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Oda Lambrecht/Christian Baars

Mission Gottesreich

Oda Lambrecht/Christian Baars

Mission
Gottesreich

Fundamentalistische Christen
in Deutschland

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Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes wurden einige Namen geändert. Sie sind bei Erstnennung mit einem * gekennzeichnet.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese
Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-86284-268-1

Inhalt

Vorwort zur zweiten Auflage

Einleitung

Fundamentalismus

Sind Evangelikale Fundamentalisten?

Wurzeln der evangelikalen Bewegung

Pfingstlich-charismatische Christen

Kampf dem Teufel – Alltag zwischen Wundern und Dämonen

Heilung, Dämonenglaube und Exorzismus

Reich, glücklich und göttlich

Gehorsam, Dauereinsatz und hohe Spenden

Isoliert und kontrolliert

Kindheit in zwei Welten

Warum schließen sich Menschen streng fundamentalistischen Gemeinden an?

Ausstieg: Motive, Probleme und Hilfe

Sex und Sünde – strenge Regeln für die Liebe

Keine Akzeptanz für Homosexualität

Aufruf zur Enthaltsamkeit

Gewalt im Namen der Bibel

Kampf gegen Abtreibung

Schöpfung statt Evolution – Kampagne gegen die Wissenschaft

Kreationismus

Intelligent Design

Studiengemeinschaft Wort und Wissen

Genesis-Land – biblischer Freizeitpark geplant

Wissenschaft, Politik und Kirchen wehren sich

»Glaube macht Schule« – Fundamentalismus im Unterricht

Nordrhein-Westfalen

Hessen

Baden-Württemberg

Bayern

Hamburg

Der Missionsbefehl – Dauereinsatz für Jesus

Menschen vor der Hölle retten – Mission in Deutschland

Feldzug gegen andere Religionen – Mission weltweit

Seelenernte in Afrika – der Kreuzzug des deutschen Predigers Reinhard Bonnke

Endzeitfieber – Israel und die letzte Schlacht

Propaganda für Gott

Evangelikale Medien- und Lobbyarbeit

»Deutschland braucht Jesus« – Partei Bibeltreuer Christen

Gebet »live on air« – evangelikale Sender, Zeitschriften und Verlage

Der Einfluss wächst – Evangelikale und die Landeskirchen

Schlusswort – gegen Intoleranz und Diskriminierung

Anhang

Anmerkungen

Sachregister

Personenregister

Angaben zu den Autoren

Vorwort zur zweiten Auflage

»Wie Fromme auf Kritik reagieren sollten – Evangelikale, was nun?«, so titelte die bekannteste Zeitschrift der bibeltreuen Christen ideaSpektrum im April 2009, wenige Wochen nachdem die erste Auflage dieses Buches erschienen war. Darin schreibt der Chefredakteur Helmut Matthies, dass die evangelikale Bewegung »heftig attackiert« werde. Die »Angriffe« hätten ein Ausmaß erreicht, »das zu Konsequenzen führen sollte«. Am meisten Aufsehen errege das Buch »Mission Gottesreich – Fundamentalistische Christen in Deutschland«, so Matthies.1

Unser Buch setzt sich kritisch mit den Überzeugungen evangelikaler Christen auseinander. Wir halten viele fundamentalistische Positionen, die in der bibeltreuen Bewegung weit verbreitet sind, für sehr problematisch. Den eigenen Glauben absolut zu setzen, deshalb andere Religionen abzulehnen und abwertend darzustellen, ist nach unserer Auffassung intolerant. Homosexualität als Sünde, Krankheit oder Perversion zu bezeichnen, ist diskriminierend. Die biblische Schöpfungsgeschichte als historische Tatsache zu bezeichnen, ist wissenschaftsfeindlich. Teufelsaustreibungen und Dämonenglaube in pfingstlich-charismatischen Gemeinschaften können zu psychischen Problemen führen. Ein überzogener Heilungsglaube kann gefährlich werden, wenn er von notwendigen Arztbesuchen abhält.

Der idea-Chef Matthies hatte gefordert: »Die Evangelikalen sollten auf die Angriffe gelassen, sachlich und freundlich – also überzeugend – durch Briefe, E-Mails, Telefonate und Gespräche reagieren.« Doch die Reaktionen entsprechender Verbände auf unser Buch waren schließlich alles andere als »gelassen« und »sachlich«. Der evangelikale Theologe Thomas Schirrmacher zum Beispiel schreibt: »Verfolgung (religiöser) Minderheiten beginnt weltweit mit Desinformation, geht dann in konkrete Diskriminierung über und endet mit konkreter Verfolgung. Die Autoren betreiben Desinformation bereits im großen Stil und fordern unverblümt die Diskriminierung im großen Stil.« Schirrmacher sieht durch unser Buch die Religions-, Meinungs- und Pressefreiheit in Gefahr.2 Auch der Dachverband der evangelikalen Christen veröffentlichte eine Stellungnahme: »Die Deutsche Evangelische Allianz erinnert daran, dass Verfolgung ethnischer religiöser Minderheiten in der Geschichte und Gegenwart im Regelfall immer mit Desinformation beginnt.«3 Wollen die Stellungnahmen suggerieren, wir verbreiteten gezielt Lügen und bereiteten so den Boden für die Verfolgung von evangelikalen Christen? Der Begriff »Verfolgung« jedenfalls weckt Assoziationen an grausame Verbrechen. Außerdem unterstellte der Verband, dass wir in unserem Buch forderten, »evangelikales Christsein« zu verbieten. Das ist falsch und widerspricht unseren Überzeugungen. Meinungsfreiheit gilt natürlich für alle, und angesichts der intensiven Debatte ist sie aus unserer Sicht auch nicht gefährdet.

Denn auch Evangelikale nutzen sie, wehren sich bei Kritik regelmäßig und laut. Viele Kollegen von Zeitungen oder Rundfunksendern, die ebenfalls kritisch über evangelikale Vereine, Gemeinden oder Veranstaltungen berichtet hatten, erzählten uns von öffentlichem Druck, von Beschwerden bei Vorgesetzten, von zum Teil hunderten Briefen und Mails, auch von Klagen. Einige Evangelikale scheuen dabei sogar den Vergleich mit der Judenverfolgung während des Nationalsozialismus nicht.

Organisierter Druck? Die »Deutsche Evangelische Allianz« bietet gemeinsam mit der ihr nahestehenden »Christlichen Medienakademie« Seminare an, in denen Interessierten beigebracht wird, wie man sich bei Zeitungen oder Sendern beschweren kann. Regelmäßig lädt sie zu dem Kurs ein: »Lob und Tadel – Seminar für Leserbriefschreiber«. Der Veranstalter fragt: »Wann haben Sie sich zuletzt über Falschaussagen in der Zeitung oder einen tendenziösen Bericht im Fernsehen geärgert?«4

Doch nicht nur Journalisten, auch Kritiker der Evangelikalen innerhalb der evangelischen Landeskirchen erlebten massiven Druck. Die Vorsitzende der liberalen Vereinigung »Offene Kirche« in Baden-Württemberg, Kathinka Kaden, hatte zum Beispiel im März 2009 in einem taz-Interview gesagt: Der »Machtanspruch der Evangelikalen« habe ein »unerträgliches Ausmaß« angenommen.5 Daraufhin erhielt die Pfarrerin zahlreiche Mails. Hier sei das »evangelikale Netzwerk« systematisch mobilisiert worden, so Kaden, es werde mit bestimmten Textbausteinen gearbeitet, die Reaktionen würden sich gleichen.6

Auch in der zweiten, aktualisierten Auflage unseres Buches berichten wir über die Medien-, Lobby- und Missionsarbeit evangelikaler Verbände. Vor allem aber möchten wir Hintergrundinformationen über den Glauben und die damit verbundenen Überzeugungen vieler evangelikaler Christen bieten. Außerdem schreiben wir über das Leben in besonders autoritär strukturierten Gemeinden. Ermutigt und bestärkt haben uns dabei viele Zuschriften. Eine Leserin zum Beispiel schrieb uns: »Als Aussteigerin aus dem evangelikal fundamentalistischen Gemeindeleben sage ich den Autoren herzlichen Dank für dieses aufklärende Buch. (…) Vieles von dem, was ich in ihrem Buch gelesen habe, erlebte ich selbst, zum Beispiel Dämonenaustreibung und eine strenge, dogmatische, zum Teil wortwörtliche Bibelauslegung, durch die ich mich extrem eingeschränkt fühlte.« Ein Pfarrer schrieb: »Ihr Buch war wirklich überfällig.«

November 2009Oda Lambrecht, Christian Baars

Einleitung

»Jesus, Du bist der Retter von Stuttgart, Du bist Retter von Deutschland, Du bist Retter von Europa, Du bist der Retter der ganzen Welt! […] Komm, Feuer vom Himmel, komm Herrlichkeit Gottes mit Deiner Kraft und Stärke im Namen Jesu Christi! Komm, wir geben Jesus mal einen gewaltigen Siegesschrei!«

Peter Wenz, Stuttgart, Februar 2008

»Die Evolutionslehre behauptet, diese Welt ohne Schöpfer erklären zu können. Sie verführt die Menschen darum konsequenterweise zum Atheismus. Und mit atheistischer Einstellung landen wir nach dem Zeugnis Jesu in der Hölle.«

Werner Gitt, Wienhausen, 2007

»Die Zukunft wird zeigen, dass der Einsatz der Evangelikalen für ein an der Bibel orientiertes Bild von Ehe und Familie ebenso weitsichtig war wie ihre Warnung vor der schleichenden Homosexualisierung der Gesellschaft und dem wachsenden Einfluss der Schwulenlobby, die die Familie als Leitbild ablösen und eine andere Gesellschaft formen will.«

Friedhelm Jung, Dillenburg, 2007

»Tumore weicht in Jesu Namen! Krebs verschwinde in Jesu Namen! HIV-positiv werde HIV-negativ! In Jesu Namen! (…) Alle Infektionen, Neurosen, ich breche die Kette aller Depressionen, in Jesu Namen! Die Freude am Herrn wird deine Stärke sein und deine Medizin sein.«

Reinhard Bonnke, Bremen, Mai 2008

Sie sind radikal, sendungsbewusst und zunehmend erfolgreich: fundamentalistische Christen in Deutschland. Die Bibel ist für sie Glaubensgrundlage und gleichzeitig strenges Regelwerk für den Alltag. Andere Religionen lehnen sie ab, Nichtchristen wollen sie bekehren. Homosexualität gilt als Sünde. Sex vor der Ehe ist verpönt. Und die meisten stellen die Evolutionstheorie in Frage. Nach Schätzungen leben in Deutschland mehr als eine Million. Sogenannte »bekennende« Christen waren uns im Kollegen- und Bekanntenkreis begegnet. Das Wichtigste in ihrem Leben sei ihre Beziehung zu Gott, erklärten sie uns. Besonders überrascht waren wir darüber, wie selbstsicher und entschlossen sie bestimmte Lebensentwürfe verurteilten. Homosexuelle, so wurde uns zum Beispiel erzählt, hätten ganz sicher Probleme in ihrer Kindheit gehabt, aber es gäbe Heilungsansätze. Immer öfter horchten wir auf, wenn über diese Gläubigen berichtet wurde. Verblüfft waren wir auch darüber, dass sich vor einigen Jahren mehr als 10 000 fundamentalistische Christen vor dem Brandenburger Tor in Berlin versammelt hatten, laut »Jesus, Jesus!« skandierten und zu einer »Heiligen Revolution« aufriefen. Was glauben diese Christen genau? Welche Werte und Haltungen vertreten sie? Was wollen sie erreichen? Wie treten sie in der Gesellschaft auf?

Wir haben zahlreiche fundamentalistische Gemeinden und Veranstaltungen besucht, mit Gemeindemitgliedern, Aussteigern, Predigern und Theologen gesprochen, Internetforen beobachtet, viele Bücher und Zeitschriften von bibeltreuen Christen gelesen, unzählige Predigten gehört. Das Buch zeigt die Arbeit und Ziele von Gemeinden, Vereinen, Missionswerken und Lobbygruppen in Deutschland. Wir berichten über autoritäre Strukturen, angebliche Wunderheilungen und Dämonenaustreibungen genauso wie über Intoleranz, Wissenschaftskritik und aggressive Mission. Und wir haben Vertreter der »Evangelischen Kirche in Deutschland« (EKD) gefragt, warum sie sich nicht deutlicher von diesen radikalen Positionen abgrenzen.

Fundamentalismus

Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 in New York denken wohl die meisten Menschen bei dem Begriff »Fundamentalismus« an islamistische Terroristen: an Selbstmordattentäter, an »Heilige Krieger« im Namen Allahs. Doch Fundamentalismus bedeutet zunächst einmal, kompromisslos nach bestimmten religiösen oder politischen Grundsätzen zu leben. Fundamentalisten halten ihre Form des Glaubens oder ihre Ideologie für die einzig richtige und einzig wahre. Andere Überzeugungen lehnen sie ab. Deshalb wollen sie ihren Glauben oder ihre Ideen verbreiten – einige auch mit Gewalt. Das heißt aber nicht, dass alle Fundamentalisten gewalttätig oder gewaltbereit sind.

Ursprünglich stammt der Begriff »Fundamentalismus« aus den Vereinigten Staaten von Amerika. Ende des 19. Jahrhunderts veränderten Industrialisierung und wissenschaftliche Errungenschaften das Land. Anfang des 20. Jahrhunderts kam es zu einer Liberalisierung christlicher Gemeinden. Die Anhänger der protestantischen Erweckungsbewegung verurteilten diese Entwicklung scharf: Das Fundament ihres Glaubens, die unfehlbare Bibel, sollte nicht angetastet werden. Deshalb protestierten sie gegen liberale Theologen und gegen wissenschaftliche Erkenntnisse, die ihrem Glauben widersprachen. Diese christliche Bewegung stellte dann ihre Grundprinzipien auf, die sogenannten »Fundamentals«. Sie verlangten darin unter anderem die uneingeschränkte Anerkennung der Unfehlbarkeit der Bibel, der Jungfrauengeburt Jesu, seines stellvertretenden Sühnetodes, der leiblichen Auferstehung und der Wiederkunft Christi. Diese bibeltreuen Christen gaben sich damals selbst den Namen »Fundamentalisten«. Und so schreiben die Autoren des sozialwissenschaftlichen Standardwerks »Politiklexikon« zum Stichwort »Fundamentalismus«: »Ursprünglich innerkirchliche Bewegung des amerikanischen Protestantismus, die durch strenge Bibelgläubigkeit sowie die Abwehr ›liberaler‹ theologischer Positionen und naturwissenschaftlicher Erklärungen [...] gekennzeichnet ist.«1

Auch heute richten viele Christen ihr Leben streng an den Regeln ihrer »Heiligen Schrift« aus. Sie glauben an die ewige und alleinige Gültigkeit der Bibel. Sie ist die Basis ihres Lebens, das Fundament ihres Handelns. Die Bibel gilt als »gewissmachende Wahrheit«, »ohne Irrtum« und mit »völliger Zuverlässigkeit und höchster Autorität«.2 Deren Aussagen werden nicht historisch-kritisch betrachtet. Durch ihr Bibelverständnis teilen fundamentalistische Christen die Welt in Gut und Böse, in Gott und Teufel, in Gläubige und Nicht- beziehungsweise Andersgläubige. Sie glauben, dass auf sie selbst die Rettung wartet, das ewige Heil. Auf Menschen dagegen, die ihren Glauben nicht teilen, kommt ihrer Ansicht nach die ewige Verdammnis zu, die Hölle. Aus diesem Verständnis heraus lehnen sie andere Religionen ab. Einige Fundamentalisten halten selbst andere christliche Glaubensrichtungen für den falschen Weg. Sie sehen es deshalb als eine ihrer wichtigsten Lebensaufgaben an, Menschen von ihrer Form des Glaubens zu überzeugen. Durch ihr Bibelverständnis haben sie auch sehr genaue Vorstellungen davon, wie Menschen leben sollten. Diese machen auch vor den intimsten Lebensbereichen nicht halt. In der Bibel sagt zum Beispiel der »Herr« zu Mose, dass er nicht bei einem Mann liegen solle wie bei einer Frau; es sei ihm ein »Gräuel«.3 Homosexualität gilt deshalb als Sünde. Wissenschaftliche Erkenntnisse lehnen sie ab, wenn sie Texten der Bibel widersprechen. Gott wird als alleiniger Schöpfer von Mensch und Natur gepriesen, die Evolutionstheorie deshalb oft angezweifelt. Viele glauben an Wunder und Heilungen – allein durch Gott. Für sie hat die Endzeit begonnen, Armageddon, die letzte Schlacht zwischen Gut und Böse steht bevor. Sie glauben, dass sie, die »bekennenden Christen«, den Kampf gewinnen werden und Jesus auf die Erde zurückkehren wird. In einigen fundamentalistischen Gemeinschaften fühlen sich die Leiter durch Gott berufen, verlangen absoluten Gehorsam und unermüdlichen Einsatz. Sie kontrollieren, fordern und drohen. Zweifel und Kritik werden als dämonisch gewertet, als Zeichen des Bösen. Die Gläubigen in solchen Gemeinden leben isoliert, Kontakt mit der Außenwelt ist nicht erwünscht. Auch das Leben in diesen autoritär strukturierten Gemeinden beschreiben wir in diesem Buch. Doch Fundamentalismus beginnt für uns nicht erst dort, wo Machtmissbrauch, Kontrolle und strenge Hierarchien den Gemeindealltag bestimmen. Wir definieren ihn über das Bibelverständnis.

Der christliche Fundamentalismus kann als Gegenkonzept zur Moderne verstanden werden. Viele Theologen sehen in ihm eine Antwort auf Modernisierungsprozesse, Individualisierung und zunehmende Unsicherheit in einer pluralistischen Gesellschaft. Vielfalt ermöglicht Entscheidungsfreiheit, kann genau deshalb aber auch überfordern. Dadurch wächst gerade in Krisenzeiten die Sehnsucht nach Sicherheit und Klarheit, die viele Menschen im konservativen und aufklärungskritischen christlichen Fundamentalismus suchen. Der Schriftsteller Navid Kermani schreibt: »Fundamentalistische Lebensentwürfe sind attraktiv, weil sie Menschen mit dem versorgen, was ihnen in der modernen, globalisierten Welt am meisten fehlt: Eindeutigkeit, verbindliche Regeln, feste Zugehörigkeiten – eine Identität.«4

Sind Evangelikale Fundamentalisten?

Die »bibeltreuen« evangelischen Christen in Deutschland werden heute meistens als Evangelikale bezeichnet. Zu der evangelikalen Bewegung zählen sich sehr unterschiedliche Gruppen. In ihr sind Gemeinden aus den evangelischen Landeskirchen genauso wie Freikirchen vertreten, Gemeinden mit ganz unterschiedlichen Traditionen und unterschiedlichen Frömmigkeitsstilen, von der kleinen Hauskirche bis hin zur sogenannten »Megachurch«. Einige werden zwar von vielen Medien zu den Evangelikalen gerechnet, wollen aber selbst nicht so genannt werden. Und wieder andere Gruppen fühlen sich durchaus zugehörig, werden aber von Teilen der Bewegung eher abgelehnt. Eine von allen anerkannte Definition von »evangelikal« gibt es also nicht, eine trennscharfe Abgrenzung ist dadurch schwierig. Grundsätzlich ist die »Evangelikale Bewegung« eine Sammelbezeichnung für Organisationen, deren Mitglieder sich als »bibelorientierte entschiedene Christen« verstehen und sich in diesem Selbstverständnis in besonderer Weise in einen »Kampf gegen die Gefährdung christlicher Maßstäbe in der Gesellschaft« eingebunden sehen.5 Evangelikale nennen sich auch »entschiedene« oder »bekennende« Christen, weil sie sich als Jugendliche oder Erwachsene ganz bewusst für diesen Glauben entschieden haben. Einige lehnen deshalb die Taufe im Kindesalter ab. Der Moment dieser Entscheidung markiert für evangelikale Christen eine bedeutende Wende. Sie nennen sie »Bekehrung« oder »Wiedergeburt«. Im Mittelpunkt ihres Glaubens steht eine intensive persönliche Beziehung zu Gott. Die Bibel ist dabei die Grundlage für alle Lebensfragen. Der evangelikale Theologe Friedhelm Jung schreibt, die Bibel sei Gottes Wort und deshalb »autoritativ für Glauben und Leben«.6 Das evangelikale Bibelverständnis stehe in »krassem Widerspruch zur kritischen Bibelauslegung«, die sich seit der Aufklärung entwickelt habe, so auch der evangelikale Theologe Stephan Holthaus.7

Und genau aufgrund dieses Bibelverständnisses entsprechen die meisten Evangelikalen unserem Verständnis von Fundamentalisten. Denn auch wenn in der Bewegung in Nuancen darüber gestritten wird, sind sich doch die meisten darüber einig, dass die Aussagen der Bibel absolut wahr und nicht kritisch in ihrem geschichtlichen Zusammenhang zu betrachten sind. Evangelikale Christen halten ihren Glauben demnach für den einzig richtigen, ihr Fundament für das einzig wahre. Der evangelikale Theologe Friedhelm Jung zum Beispiel schreibt in seiner Definition von »evangelikal«, dass andere Religionen nicht als »Heilswege« anerkannt würden.8 In einem gemeinsamen Manifest, das Evangelikale aus etwa 170 Ländern 1989 in Manila verabschiedet haben, heißt es: »Wir bekräftigen, dass andere Religionen und Ideologien keine anderen möglichen Wege zu Gott sind. Die nicht von Christus erlöste Religiosität des Menschen führt nicht zu Gott, sondern ins Gericht.«9 Andere evangelikale Gruppen werden noch deutlicher: Das »Forum Freikirchlicher Pfingstgemeinden« (FFP) schreibt, andere Religionen seien »Irrwege«, die der Teufel benutze, um Menschen in seinem Bann gefangen zu halten.10 Der Großteil der evangelischen Christen in Deutschland ist dagegen deutlich liberaler und toleranter. Laut »Religionsmonitor 2008« stimmen weniger als zehn Prozent der deutschen Protestanten der Aussage zu, dass vor allem ihre Religion »Recht« habe und zum Heil führe. Etwa ebenso wenige haben das Ziel, möglichst viele Andersgläubige zu bekehren.11

Evangelikale leiten außerdem strenge Regeln aus der Bibel ab. Wer dagegen verstößt, sündigt aus ihrer Sicht. Sie vertreten damit kompromisslos bestimmte konservative Werte. Abtreibung zum Beispiel lehnen sie entschieden ab. Sie machen sich für Ehe und die klassische Familie stark, Homosexualität gilt als Sünde. Eine Legitimierung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften sei nicht akzeptabel, so der evangelikale Theologe Stephan Holthaus, praktizierte Homosexualität nicht mit der Schöpfungsordnung Gottes vereinbar.12 Und Friedhelm Jung schreibt, Anhänger seiner Bewegung seien davon überzeugt, dass eine Gesellschaft untergehen werde, die Homosexualität als normal erkläre und gleichberechtigt neben Heterosexualität stehen lasse.13

Evangelikale glauben an einen »Heilsplan« Gottes und damit daran, dass Jesus auf die Erde zurückkehren wird. Im Glaubensbekenntnis des evangelikalen Dachverbandes »Deutsche Evangelische Allianz« steht: »Wir bekennen uns zur Erwartung der persönlichen, sichtbaren Wiederkunft des Herrn Jesus Christus in Macht und Herrlichkeit (…) und zum ewigen Leben der Erlösten in Herrlichkeit.«14 Dieser Glaube wird in evangelikalen Gemeinden sehr stark betont. Und oft ist damit der Glaube an die Endzeit und die »letzte Schlacht« zwischen Gut und Böse verbunden.15 Evangelikale Christen glauben, dass die Erde wie in der Bibel beschrieben von Gott erschaffen wurde. Manche sind deshalb sogar davon überzeugt, dass dies in in sechs Tagen geschehen sei. Viele zweifeln an wissenschaftlichen Erkenntnissen, wenn sie Texten der Bibel widersprechen. Evangelikale glauben darüber hinaus nicht nur an Gott, sondern auch an das Böse, an den Teufel und an Dämonen. In einer grundlegenden Erklärung, der Lausanner Verpflichtung, heißt es zum Beispiel: Weil der Mensch gefallen sei, sei alles durch Sünde befleckt worden. Manches sei unter »dämonischen Einfluss« geraten. Weiter steht dort: »Wir glauben, dass wir uns in einem ständigen geistlichen Kampf mit den Fürsten und Gewaltigen des Bösen befinden.«16 Dieser Glaube wird allerdings in verschiedenen evangelikalen Gemeinden unterschiedlich stark betont.

Evangelikale wollen die Gesellschaft verändern. Sie rufen zu mehr Engagement in der Politik auf. Für sie handelt der Staat im »Auftrag Gottes«. In einer Publikation der »Deutschen Evangelischen Allianz« heißt es: »Da Gott sein Reich in dieser Welt baut, schickt er seine Leute auch in die Politik. Sein befreiender Einfluss und seine gerechte Macht sollen gerade auch dort zunehmend sichtbar werden.« Die Bibel sei ein »vorzügliches Handbuch für Politiker«.17 Evangelikale betreiben auch Rundfunksender, Zeitschriften und Verlage. Lobbyisten versuchen, in Berlin Einfluss auf Medien und Politik zu gewinnen. Denn Evangelikale wollen ihre Überzeugungen weitergeben. Sie sähen es sogar als ihre Pflicht an, Nichtchristen den Glauben nahezubringen, schreibt der Evangelikale Stephan Holthaus, und verstünden sich als Missionare. Ausgangspunkt sei die Bibel mit ihrem »Missionsbefehl«. »Ob am Arbeitsplatz, in der Schule oder im Freundeskreis – Evangelikale scheuen sich nicht, von ihren entsprechenden Erfahrungen zu berichten«18, so Holthaus. Die missionarische Weitergabe des Glaubens gehöre zu den wichtigsten Aufgaben eines jeden Christen, schreibt auch Friedhelm Jung.19 Und der Evangelikale Eckhard Schnabel meint, der Missionsbefehl gehöre »unaufgebbar zum biblischen Glauben und Leben«20. »Evangelikale lassen es sich nicht verbieten, das Evangelium von Gottes Heilshandeln in Jesus Christus zu verkündigen und andere von der Notwendigkeit des Glaubens an Jesus Christus überzeugen zu wollen.«21 Im evangelikalen Manifest von Manila ist zu lesen: »Das Evangelium ist die gute Nachricht, dass Gott von der Macht des Bösen erlöst, dass er sein ewiges Reich errichtet und dass er endgültig alles besiegen wird, was sich seinem Wollen entgegenstellt.«22 Und in der Lausanner Verpflichtung steht: »Jesus Christus ist erhöht über alle Namen. Wir sehnen uns nach dem Tag, an dem sich alle Knie vor ihm beugen und alle Zungen bekennen, dass Er der Herr sei.«23 Diese Bekenntnisse zeigen unserer Meinung nach die fundamentalistische Haltung der evangelikalen Gläubigen.

Uns ist durchaus bewusst, dass einige Evangelikale bei einzelnen Fragestellungen nicht die Meinung der Mehrheit vertreten oder zumindest darüber diskutieren. Stephan Holthaus etwa schreibt, dass es trotz eines Grundkonsenses beim Bibelverständnis auch Zwischentöne gebe: »Einige Evangelikale nähern sich Positionen der historisch-kritischen Bibelauslegung an.« Sie sähen in »moderater Weise« Widersprüche und Irrtümer in der Bibel.24 »Progressive Evangelikale« nennt sie Friedhelm Jung, sie hielten die Bibel zwar für die höchste Autorität in dogmatischen und ethischen Fragen, glaubten aber nicht, dass naturwissenschaftliche oder historische Aussagen der Bibel unbedingt stimmen müssten.25 Doch beide evangelikale Theologen betonen, dass auch diese Evangelikalen die Glaubwürdigkeit der Bibel prinzipiell nicht in Frage stellen würden. Dass es in einer so großen Bewegung Unterschiede geben muss, ist selbstverständlich. Deshalb stellen auch die Evangelikalen in Deutschland keine einheitliche Gruppe dar. Doch eine große Mehrheit beruft sich auf gemeinsame fundamentalistische Grundsätze. Und nicht in jedem Fall scheinen Evangelikale die Bezeichnung »Fundamentalismus« abzulehnen. So schreibt zum Beispiel der evangelikale Theologe Eckhard Schnabel, wo mit »Fundamentalismus« Qualitäten angesprochen seien, die Christen aufgrund der biblischen Vorgaben nicht preisgeben könnten und wollten, hielten sie »trotz polemischer Pauschalkritik« fröhlich an diesen fest, weil sie zum Glauben gehörten. Schnabel schreibt: »Ich denke hier an das brennende Verlangen, das Evangelium zu verkündigen, an den Widerstand gegen Anschauungen, die das Evangelium zerstören, auch an die Verteidigung der Wahrheit und der Autorität der Heiligen Schrift.«26

Mit ihren intensiven Missionsbemühungen haben die Evangelikalen Erfolg. Die Bewegung breitet sich auf der ganzen Welt aus. Die Zahl ihrer Anhänger hat sich von 1970 bis 2000 mehr als verdoppelt.27 Nach Schätzungen bekennen sich heute etwa eine halbe Milliarde Menschen zu ihr.28 Das ist ungefähr ein Viertel aller Christen.29 Die evangelikale Bewegung ist damit nach der Römisch-Katholischen Kirche, die nach eigenen Angaben etwas mehr als 1,1 Milliarden Mitglieder hat,30 weltweit die zweitgrößte christliche Gruppierung. Auch in Deutschland habe sich dieser Glauben zu einer Art »christlicher Trendreligion« entwickelt, meint der Leiter der »Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen« (EZW), Reinhard Hempelmann.31 Genaue Zahlen gibt es aber nicht. Der evangelikale Dachverband »Deutsche Evangelische Allianz« geht von etwa 1,3 Millionen »bekennenden Christen« in Deutschland aus.32 Nach groben Schätzungen gehört etwa die Hälfte von ihnen zu Freikirchen, unabhängigen Gemeinden und Hauskirchen, die andere Hälfte fühlt sich Gemeinden der evangelischen Landeskirchen zugehörig.33 Einige Experten gehen jedoch von deutlich höheren Zahlen aus. Nach Angaben des »Religionsmonitors 2008« gehören allein etwa zwei Prozent der Deutschen zu einer evangelikal-freikirchlichen Gemeinde.34 Das wären etwa 1,5 Millionen Gläubige. Hinzu kämen noch die Evangelikalen innerhalb der evangelischen Landeskirchen. Klar ist aber in jedem Fall: Während die evangelische und die katholische Kirche insgesamt in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr Mitglieder verloren haben, ist die Zahl der Evangelikalen erkennbar gestiegen. In viele evangelikale Gemeinden kommen jeden Sonntag Hunderte Gläubige, in eine der größten, die »Biblische Glaubens Gemeinde« (BGG) in Stuttgart nach eigenen Angaben sogar mehr als 4000.35 Praktisch jeder Evangelikale besuche sonntags den Gottesdienst, schreibt der Theologe Stephan Holthaus. Deshalb lasse sich vermuten, dass von den Protestanten in Deutschland jeden Sonntag mehr evangelikale als nicht-evangelikale Christen an Gottesdiensten teilnehmen würden.36 Die EKD schätzt, dass im Durchschnitt etwa eine Million Menschen einen evangelischen Gottesdienst ihrer Kirchen besuchten.37 Man könne davon ausgehen, dass sich darunter viele der etwa 700 000 evangelikalen Christen der Landeskirchen befänden, so Holthaus.

Wurzeln der evangelikalen Bewegung

Die evangelikalen Christen in Deutschland sind stark durch den Pietismus des 17. und 18. Jahrhunderts geprägt. Den Anhängern ging es damals um eine stärkere individuelle Frömmigkeit. Die Gläubigen trafen sich regelmäßig auch außerhalb der Gottesdienste, um gemeinsam über Bibeltexte zu sprechen. Einer der Gründer dieser protestantischen Bewegung war der Theologe und Pädagoge August Hermann Francke. Er habe Ende des 17. Jahrhunderts »eine plötzliche, sein ganzes Leben bestimmende Bekehrung« erlebt, schreibt der Theologe und Kirchenhistoriker Johannes Wallmann.38 Damit brachte Francke die sogenannte Wiedergeburt, die einmalige Bekehrung als entscheidende Lebenswende in die Bewegung, die auch heute noch zentral ist für den Glauben evangelikaler Christen. Mitte des 18. Jahrhunderts wurde der Pietismus durch die Aufklärung zurückgedrängt. Im Zentrum der Aufklärung standen die menschliche Vernunft und die Forderungen nach Toleranz und Freiheit. Auch die Theologie dieser Zeit wurde davon beeinflusst. Doch einige protestantische Gruppen richteten sich gegen den neuen Rationalismus. Als die »aufklärerischen Gedanken auch in Theologie und Gemeinde eindrangen«, habe sich Protest formiert, schreibt der evangelikale Theologe Stephan Holthaus.39 Und es entstand die sogenannte Erweckungsbewegung, die in Deutschland an den Pietismus anknüpfte. Ihre Anhänger lehnten die liberaler werdende Theologie ab. Sie setzten sich intensiv für die Verbreitung ihres Glaubens ein. Damals entstanden auch neue Freikirchen – wie zum Beispiel die »Freien evangelischen Gemeinden« (FeG). Zu ähnlichen Entwicklungen kam es auch in anderen Ländern, vor allem in den USA und in England, wo 1846 der Verband »Evangelical Alliance« gegründet wurde. Der evangelikale Theologe Stephan Holthaus schreibt: »Noch stärker als die Reformation und der Pietismus wurde die Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts zum Nährboden dessen, was wir heute ›evangelikal‹ nennen.« Ihre Schwerpunkte, »Bibel, Bekehrung und Mission«, seien auch weiterhin die Eckpfeiler der Evangelikalen.40

Doch die evangelikalen Christen heute sind nicht nur durch die Pietisten von damals und die Erweckungsbewegung geprägt. In den vergangenen Jahrzehnten hat insbesondere der Einfluss aus den USA stark zugenommen. Das gilt vor allem für eine Gruppe der Evangelikalen: die sogenannten pfingstlich-charismatischen Christen.

Pfingstlich-charismatische Christen

Christen der pfingstlich-charismatischen Bewegung glauben, dass der »Heilige Geist« ihnen bestimmte Gaben verleihe, die sogenannten Charismen. Dazu gehören zum Beispiel das Heilen von Krankheiten oder die Prophetie, das Vorhersehen von Ereignissen. Diese Gruppe stellt »den gegenwärtig am schnellsten wachsenden Teil der Weltchristenheit dar«. Der Theologe Reinhard Hempelmann spricht von einer »rasanten Ausbreitung«.41 Die pfingstlich-charismatische Bewegung ist erst vor etwa hundert Jahren entstanden, mittlerweile hat sie weltweit bereits mehrere hundert Millionen Anhänger. Sie machen mehr als die Hälfte aller Evangelikalen aus.42 In Deutschland wächst ihre Zahl ebenfalls, jedoch deutlich langsamer. Heute gehören je nach Schätzung hierzulande zwischen 150 000 und 300 000 Gläubige zur pfingstlich-charismatischen Bewegung.43 Den stärksten Zulauf scheinen charismatische Freikirchen zu verzeichnen, die weder zu einer Landeskirche noch zu einer anderen Konfession gehören. Laut der evangelikalen Zeitschrift ideaSpektrum hat sich die Zahl der unabhängigen charismatischen Gemeinden von 1994 bis 2004 verdoppelt, von etwa 1000 auf 2000.44 Wie viele es genau sind, ist aber nicht klar. Denn einige Gläubige treffen sich auch in kleinen Gruppen zu Hause oder in angemieteten Räumen, ohne irgendwo offiziell als Gemeinde eingetragen zu sein. Der Leiter der »Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen« in Berlin, Reinhard Hempelmann, sagt, in manchen Regionen würden neue christliche Gemeinschaften »wie Pilze aus dem Boden schießen«45.

Die Anhänger der pfingstlich-charismatischen Bewegung feiern ihre Gottesdienste sehr ausgelassen. Am Ende bewegen sich die Gläubigen oft ekstatisch. Sie lachen laut, zittern oder fallen auf den Boden. Das werten sie dann als Zeichen des »Heiligen Geistes«. In vielen Gemeinden stoßen die Mitglieder auch ungewöhnliche Laute aus – eine Mischung aus Brabbeln und Improvisationsgesang. Die Anhänger der Bewegung nennen das Zungenrede oder auch Sprachengebet. Sie glauben, dass der »Heilige Geist« auf diese Weise durch sie spricht. Die Bewegung bezieht sich auf eine Geschichte des Neuen Testaments. Danach erschien den Jüngern Jesu zu Pfingsten der »Heilige Geist«: »Und es erschienen ihnen Zungen, zerteilt wie von Feuer […], und sie wurden alle erfüllt von dem Heiligen Geist und fingen an zu predigen in andern Sprachen, wie der Geist ihnen gab auszusprechen.«46 Sie sollen dadurch die Fähigkeit erhalten haben, das Evangelium in fremden Sprachen zu verkünden.

Die ersten Pfingstgemeinden gründeten sich Anfang des 20. Jahrhunderts. Ausgangspunkt waren zwei Gruppierungen in den USA. 1901 in Topeka, Kansas, und 1906 in Los Angeles haben angeblich Menschen eine ähnliche Erfahrung erlebt wie in der biblischen Pfingstgeschichte.47 Der stark betonte Glaube an die Gaben des »Heiligen Geistes« führte zu einer neuen Begeisterung und zur Ausbreitung von ekstatischen, emotionalen Gottesdiensten. Einen weiteren Schwung erhielt die Bewegung Mitte der 60er Jahre mit dem sogenannten charismatischen Aufbruch. Viele Gemeinden auch innerhalb der evangelischen Landeskirchen übernahmen den Glauben an die Charismen. Die Anhänger der Bewegung wollten dadurch ihre jeweiligen Gemeinden erneuern.

Lange hatten die traditionellen evangelikalen Christen die Frömmigkeitsform der pfingstlich-charismatischen Bewegung kritisiert. Doch in den vergangenen Jahren haben sich die beiden Gruppen aufeinander zu bewegt und ihre gemeinsamen evangelikalen Grundsätze betont. Die Dachverbände »Bund Freikirchlicher Pfingstgemeinden« und »Deutsche Evangelische Allianz« verabschiedeten 1996 eine gemeinsame Erklärung, um die Annäherung auch offiziell festzuschreiben.48 Trotzdem entstehen immer wieder Spannungen zwischen den beiden Bewegungen. Der evangelikale Theologe Stephan Holthaus schreibt: »Die emotionale Frömmigkeit, überspannte Erwartungen im Bereich der Krankenheilung sowie extreme Randgruppen erschweren das Miteinander.«49 Reinhard Hempelmann weist darauf hin, dass pfingstlich-charismatische Gruppen auch als konfliktträchtige religiöse Bewegungen in Erscheinung treten würden.50

Kampf dem Teufel –
Alltag zwischen Wundern und Dämonen

Heilung, Dämonenglaube und Exorzismus

»Sei geheilt von Multipler Sklerose! Sei geheilt von deinem Gichtleiden! Arthrose, Arthritis, Taubheit, Tinnitus! In Jesu Namen!« Der Prediger Reinhard Bonnke betet im Mai 2008 in der »Freien Christengemeinde Bremen« für Kranke. Die evangelikale Gruppe zählt sich zur Pfingstbewegung. »Der heilige Geist ist auch ein heilender Geist«, ruft Bonnke, die Gläubigen klatschen und jubeln. Reinhard Bonnke ist deutscher Missionar. Mit dem Verein »Christus für alle Nationen« zieht er durch die Welt, um möglichst viele Nichtchristen zu bekehren. Dabei wirbt er mit einem verlockenden Versprechen: Wer sich zu Gott bekenne, erhalte die Möglichkeit, allein durch Gebete gesund zu werden. Blindheit, Taubheit, Bauchspeicheldrüsenkrebs – Bonnke schließt jede noch so schwere Krankheit in sein Gebet ein. Den Gläubigen ruft er zu: »Bei Gott gibt es keine Begrenzungen. Wir haben viele Fälle, das sind Rundum-Erneuerungen, komplett, total!« Er bete auch für Kranke, die von den Ärzten schon aufgegeben worden seien. Und so schreit er: »Tumore weicht in Jesu Namen! Krebs verschwinde in Jesu Namen! HIV-positiv werde HIV-negativ! In Jesu Namen! In Jesu Namen. Sei geheilt von deiner Lungenkrankheit, Asthma! Sei geheilt von Epilepsie! Sei geheilt von allen Hautkrankheiten! In Jesu Namen. Alle Infektionen, Neurosen, ich breche die Kette aller Depressionen, in Jesu Namen! Die Freude am Herrn wird deine Stärke sein und deine Medizin sein.«

In der Bibel wird von derartigen Wundern berichtet. Danach heilte Jesus Blinde, Stumme und Gelähmte. Der Prediger will seine Anhänger davon überzeugen, dass sich diese Wunder auch heute noch ereignen. Und so ruft er in die Menge: »Wer hat eben eine Heilung empfangen? Wer eben eine Heilung empfangen hat, der soll mal seine Hand hochheben, komm und zeig es mal, was Jesus eben getan hat.« Er bittet Gläubige nach vorn, um von ihrer angeblichen Heilung zu berichten. Ein Junge, vielleicht 13 Jahre alt, sagt, dass Gott seine Niere geheilt habe. Die Gemeinde jubelt. Bonnke fragt ihn: »Was hast du gespürt?« »So Kribbeln, so ’n Kitzeln«, antwortet der Schüler. Der Prediger ruft begeistert, dass die Kraft Gottes seine Nieren durchströmt habe. Bonnke fragt nach weiteren »Zeugnissen«. Ein Mädchen erzählt, ihr Herz tue nicht mehr weh, und eine Frau berichtet, dass sie jetzt trotz vereiterter Nebenhöhlen wieder gut Luft bekomme.

Die Enquete-Kommission des Bundestages »Sogenannte Sekten- und Psychogruppen« warnte 1998 in ihrem Abschlussbericht vor den Risiken unkonventioneller Heilmethoden bei einigen Gruppen, beispielhaft wird auch eine aus dem christlichen Spektrum stammende erwähnt. Dort heißt es, mit der Behauptung, es gäbe keine unheilbaren Krankheiten, würde ein »Heil- und Wunderglaube« an Menschen herangetragen, der im extremsten Fall dazu führen könne, medizinische Beratung im Krankheitsfall nicht anzunehmen.1 Der Weltanschauungsbeauftragte der evangelischen Kirche in Württemberg, Hansjörg Hemminger, berichtet von einem solchen Fall. Ein Mädchen aus einer fundamentalistischen Gemeinde sei gestorben, weil die Mutter das stoffwechselkranke Kind nicht behandeln ließ, sondern auf die Heilung durch das Gebet vertraute.2 In dem Sektenbericht des Berliner Senats von 2002 berichtet eine junge Frau von einem kleinen Jungen mit einer Augenkrankheit in einer charismatischen Gemeinde. Die Eltern hätten sich gegen eine Operation entschieden und allein auf eine Heilung durch die »Macht Gottes« gehofft. Inzwischen sei der Junge auf einem Auge erblindet.3

Regelmäßig werden in vielen pfingstlich-charismatischen Gemeinden sogenannte Heilungsdienste abgehalten. In einigen von ihnen gibt es sogar spezielle »Healing Rooms«. Das Konzept dafür stammt aus den USA. Die »Heilungsräume« sind aufgebaut wie Arztpraxen. Wer »behandelt« werden möchte, muss sich anmelden, ein Formular ausfüllen und dann in einem Wartezimmer Platz nehmen. Schließlich werde der Patient in einen Raum gebeten, in dem ein Team aus drei Personen für ihn beten werde, schreibt der Verein »Healing Rooms Deutschland«.4 Im Jahr 2003 wurde der erste derartige Heilungsraum eröffnet,5 Mitbegründer ist Rolf E. Keusen, ein ehemaliger Mitarbeiter von Reinhard Bonnkes Missionswerk »Christus für alle Nationen«.6 Fünf Jahre später sind es bereits mehr als zwanzig, einer von ihnen gehört zur freien Heidelberger Gemeinde »Die Taube«.7 Sie veranstaltet auch sogenannte Heilungstage. Im Oktober 2005 ist der Prediger Andreas Herrmann zu Gast. Er leitet die freie Gemeinde »Christliches Zentrum Wiesbaden« und ist Herausgeber mehrerer Bücher – darunter auch »Gottes Heilungspower heute erleben«. In Deutschland ist er einer der prominentesten Leiter von charismatischen Heilungsdiensten. Während der Heidelberger Veranstaltung ruft er den stehenden Gläubigen entgegen: »Ich rufe das Blut Jesu aus über eine jede Person, die krank ist.« Er läuft vor dem großen Holzkreuz auf und ab. »Das Blut Jesu reinigt dich, heiligt dich, reinigt deinen Körper, reinigt deinen Tempel, auch von diesen Krankheiten jetzt, in dem Namen Jesu.« Anschließend bittet er seine Anhänger nach vorn, sie sollen sich in einer Schlange hintereinander aufstellen. »Die Salbung wird durch die ganze Reihe durchgehen«, Herrmann läuft mit erhobener Hand an den Gläubigen entlang. Mehrere beginnen laut zu schreien, zu stöhnen, einige zucken und brechen zusammen. Danach fordert Andreas Herrmann sie auf, nach Linderung zu forschen: »Wer spürt Veränderung?« Die meisten heben ihren Arm. Eine Frau erzählt, dass ihre Nackenschmerzen weg seien. Eine andere dagegen berichtet, dass ihre Hüftschmerzen zwar besser, aber nicht weg seien. Darauf sagt der Prediger: »Ich möchte aber nicht, dass ihr mir jetzt alle erzählt, das ist nicht besser geworden.« Nur diejenigen, bei denen »direkt was passiert« sei, sollen vorn stehen bleiben, die anderen müssen sich setzen. Danach gibt es nur noch positive Rückmeldungen.8 Auf der Internetseite der »Taube« berichtet eine Frau, dass nicht nur ihre Rückenschmerzen geheilt worden seien, sondern dass Gott auch ihre alten Zahnfüllungen durch Gold ersetzt habe.9 Die Verantwortlichen der »Taube« veröffentlichen auch »Heilungszeugnisse« von angeblich Schwerkranken. Danach spürte ein Gelähmter nach den Heilungstagen sein Bein wieder. Auch eine Frau, die angeblich an schwerem Asthma und Arthrose im Knie litt, berichtet von Heilung.

Das Bundesverfassungsgericht hat sich in den vergangenen Jahren mehrfach mit sogenannten »Geistheilern« befasst. Danach fallen sie unter das sogenannte Heilmittelwerbegesetz. Es soll Kranke schützen und verbietet deshalb unlautere Heilungsversprechen und irreführende Werbung. Unter anderem darf nicht mit der Wiedergabe von Krankengeschichten oder mit Hinweisen darauf geworben werden.10 Ob die zitierten oder ähnliche »Heilungszeugnisse« unter dieses Verbot fallen, ist unklar.

Auch in der charismatischen Berliner »Gemeinde auf dem Weg« werden die Kranken während eines sogenannten Heilungsnachmittags nach vorn gerufen, Mitarbeiter legen ihre Hände auf die Köpfe und beten für Gesundheit. Hier berichten die Gläubigen wenig später ebenfalls von ihrer Heilung. Eine junge Frau erzählt unter Tränen, dass sie keine Unterleibsschmerzen mehr habe. Ein älterer Herr sagt, er könne jetzt besser laufen dank der »Kraft Jesu«. Die Predigerin Bärbel Ferch führt durch die Veranstaltung. Sie erzählt von ihrem Mann Siegfried, der sei Kfz-Meister und betreibe ein Autogeschäft. Sie glaubten, auch Gott habe Ersatzteile – da wüchsen manchmal neue Zähne oder sogar Arme oder Beine.

Im Frühjahr und Sommer 2008 ist in der pfingstlich-charismatischen Szene von einer neuen »Erweckung« die Rede. Die Nachricht kommt aus den USA. Der junge kanadische Prediger Todd Bentley hält mehrere Monate lang immer wieder Heilungsdienste in der »Ignited Church« in der Stadt Lakeland im Bundesstaat Florida ab. Anhänger, darunter auch viele deutsche Prediger, sprechen von spektakulären Heilungen. Zumindest in den USA sind die Veranstaltungen von Todd Bentley ein großes Thema. Die amerikanische Nachrichtenagentur Associated Press versuchte daher, Kranke zu finden, die durch Bentley gesund geworden sein sollen. Sie fand jedoch keinen medizinisch überprüfbaren Fall.11 Im Internet kursieren Videos von Bentleys Heilungsdiensten. Eines zeigt den jungen Prediger auf einer Bühne, gepierct und tätowiert. Zwei Helfer bringen ihm einen Mann, etwa Mitte vierzig. Einer der Mitarbeiter berichtet Bentley, dass der Mann an Darmkrebs in einem fortgeschrittenen Stadium leide. Daraufhin fordert der Prediger den Mann auf, seine Arme zu heben. Dann nimmt er Anlauf, rennt auf den angeblich kranken Mann zu und boxt ihm mit seiner linken Faust in den Magen. Der sackt zusammen, fällt auf die Knie und krümmt sich. Bentley sagt: »Ich glaube, der Darmkrebs kommt jetzt aus deinem Körper raus.« Dann legt er dem Mann die Hand auf den Kopf, stößt ihn ruckartig von sich weg und ruft: »Im Namen Jesu. Ich befehle ihm: Raus!« Am Ende torkelt der Mann etwas benommen, lacht dabei aber zufrieden.12

Zu den charismatischen Versammlungen von Todd Bentley kamen jede Woche Zehntausende Besucher – viele sogar aus dem Ausland. Auch der Berliner Prediger Wolfhard Margies flog gemeinsam mit Bärbel Ferch und anderen Mitarbeitern nach Lakeland. Später erzählt er seiner Gemeinde sogar von »Totenerweckungen«, von denen dort berichtet worden sei. Wie Margies erhoffen sich viele Prediger, dass die Begeisterung aus Lakeland nach Deutschland schwappt und auch hier die charismatischen Gemeinden ergreift. Bentley’s Heimatgemeinde »Fresh Fire Ministries« spricht davon, dass Gott den Heiligen Geist in einer Weise ausgießen würde wie nie zuvor.13 Der evangelikale Fernsehsender »God TV« überträgt viele der Veranstaltungen live. Über Fernsehen und Internet verbreitet sich die Nachricht von den angeblichen Wunderheilungen weltweit. Und so erzählt eine Frau während eines Heilungsnachmittags der Berliner »Gemeinde auf dem Weg«, dass sie sich eine Veranstaltung von Todd Bentley im Fernsehen angesehen habe, damit sich ihre Kniebeschwerden besserten. Dabei habe sie geschrien, dass Gott die Schmerzen nehmen solle.

Viele Prediger, vor allem aus den USA, reisen rund um den Globus, um ihre Heilungsdienste anzubieten. Dazu gehört das Ehepaar Stanton aus Texas. James und Kim Stanton betreiben einen internationalen »prophetischen Befreiungsdienst«. Den bieten sie auch immer wieder in deutschen Gemeinden an. Sie behaupten, die Teilnehmer ihrer Seminare erführen regelmäßig »Befreiung« von »verschiedensten Belastungen« wie zum Beispiel »Depressionen«, »Armut«, »Asthma« und »Krebs«.14 Im August 2005 sind sie zu Gast im baden-württembergischen Bietigheim-Bissingen. Im Gebetsraum des »Missionswerkes Sonnenstrahlen nach Osten« halten sie den Workshop »Heilung und Befreiung mit praktischer Anwendung« ab. Die Teilnehmer sollen alle ihre Sorgen und Beschwerden loswerden. Stanton glaubt, dass dafür Dämonen verantwortlich seien, und die will er austreiben. Der US-Prediger läuft zwischen den Stuhlreihen auf und ab. Er trägt einen silberbesetzten Gürtel und Westernschmuck am Hals. Stanton ruft: »Lass es raus, im Namen Jesu!« Die ersten Gläubigen beginnen zu husten. Stanton fühlt sich berufen, »Krieger für Christus« zu sein. Er will »Gottes Armee« erwecken, um gegen die »Gewalten der Finsternis zu kämpfen«, »dämonische Festungen niederzureißen« und für die »Ehre Jesu Siege zu erringen«.15 Der DVD-Mitschnitt dieses Exorzismus-Seminars zeigt, wie er einer Frau in den Nacken fasst und ihr das Gesicht auf die Knie drückt. Der Geräuschpegel steigt. Immer mehr Besucher husten, würgen, spucken. Viele halten sich ein Taschentuch vor den Mund. Einige haben Tränen in den Augen, bekommen kaum noch Luft. Ein Gemeindemitarbeiter reicht Papierserviettenrollen durch die Reihen. Stanton schreit immer wieder: »Komm raus!« Dabei zeigt er mit dem linken Zeigefinger in die Menge. Er bittet die Teilnehmer tief einzuatmen. Einen Moment bleibt er vor der Zimmerpalme am Rand der kleinen Bühne stehen. Dann läuft er wieder durch die Reihen und ruft: »Komm raus, im Namen Jesu!« Plötzlich schlingt er seinen Arm um den Kopf einer Frau, drückt ihr Gesicht unter seine Achsel und zieht so den Oberkörper nach vorn, dabei schreit er weiter: »Im Namen Jesu, lass es raus!«

Schließlich rät Stanton seinen gläubigen Anhängern davon ab, zum Arzt zu gehen, ohne zuvor für eine Heilung gebetet zu haben. Der Prediger spricht vor: »Ich bitte um Vergebung, dass ich meine Krankheiten ignoriert habe, und dass ich einfach nur zu den Ärzten gegangen bin, ohne dass ich Jesus jemals eine wahre Chance gegeben habe.« Die Gläubigen wiederholen seine Worte. Stanton fügt mit kräftiger Stimme hinzu: »Es tut mir leid, dass ich immer nur Medizin genommen habe und Ausreden gefunden habe, nicht befreit zu werden.« Auch diese Worte sprechen die Workshop-Teilnehmer nach.16