf Marcus einen Blick zu und sah dessen panischen Gesichtsausdruck. Mitgefühl erfüllte ihn. Armer Marcus! Er hasste Situationen, die er nicht unter Kontrolle hatte. Kendall hingegen schaute eher besorgt drein. Er betrachtete die vielen, vielen Gesichter erwartungsvoll, aber dennoch vorsichtig.

Porter beschloss, dass es sein Part war, diesen Schönheiten zu zeigen, wie hier in den Südstaaten Gastfreundschaft aussah. Er nahm seine ganze Kraft zusammen, ignorierte den unerträglichen Schmerz und stellte sich auf dem Geländefahrzeug aufrecht hin.

„Ladys“, rief er und hob die Arme, „im Namen der Armstrong-Brüder und unserer Freunde heiße ich Sie in Sweetness, Georgia, herzlich willkommen!“

Plötzlich wurde ihm schwarz vor Augen. Er nahm die Schreie und den Lärm klappender Autotüren kaum mehr wahr, als er kopfüber vom Fahrzeug fiel. Wenigstens fiel er dieses Mal nicht so tief … Verflucht, dies war ein gehöriger Dämpfer für seinen Stolz! Bevor er hart auf dem Lehmboden aufschlug, wurde er aufgefangen. Von Kendall. Wie aus weiter Ferne hörte er Marcus’ Stimme. Sein großer Bruder fluchte wie immer.

„Wir brauchen Hilfe!“, schrie Marcus.

Porter wurde rücklings auf den Boden gelegt. Er fühlte den warmen trockenen Lehm unter seinen Schulterblättern und spürte, wie die Menschen sich um ihn drängten. Sein Bein brannte vor Schmerz.

„Ist hier eine Krankenschwester?“, rief Marcus in die Menge. „Mein Bruder ist vom Wasserturm gefallen und hat sich wahrscheinlich das Bein gebrochen!“

Porter bemerkte, wie seine Lebensgeister wieder erwachten, öffnete blinzelnd die Augen und versuchte die Gesichter der Frauen um ihn herum zu erkennen. Fremde weibliche Düfte drangen ihm in die Nase, fruchtige Shampoos, blumige Parfums – himmlisch!

„Tut es auch eine Ärztin?“, meldete sich eine weibliche Stimme, weit entfernt und trotzdem stark.

Selbst flach auf dem Rücken liegend und gegen eine Ohnmacht ankämpfend, spürte Porter, wie sich sein Puls beschleunigte. Er wollte diesen Schutzengel unbedingt sehen. Ob sie blond war? Langbeinig? Vollbusig? Groß?

Der Kreis der Schaulustigen teilte sich, um sie zu ihm zu lassen. Als sie schließlich vor ihm stand, musste Porter gegen seine Enttäuschung ankämpfen.

Sie war nichts von alledem.

3. KAPITEL

Dr. Nikki Salinger hatte sich gefragt, wie lange es wohl dauern würde, bis sie diese mühselige Reise nach Sweetness, Georgia, wirklich bereute.

„Das wäre dann jetzt“, murmelte sie, als sie sich hinkniete, um diesen ziemlich hochgewachsenen Mann zu untersuchen, der sie alle mit großer Geste in dieser sogenannten Stadt mitten im Nirgendwo begrüßt hatte, ehe er wie ein Sack Kartoffeln umgefallen war. Sie hatte geglaubt, sie hätte sich auf der Hinfahrt die Bewegung auf der Plattform des Wasserturms nur eingebildet. Sie hätte nicht gedacht, dass es dieser Idiot gewesen war, der die Schwerkraft hatte testen wollen.

Die Tagesreise von Broadway, Michigan, nach Sweetness in Georgia hatte sie erschöpft. Sie war staubig, hungrig und gereizt. Wenn die Reisebedingungen noch nicht anstrengend genug gewesen waren, so hatte das Geplapper der drei Frauen, die mit ihr zusammen in ihrem Van gereist waren, ganz sicher gereicht, um sie vollkommen wahnsinnig zu machen. Traci, Susan und Rachel kannten die Zeitungsannonce, wegen der sie hier waren, auswendig.

Die neu aufgebaute Stadt Sweetness in Georgia heißt einhundert alleinstehende, mit Pioniergeist ausgestattete Frauen, die sich einen Neuanfang wünschen, willkommen!

Bla, bla, bla. Die Frauen waren besonders begeistert von dem Teil, in dem viele Singlemänner aus den Südstaaten versprochen wurden. Tatsächlich schien Rachel Hutchins, um die Nikki nun herumgehen musste, um nach dem verletzten Mann zu sehen, ihr Abenteuer als eine großartige Jagd nach Männern zu verstehen.

Nikki schürzte die Lippen. Sie war wahrscheinlich die einzige Frau in der Gruppe, die nicht auf der Suche nach einem Ehemann war. Und doch stand sie hier, als Erste zur Schau gestellt vor einer Horde von Männern.

Nicht dass es eine Rolle spielte. Neben langbeinigen, kurvigen, ultraweiblichen Frauen wie Rachel wirkte sie knabenhaft und unscheinbar. Mit ihrer kleinen Statur kam sie schlecht weg – in mehr als nur einer Hinsicht. Ein Umstand, den der leicht enttäuschte Ausdruck in den Augen ihres Patienten noch unterstrich, als er sie sah. Egal. Sie hatte noch nie zu den hübschesten Mädchen gezählt, aber sie war für gewöhnlich die Klügste. Und das würde für den riesigen, starken Mann, der da flach auf dem Rücken lag und Hilfe brauchte, reichen müssen.

„Bitte lassen Sie uns ein bisschen Platz“, wandte sie sich an die Menge, während sie ihren Arztkoffer auf den Boden stellte.

Schweißperlen liefen ihr über die Schläfen, und sie war gespannt bis in die Fingerspitzen – so wie immer, wenn sie sich um einen medizinischen Notfall kümmern musste. Jedenfalls redete sie sich das ein. Es war egal, dass der dunkelhaarige Mann vor ihr kein Hemd trug und von der Arbeit unter der Sonne des Südens muskulös und gebräunt war. Sein Oberkörper war übersät mit blutigen Kratzern und blauen Flecken, die er sich wahrscheinlich durch den Sturz zugezogen hatte.

Sie streckte die Hand aus, um sein feuchtes, dichtes Haar zur Seite zu streichen, damit sie seine Stirn fühlen konnte. Wie nicht anders zu erwarten, war seine Haut erhitzt, doch sie schrieb es der Wärme des Tages zu – Fieber hatte er nicht. Dann presste sie ihre Finger an die Unterseite seines starken Handgelenks, um seinen Puls zu messen – nicht so kräftig, wie sie es sich gewünscht hätte, aber zumindest regelmäßig. Er war bei Bewusstsein und atmete, doch seine Augen waren zu schmalen Schlitzen verengt.

„Wie heißt er?“, fragte sie die beiden Männer, die in der Nähe standen und genauso kobaltblaue Augen hatten wie ihr Patient.

„Porter, Ma’am“, sagte der jüngere von beiden. „Porter Armstrong. Ich bin Kendall und das ist Marcus – wir sind seine Brüder.“

Nikki nickte und beugte sich hinunter, um dem Patienten ins Ohr sprechen zu können. „Mr Armstrong, ich bin Dr. Salinger. Wo tut es weh?“

„Mein … Knöchel.“

„Sonst noch irgendwo?“

Er verzog den Mund. „Mein Stolz ist auch … angeschlagen.“

Sie musste lächeln. „Sind Sie allergisch auf irgendein Medikament?“

Mühsam schüttelte er den Kopf.

„Okay, bleiben Sie liegen. Ich werde versuchen, es Ihnen so angenehm wie möglich zu machen.“

Sie holte eine Spritze und eine Ampulle mit einem Schmerzmittel aus dem Arztkoffer, während sie ihren Blick wieder auf den Mann richtete, um seine Gesichtsfarbe zu kontrollieren. Dabei fielen ihr die dichten Augenbrauen auf, die breite Nase und das markante Kinn mit dem Grübchen. Sie achtete nicht auf das lauter werdende Gemurmel unter den Frauen, die sich um den Mann sorgten und versuchten, ihn einzuschätzen. Und auch ihren beschleunigten Puls ignorierte sie. Porter Armstrong war ein Patient. Dass er besser aussah als die meisten anderen ihrer Patienten in Broadway, tat nichts zur Sache – schöne Menschen wurden genauso von Krankheiten und Verletzungen heimgesucht wie durchschnittlich oder nicht so gut aussehende.

Nikki packte seinen beeindruckenden Bizeps, um die Einstichstelle mit Alkohol zu desinfizieren. Als sie die glatte gebräunte Haut mit der Spritze durchstieß, musste sie zugeben, dass ihr dieser gesunde Muskel, der das Schmerzmittel so gut aufnahm und wirkungsvoll verteilte, gut gefiel. Selbstverständlich nur aus ärztlicher Sicht. Und damit endete ihre Bewunderung auch schon.

Innerhalb weniger Sekunden entspannten sich die Gesichtszüge ihres Patienten, und ein Seufzen kam über seine Lippen. „Das … fühlt sich … besser … an … meine kleine … Frau … Doktor.“

Nikki biss sich von innen auf die Wange. „Gut.“

Zufrieden, dass das Schmerzmittel half, entfernte sie die Manschette von seinem Knöchel, um ihn zu untersuchen. Die Haut war rotblau angelaufen. Über dem Rand des geschnürten Arbeitsstiefels konnte sie eine deutliche Schwellung erkennen. Wenn er Glück hatte, war es nur eine schlimme Stauchung. Wenn er Pech hatte … Nun, im Augenblick konnte sie noch nichts Genaues sagen, aber die Schwellung war besorgniserregend. Nikki nahm eine Schere aus ihrer Arzttasche und schnitt das Hosenbein bis zum Knie auf, das Gemurmel im Publikum wurde lauter.

„Nikki, kann ich irgendwie helfen?“, fragte Rachel. Sie hatte ihren bonbonrosa geschminkten Mund übertrieben besorgt verzogen.

Mit Mühe verkniff Nikki es sich, die Augen zu verdrehen. Rachel schien zu denken, dass sie etwas gemeinsam hätten, weil sie früher einmal bei einem Hautarzt am Empfang gesessen hatte. Sie hatte sich während der ganzen Fahrt gen Süden lang und breit über ihre medizinischen „Fachkenntnisse“ ausgelassen.

„Nein, danke“, flötete Nikki und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Bein zu, das alle Frauen in helle Aufregung zu versetzen schien. Behutsam löste sie den Schnürsenkel des Stiefels und registrierte, dass die Schwellung sich verstärkte. Für den Moment ließ sie den Stiefel an, damit er den verletzten Knöchel stützen konnte. Die Haut war unversehrt, doch der Knöchel war ein einziges großes Hämatom. Vorsichtig tastete sie das Bein ab und bemerkte das scharfe Einatmen ihres Patienten.

„Ich muss eine Röntgenaufnahme machen, um feststellen zu können, ob irgendetwas gebrochen ist.“ Sie blickte zu den beiden Armstrong-Brüdern hinüber. „Wo ist denn hier die medizinische Einrichtung?“

Als die Männer den Blick abwandten, beschlich sie ein ungutes Gefühl. „Hier gibt es kein Krankenhaus und auch keine Ambulanz?“

„Wir haben einen Erste-Hilfe-Raum mit der wesentlichen Ausrüstung“, erwiderte Kendall. „Aber wir haben kein Röntgengerät.“

„Wir wollten ihn nach Atlanta bringen“, sagte Marcus. „Wir könnten ihn auch mit einem Helikopter ausfliegen lassen, wenn Sie der Meinung sind, dass es ernst ist.“

Nikki begann zu verstehen, wie primitiv diese neue „Stadt“ tatsächlich zu sein schien. Die allmählich immer weiter schrumpfende Gemeinschaftspraxis mit mehreren Kollegen, in der sie in Broadway gearbeitet hatte, erschien ihr mit einem Mal gar nicht mehr so schlecht. Sie schluckte. „Hat Ihre Erste-Hilfe-Station einen Platz, wo er sich hinlegen kann?“

„Nein“, gab Kendall zu und wies dann mit dem Daumen über seine Schulter. „Wir können ihn allerdings in die Pension bringen.“

Das würde reichen müssen. „Im Kofferraum meines Vans sind eine Trage, ein mobiles Röntgengerät und weitere Ausrüstung“, sagte Nikki. Sie deutete mit einer Kopfbewegung auf die Männer, die immer noch zusammengepfercht auf der Ladefläche des Versorgungstrucks standen. „Könnten ein paar Ihrer Freunde mir beim Ausladen behilflich sein?“

Kendall steckte zwei Finger in den Mund und pfiff ohrenbetäubend. Die Männer sprangen vom Truck und warteten auf Anweisungen. Nikki wollte aufstehen, doch etwas hielt sie zurück – Porter Armstrong hatte seine langen schlanken Finger um ihr Handgelenk gelegt. „Kleine Frau Doktor?“

Unwillkürlich schlug ihr Herz bei seiner Berührung schneller. Sein schiefes Grinsen berührte sie. Seine strahlend blauen Augen waren fesselnd und so sexy – auch wenn man in ihnen die Wirkung des Schmerzmittels sah.

„Ja?“, brachte sie hervor.

Er zog sie so nahe zu sich heran, dass sein Atem über ihre Wange strich. „Haben Sie hübsche Krankenschwestern mitgebracht?“

Angesichts dieser Anzüglichkeit musste Nikki blinzeln. Es blieb ihr allerdings erspart, zu antworten, weil seine Augenlider flatterten und sich schlossen. Mit einem verärgerten Seufzen prüfte sie noch einmal seinen Puls. Der Grobian war ohnmächtig geworden.

Nikki erhob sich und ging zum Kofferraum ihres Vans. Auf das Zeichen eines der Armstrong-Brüder hin begannen die Arbeiter, sich am Heck des Wagens aufzureihen, auch wenn die vielen hübschen Damen sie offensichtlich ablenkten. Die Männer starrten die Frauen an, die neben ihren Autos standen. Und die blonde Rachel Hutchins, die eine Haarsträhne zwischen ihren Fingern zwirbelte, bekam ihren Teil an Aufmerksamkeit. Die Frauen kicherten und stießen sich gegenseitig verstohlen mit den Ellbogen an. Nikki stöhnte innerlich auf, als sie an die Kuppeleien dachte, die zwangsläufig folgen würden. Dann ermahnte sie sich selbst. Die anderen Frauen waren hierhergekommen, weil sie auf der Suche nach Liebe waren, und nicht, um vor ihrem untreuen Verlobten zu fliehen. Sie konnte ihnen den Spaß nicht missgönnen, nur weil sie nicht vorhatte, welchen zu haben.

Sie erinnerte sich daran, dass sie immer ihre eigene Praxis hatte haben wollen. Hier bot sich nun die Chance. Während die Männer Box um Box mit Material aus ihrem Van luden und zur offensichtlich frisch errichteten „Pension“ brachten, nahm Nikki sich einen Moment Zeit, um sich in Sweetness umzusehen.

Die Stadt bestand offenbar nur aus einer Unterkunft und einer Art Dining House – beide errichtet aus einem Sammelsurium an Baustoffen – sowie einer Baracke, die die Armstrong-Brüder als ihre „Erste-Hilfe-Station“ bezeichneten. Alle Gebäude standen an der Stelle, wo sich die befestigte Straße, über die sie gekommen waren, und ein roter Lehmweg, der irgendwo ins Nirgendwo führte, kreuzten. Der weiße Wasserturm, den sie auf ihrer weiten Fahrt hierher lange vor ihrer Ankunft gesehen hatten, war ein deutliches Zeichen, das den Besucher warnte, wie weit er in der Zeit zurückreisen würde. Trotz der wirtschaftlich miserablen Lage war Broadway in Michigan verglichen mit diesem Flecken eine blühende Metropole.

Sie war auf eine falsche Assoziation hereingefallen. Der Name „Sweetness“ beschwor unwillkürlich Bilder von üppigen, Schatten spendenden Bäumen, großen Gläsern mit süßer Limonade und weißen Weidenschaukeln herauf. Stattdessen war es ein heißer, stickiger, schmutziger, trostloser kleiner Ort an einer Straße. Auf einem Berg. Und so wie die Männer und Frauen einander anschauten, würde Sweetness demnächst zu einem einzigen riesigen Speed-Dating-Pool werden. Und wenn sie Porter Armstrongs Reaktion auf sie richtig deutete, würde sie als Einzige überzählig sein.

Was ja genau genommen egal war, da sie sowieso nicht nach einem Mann suchte.

Wirklich nicht!

Plötzlich verspürte Nikki Heimweh nach der Stadt und den Menschen, die sie zurückgelassen hatte. Heiße Tränen brannten in ihren Augen. Es war der Teil der Anzeige gewesen, in dem von einem „Neuanfang“ die Rede gewesen war, der ihre Aufmerksamkeit erregt hatte. Aber in was war sie hier hineingeraten?

Meinten die Südstaatler das hier, wenn sie sagten, dass man „vom Regen in den Sturm“ kam?

Panik ergriff sie, und Nikki spielte mit dem Gedanken, in ihren Van zu springen und wegzufahren– die Ausrüstung, die bereits ausgeladen war, konnte gern an diesem unwirtlichen Flecken zurückbleiben. Verstohlen machte sie einen Schritt auf die Fahrertür zu.

Dann erblickte sie Porter Armstrong, der gerade auf eine harte Trage gehoben wurde. Seine beiden Brüder standen bei ihm, und ihre Körperhaltung zeigte deutlich ihre Besorgnis. Irgendetwas an der Art, wie die drei sich ansahen, hielt sie schließlich zurück. Es war mehr als nur die Verpflichtung zwischen Geschwistern – es war Sorge, die ihren Ursprung in tiefer Zuneigung hatte, ein Band, das nicht durchtrennt werden konnte. Und so wie die Arbeiter auf die Armstrongs reagierten, war das Verhältnis zwischen ihnen mehr als nur die Beziehung zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Sie waren eine Familie.

Nikkis Herz zog sich zusammen. Familie – das war etwas, das ihr fehlte. Sie war allein auf dieser Welt. Sie hatte geglaubt, dass ihre Verlobung der erste Schritt dazu gewesen wäre, ihre eigene Familie zu gründen. Danach hatte sie sich gesehnt. Es war der Hauptgrund, warum der Seitensprung ihres Verlobten sie bis ins Innerste erschüttert hatte. Was die Armstrong-Brüder hier versuchen wollten – unterschiedliche Menschen aus verschiedenen Regionen des Landes zusammenzubringen, um aus dem Nichts eine Gemeinschaft zu schaffen -, war etwas, das sie reizte. Sie wollte ein Teil dieses Experiments sein. Und vielleicht bot es ihr die letzte Chance, ihre eigene Familie zu gründen. Und wenn es auch keine Familie im traditionellen Sinn war, so würde es doch eine Familie aus Freunden und Nachbarn sein.

Von der Trage aus hob Porter Armstrong den Kopf. „Hey, wo ist unsere Frau Doktor?“

Unsere Frau Doktor.

Der Mann war benommen vom Schmerzmittel, aber als sein umnebelter Blick sie traf, machte Nikkis Magen einen kleinen Satz. Sie schob diese untypische Reaktion auf ihre momentane Verletzbarkeit und die emotionale Ausnahmesituation. Sie hatte nicht die Absicht, sich in einen weiteren Mann zu verlieben, der sie nicht wollte. Doch in der Zwischenzeit rief die Pflicht.

„Ich komme“, sagte sie, nahm ihren Arztkoffer und ging zu ihrem ersten Patienten. Dem ersten von vielen?

Das würde die Zeit zeigen.