cover.jpg

Gunther Beth

Meine Mutter tut das nicht!

Roman

LangenMüller

Besuchen Sie uns im Internet unter

www.langen-mueller-verlag.de

© für das eBook: 2017 LangenMüller in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

© alle Rechte für die deutsche Sprache: 1979 LangenMüller in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Wolfgang Heinzel

eBook-Produktion: F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

ISBN 978-3-7844-8285-9

Inhalt

Aufgalopp

Das Schicksal kommt zum Abendbrot

Ring frei zur großen Karriere!

Herr Knack

Im Mekka der Sehnsucht

Blow-up

Count-down

Finale

Aufgalopp

1

Boy Blond war wirklich ungeheuer blond.

Wie Wüstensand schmiegten sich seine leuchtenden Locken an die bronzebraune Stirn.

Aus azurblauen Augen blitzte ein blanker Blick, und die sinnlich geschwungenen Lippen waren zu einem heimlichen Triumphbogen geschürzt. Zu diesem Bild von einem Mund richtete sich die melancholische Sehnsucht eines verzückten Teenagers, der im Hintergrund Babyspeck im Bayern-Dirndl präsentierte.

In den Armen des blonden Boy aber räkelte sich ein pudelnasser Cocker-Spaniel mit hinreißenden Dackelfalten.

Boy Blond – Ein Herz kehrt heim

Ab Freitag in diesem Theater!

Der Plakatkleber vom Gloria-Palast trat zwei Schritte zurück und widmete dem Machwerk einen derart versonnenen Blick, als wäre er mindestens die Mutter von Boy Blond.

Auch Herr Kaufhold, an der Würstchenbude gegenüber, starrte fasziniert zu der Plakatwand.

Als seine Augen schließlich wieder auf den Boden des Papptellers zurückfanden, wußte er nicht, wovon ihm übler war – von dem guten Blonden mit dem blauen Blick oder von seiner ›Guten Thüringer mit Senf‹.

»Schmeckt’s Ihnen heut’ nicht, Herr Dokter?«

»Wie bitte?«

»Vielleicht noch’n bißken Mostrich?«

»Nein danke.« Der Senf war genauso gelb wie dieser künstliche Kino-Kerl da drüben.

»In Sachsen würdense wat drum geben, wennse solche Thüringer hätten wie icke«, sagte der Wurst-Maxe selbstbewußt. »Aber ick gloobe, der Herr Dokter steht wohl doch mehr auf seine warmen Wiener, wa? – Naja, denn eben nächstet Mal wieder, wenn’s recht is!«

Herr Kaufhold zwang sich krampfhaft zu einem flüchtigen Lächeln. Der Mann ging ihm mächtig auf die Nerven.

Aber warum mußte er seine Mittagspause auch hier beim Wurst-Maxe verbringen? Nur weil der ihn immer mit »Herr Dokter« titulierte? …

Arthur Kaufhold, der in der Tat für sein Leben gern ein graduierter Mediziner geworden wäre, kam sich manchmal ziemlich pubertär vor. So wie die beiden giggelnden Schulmädchen, die dicht vor ihm standen und unentwegt in ihre Fritten-Tüten keckerten.

Ein metallic-schwarzer Sportwagen schob sich jetzt auf den Gehsteig und parkte unmittelbar neben dem Wurst-Maxe. Der pfiff diskret durch die Zähne und beobachtete mit Kennerblick die Dame, die sich nun aus ihrem Schalensitz hinterm Steuer schälte.

Zweifellos eine bemerkenswerte Brünette!

Ihr Körper war ebenso angenehm anzusehen wie ihre Bewegungen.

Ein Hauch von »Eau de Private« wehte herüber, um sofort wieder hinter der schweren Wolke von Bratenfett und Curry unterzugehen.

»Donnerlittchen!« meinte Maxe und reckte den Hals. Auch Herr Kaufhold sah der attraktiven Amazone unwillkürlich nach, wie sie sich in schillerndem Satin über den Zebrastreifen wiegte und dann in der Bar vom »Hotel Eden« verschwand.

Arthur Kaufhold fühlte sich ziemlich mies. Irgendetwas piekste ihn im Rücken seines grauen Konfektionsanzuges. Irgendeine blöde Faser, die sich immer dann selbständig machte, wenn es ihrem Herrn sowieso schon unbehaglich war in seiner Haut.

Herr Kaufhold fühlte sich unwohl, gereizt und hart am Abgrund eines moralischen Tiefs.

Es fing schon heute früh an, als er aus der Zeitung erfuhr, daß sein Lieblingsverein, der I. FC Kaiserslautern, in einem vorgezogenen Bundesligaspiel mal wieder vergeigt hatte – 0:3 gegen Borussia Mönchengladbach, und das auch noch vor heimischem Publikum! Auf dem Weg zur Apotheke hatte dann sein Scheibenwischer das Zeitliche gesegnet, und zu seiner ganz besonderen Freude eröffnete ihm dann auch noch seine Kollegin, das dämliche Fräulein Dünnwald, daß sie sich in freudigen Umständen befände und ab Mitte Mai zu beurlauben sei.

Und hatte hinzugefügt: »Sie sollten auch mal wieder Ferien machen, Herr Kaufhold. Sie sehen gar nicht gut aus.« Die dumme Gans.

Urlaub! … Schon fast neun Monate seit Istanbul – und noch über zehn Wochen bis Marrakesch! …

Und kaum ist man da, ist man auch schon wieder weg. Bis zum nächsten Jahr, bis man dann schon 55 ist, bis man wieder mal »gar nicht gut aussieht«, bis man dann schon hart auf die 60 zugeht, bis man schließlich gar nicht mehr gut aussehen kann, bis man schließlich auch gar nicht mehr wegfahren kann, bis man –

»Laß man«, fuhr der Wurst-Maxe prosaisch dazwischen, »solange ick noch zwee gesunde Beene hab, brauch ick keenen Sportwagen. Aber bekieken, da bin ick janz ehrlich, bekieken tu ick mir gern sonne schnucklige Straßenkreuzer mit ordentlich PS unter der Haube – und in der Bluse! Hähähä!«

»Zahlen bitte.«

Der Mann ging Arthur heute ganz besonders auf die Nerven.

»Entschuldigense, Herr Dokter, aber wenn ick mir die Bemerkung erlauben darf: Sie gefallen mir heut gar nich.«

»Ich mir auch nicht«, sagte Herr Kaufhold schroff, legte ein Zweimarkstück auf die Glasplatte und ging. Sein neuer grüner Regenschirm blieb, traurig am Abfallkorb baumelnd, zurück.

2

Es pladderte und platschte, daß der Asphalt nur so dampfte. Der Himmel ergoß sich gewaltig über die Innenstadt.

Das kann ja heiter werden, dachte Annette …

Der Wolkenbruch hatte sie auf ihrem weiten Fußweg zum Pressehaus überrascht. Sie mußte die kalte Fassade des Finanzamtes entlang und noch am Polizeipräsidium vorbeilaufen, bis sie sich endlich in der Königstraße unterstellen konnte. Nun drückte sie sich also bibbernd im Entree einer Medizinischen Fachbuchhandlung herum, und es sah so aus, als ob es bis Weihnachten so weiter schütten würde.

Annette war eine besonders blonde Blondine, die sich normalerweise besonders wohl fühlte in ihrer besonders weiblichen Haut. Jetzt aber kam sie sich vor wie ein Rehpinscher beim Tierarzt.

Immer wieder wanderte ihr Blick vom finsteren April-Horizont zu den kaum mehr einladenden Werken im Schaufenster:

›Die Synopsis der Magenkrankheiten‹ und ›Neurogene Blasenstörungen‹ lagen da zur Ansicht. Und auch das ›Handbuch der Tuberkulose in fünf Bänden‹.

»Wenn Sie einen Bestseller suchen, dann sind Sie hier wohl verkehrt, fürchte ich.«

Annette fuhr herum und sah direkt in die Sonne.

Es gibt ein paar Typen, die besitzen ein derart offenes Lächeln und strahlen immer eine solche ansteckend gute Laune aus, daß man das Gefühl hat, in ihrer Gesellschaft befände man sich irgendwo an einem südlichen Strand.

Der junge Stefan Kaufhold gehörte zu diesen Typen. Demzufolge hatte er es in seinem Leben immer sehr leicht gehabt. Viel leichter als in seinem Studium, besonders jetzt vor dem Physikum.

»Seh ich etwa so aus, als wäre ich aus Interesse hier?« Annette schüttelte sich.

Sie sah absolut entzückend aus. Über ihren abenteuerlich geflickten Jeans trug sie nur ein T-Shirt mit dem appetitlichen Aufdruck von zwei paradiesischen Bilderbuchäpfeln.

»Meinen Sie etwa, ich?!« Stefan zog eine eindeutige Grimasse.

Er hatte ein hochgekrempeltes Khaki-Hemd und eine helle Cordhose an. In der einen Hand hielt er seine jüngste Neuerwerbung (›Die lymphogenen Absiedlungswege des Bronchialkarzinoms‹), in der anderen klimperten seine Autoschlüssel.

»Ich würde sagen, bevor Sie sich hier einen abzittern, gehen Sie lieber rein in den Laden. Drinnen ist es ein bißchen gemütlicher.« Aber dann fiel ihm ein: »Nee, das ist eigentlich gelogen. Diese Buchhandlung ist das deprimierendste Etablissement, das ich kenne. Und darum schlage ich vor, ich nehme Sie ein Stück in meinem Wagen mit. Natürlich nur, wenn Sie’s eilig haben.«

Eilig hatte sie es eigentlich immer. Und trotzdem kam sie eigentlich immer und überall zu spät. Und das prädestinierte sie eigentlich gar nicht für den Job einer Pressefotografin. Aber sie besaß nun einmal diese so herrlich komplizierte Leica-Reflex-Kamera und ihren so herrlich unkomplizierten Freund, den Sensationsreporter Ketschi vom Abendecho. Und solange der ihr sagte, was und wie sie was tun sollte, war die Welt noch in Ordnung.

»Ich bin in einer Minute wieder hier«, sagte Stefan. »Ich halte kurz auf dem Bürgersteig, ein blauer Golf, okay?«

Ein blauer Golf – Annette mußte lächeln.

Heute mittag beim Frühstück hatte Ketschi ihr prophezeit, daß sie den Regenschirm getrost zu Hause lassen könne. Der Himmel bliebe heute blau wie der Golf von Amalfi.

Annette lächelte.

Da hast du ihn nun, mein lieber Ketschi, deinen Golf von Amalfi …

3

»Tja, mein lieber Ketschi, jetzt sind Sie dran! Es kann losgehen.«

Das Büro von Victor Ascheberg, seines Zeichens ›Ressort-Chef Kultur‹ beim Abendecho, sah beileibe nicht so aus, wie man sich landläufig diese hektischen Schicksals-Schneidereien vorstellt, in denen der Stoff zugeschnitten wird, aus dem die Träume sein sollen. Wenn man Ascheberg so gegenüber saß, kam man sich eher vor wie im Leseraum eines traditionsreichen Nobelhotels.

Von den alten Stichen an den Mahagony-Paneelen bis zu den Sherry-Sets auf dem Butlertisch wirkte alles sehr viktorianisch. Fehlte nur noch ein offener Kamin.

Am viktorianischsten aber war »Sir Victor« selbst, wie ihn alle im Pressehaus nannten.

Ein seriöser Vierziger, der den unseriösen Stil seines Blattes ausgezeichnet zu repräsentieren verstand. Dies tat er mit Vorliebe in dreiteiligen Flanellanzügen, zart gestreiften Batist-Hemden und dezenten Cashmere-Krawatten. Vermutlich trug er auch maßgeschneiderte Unterhosen.

Sir Victor wirkte, wenn er nun auch noch an seiner wohlriechenden Dunhill sog, wie ein Stammbuch-Gentleman aus der Londoner Bond Street. In Wirklichkeit jedoch war er ein lupenreiner Ostfriese.

Was das Abendecho unter Kultur verstand, genierte Sir Victor schon lange nicht mehr.

Kultur ist – pflegte er zu sagen –, wenn in der Staatsoper der Kronleuchter von der Decke knallt!

Das Abendecho hatte mit Abstand die höchste Auflage des gesamten Bundeslandes, und Sir Victor – immer sehr volksnah und immer sehr skrupellos – tat eine ganze Menge dafür, daß die Auflage immer weiter stieg.

»Nägel mit Köpfen«, verlangte Sir Victor. »Diese Serie muß ein echter Knüller werden!«

»Ist doch klar«, versprach Ketschi.

»Sie müssen sofort ran.«

»Und was wird aus meiner Sonntags-Nacht?«

»Fällt aus. Holen Sie sie Montag nach.«

»Wie Sie meinen.«

Der Reporter ›Ketschi‹ Ketschensteiner war noch vor zehn Minuten damit beschäftigt gewesen, eine neue Folge seiner Serie »Diese Nacht vergeß ich nie« zu schreiben – »Abendecho-Leser berichten über ihr schlimmstes Erlebnis«.

Ketschi war gerade gut in Schwung gewesen. Schwelgte schwülstig im saftigen Sud einer schockierenden Sex-Story. Er hatte soeben die noch minderjährige Heldin seiner Geschichte (›Andrea H. aus K.‹), diabolisch demütigen und erschüttert aufschreien lassen: »Mama, so hilf doch –«, da ließ Victor Ascheberg ihn rufen. Nun saß er also da, lieh dem Ressort-Chef seine enorm groß geratenen Ohren und schaltete um.

Er war zwar erst 37, aber schon ein ganz ausgefuchster Hase.

Bereits neunzehn Jahre in der Branche.

Er war Nachrichten-Redakteur gewesen und Kummerkasten-Tante. Als Sportexperte fühlte er sich beim Eishockey ebenso zu Hause wie als Nahost-Korrespondent in der Wüste Gobi. Er schrieb herzige Hofberichte und rüde Rocker-Reportagen, theatralischen Theater-Tratsch und vernünftige Verbraucher-Tips. Und einmal war er sogar gleichzeitig verantwortlich gewesen für die ›Toten des Jahres‹ und den ›Witz des Tages‹.

Wie gesagt, Ketschi Ketschensteiner konnte sehr schnell umschalten. Er wechselte immer dann, wenn es woanders mehr Zaster gab.

Hier beim Abendecho war er schon zwei Jahre zufrieden. Hier gab es viel Zaster für einen wie ihn.

Hier war er goldrichtig.

»Sie müssen sofort zur Alpha Commerz fahren«, drängte Sir Victor. »Da erfahren Sie alles, was Sie noch wissen müssen.«

Ketschi notierte sich die Anschrift der Filmfirma. »Weiter: Sie besorgen sich den schönsten Blumenstrauß der Saison und dann – dann spielen Sie mal schön den Weihnachtsmann! Die Adresse ist Südendstraße 2.«

4

Die Südendstraße lag ganz im Norden der Stadt, nicht weit von der Karlsbader Allee.

Die kleine Querverbindung zwischen dem Veilchenweg und dem Blaukissenstieg war eine sehr ruhige Straße. Bis der neue Flughafen gebaut wurde. Seitdem war es aus mit Frühstück bei offenem Fenster und Fernsehen bei Zimmerlautstärke.

Aber was sollte man tun? – Eine respektvolle Bürgerinitiative und der ausdrückliche Protest der kommunalen Opposition hatten lediglich für den ›Rabenwirt‹ positive Folgen gehabt – der durfte nämlich wochenlang die Tagungen ausrichten.

Längst aber gehörte dieses Kapitel schon zur Chronik der Gemeinde. Die Jahre gingen durchs Land und die Landebahnen des neuen Flughafens mitten durch die Vorstadt-Idylle an der Karlsbader Allee.

Den ›Rabenwirt‹ gab es schon lange nicht mehr. Und die Anlieger der Südendstraße – alles brave und arrangierte Bürger – hatten sich längst auch mit ihrer Einflugschneise arrangiert.

Das Haus Nummer 2 war ein rüstiger Klinkerbau aus der Gründerzeit. Für Autofahrer, die nach eben dieser Adresse Ausschau hielten, hatte es den Vorzug, daß die einzige Laterne im Umkreis ausgerechnet hier zu stehen gekommen war.

Die Fassade mochte früher einmal freundlich gewirkt haben – heute sah sie restlos verwittert und verbittert aus.

Der spärliche Rasen im Vorgarten traute sich schon seit Jahren nicht mehr an die Oberfläche. Und der alte Fliederbaum am Hauseingang, der einst in glücklichen Monaten die Besucher begrüßt hatte wie ein jugendlicher Liebhaber – jetzt lungerte er verloren am Portal herum, wehleidig in sich zusammengekrümmt. Kein Mensch kümmerte sich mehr um ihn. Nur die Spatzen schissen ihm hin und wieder eins aufs Dach.

Neben den Türklingeln rosteten zwei Namen vor sich hin:

›Ludwig Hempel, Vertreten und ›Arthur Kaufhold – Parterre‹.

Die letzte Renovierung der Kaufholdschen Wohnung – drei Zimmer, Küche, Bad – ereignete sich im Februar 1966.

Ein preisgünstiger Malergeselle hatte seinerzeit in unermüdlicher Schwarzarbeit die Wände geweißt, die Teppichböden verlegt, tapeziert, gehobelt, geschreinert, gezimmert – und Witze erzählt. Unaufhörlich Witze erzählt. Witze, die so erbärmlich alt und trocken waren wie der Kalk, der von der Decke rieselte.

Es waren die schlimmsten vierzehn Tage, an die Stefan sich erinnern konnte. Dieser Malermeister mit seinen kriminellen Kalauern war wirklich in der Lage, auch aus einer Frohnatur einen Triebtäter zu machen. »Wenn du schon nicht hilfst, dann könntest du wenigstens ab und zu mal lachen«, maulte seine Mutter. Frau Kaufhold war wieder einmal nicht zu beneiden gewesen.

Ausgerechnet in dieser Zeit mußte Arthur in der Apotheke Inventur machen, und Stefan schloß sich vor Verzweiflung vorübergehend einem politischen Jugendring an. Dort ließ er die Diskussion der Kameraden immer so lange über sich ergehen, bis der Pinselfritze spätabends endlich gegangen war.

Irgendwann aber war das chaotische Intermezzo endlich beendet. Es gab wieder geregelte Mahlzeiten zu dritt und zu ziviler Stunde, die Zeitung lag wieder auf einem sauberen Tischtuch, und zur Suppe gab es wieder Maggi anstelle von Tünnes und Schäl. Es war wieder alles beim Alten.

Und es blieb alles beim Alten.

Die dunklen altdeutschen Möbel erholten sich von dem Schock, einmal gerückt worden zu sein, und waren wieder in friedlichen Winterschlaf gefallen. Dieser ging nun schon in den dreizehnten Frühling.

Die Zeit ging ins Land und jede Menge Patina durch die Wohnung.

Die Einrichtung war von nostalgischer Gemütlichkeit. Das Wohnzimmer war wie geschaffen für Kriegserinnerungen anno 14/18. Arthur allerdings war erst seit 1925 auf der Welt und sein Sohn erfolgreicher Wehrdienstverweigerer. Und Frau Kaufhold hatte sich nie wohl gefühlt in all dem zusammengeerbten Ramsch. Aber mehr als jene historische Renovierung hatte sie nicht durchsetzen können.

Farblich sah das Ganze ungefähr so aus wie Nordseehimmel fünf Minuten vor einem Gewitter. Für die einzig bunte Nuance sorgte der Goldfisch Fridolin, der hier seit Weihnachten zur Untermiete schwamm und leider häufig kränkelte.

Arthurs Verhältnis zu seinem Zuhause war von doppelter Moral.

Einerseits war ihm durchaus klar, daß er mit dieser Wohnung nicht unbedingt repräsentieren konnte – konsequenterweise lud er also nie jemanden ein. Andererseits war er unendlich bequem – konsequenterweise war er also nie bereit gewesen umzuziehen. Ergo hatte Gerda Kaufhold weder Aussicht auf Gäste noch auf eine neue Wohnung. Aber sie hatte das, was man wohl ein rundum zufriedenes Familienleben nennt. Einen Mann, auf den Verlaß war, und einen Sohn, auf den die Zukunft wartete.

Ihr Stefan, der das Abitur geschafft hatte und nun auch bald sein Physikum! – Gerda sah das emaillierte Schild schon vor sich:

Dr. Stefan Kaufhold

Facharzt für innere Krankheiten

Alle Kassen

Eine ganz moderne Praxis in einem gepflegten Neubau, ganz kalte Pracht! Und damit würde der Junge seinen Vater tatsächlich überflügelt haben. Arthur, der doch auch so furchtbar gern Mediziner geworden wäre, dem aber der Krieg so schlimm dazwischengekommen war. Er hatte es nie so richtig verwunden, daß aus ihm nur ein angestellter Apotheker geworden war. Ein Mann, der stark zu akademischem Dünkel neigt, für den ist die Tatsache, nicht Akademiker geworden zu sein, ein harter Schlag.

Seltsam – Gerda hatte das früher nie begreifen können. Erst in letzter Zeit ist ihr Arthurs Dilemma mehr zu Bewußtsein gekommen. Erst seit sie neuerdings so viel grübelte.

Seit dem Studium ihres Sohnes, seit sie sich darüber klar geworden war, daß sie Stefan aus ihrer eigentlichen mütterlichen Verantwortung hat entlassen müssen – seitdem hatte Frau Kaufhold viel Zeit für sich. Viel Zeit, ihr bisheriges Leben Revue passieren zu lassen. Und oft empfand sie dabei so eine merkwürdige Unruhe. Eine gewisse Unausgeglichenheit, die aus einem bisher nie gekannten Gefühl der ›Berufslosigkeit‹ herrührte.

Diese Unruhe war ein schleichendes Gefühl. Es wanderte häufig auf dem Grat sentimentaler Erinnerung und drohte gelegentlich abzustürzen in den dumpfen Dämmer der Depression.

So auch heute, an diesem regnerischen Freitag im April. Gerda Kaufhold hatte bereits alles vorbereitet für den Feierabend ihrer Lieben.

In der Küche blubberte duftend auf kleiner Flamme eine köstliche Gemüsesuppe. Die Dickmilch, Stefans erklärte Lieblingsspeise, war bereitgestellt, und nun wartete Gerda.

Sie hatte sich eine Melange gemacht und blätterte unkonzentriert in einem Modejournal, das sie sich von Frau Hempel geliehen hatte.

Im Radio spielten sie ein sehr hübsches Lied.

Eine angenehme Stimme sang mit melodischer Melancholie von James Dean und Shirley Temple, von Humphrey Bogart und ›Casablanca‹.

Gerda hatte diesen Song schon mal irgendwo gehört. Irgendetwas mit Hollywood, wenn sie sich nicht irrte.

»Das war Hol-ly-wood von ge-he-stern«, erscholl jetzt schmelzend der Refrain, und Gerda lächelte. Also doch Hollywood.»Das war Hol-ly-wood von ge-he-stern – aber gestern ist vorbeiii …«

Wie wahr, dachte Gerda seufzend. Wie viel von all der Zukunft, von der sie in der Vergangenheit geträumt hatte, war an ihr vorübergegangen, ohne Gegenwart geworden zu sein! …

Sie dachte dies mit ein bißchen Wehmut, keineswegs aber mit einem bitteren Beigeschmack. Dafür war sie nicht der Typ.

Ihre Wesenszüge deckten sich angenehmerweise mit den freundlichen Zügen ihres Äußeren.

Gerda Kaufhold war eine durchaus attraktive Fünfzigerin, unaufdringlich blondiert und von erfrischender Natürlichkeit.

Sie war nie ganz schlank gewesen, hatte aber auch nie den Rahmen ihrer properen Proportionen gesprengt. Sie war in allem von wohltuender Normalität.

Unberührt fröstelte die Melange in ihrer schmucken Sammeltasse, während Gerdas Gedanken die biederen Bahnen abtrabten, in denen ihr Leben seit Ewigkeiten ewig gleich ablief und noch Ewigkeiten ewig gleich ablaufen würde.

Und während vor ihren Augen Kinderwagen und Weckgläser, Trauring und Fernsehapparat, Eingefahrenes und Unerfahrenes in nebligen Silhouetten dahinwanderten, bekam sie den Blick eines Zugvogels.

Die sonore Stimme des Funkmoderators fuhr flapsig dazwischen:

»Tja, liebe Freunde der Nostalgie, das also war Hollywood von gestern. Wer weiß, was uns der Kintopp von morgen wohl bescheren wird. Ich hoffe, daß bald mal wieder mehr ’rauskommt als ›Liebesgrüße aus der Lederhose‹ … Apropos Sex –«

Ein Gong ertönte.

»– jetzt ist es sechs! Beim Gongschlag war es achtzehn Uhr. Ich gebe ins Nachrichtenstudio und sage –«

Er sagte nichts mehr, denn Gerda hatte sich erhoben und schaltete das Gerät aus.

Was soll’s, sagte sie sich mit einem resignierenden Achselzucken, der Lauf des Lebens läßt sich in deinem Alter nun mal nicht mehr ändern …

In diesem Moment klingelte es an der Tür.

Es war genau eine Minute nach sechs.

5

Zur selben Zeit, an diesem regnerischen Freitag im April, trat die junge jugoslawische Bedienung im »Café Cremer« an Tisch drei und bat: »Darf isch abkassirren bittäh! Mein Dinnst ändet jätzt.«

Eine Himbeertorte mit Sahne, ein Schweineohr, zwei Tassen Kaffee und zwei Amaretto.

Annette zündete sich noch eine Zigarette an und fragte sich, ob Stefan sie wohl gleich fragen würde, ob er sie mal anrufen dürfte.

Und während Stefan sein Portemonnaie zückte, dachte er, daß Annette jetzt sicher erwartete, daß er sie gleich fragen würde, ob er sie denn auch mal anrufen dürfte. Sie wußte ja auch nicht, daß es Carlchen gab …

6

Zur selben Zeit, an diesem regnerischen Freitag im April, beendete Carlchen Gottschalk frühzeitig ihre Reitstunde in der Halle von »Onkel Tom’s Club«.

Sie war ziemlich fest entschlossen, doch lieber auf einen Führerschein umzusatteln, nachdem der stolze Apollo sie schon fünfmal in drei Wochen abgeworfen hatte. Sie hoffte sehr, daß Stefans Vater zu Hause noch Mobilat-Salbe im Arzneischrank haben würde.

Das wird ein schönes Duftgemisch geben, dachte sie sauer: Sportlerpaste und ›L’Air du Temps«. Ausgerechnet heute, an ihrem Forsythien-Freitag … Heute vor zwei Jahren hatte sie Stefan kennengelernt, auf der Party ihrer Schwester Toddy.

»Killing me softly with your song« hatte die schwarze Soul-Sängerin Roberta Flack mindestens zwei Dutzend mal in jener Nacht gesungen. Die Stereoanlage war sensationell. Die Hits unter den Getränken waren englischer Ingwerwein und ein raffinierter Eistee mit sehr viel Gin und Bacardi. Die Stimmung war übergangslos gut gewesen, eine bemerkenswert gelungene Fête.

Am bemerkenswertesten aber war dieser nußbraune Waschleder-Typ mit dem blonden Lachen und dem süßen Schwips. So eine Art Serenaden-Softy. Sein Smalltalk wirkte seltsam seriös, seine Bonmots waren leicht wie Bajaderen, und – was noch erschwerend hinzukam – er tanzte einsame Spitze.

Als draußen die ersten Straßenbahnen in den Morgen einzogen, zog es Stefan – so hieß dieser smarte Sympath – unbändig ins Wilhelmsbeker Quellental, und er zog sie mit, um ihre Begegnung mit »Osterwasser zu weihen«.

In den Anlagen zwitscherten die Sperlinge, Lerchen schlugen im Akkord jubelnde Kapriolen, und die Luft war seidiger als die teuersten Pariser Modelle. Und mittendrin, zwischen glitzerndem Gestrüpp und Gestrünk, alberten und kalberten die beiden herum wie die Dreijährigen.

Die letzten Nebelschleier rissen darüber auf und zogen sich gerührt zurück.

Es war nicht das erste Mal in der Chronik zwischenmenschlicher Beziehungen, daß etwas sogenannt »Ernstes« mit dem vollkommen unverbindlichen Spaß übermütiger Augenblicke begann.

Carla Gottschalk erschien dieser Morgen wie eine himmelblaue Kindheitserinnerung – mit dem schönen Unterschied, daß sie kein Kind mehr sein mußte. Stefan Kaufhold hatte an diesem Morgen den Elan einer dreistufigen Rakete, Zärtlichkeit für zehn und im Herzen mindestens tausend Atü.

Jean-Jacques Rousseau jedenfalls hätte an diesem Morgen an beiden seine helle Freude gehabt …

Auf dem Heimweg hatte Stefan aus den blühenden Vorgärten die leuchtendsten Forsythienzweige geklaut, soviel sie beide tragen konnten. Carlas kleines Zimmerchen barst beinahe von den phantastischen Frühlingssträuchern und sah mit einemmal aus wie eine ostergelbe Laube.

Seitdem war Carla Gottschalk Stefans ›Carlchen‹. Und so, wie’s dann lief, war sie liebend gern bereit, es zu bleiben. Sie sahen sich fast täglich, und zu ihrer verrückten Verliebtheit kam eine kameradschaftliche Kumpanei, die bei Stefan oft als das dominierende Gefühl erschien. Er hatte sich für sie entschieden, sie war nun sozusagen sein Co-Pilot.

Carlchen war eigentlich der einzige Mensch, der bei Kaufholds ein und aus ging, und war auch schon lange per Du mit ihnen.

Mit Gerda verband sie eine echt freundschaftliche Beziehung und mit Arthur eine ziemlich ironische Distanz, die auf Gegenseitigkeit beruhte.

Carlchen war in einer mittleren Werbeagentur tätig. Dabei hätte sie mit ihrem Abitur doch so schön studieren und Lehrerin werden können, fand Arthur und verstand wieder mal die Welt nicht mehr. Aber er hoffte, daß sein Sohn ihr diese Flausen schon noch austreiben würde.

Der dachte jedoch nicht daran. Er hatte zwar keinen direkten Zugang zum Metier der Werbung im allgemeinen und zu Carlchens Agentur im besonderen, aber es hatte ihm schon mächtig imponiert, daß seine Freundin kürzlich das Erfolgserlebnis einer Tausend-Mark-Prämie mit nach Hause brachte.

Es war ihr gelungen, sich bei der Namensgebung eines neuen Kräutersenfs mit ihrem Vorschlag durchzusetzen, und seitdem wurde dieses Produkt tatsächlich als ›Scharfe Lola‹ angepriesen.

Das wurde natürlich gefeiert. Es gab überhaupt viel zu feiern in ihrem Leben. Vor allem jedoch der ›Forsythien-Freitag‹.

Der Tag, an dem alles begann.

Ob Stefan wohl dran gedacht hatte?

Carlchen war sehr gespannt.

Sie öffnete ihren Regenschirm und machte sich auf den Weg in die Südendstraße.

7

Zur selben Zeit, an diesem regnerischen Freitag im April, betrat ein alter Stammkunde mit rosigem Babyface die Fortuna-Apotheke: Herr von Martens, ein Junggeselle mit eiserner Gesundheit. Er bestellte, wie jeden Freitag, eine Familienpackung Multivitamine. Herr Kaufhold erkundigte sich beiläufig nach dem werten Befinden und erfuhr, daß der alte Knabe sich wieder einmal einem gründlichen Check-up zu unterziehen gedachte.

»Sehr vernünftig«, ermunterte ihn Arthur mit höflichem Grimm, und erneut wurde ihm bewußt: Arzt müßte man eben sein, dann schmeißen einem die Hypochonder das Geld nur so in den Rachen.

Das letzte Mal, als sich Herr von Martens einem gründlichen Check-up hatte unterziehen lassen, bildete er sich ein, einen Gallenstein zu haben. Er ließ sich auf Herz und Nieren untersuchen, und was hatte man gefunden? – Nicht einmal Zahnstein. Herr von Martens nahm noch – rein prophylaktisch – Thomapyrin und Tempotaschentücher mit und wünschte einen frohen Feierabend.

Arthur sah ihm gallig hinterher.

Der Regen hatte sich wieder verstärkt. Dicht und senkrecht ging er nieder, und sein Rauschen übertönte das unablässige Grummeln des Straßenverkehrs.

An der Registrierkasse hörte Herr Kaufhold das dämliche Fräulein Dünnwald kichern. Sie schäkerte um ein paar Hustenbonbons mit einem jungen Mann, der aussah wie Beckenbauer.

Da fiel Arthur ein, daß heute abend ja Europa-Cup war. Live-Übertragung aus Amsterdam!

Ihm wurde etwas wohler.

Wenn der Deutsche Meister einen guten Tag erwischte und ein gutes Ergebnis, dann wäre Arthur bereit, diesen miesen Tag schnell wieder zu vergessen.

Plötzlich freute er sich auf sein gutes Pilsner Urquell, und in Gedanken hatte er schon den Kaftan übergestreift, den er sich vom letzten Urlaub aus der Türkei mitbrachte und seitdem als Hausmantel benutzte.

Die meisten Touristen hielten ihre Erinnerungen ja in unscharfen Dias und verwackelten Schmalfilmen fest. Arthur haßte das.

Diese ›Sightseeing-Plebejer‹ waren ihm ein Dorn im Auge. Jene Landsleute etwa, die imstande waren, mit ihren Kleinbildkameras die schönste toskanische Siesta zu zerklicken. Oder die Japaner, die in gezielten Invasionen den Montmartre zum Fudjijama machen und Sacre Coeur nur besuchen, um schnell einen neuen Film einzulegen.

Nein – Arthur konnte auf jeden fotografischen Firlefanz verzichten. Er brauchte nur das Kostüm der Fremde.

Wenn er da hineinschlüpfte, dann rollten die Urlaubseindrücke retour. Dann hatte er manchmal wieder das Gefühl, daß er weit weg wäre. Daß er Türen öffnete, hinter denen Aktion und Abenteuer stattfanden. Da konnte er sich dann ab und zu wieder einbilden, er würde der untergeordneten Ordnung seines profanen Apothekerlebens entkommen.

Arthur war alles andere als ein unordentlicher Mensch – im Gegenteil. Aber sehr häufig empfand er die Ordnung seines Lebens als Anordnung, die ihm eigentlich nicht adäquat schien.

Der Urlaub, ja, das war noch was!

Das war die Zeit, wo er noch improvisierte. Wo noch Überraschendes geschehen konnte, geschehen durfte, geschehen mußte!

Wenn er seinen Kaftan überstreifte, dann sah er sich wieder an den Ufern des Bosporus lustwandeln – ein drahtiger Pilger zwischen Orient und Okzident. Da sah er sich inmitten römischer, byzantinischer und osmanischer Kulturen. Da fühlte er sich sogar als Kosmopolit. Und wenn er auch noch in seine türkischen Pantoffeln fuhr – dann durfte er sich großzügig entscheiden für Europa oder für Asien! Und das milde Auge der Erinnerung reflektierte ihm goldene Kuppeln und schlanke Minarette. Er sah die Sonne hinter der Blauen Moschee untergehen, hörte das monotone Rufen der Muezzins und sah sich staunend in der Hagia Sophia, der gewaltigsten Kirche der Christenheit. Arthur Kaufhold war sozusagen ein gedanklicher Wiederkäuer. Kaum im Kostüm, konnte er das Kaleidoskop von Kunst, Kulturen und Kontrasten rotieren lassen.

Und wenn ihm sein Gerdalein dann Pilsner Urquell einschenkte und ihm die Wasserpfeife brachte, dann war er wirklich zu Hause – nicht nur am Bildschirm, sondern auch bei Bauchtänzerinnen, Bettlern und Basaren.

Arthur sah zur Uhr und begann, sich auf seinen Feierabend zu freuen.