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Dreizehn Polizisten warteten darauf, dass die Lagebesprechung für die Nachtschicht begann. Einige der Kollegen waren noch in der Garage und führten die obligatorische »Kontrolle vor Abfahrt« durch. Der Ölstand wurde untersucht, das Scheibenwaschwasser, das Kühlwasser, der Luftdruck in den Reifen, Sirenen, Blaulicht, Blinker, Scheinwerfer. War das Absperrband da? Hatten sie alle Formulare dabei? Den Strafzettelblock? Die Sitze wurden angehoben – es kam manchmal vor, dass ein Kiffer es schaffte, ein wenig Gras aus der Unterhose zu pulen und an den erstbesten Stellen zu verstecken. Die Liste dessen, was zur Kontrolle gehörte, konnte noch verlängert werden, wenn man zu den gewissenhaften Beamten zählte. Wer seine Liste abgekürzt hatte, trank Kaffee aus der Selecta-Maschine der Dienststelle oder aß den letzten Rest aus der Essensbüchse.
Amanda war spät dran und schaufelte ihre selbstgemachte Lasagne in sich hinein. Sie hatte sie in der Mikrowelle aufgetaut und damit erreicht, dass sie an den Rändern brennend heiß und in der Mitte noch immer gefroren war. Aber sie schlang dennoch alles hinunter. Wenn man einmal unterwegs war, konnte man nicht wissen, ob man noch mal etwas zu essen bekam.
Zwanzig Sekunden bevor der Zeiger auf zehn Uhr rückte, trat sie eilig in den Besprechungsraum und schluckte den letzten Bissen hinunter.
»Das war knapp«, sagte Marcus, der seelenruhig an dem länglichen Tisch hockte.
Amanda wusste, dass er auf eine Torte anspielte. Wer zu spät kam, wurde so lange von den Kollegen bearbeitet, bis etwas Leckeres auf dem Kaffeetisch stand. Das waren ungeschriebene Regeln. Eine Torte war auch die Strafe bei selbst verursachten Verkehrsstörungen, falschem Alarm oder anderen unbesonnenen Vorkommnissen. Die Jury neigte zu Schuldsprüchen und plädierte nur selten auf Freispruch. Mit anderen Worten: Es stand praktisch immer eine Torte im Pausenraum.
Sie legte ihr tragbares Funkgerät ab. Die Stühle waren nicht angepasst an uniformierte Polizisten, die schwere Gürtel um die Hüfte trugen und deren Umfang durch die daran befestigten Dinge deutlich vergrößert wurde: Pistole, OC-Spray, Schlagstock, Handschellen, Reservemagazin, Funkgerät. Sie hatten sich schon oft beklagt, dass die Armlehnen an den Stühlen unpraktisch waren, aber dies zu ändern war nur einer von vielen Vorschlägen, die von den Leuten ignoriert wurden, die über das Inventar entschieden. Die Stühle waren ein wiederkehrendes Gesprächsthema. Eine Petitesse, konnte man finden, aber sehr nervig für diejenigen, die jeden Tag damit leben mussten.
Alle fanden ihre eigenen Varianten, um sich hinzusetzen. Die rechte Hüfte anwinkeln, sodass die Waffe unter der Armlehne landete, die linke Hüfte anwinkeln, sodass das Funkgerät unter der anderen Platz fand. Die erfindungsreichsten Kollegen brachen die Lehnen einfach ab.
Amanda fragte sich, was während der bevorstehenden Nachtschicht passieren würde. Man wusste nie, was kam. Das war eine der schönen Seiten des Berufs.
Der westliche Teil der Stadt bot eine ganze Bandbreite von Leckerbissen. Kista: mit dem Einkaufszentrum, in dem sich der Kampf der Kulturen abspielte und wo lauter Kleptomanen rumliefen. Hässelby: das Königreich der Sozialfälle. Vällingby: Sammelplatz der Alkoholiker. Bromma: die Heimat der Hells Angels, dazu all die Flugzeuge, die in Richtung Flughafen über die Häuser hinwegdonnern. Sundbyberg: ein Loser-Vorort, in dem identitätssuchende, rappende Jungen Fuß zu fassen versuchen – Möchtegern-Hiphopper, Möchtegern-Ganoven. Alvik: ungelenke, picklige Kinder von reichen Eltern, die im Leben wohl nur einen einzigen Satz gelernt haben: »Mein Daddy ist übrigens Anwalt.« Nockeby: ein psychisch Gestörter neben dem anderen. Auf der anderen Seite der Brücke, das schöne Drottningholm: das vielbesuchte Schloss der königlichen Familie mit verrückten Stalkern. Ekerö: entlaufene Kühe. Solna: Fußballhooligans. Rinkeby, Tensta, Hjulsta, Akalla: Hier gab es jede Art von Leckerbissen, außer dem »Mein Daddy ist übrigens Anwalt«-Satz. Drogen in Unmengen: braun, grün, weiß. Und so fort. Kleine Ganoven, große Ganoven, Ganoven, die sich gegenseitig ausraubten.
Einsatzchef Nils Söderling leitete die Lagebesprechung und erklärte, wer mit wem in welchem Wagen fahren würde. Er berichtete, was seit der letzten Schicht passiert war, was in der bevorstehenden zu beachten war und wer an diesem Tag Namenstag hatte. Letzteres war zu Nils’ Markenzeichen geworden, etwas, worüber alle grinsten, wenn Kollegen von außerhalb anwesend waren und sich nach dem Sinn fragten. Einen echten Sinn gab es nicht, der Namenstag war nur eine Sache, die angesprochen werden musste, um die Lagebesprechung abzurunden.
Was für einen Scheißjob hatten sie da bloß gewählt? Amanda sah, wie ihr Kollege Tobbe sich eine Träne von der Wange wischte. Beide waren froh, dass sie bei dem unfassbaren Auftrag, den sie soeben hinter sich gebracht hatten, einander zum Partner gehabt hatten.
Sie hatten ein totes Baby im Astrid-Lindgren-Krankenhaus identifiziert. Ein Junge, der nur vier Monate alt werden durfte. Seine Eltern waren wegen Kindesmords festgenommen worden. Ein vieldiskutiertes Phänomen: shaken baby syndrome.
Eine Krankenschwester hatte sie zum Zimmer geführt. Sie ging schweigend mit gesenktem Kopf vor ihnen her. Zu hören war nur das langsame Schlurfen ihrer Schuhe auf dem Boden. Sie öffnete die Tür und gab ihnen mit einer Handbewegung zu verstehen, dass sie eintreten sollten. Es war ein dunkler Raum, der von einer Kerze erhellt wurde. Die Wände waren kahl und von sterilem Weiß. Zu der sparsamen Möblierung zählte ein Stahltisch, der an der Wand stand. Darauf lag eine gelbe Decke, die leicht gewölbt war.
Die Krankenschwester ging hin und hob die Decke so vorsichtig an, dass man glauben konnte, es läge eine tickende Bombe darunter. Stattdessen kam ein steifer menschlicher Körper zum Vorschein, der zu klein war, um dort zu liegen. Die Haut ganz hell, fast durchsichtig. Die Lippen eisblau. Die Augen geschlossen. Augen, die die Welt nicht mehr erforschen durften.
Es war vollkommen unwirklich. Ein Baby, das nicht warm war, das nicht um Aufmerksamkeit buhlte. Ein Baby, das nicht plapperte, nicht schrie.
Still. Stumm.
Jemand hatte einen Teddybären mit einer roten Halsschleife danebengelegt.
Tobbe drehte sich bei diesem Anblick weg. Amanda verstand ihren Kollegen: Er hatte selbst ein einjähriges Kind. Sie schrieb den Namen »Hugo Lindström« auf das Identitätsband und befestigte es um den Knöchel des Babys, das Handgelenk war zu schmal. Dann benachrichtigte sie den Transportdienst, der Hugo zur Obduktion in die Gerichtsmedizin bringen würde. Hugo, der ganz allein war.
Mit seinem Teddybären.
»Sorry, dass ich das vorhin nicht hingekriegt habe.« Tobbe lehnte den Kopf gegen die Nackenstütze.
Amanda steuerte den Streifenwagen durch die dunklen Straßen. »Kein Ding.«
»Ich bin froh, dass ich mit dir unterwegs bin.«
»Ich weiß, beim nächsten Mal bin ich diejenige, die es nicht hinkriegt.« Sie lächelte Tobbe zu, und er sah dankbar aus.
Sie dachte, dass das nie geschehen würde. Dass sie etwas nicht packte. Sie hatte es seinetwegen gesagt. Wollte nicht, dass er sich schämte. Ein großer starker Polizist mit Waffe und Schlagstock, der weinte. Aber das war okay. Sie wünschte, sie wäre in der Lage zu weinen. Das hatte sie seit Jahren nicht mehr getan. Nicht mehr, seit … Sie ließ den Gedanken nicht zu.
Es war eine Weile still. Das Einzige, was man hörte, waren die Scheibenwischer, die auf die niedrigste Geschwindigkeit eingestellt waren. Sie bekämpften den feinen Nieselregen, der eingesetzt hatte, als sie mit dem kleinen Hugo fertig gewesen waren. Ein Regen, bei dem man keine Tropfen spürte. Man wurde nur nass. Gemütlich, solange man im Wagen saß.
Sie machte das Radio an und stellte Bandit auf 106,3 ein. Edsel Dope brüllte aus den Lautsprechern: »… die motherfucker die motherfucker die …«
»Oh, vielleicht nicht gerade das, was wir im Moment brauchen.« Sie streckte die Hand nach dem Radio aus.
»Nein, nein, lass nur. Wir können ja nicht ewig rumheulen.«
Sie beugte sich vor und drehte stattdessen lauter.
»… die motherfucker die motherfucker die …«
Nach ein paar Minuten donnernder Metal-Musik sah Amanda, dass Tobbe sein normales Ich wiedergefunden hatte. Der kleine Hugo war in den berühmten Rucksack gestopft worden. Bei den meisten Polizisten, die seit einer Weile Dienst leisteten, war dieser Rucksack bis oben hin voll.
Sie fuhren weiter durch die Stockholmer Nacht. Kreuz und quer durch das Industriegebiet. Schauten beim Solvalla Camping vorbei. Im Dunkeln liegende Villen in Äppelviken. Sie kauften frisch gebackene Brötchen in einer Bäckerei. Stoppten ein paar Autos und führten Alkoholkontrollen durch. Plötzlich vibrierte das Handy in ihrer Hosentasche. Amanda ratterte im Kopf ein paar Namen herunter, von denen die SMS sein könnte. Die Sekunden der Ungewissheit, bevor man den Namen auf dem Display sah, waren immer spannend. Würde es eine nette Nachricht sein? Oder eine noch nettere? Oder nur eine von ihrer Mutter? Zufrieden las sie den Namen: Adnan.
Adnan von vorgestern. Ein seltsames Gefühl breitete sich in der Magengegend aus. Freude? Sie hatte gespürt, dass er sich melden würde. Die Frage war nur gewesen, wann. Zwei Tage: schneller als erwartet. Die ungeschriebene Regel besagte doch drei, oder?
Sie las die Nachricht: wie stehts? will dich trefen.
Analyse: wie stehts – was meinte er damit? War sie nur ein Kumpel?
Will dich trefen – er wollte sie auf jeden Fall wiedersehen. Als Kumpel? Wann? Der Rechtschreibfehler ärgerte sie. Kein LG oder War schön, dich getroffen zu haben. Nicht einmal ein Smiley. War er schüchtern? Traute er sich nicht, zu zeigen, was er empfand? War er überhaupt interessiert?
»Was grinst du denn?« Tobbe sah zu ihr und auf ihr Handy, das vielleicht etwas zu viel von ihrer Aufmerksamkeit in Anspruch genommen hatte, wenn man bedachte, dass sie am Steuer saß.
»Nur eine SMS.«
»Jetzt komm schon!«
»Ich hab vielleicht jemanden kennengelernt.«
»Aha, wen? Jemanden von der Dienststelle?«
Sie versuchte, das Handy in die Hosentasche zu stopfen und sich gleichzeitig auf die Straße zu konzentrieren.
»Auf keinen Fall. Man kann nicht mit einem Polizisten zusammen sein.«
»Dachte ich mir schon.« Er knuffte sie. »Erzähl schon!«
»Ich weiß eigentlich nicht sehr viel über ihn. Wir haben uns nur kurz unterhalten. Er wirkt nett.«
»Wo habt ihr euch denn kennengelernt?«
Sie überlegte kurz, ob sie ehrlich sein sollte oder nicht. »Im Supermarkt.«
»Was, echt?«
»Das ist doch romantisch, oder? An der Kühltheke im Supermarkt. Er sah verdammt gut aus, also bin ich einfach zu ihm hingegangen und hab angefangen, über die Hühnchen dort zu reden.«
Tobbe lehnte den Kopf gegen die Nackenstütze und lachte. »Du hast doch einen Knall!«
»Ich weiß. Aber man kann auch nicht zu Hause hocken und darauf warten, dass jemand an die Tür klopft.«
»Da hast du recht. Das war mutig.«
»Was blieb mir anderes übrig? Er sah total heiß aus.«
»Ich sage ja, dass es mutig war! Aber bevor ich meine Genehmigung erteile, muss ich wissen, was er für ein Auto hat.« Tobbe, der Autofetischist. Er war ein Fanatiker und kannte jedes Fabrikat, jedes Modell, jedes Wagenteil, jede Schraube.
»Einen Mercedes.«
»Gut.« Er nickte. »Modell und Farbe?«
»Schwarz. Keine Ahnung, welches Modell.«
»Ein schwarzer Mercedes. Klingt nach Ganove.«
Nicht schlecht geraten. Adnan Nasimi war ein Schwerkrimineller und stand auf der Nova-Liste. Sie hatte nicht vor, dies Tobbe oder irgendjemand anderem zu verraten. Sie wusste, dass sie ein hohes Risiko einging, aber es musste sein. »Ja, wer weiß das schon in dieser Stadt.«
»Hast du dir das Nummernschild aufgeschrieben?«
»Ha, du kennst mich. Hab ich schon überprüft. Das Auto läuft nicht auf ihn. Ich werde noch ein bisschen nachforschen müssen.«
»Ja, da ist was faul.«
»Vielleicht hat er den Wagen ausgeliehen.«
Sie zog es vor, nicht zu erzählen, was sie über den Wagenhalter herausgefunden hatte. Er tauchte in sämtlichen polizeilichen Registern auf. »Ich werde ein bisschen nachbohren, wenn ich ihn das nächste Mal treffe.«
»Ihr seht euch also wieder?«
»Ja, zumindest wenn ich seine SMS richtig deute. Warum seid ihr Kerle so schlecht darin, euch klar auszudrücken?«
»Was stand denn drin?«
»›Wie steht’s? Will dich treffen.‹ Schreibt man so was?«
»Klar, er will dich halt sehen.«
»Aber man stirbt nicht davon, ein bisschen ausführlicher zu sein.«
»Er will dich treffen. That’s it.«
»Glaubst du, er will mit mir ins Bett?«
»Klar will er das.«
Sie wurden vom Polizeifunk unterbrochen, der in der vergangenen halben Stunde ungewöhnlich still gewesen war. Eine männliche Stimme erklang: Drei null an drei. 33-3120. Over.
Tobbe nahm das Mikrofon. »Solna, ich höre. Kommen.«
Fahrt zum Maltesholmvägen Nummer 73 in Hässelby, dort haben wir eine Frau, die vergewaltigt worden ist. Wohnung 5, an der Tür steht Didriksson. Over.
»Verstanden. Over.«
Der Türcode lautet 3588, ersten Informationen zufolge fand die Vergewaltigung nicht in der Wohnung statt. Eine Freundin der Frau hat uns angerufen.
»Ja, verstanden, wir sind unterwegs. Over.«
Over and out.
Amanda schluckte und versuchte, unberührt zu wirken. Aber die Vergangenheit ließ sich nicht ausschließen. Die Erinnerung an ihre Schwester und an das, was ihr widerfahren war, brach über sie herein und beherrschte ein paar Sekunden lang ihre Gedanken. Dann zwang sie sich zurück in die Gegenwart und bemühte sich, die Fassung zu wahren. Offenbar glückte es ihr, denn Tobbe schien nichts bemerkt zu haben.
»Du hast dir die Adresse gemerkt, oder?«, fragte er.
»Ja, ja, logisch.«
Sie schaltete das Blaulicht ein und schlängelte sich durch den spärlichen nächtlichen Verkehr. Ließ die Sirene aus, da es keinen Sinn hatte, wie die Irren zu einer Vergewaltigung zu rasen, bei der der Täter nicht mehr vor Ort war. Ein bisschen Blaulicht reichte vollkommen. Es war trotzdem schön, schnell zu fahren.
In der Wohnung war es warm und stickig, der Schweiß lief ihnen unter der Schutzweste herab. Es stank nach Urin, und als Amanda am Badezimmer vorbeikam, sah sie ein Katzenklo neben der Toilette, das vermutlich die Ursache war. Im Wohnzimmer stand ein abgenutztes Stoffsofa an der Wand, und auf dem Couchtisch lagen Zigarettenstummel, die von dem überfüllten, als Aschenbecher dienenden Teller gefallen waren. Stella Didriksson kauerte auf einem Sessel und starrte Amanda und Tobbe mit vom Weinen geröteten Augen an. Die Mascara hatte schwarze Streifen auf ihren bleichen Wangen hinterlassen, ihre braunen Haare hingen in Strähnen herab.
»Sie hat mich angerufen und gesagt, dass sie vergewaltigt wurde.« Stellas Freundin fing an, auf Amanda und Tobbe einzureden, bevor diese sich überhaupt vorstellen konnten. »Dann wollte sie nichts mehr sagen, ich glaube, sie hat Angst um ihr Leben, so ist sie sonst nie.«
Amanda ging neben Stella in die Hocke. »Hallo, ich heiße Amanda. Ich weiß, dass es sehr schwierig ist, darüber zu sprechen, aber du musst dich vor uns nicht schämen. Wir haben viele Frauen getroffen, denen ähnliche Sachen passiert sind.«
Stella nickte.
»Willst du erzählen, was passiert ist?«
Stella schüttelte den Kopf.
»Dann werde ich dir eine Frage stellen, auf die du bitte entweder mit Ja oder Nein antwortest. Wurdest du heute Abend vergewaltigt?«
Stella schien zu zögern, dann murmelte sie: »Ja.«
»Dann muss ich dich fragen, warum du uns nicht mehr erzählen willst.«
»Ich will einfach nicht.«
»Magst du nicht, dass mein Kollege zuhört?« Amanda deutete mit einem Kopfnicken auf Tobbe.
»Nein, das spielt keine Rolle. Aber ich wollte gar nicht, dass ihr überhaupt herkommt. Emma hat euch gerufen, ich hätte ihr echt nichts sagen sollen.«
Stella schluchzte auf und verbarg das Gesicht in der Armbeuge. Amanda wartete eine Weile und gab ihr Zeit, sich zu beruhigen.
»Wo ist es passiert?«
Stella schüttelte den Kopf und sagte nichts.
»War es im Freien oder in einem Haus?«
»In einem Haus.«
»Kennst du den, der es getan hat?«
Stellas Lippen zitterten, als sie antwortete: »Ich weiß, wer es ist.«
»Kannst du ein bisschen beschreiben, was passiert ist?«
Stella änderte plötzlich die Tonlage. »Ihr kapiert das nicht, ich kann nichts sagen!«, schrie sie. »Sonst kann ich gleich einpacken, das geht nicht!«
»Warum kannst du gleich einpacken, wie meinst du das?«
»Ich sage jetzt nichts mehr, das geht nicht.«
Amanda schielte zu Tobbe, der in der Türöffnung stehengeblieben war. Er schüttelte den Kopf, um zu zeigen, dass es keinen Sinn hatte. Amanda spürte, wie der Frust in ihr hochkam, aber es brachte nichts, die Frau unter Druck zu setzen.
»Stella, wir brauchen heute nicht mehr mit dir zu reden, aber ich hoffe, dass du dich irgendwann anders entscheidest. Offenbar hat er dich bedroht, und da ist es besonders wichtig, dass wir herausfinden, wer es ist. Du bist vermutlich nicht sein einziges Opfer.«
Stella saß schweigend da.
Amanda richtete sich auf, um die Beine durchzustrecken. Sie hatte ein wenig zu lange in der Hocke gesessen. »Dafür wollen wir aber, dass du mit ins Krankenhaus kommst für eine ärztliche Untersuchung. Es ist sehr wichtig, dass wir das jetzt machen, um noch Spuren zu finden.«
»Ich habe schon geduscht.« Stella kauerte sich noch tiefer in den Sessel.
»Das ist schade, aber es gibt vielleicht trotzdem Spuren und mögliche Verletzungen. Die Ärzte sind unheimlich kompetent, es gibt keinen Grund, sich Sorgen zu machen.«
»Nein, ich will nicht.«
»Stella, was ist, wenn du eines Tages deine Meinung änderst und wir keinen Beweis haben?«
»Ich werde meine Meinung nicht ändern.«
»Warum? Was macht dir so eine schreckliche Angst?«
»Ich will einfach nicht. Ich weiß, wie das funktioniert, euer Zeug würde sowieso zu nichts führen. Am Ende würde einzig und allein ich in der Scheiße sitzen. Niemand würde mir glauben, warum sollten sie auch?«
Amanda verstand, was Stella meinte. Es stand Aussage gegen Aussage zwischen einem Mann und einer Frau, und außerdem war sie vollkommen zugedröhnt. Amanda entschied, den Drogenkonsum zu ignorieren und nicht zu vermerken. Das würde es noch unwahrscheinlicher machen, dass Stella irgendwann ihr Schweigen brach.
Amanda unternahm einen letzten Versuch: »Mir ist absolut bewusst, dass es für alle, die eine Vergewaltigung zur Anzeige bringen, ein langer Prozess ist und dass es nicht immer klappt. Vergewaltigungen geschehen fast immer ohne Zeugen. Deshalb müssen wir so schnell wie möglich erfahren, wer es ist, da es auch bei ihm Spuren von dir geben kann. Je mehr Zeit verstreicht, desto schwerer wird es, eine Verurteilung zu erreichen. Außerdem kannst du dazu beitragen, dass er nicht einer anderen dasselbe antut.«
Stella schwieg eine Weile und schien zu überlegen. Als sie antwortete, wusste Amanda, dass sie heute nicht weiterkommen würden, vermutlich auch morgen oder übermorgen nicht. »Er wird es wieder tun.« Sie blickte Amanda mit geweiteten Pupillen an. »Und er hat es vorher schon getan. Ist man irre und setzt man alles auf eine Karte, geht das auch mal schief. Aber ich überlebe. Und zwar immer.«
Es war fünf Uhr morgens, als Amanda und Tobbe die Wohnung von Stella Didriksson in Hässelby verließen. Keiner von beiden war sonderlich zufrieden, nachdem sie es nicht geschafft hatten, Stella zum Reden zu bringen. Das einzig Positive daran war, dass sie an diesem Morgen nicht länger bleiben mussten. Überstunden nach einer Nachtschicht waren die reinste Qual.
Da Stella eine ärztliche Untersuchung verweigerte, kamen auch Amanda und Tobbe um diese Prozedur herum. Amanda sah das Schild vor ihrem inneren Auge: NOTAUFNAHME FÜR VERGEWALTIGTE FRAUEN. Das Schild befand sich am Krankenhaus in Söder, und Amanda war schon mehrmals mit Frauen dort gewesen, die sich hatten untersuchen lassen müssen. Sie hatte nie verstanden, was dieses überdeutliche Schild sollte. Vielleicht diente es dazu, die Hälfte aller Frauen, die sich dorthin schleppten, zu verschrecken, weil sonst eine Überbelastung eintreten würde. Aber heute hatten sie ohnehin eine Patientin weniger, ganz unabhängig von dem, was auf dem Schild stand.
Sosehr Amanda Stella und die anderen Frauen verstand, die nicht die Kraft aufbrachten, die unzähligen Vernehmungen und Untersuchungen zu ertragen, so sehr verachtete sie sie auch. Wegen ihrer Schwäche liefen andere Gefahr, derselben Sache ausgeliefert zu werden. Wie ihre Schwester Sanna. Der Gedanke, dass es vielleicht hätte verhindert werden können, wenn nur eine sich getraut hätte auszusagen, machte sie stinkwütend.
An diesem Morgen vernahm Amanda beim Einschlafen Stellas Worte im Kopf: »Aber ich überlebe. Und zwar immer.« Warum hatte Sanna es nicht geschafft? Warum hatte sie nicht um Hilfe gebeten?