Konstantin Josuttis

Die dunkle Seite
des Balles

34 Spieltage und ein Finale

Arete Verlag Hildesheim

Der Autor

Konstantin Josuttis, geboren 1966 in Simmern im Hunsrück, kam früh mit Fußball in Kontakt, verliebte sich in den ästhetisch gesehen eher unliebenswerten Göttingen 05, in schimpfende Männer mit Hüten und Bundfaltenhosen auf steinernen Tribünen, in verrauchte Wohnzimmer und Kneipen und ist letzten Endes von seiner ersten großen Liebe, trotz einer zwischenzeitlichen Auszeit in den Wirrungen der Pubertät, niemals weggekommen. Da es bekanntlich auch wichtige Dinge im Leben gibt, hat er verschiedene Bücher zu verschiedenen Themen geschrieben, unter anderem eine Fantasytrilogie, eine Fabelsammlung und einen dystopischen Roman. Ansonsten geht es ihm aber gut. Er lebt mit seiner Familie in Freiburg im Breisgau, einer Stadt mit ästhetisch gesehen sehr liebenswertem Fußball.

Vorwort – Wie dieses Buch zu lesen ist

Dieses Buch ist wie eine imaginäre Fußball-Erstliga-Spielzeit aufgebaut. Die vierunddreißig Spieltage bestehen jeweils aus einer Geschichte, wobei jede Geschichte in zwei Episoden erzählt wird – einmal im Hinspiel und einmal im Rückspiel. Es gibt also siebzehn verschiedene Geschichten in der Hinrunde und die jeweiligen Fortsetzungen in siebzehn Geschichten in der Rückrunde. Man kann dieses Buch dementsprechend chronologisch durchgehen oder aber, wenn man nicht abwarten kann, wie die gerade gelesene Geschichte weitergeht, das Rückspiel dieser Geschichte direkt anschließend lesen (z. B. nach dem ersten Spieltag direkt zum achtzehnten Spieltag springen).

Dabei werden Spieltag für Spieltag vermeintlich verrückte und absurde Geschichten abseits des Platzes erzählt und Facetten dieser wahnwitzigen Glitzerwelt beleuchtet, die sonst kaum ans Tageslicht kommen.

Am Ende steht das große Finale, das noch einmal alles bisher Geschehene in einen anderen Blickwinkel setzt.

Jegliche Ähnlichkeit zu realen Personen ist in den meisten Fällen unbeabsichtigt und reiner Zufall.

Hinrunde

1. Spieltag – Sicherheit

Der Ball kam von links außen hoch hinein. Die Flugkurve glich einer Bogenlampe und so war es kein Problem, den Ball auf die Außenbahn nach vorne zu köpfen. Es war noch zu früh. Er blickte zurück auf den gegnerischen Stürmer, der wieder einmal bedröppelt einer nicht vorhandenen Chance nachblickte. Dominguez war für viel Geld geholt worden und sollte in dieser Saison in der Bundesliga einschlagen. Doch bisher stand er nur herum und wartete auf die göttliche Eingebung, die in Form einer perfekten Flanke bei ihm landen sollte. Der wird sich noch umsehen, dachte Reiter und blickte dem nächsten Angriff entgegen.

Er würde noch zehn Minuten warten, würde noch den unüberwindbaren Innenverteidiger geben, würde die undurchdringliche Mauer sein, als die er gekauft worden war. In seinem Fußballerleben hatte er schon einiges mitgemacht und so blieb nicht mehr viel übrig, an das er glauben konnte. Er erinnerte sich an die Zeit, als er das erste Training bei den Profis mitmachen durfte, damals in Hamburg. Er war aufgeregt gewesen und hatte noch an das Spiel geglaubt. An das richtige Spiel, das perfekte Spiel. Er hatte sogar an das göttliche Prinzip geglaubt, das in einem perfekten Spiel zu finden war. Und er hatte es erlebt. Ein oder zwei Mal. Das perfekte Spiel, wie eine Offenbarung, wie ein Zeichen, das nun alles gut wird. Aber es war nie alles gut geworden. Es gab Verletzungen, schlechte Mitspieler, unfähige Trainer, eine zerrissene Vereinsführung, alles Bedrohungen der eigentlich einfachen Wahrheit, die hinter diesem perfekten Spiel steckte.

Und so war aus einem designierten Nationalspieler ein mittelmäßiger, wenn auch solider Innenverteidiger geworden. Es ging nicht darum, zu gewinnen oder zu verlieren, das hatte er gelernt. Es ging um Sicherheit, nicht um den Kick. Und für seine Sicherheit sorgte er nun selber.

Als der Ball in der anderen Hälfte des Feldes war, schaute er auf die Stadionuhr. Die 80ste Minute brach an. Es wurde langsam Zeit. Aber zunächst musste er beweisen, dass er um jeden Preis gewillt war, zu gewinnen. Als der Ball zu Dominguez in die Gasse gespielt wurde, grätschte er ohne Not seitlich hinein, sodass der kleine Peruaner aufschrie und ihn dann am Boden liegend fassungslos ansah. Reiter stand über ihm und sagte: „Ihr seid doch Härte gewohnt in Peru.“ Der Schiedsrichter kam angerauscht und zückte wie erwartet die gelbe Karte. Das würde später helfen.

Der Freistoß brachte nichts ein. Es würde eines der langweiligeren torlosen Unentschieden werden, das die Zuschauer und Fans schon nach dem ersten Spieltag auf den Boden der Tatsachen zurückwerfen und ihnen die hässliche Seite des Fußballs vergegenwärtigen würde. Wenn nicht …

Die nächste Flanke, die verzweifelt in den Strafraum hineingebracht wurde, klärte er zur Ecke. Souverän. Keiner würde etwas merken.

Er hatte eine Familie, und die Immobilien kosteten mehr als sie einbrachten. Der Eckball flog viel zu weit und landete im Aus, ohne dass er von irgendjemandem berührt wurde. Aber Reiter hatte gelernt, geduldig zu sein. Es ergaben sich immer Chancen. Selbst in der 92sten Minute. Es stellte sich heraus, dass er so lange nicht zu warten brauchte. Als seine Leute einen Konter nach vorne setzten und den Ball schon im Mittelfeld dümmlich verloren, kam die Situation, auf die er gewartet hatte. Der Ball wurde außen auf Hach gespielt, der zum ersten Mal in diesem Spiel einen gescheiten Ball in den Strafraum brachte. Während Reiter den Ball auf sich zufliegen sah, überlegte er, was besser sei: ihn einfach durchzulassen oder ihn selber reinzumachen. Es ging um Sicherheit. Er musste sein Leben planen. In den Interviews sagte er immer, wie alle anderen auch, dass es nur um den Verein ginge, aber jeder wusste, dass das Quatsch war. Der Verein würde immer weiter bestehen, würde selbst mit den versteckten Millionen an Schulden nicht untergehen. Irgendein bekloppter Investor fand sich immer. Für einen alternden Spieler fanden sich aber keine Investoren. Er musste planen. Und er plante die elegantere Lösung. Er trat am Ball vorbei, sodass der Peruaner frei zum Schuss kommen konnte. Allerdings hatte er die Dummheit des Mannes unterschätzt. Dominguez war so überrascht, dass der Ball zu weit von seinem Fuß absprang. Die anderen kamen zurück, die Situation war bereinigt.

Noch 5 Minuten. Immer noch genug Zeit.

Als der Mann mit dem Koffer zum ersten Male gefragt hatte, hatte sich Reiter angewidert abgewendet. Aber dann war das mit dem Knie passiert, und Reiter hatte erlebt, wie kurzweilig Erfolg sein kann. Er machte es nicht für den Kick, wie dieser schwachsinnige Schiedsrichter damals. Er machte es für hartes Geld. Zusätzlich zu dem Geld aus dem Koffer setzte er über einen Freund in Frankreich selber hohe Einsätze für späte Tore. Gottseidank konnte er Martin trauen. Um seine Rente brauchte er sich keine Sorgen mehr zu machen. Er würde noch ein bis zwei Jahre spielen, irgendwann würden sie ihn hier rausschmeißen. Keiner würde etwas über irreguläre Spielverläufe sagen, aber sie würden ihn mit argwöhnischen Augen beobachten und dann irgendwann im gegenseitigen Einvernehmen entlassen. Dann würde er noch ein Jahr in der zweiten Liga spielen, bis er genug zusammen hätte.

Was machten denn Johnson und Vollmer nur? Die drückten nach vorne. Er hatte fest damit gerechnet, dass das Team in den letzten Minuten zusammenbrechen würde. Die Vorbereitung war miserabel gewesen. Erst in den letzten zwei Wochen hatten sie Kondition gemacht, da war es schon viel zu spät. Aber die Jungs drückten und die anderen schienen sich einfach nicht befreien zu können. Es würde nicht gut kommen, wenn er dem Mann mit dem Koffer erklären müsste, dass es nicht geklappt hatte.

Und wieder einmal zeigte sich, dass die Sorge unbegründet war. Plötzlich schossen drei Pfeilspitzen in die eigene Hälfte: halbrechts, rechts und links außen. Kevin und er waren alleine. Um sicherzugehen orientierte er sich in die Mitte und deckte den Peruaner. Der Linksaußen kam an den Ball und knallte diesen aufs Tor. Keule streckte sich und lenkte den Ball an den Pfosten. Wie in Zeitlupe sah er ihn auf sich zukommen. Sein erster Instinkt war, den Ball einfach reinzumachen, doch das wäre zu auffällig. Hinter ihm kam Dominguez angelaufen. Er drehte sich weg und fiel hin, sodass Dominguez den Ball nur noch reinzumachen brauchte. Dann der Pfiff. Der Schiedsrichter pfiff Foul. Oh Gott, was für ein Schwachsinn. Doch Reiter beschimpfte den Peruaner vorsichtshalber noch ein bisschen. Beschwichtigend bewegte der Schiri seine Hände auf und ab. Dann blickte er auf die Uhr und ließ Reiter den Freistoß treten. So eine verdammte Scheiße, dachte Reiter. Das wird nichts mehr. Es halfen nur noch drastische Maßnahmen. Kevin stand links und er schob ihm den Ball zu. Zu langsam. Das musste selbst der Peruaner merken. Und er tat es. Drehte sich um und bewegte seine kleinen, dünnen Beine in Richtung Ball, rannte mit ihm auf das Tor zu und schob ihn in die linke, untere Ecke. Reiter schlug die Hände über dem Kopf zusammen und fiel theatralisch auf die Knie. Im Stadion war es totenstill. Er kippte nach vorne über und schielte auf die jubelnden Spieler der gegnerischen Mannschaft. Das Tor wurde gegeben. 1:0 in der 93. Minute. Perfekt. Es war das perfekte Spiel, auch wenn das triumphierende Gesicht des Peruaners, der sich nun für den Größten hielt, nur schwer zu ertragen war. Es war perfekt. Er brauchte die Sicherheit. Es hatte nichts mit dem Kick zu tun.