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Thomas Biebricher

Neoliberalismus zur Einführung

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Wissenschaftlicher Beirat
Michael Hagner, Zürich
Ina Kerner, Koblenz
Dieter Thomä, St. Gallen

Junius Verlag GmbH
Stresemannstraße 375
22761 Hamburg
www.junius-verlag.de

© 2012 by Junius Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: Florian Zietz
Titelbild: Frank Rumpenhorst, © dpa
E-Book-Ausgabe September 2019
ISBN 978-3-96060-113-5
Basierend auf Printausgabe
ISBN 978-3-88506-743-6
3., überarbeitete Auflage 2018

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Zur Einführung …

… hat diese Taschenbuchreihe seit ihrer Gründung 1977 gedient. Zunächst als sozialistische Initiative gestartet, die philosophisches Wissen allgemein zugänglich machen und so den Marsch durch die Institutionen theoretisch ausrüsten sollte, wurden die Bände in den achtziger Jahren zu einem verlässlichen Leitfaden durch das Labyrinth der neuen Unübersichtlichkeit. Mit der Kombination von Wissensvermittlung und kritischer Analyse haben die Junius-Bände stilbildend gewirkt.

Seit den neunziger Jahren reformierten sich Teile der Geisteswissenschaften als Kulturwissenschaften und brachten neue Fächer und Schwerpunkte wie Medienwissenschaften, Wissenschaftsgeschichte oder Bildwissenschaften hervor. Auch im Verhältnis zu den Naturwissenschaften sahen sich die traditionellen Kernfächer der Geisteswissenschaften neuen Herausforderungen ausgesetzt. Diesen Veränderungen trug eine Neuausrichtung der Junius-Reihe Rechnung, die seit 2003 von der verstorbenen Cornelia Vismann und zwei der Unterzeichnenden (M.H. und D.T.) verantwortet wurde.

Ein Jahrzehnt später erweisen sich die Kulturwissenschaften eher als notwendige Erweiterung denn als Neubegründung der Geisteswissenschaften. In den Fokus sind neue, nicht zuletzt politik- und sozialwissenschaftliche Fragen gerückt, die sich produktiv mit den geistes- und kulturwissenschaftlichen Problemstellungen vermengt haben. So scheint eine erneute Inventur der Reihe sinnvoll, deren Aufgabe unverändert darin besteht, kompetent und anschaulich zu vermitteln, was kritisches Denken und Forschen jenseits naturwissenschaftlicher Zugänge heute zu leisten vermag.

Zur Einführung ist für Leute geschrieben, denen daran gelegen ist, sich über bekannte und manchmal weniger bekannte Autor(inn)en und Themen zu orientieren. Sie wollen klassische Fragen in neuem Licht und neue Forschungsfelder in gültiger Form dargestellt sehen.

Zur Einführung ist von Leuten geschrieben, die nicht nur einen souveränen Überblick geben, sondern ihren eigenen Standpunkt markieren. Vermittlung heißt nicht Verwässerung, Repräsentativität nicht Vollständigkeit. Die Autorinnen und Autoren der Reihe haben eine eigene Perspektive auf ihren Gegenstand, und ihre Handschrift ist in den einzelnen Bänden deutlich erkennbar.

Zur Einführung ist in der Hinsicht traditionell, dass es den Stärken des gedruckten Buchs – die Darstellung baut auf Übersichtlichkeit, Sorgfalt und reflexive Distanz, das Medium auf Handhabbarkeit und Haltbarkeit – auch in Zeiten liquider Netzpublikationen vertraut.

Zur Einführung bleibt seinem ursprünglichen Konzept treu, indem es die Zirkulation von Ideen, Erkenntnissen und Wissen befördert.

Michael Hagner
Ina Kerner
Dieter Thomä

Inhalt

1.Einleitung

2.Theoretische Grundlagen des Neoliberalismus

2.1 Die Krise des Liberalismus

2.2 Die Geburt des Neoliberalismus

2.3 Ordoliberalismus und Freiburger Schule: Walter Eucken, Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow

2.4 Neoliberalismus als Konstitutionenökonomik und Public Choice: James Buchanan

2.5 Evolutorischer Neoliberalismus: Friedrich August von Hayek

2.6 Monetaristischer Neoliberalismus: Milton Friedman

3.Gesellschaftliche Neoliberalisierungsprozesse: USA, Großbritannien und Deutschland

3.1 Die Welt des Neoliberalismus: Ein Überblick

3.2 Der Thatcherismus

3.3 Die Reagan-Revolution

3.4 Die zweite Welle: Neoliberalismus ›von links‹

3.5 Verspäteter Neoliberalismus: Deutschland

3.6 Schlussfolgerungen

4.Der Neoliberalismus im Spiegel der Sozialwissenschaften: Governance, Subjektivierung und Kriminalität

4.1 Die Governance-Forschung

4.2 Die Gouvernementalitätsperspektive

4.3 Die neoliberale Regierung der Kriminalität

5.Schluss – Krisen des Neoliberalismus oder Neoliberalismus der Krisen?

5.1 Neoliberalismus, Finanzmarktkapitalismus und Bankenkrise

5.2 Die Eurokrise und die Renaissance des Ordoliberalismus

Anhang

Anmerkungen

Literatur

Glossar

Über den Autor

1. Einleitung

In Brian Singers Film Die üblichen Verdächtigen von 1995 zitiert der undurchsichtige Gangster Keyzer Soze einen Aphorismus Baudelaires: »Der größte Trick, den der Teufel je gebracht hat, war, die Welt glauben zu lassen, es gäbe ihn gar nicht.« In den Augen vieler seiner Kritiker ist auch dem Neoliberalismus ein solches Kunststück der Täuschung gelungen: Denn wie der Teufel herrsche auch der Neoliberalismus, während zugleich nicht nur das Faktum seiner Herrschaft geleugnet, sondern sogar bezweifelt werde, dass es ihn überhaupt gebe bzw. je gegeben habe. Und auch wenn man dem Neoliberalismus kein teuflisches Handwerk nachsagen möchte, ist die Analogie doch in gewisser Weise zutreffend. Denn die Diskussionen, die seit dem Jahrtausendwechsel über sozioökonomische Transformationsprozesse geführt worden sind, ergeben ein beinahe paradoxes Bild. Einerseits befindet sich der Neoliberalismus, folgt man der Einschätzung einer großen Gruppe von Sozialwissenschaftlern und Intellektuellen, seit Mitte der 1970er Jahre auf einem globalen Siegeszug. Für die meisten Vertreter dieser Position ist der Neoliberalismus kritikwürdig, weil er die soziale Ungleichheit exponenziell gesteigert, die Dominanz des Finanzkapitalismus und seine Krisen verursacht sowie die Ausweitung der Marktzone bis in den letzten Winkel der nicht-ökonomischen Sphären der Gesellschaft getrieben habe. Andererseits beschreibt der Begriff des Neoliberalismus ein so uneinheitliches Phänomen bzw. wird derart unterschiedlich verwendet, dass die Kennzeichnung der verschiedensten Entwicklungen als ›neoliberal‹ zu einer nahezu vollständigen inhaltlichen Entleerung des Begriffs führt. Schnell wird etwa aus dem Neoliberalismus ein umfassender ›Turbo-‹ oder ›Raubtier-Kapitalismus‹, womit über die Wünschbarkeit einer dieser Wirtschaftsform entsprechenden Gesellschaftsordnung bereits entschieden ist. So jedenfalls stellt sich die Konnotation des Begriffs inzwischen für diejenigen dar, die sich wohl noch vor einiger Zeit als neoliberal bezeichnet hätten, dies aber mittlerweile weit von sich weisen, da sie der Meinung sind, der Begriff habe sich zu einem Kampfbegriff und einem wachsweichen ›Catch-All-Term‹ gewandelt. Wer den Begriff des Neoliberalismus heute im Mund führt, so der Verdacht, der möchte politische Gegner als Befürworter von ungezügeltem Egoismus und deregulierten Märkten diskreditieren. Zumindest im deutschen Kontext gibt es deshalb heute nur noch sehr vereinzelte Stimmen, die sich offensiv zum Neoliberalismus bekennen, um sogleich zu erklären, dass damit ja ursprünglich nichts anderes als die soziale Marktwirtschaft gemeint gewesen sei. Denn die Eigenheiten des deutschen Diskurses über den Neoliberalismus lassen sich vor allem auf seine Überlappungen mit dem Ordoliberalismus und der sozialen Marktwirtschaft zurückführen. Vor dem Hintergrund dieser Konstellation besteht eine der erfolgversprechendsten Strategien zur Verteidigung des Neoliberalismus darin, ihn in diesen beiden Begriffen aufgehen zu lassen. Wer den Neoliberalismus der Ausweitung der Marktzone bezichtigt, kann mit dem Hinweis auf die Aufrechterhaltung einer strikten Unterscheidung von ökonomischer und nicht-ökonomischer Sphäre im ordoliberalen Denken korrigiert werden, und wer gar den Neoliberalismus der systematischen Einkommensumverteilung von unten nach oben verdächtigt, kann mit Verweis auf den sozialen Ausgleich als Kernprinzip der sozialen Marktwirtschaft beruhigt werden. Gerade Letztere ist im deutschen kollektiven Gedächtnis untrennbar mit dem Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Wirtschaftswunder der 1950er Jahre verknüpft, das, so zumindest eine gängige Interpretation, durch die von ordoliberaler Seite vehement geforderte Preisfreigabe 1948 ermöglicht wurde. Tatsächlich zur Herrschaft gelangt sei also nicht der Neoliberalismus, da dieser, richtig verstanden, eigentlich ein Ordoliberalismus sei, der wiederum die intellektuelle Grundlage der sozialen Marktwirtschaft darstellt.

Noch verwirrender wird die unübersichtliche begriffliche Konstellation, wenn man den deutschen Kontext verlässt und sich der angloamerikanischen Diskussion zuwendet. Denn sowohl in Großbritannien als auch vor allem in den USA hat der Begriff des Liberalismus seit Ende des 19. Jahrhunderts eine massive Umdeutung erfahren, die dazu führte, dass Liberalismus in den USA heute in etwa das Gegenteil dessen bedeutet, wofür die Bezeichnung im kontinentaleuropäischen Kontext steht. Wird der derzeitige Präsident Barack Obama von politischen Gegnern als zu liberal kritisiert, so wird ihm damit Sozialdemokratismus oder gar Sozialismus vorgeworfen. Diese begriffliche Entwicklungslinie muss an dieser Stelle nicht ausführlich nachgezeichnet werden, von großer Bedeutung waren dabei aber sicherlich der Einfluss von liberalen Denkern wie John Stuart Mill, T.H. Green und John Dewey, die die Sozialdemokratisierung des Liberalismus-Begriffs in unterschiedlichem Maße intellektuell beförderten, sowie seine erfolgreiche Inanspruchnahme durch Franklin Delano Roosevelt im Zuge des New Deals, der ihn mit einem progressiven politischen Programm verknüpfte, so dass sich das linke Spektrum letztendlich als liberal bezeichnen konnte. Es überrascht deshalb auch nicht, dass Neoliberalismus als politischer Begriff im angloamerikanischen Kontext keinerlei Rolle spielt. Aufgrund der skizzierten Verschiebung wurden politische Projekte wie etwa der Thatcherismus oder die Reagan-Revolution eher als Ausdruck einer gestärkten New Right oder in jüngerer Zeit als Dominanz des ›Neokonservatismus‹ interpretiert. Hinzu kommt, dass im politischen Vokabular des anglophonen Raums der Begriff des Libertarianism, der im politischen Diskurs in Deutschland praktisch unbekannt ist, viele Merkmale abdeckt, für die man hierzulande den Begriff des Neoliberalismus verwenden würde. Kommt der Begriff des Neoliberalismus im politischen Diskurs der angloamerikanischen Welt also schlicht nicht vor, so erfreut er sich dort in der akademischen Diskussion gerade in den letzten Jahren zunehmender Beliebtheit, was sich schon allein an der immensen Anzahl von englischsprachigen Veröffentlichungen zeigt, die den Begriff Neoliberalism in Titel oder Untertitel tragen.1 Die Bewegungsrichtung des Begriffs zwischen politischem und akademischem Diskurs ist also eine genau umgekehrte wie im deutschen Sprachraum: Bestehen hier wegen seiner politischen Aufladung bei gleichzeitiger Abnutzung große Vorbehalte gegenüber seiner akademischen Verwendung, so erleichtert dort das Fehlen des Begriffs in der politischen Debatte seinen Gebrauch als seriöse sozialtheoretische Bezeichnung in der akademischen Diskussion. Doch abgesehen davon bleibt diesseits und jenseits des Atlantiks das merkwürdige Phänomen eines vermeintlich herrschenden Neoliberalismus – ohne Neoliberale. Und erinnert schon dies stark an Keyzer Sozes eingangs erwähntes Bonmot, so verstärkt sich der Eindruck, wenn man noch eine weitere Einschätzung hinzunimmt, welche vor allem darauf hinweist, dass die maßgeblichen Veränderungen der kapitalistischen Wirtschaftsordnung der letzten dreißig Jahre keineswegs als Neoliberalisierungsprozesse zu verstehen seien. Schließlich seien viele Märkte wie etwa der deutsche Energiemarkt und die Lebensmittelbranche von Oligopolen oder gar Kartellen dominiert, die Lohnuntergrenzen auf den Arbeitsmärkten seien nach wie vor nicht ausreichend flexibilisiert und – als argumentative Trumpfkarte – die derzeitige Finanzkrise mache nicht nur ein weiteres Mal deutlich, wie hoch viele Staaten verschuldet sind, sondern auch, wie tiefgreifend sie nicht nur im Fall der akuten milliardenschweren Rettungs- und Konjunkturpakete in ökonomische Prozesse intervenieren: Die Staatsquote, die Aufschluss über den Anteil des Staates am Gesamtvolumen wirtschaftlicher Aktivität einer Volkswirtschaft gibt, lag 2011 trotz vermeintlicher jahrzehntelanger Neoliberalisierungsprozesse im europäischen Durchschnitt nur minimal unter fünfzig Prozent, und selbst in den USA, die als Vorhut des neoliberalen Rückzugs des Staates gelten, liegt sie nicht unter vierzig Prozent. Wie, so fragen entsprechend die Skeptiker, sollte sich dieses Gesamtbild also als neoliberal beschreiben lassen? Und einige wenden diese Position sogar noch offensiv: Könnte es nicht sein, dass Staatsverschuldung, die Erosion der Mittelschicht, Arbeitslosigkeit und gesellschaftliche Ungleichheit nicht nur nicht auf Neoliberalisierungsprozesse zurückzuführen sind, sondern im Gegenteil darauf, dass entsprechende Prozesse über Jahrzehnte hinweg von einer Allianz privilegierter Gruppen in ihrem eigenen und gegen das Allgemeininteresse verhindert worden sind?

Die Diskurslage ist also unübersichtlich. Zwar ist es nicht weiter verwunderlich, wenn die normativen Bewertungen eines sozioökonomischen Gesellschaftsentwurfs weit auseinandergehen, doch darüber hinaus besteht noch nicht einmal Einigkeit darüber, ob es den Neoliberalismus überhaupt (noch) gibt und, zuletzt, ob es nicht zumindest für die akademische Debatte grundsätzlich hilfreicher wäre, den Begriff aufgrund seiner polemischen Implikationen auszurangieren, um der Politisierung und der politischen Vereinnahmung sozialwissenschaftlicher Diskurse vorzubeugen.

Muss man also vom Neoliberalismus sprechen, um die Eigenheiten der sozioökonomischen Gegenwart in den (kritischen) Blick zu bekommen, oder ist im Gegenteil das Ende einer schon geradezu obsessiven Rede vom Neoliberalismus und seinen fatalen Folgen gerade die notwendige Vorbedingung, um jene Eigenheiten adäquat zu erfassen, nämlich unverzerrt durch implizite politische Wertungen?

Beginnen wir mit diesem letzten Punkt: Wie erläutert, gibt es Bedenken gegen die Verwendung eines Neoliberalismus-Begriffs, der mittlerweile zumindest im deutschsprachigen politischen Diskurs vor allem auch polemischen Zwecken dient. Doch die Klage über die Politisierung des Vokabulars unseres politökonomischen Weltverständnisses verrät eine problematische Vorannahme. Sie setzt voraus, dass die grundsätzliche Möglichkeit einer gänzlich wertungsfreien Beschreibung von sozialen Zusammenhängen besteht, der in akademischen – und vielleicht auch politischen – Debatten der Vorzug gebühre. Ob eine solche Beschreibung möglich ist, muss jedoch nicht nur vor dem Hintergrund klassischer Ideologiekritik, sondern auch im Lichte zeitgenössischer Sprachphilosophie bezweifelt werden. Wie ließe sich auf neutrale, aber nicht-triviale Weise über politökonomische Zusammenhänge sprechen? Die ›freie Marktwirtschaft‹ muss sich ebenso wie der Neoliberalismus den Vorwurf gefallen lassen, dass sie als ideologieträchtiger politischer Kampfbegriff fungieren kann, und für die politisch aufgeladene Formel der sozialen Marktwirtschaft gilt Ähnliches. Anstatt also weiter nach einem gänzlich entpolitisierten Vokabular zu suchen, sollten wir verstehen, dass gerade die sozialtheoretischen Grundbegrifflichkeiten oftmals »essentiell umstritten« (Gallie) sind, weil es von eminent politischer Bedeutung ist, in welcher Semantik wir unsere sozioökonomische Umwelt zu erfassen suchen – nicht zuletzt weil Letztere u.a. durch den Akt der Benennung als solche konstituiert wird. Die Verwendung eines Begriffes wie Neoliberalismus wäre per se also nur dann problematisch, wenn eine neutrale Wissenschaftssprache als Alternative zur Verfügung stünde, die allerdings nur um den Preis der Abstraktion und Trivialität zu erreichen wäre. Sicher ließe sich auf allgemeiner Ebene von Marktwirtschaft oder Kapitalismus sprechen, aber selbst diese Begriffe sind nicht unbedingt wertungsfrei – Neoliberale etwa haben sich vielfach gegen den Begriff des Kapitalismus ausgesprochen, weil er nahelege, das Wirtschaftssystem sei vor allem auf die Verwertungsbedingungen des Kapitals und nicht auf menschliche Bedürfnisse ausgelegt – und sie haben den zusätzlichen Nachteil, keinerlei zeitdiagnostisches Potenzial zu besitzen. Dabei wäre es doch sowohl von politischem wie auch wissenschaftlichem Interesse herauszufinden, mit welcher spezifischen Ausformung des Kapitalismus oder der Marktwirtschaft wir es gegenwärtig zu tun haben, und dieses Interesse dürfte sogar über die Grenzen zwischen den Befürwortern und Kritikern des Kapitalismus hinweg geteilt werden. Es ist also ein Vokabular auf einer niedrigeren Abstraktionsstufe erforderlich, das hinsichtlich der Besonderheiten einer bestimmten Wirtschaftsform aussagekräftig ist.

Nun kommt hierfür zwar nicht nur der Begriff des Neoliberalismus infrage, doch hat der Begriff trotz einer gewissen konzeptionellen Unschärfe, auf die im nächsten Kapitel ausführlich eingegangen wird, gegenüber den anderen möglichen Kandidaten einige Vorteile. Weit mehr Implikationen etwa führt der Begriff des Spätkapitalismus mit sich, der suggeriert, dass dem Kapitalismus ein absehbares Ende bevorstehe, und in dem das teleologische Geschichtsverständnis bestimmter Spielarten des Marxismus mitschwingt. Von geringerem ideologischen Gewicht sind hingegen die Konkurrenten namens Postfordismus oder ›fortgeschrittener Liberalismus‹ (advanced liberalism). Das Suffix ›post‹ bezeichnet schließlich nur, dass es nicht mehr der Fordismus ist, der unsere Zeit prägt. Doch was es ist (etwa Neofordismus oder Toyotaismus) und ob sich dieses prägende Moment überhaupt auf einen Nenner bringen lässt, bleibt in diesem Konzept letztlich unklar. Als ähnlich unterbestimmt erweist sich auch die Vorstellung eines ›fortgeschrittenen Liberalismus‹, da hier allenfalls impliziert ist, dass der Liberalismus einer gewissen Dynamik unterliegt, was jedoch vergleichsweise überschaubares zeitdiagnostisches Potenzial birgt.

Wenn also die sozialwissenschaftliche und polittheoretische Analyse der sozioökonomischen Gegenwart nach Begrifflichkeiten verlangt, die über ein gewisses Potenzial zur Erfassung ihrer Spezifika verfügen und daher unterhalb eines gewissen Abstraktionsniveaus angesiedelt sein müssen, dann ist es unvermeidlich, mit kontroversen und in ihren Konturen teils vagen Begriffen zu operieren. Dass dieses Vokabular umstritten ist, verweist nicht zuletzt auf seine politische Bedeutung und sollte in den zeitgenössischen Sozialwissenschaften eher als Regel denn als Ausnahme angesehen werden. Angesichts des Fehlens einer Alternative in Form einer weltanschaulich völlig neutralen Wissenschaftssprache ist das Argument, bestimmte Begriffe sollten aufgrund ihrer Bedeutung in der politischen Auseinandersetzung zumindest in akademischen Debatten keine Verwendung finden, also nicht überzeugend. Und da schließlich seine begrifflichen Konkurrenten im Zweifelsfall noch größere konzeptionelle Probleme bergen und durchaus Bedarf nach einem zeitdiagnostisch gehaltvollen Vokabular besteht, der zumindest in Teilen durch den Begriff des Neoliberalismus gedeckt wird, sind die Einsprüche gegen seine Verwendung nicht schwerwiegend genug, um ihn aufzugeben. Was genau darunter eigentlich zu verstehen sei, wird im Rahmen der Diskussion der theoretischen Ursprünge des Neoliberalismus im folgenden Kapitel im Detail behandelt. Zuvor sind jedoch noch zwei weitere Grundannahmen zu erläutern, die nicht nur für die konzeptionelle Fassung des Phänomens Neoliberalismus von großer Bedeutung sind, sondern in gewisser Weise auch dem Aufbau des Buches zugrunde liegen.

Zum einen soll der Neoliberalismus als in sich heterogenes Phänomen verstanden werden. Zwar bestehen vielfältige Übereinstimmungen mit jeweils geringfügigen Nuancen zwischen den verschiedenen Entwürfen, doch können diese die Inkonsistenzen bzw. Kontroversen zwischen den unterschiedlichen Positionen, etwa im Hinblick auf die unterschiedlichen Demokratie- oder Staatsverständnisse verschiedener Neoliberaler, nicht überdecken. Darüber hinaus erstreckt sich die Vielfältigkeit des Neoliberalismus nicht nur auf die theoretischen Vordenker, sondern auch der ›real existierende‹ Neoliberalismus hat unterschiedliche Gesichter, je nachdem, in welchem zeiträumlichen und gesellschaftlichen Kontext er auftritt. So scheint es beispielsweise sinnvoll, zwischen Privatisierung und Regulierung, wie sie etwa im Chile der 1970er Jahre von einer Militärdiktatur durchgesetzt wurden, und ähnlichen Maßnahmen, die durch eine liberal-demokratisch legitimierte Regierung wie im Neuseeland der 1980er Jahre verabschiedet wurden, zu unterscheiden. Neoliberale Reformen gehen unterschiedlich weit, sie treffen auf jeweils andere Institutionen und Traditionen und sie werden von Akteuren mit unterschiedlichen Strategien durchgeführt, was nur einige der Faktoren sind, die auf die Vielfalt neoliberaler Arrangements schließen lassen, welche sich zudem auch über die Zeit hinweg wandeln können. Vielfalt und Wandlungsfähigkeit des Neoliberalismus sollen hier also auf angemessene Weise gewürdigt werden, und in jedem der folgenden Kapitel wird es unter anderem darum gehen, dessen relative Heterogenität herauszuarbeiten, so dass sich von einem Neoliberalismus im Plural bzw. bestimmten ›Variationen des Neoliberalismus‹ sprechen lässt.2 Umgekehrt ist jedoch davor zu warnen, diese Fähigkeit des Neoliberalismus, sich in unterschiedliche Kontexte einzupassen und Krisen durch interne Transformation zu absorbieren, zu hoch zu veranschlagen. Denn dann würde unklar, was überhaupt das ›Andere‹ des Neoliberalismus bezeichnen könnte, und dieser würde zu einer Art sozioökonomischem ›Ende der Geschichte‹, das Alternativen unvorstellbar macht. Ein derart amorpher und expansiver Begriff des Neoliberalismus vermindert also möglicherweise die Produktivität akademischer Debatten, da er einfach zu viel bezeichnet und damit zu einem ›leeren Signifikanten‹ wird, der alles und nichts bedeuten kann. Politisch ist eine solche Verwendung des Begriffs zumindest für die Neoliberalismus-Kritiker gefährlich, denn wenn Alternativen undenkbar werden, dann wird auch ihre Realisierung von vornherein unmöglich. Die Virulenz dieses Problems wird nicht zuletzt in den Debatten der letzten Jahre vor dem Hintergrund der 2008 einsetzenden Serie von Finanz-, Wirtschafts- und Staatsschuldenkrisen deutlich sichtbar: Glaubten zu Beginn der Krise Kommentatoren wie Jürgen Habermas und Joseph Stiglitz, dass diese das Ende des Neoliberalismus bezeichnen könnte,3 so hat sich diese Einschätzung angesichts einer weiter fehlenden Einhegung der Finanzmärkte, ausbleibenden Bankenreformen und der durch die Staatsschuldenkrise aufgenötigten Austeritätspolitik inzwischen als voreilig erwiesen. Doch selbst während der turbulenten Monate des Jahres 2009, als weitreichende Reformen und umfassende politische Neuorientierungen noch im Bereich des Möglichen lagen, zeigte sich in der akademischen Debatte schon eine gewisse Ratlosigkeit in der Frage, was denn das Ende des Neoliberalismus bedeuten würde. Bis heute ist die sperrige Konstruktion vom ›Post-Neoliberalismus‹ inhaltlich kaum präzisiert worden, was zweifellos auch an einem hypertrophen Neoliberalismus-Begriff liegt. Seine konzeptionellen Grenzen scheinen derart bis an den Horizont ausgeweitet, dass die altbekannte Frage, wie es dahinter weitergehen könnte, beinahe zwangsläufig unbeantwortet bleiben muss. Auf diese Fragen wird im letzten Kapitel zurückzukommen sein.

Zuletzt muss jedoch noch eine zweite Grundannahme thematisiert werden, die implizit bereits angeklungen ist. Hierbei handelt es sich um die Unterscheidung zwischen den theoretischen Grundlagen bzw. den intellektuellen Ursprüngen des Neoliberalismus auf der einen Seite und dem Neoliberalismus in der Praxis oder dem ›real existierenden‹ auf der anderen Seite. Sie wird hier als heuristische Unterscheidung vor allem zum Zweck der Klarheit der Darstellung des komplexen Phänomens Neoliberalismus vorgenommen und ermöglicht es darüber hinaus, die teils erheblichen Diskrepanzen zwischen neoliberaler Theorie und Praxis herauszuarbeiten. Dabei sollen die bedenklichen Implikationen einer solchen Unterscheidung nicht verschwiegen werden, denn schließlich stellt sich die Frage, ob sich Theorie und Praxis des Neoliberalismus überhaupt isoliert voneinander untersuchen lassen. Zudem ermöglicht sie eine neoliberale Rechtfertigungsstrategie, die uns vom real existierenden Sozialismus gut bekannt ist: Denn anhand dieser Unterscheidung lässt sich argumentieren, neoliberale Ideen würden bei ihrer Umsetzung in die Praxis derart verwässert, dass sie zu gegenteiligen Effekten, d.h. zu einer Verschlechterung der sozioökonomischen Situation führten. Diese Probleme können dann aber wiederum den Gegnern des Neoliberalismus angelastet werden oder allgemein auf die Schwierigkeiten der konsequenten Umsetzung theoretischer Entwürfe in die gesellschaftliche Praxis zurückgeführt werden. Die Ideen selbst werden bei diesem Manöver von allen bedenklichen Implikationen freigesprochen, und die politische Schlussfolgerung kann dann nur noch mehr Neoliberalismus lauten, denn nur wenn dieser in all seinen Facetten realisiert sei, könne er auch seine sozialen, ökonomischen und moralischen Segnungen entfalten. In diesem Aspekt erinnert der Neoliberalismus strukturell an die utopischen Züge des Kommunismus, dem sich der real existierende Sozialismus zwar vermeintlich annähert, den er dann aber aufgrund der letztlich unüberwindbaren Distanz zwischen Ideal und Wirklichkeit und unter Rechtfertigung nach wie vor anhaltender gesellschaftlicher Missstände doch nie wirklich erreicht.

Im Bewusstsein dieser Problematik soll die analytische Unterscheidung zwischen Theorie und Praxis des Neoliberalismus aus heuristischen und darstellungstechnischen Gründen zunächst beibehalten werden.4 In der Strukturierung der Buchkapitel spiegeln sich die beiden erläuterten Grundannahmen wie folgt wider: Im folgenden ersten Kapitel stehen die theoretischen Ursprünge und die zeitgeschichtliche Verortung des Aufkommens neoliberaler Ideen im Mittelpunkt. Ausgehend von der ›Geburt‹ des Begriffs im Zuge des Colloque Walter Lippmann 1938 in Paris und seiner Wiederaufnahme im Rahmen der Treffen der Mont Pèlerin Society nach Ende des Zweiten Weltkriegs wird zunächst eine Arbeitsdefinition des Begriffs Neoliberalismus gegeben, um auf dieser Grundlage die theoretischen Hauptströmungen des Neoliberalismus am Beispiel der jeweils wichtigsten Vertreter zu erläutern. Das Spektrum der neoliberalen Vordenker reicht dabei von den Deutschen Wilhelm Röpke, Alexander Rüstow und Walter Eucken bis zu den Amerikanern Milton Friedman und James Buchanan sowie natürlich dem Österreicher Friedrich August von Hayek. Im Anschluss an die Darstellung dieser Varianten des Neoliberalismus finden sich darüber hinaus einige Bemerkungen zu den unterschiedlichen Vorstellungen über einige Kernbegriffe der jeweiligen politischen Philosophie wie etwa das Staats- oder Demokratieverständnis. Zuletzt soll auf dieser Grundlage auch noch einmal die Frage aufgenommen werden, wie sich der Neoliberalismus zu seinen nächsten theoretischen Verwandten, wie etwa dem Konservatismus, verhält und ob bzw. wie er sich von diesen unterscheiden lässt.

Das darauffolgende zweite Kapitel wendet sich dann der neoliberalen Praxis zu und erläutert neoliberale Transformationsprozesse am Beispiel dreier Fälle. Eingeleitet wird es von einem kurzen Überblick über die mittlerweile globale Verbreitung mehr oder weniger neoliberal geprägter Regime, auf den die eingehendere Betrachtung der ›Fallbeispiele‹ Großbritannien, USA und Deutschland folgt. Die Gründe für diese Auswahl seien schon an dieser Stelle erwähnt. Im Sinne der Grundannahme eines heterogenen und wandelbaren Neoliberalismus soll der Vergleich zunächst zeigen, dass Neoliberalisierungsprozesse bei aller Übereinstimmung in der grundsätzlichen politischen Stoßrichtung in unterschiedlichen Kontexten verschiedene Verlaufsformen annehmen – nicht zuletzt, wenn sie sich, wie im Falle Deutschlands, zu einer anderen Zeit und unter auch sonst völlig anderen Umständen vollziehen als etwa in Großbritannien oder den USA. Insbesondere die Wandlungsfähigkeit des Neoliberalismus lässt sich am Beispiel der USA und Großbritanniens gut aufzeigen, da hier einer ersten Phase von Neoliberalisierungsprozessen, in der es vor allem um die Destruktion etablierter Institutionen und Vorstellungen ging, eine zweite Phase folgte, in der – unter der Regierung Clinton in den USA und der Regierung Blair in Großbritannien – eine partielle Rekonstruktion bei gleichzeitiger Deregulierung der Finanzmärkte stattfand. Das Ziel dieses Kapitels kann nicht die detaillierte Analyse dieser Prozesse sein. Stattdessen gewährt es einen Überblick über einige zentrale Akteure der Prozesse, die Strukturen, in denen sie agierten, und die Inhalte der Reformagenden, die sie mehr oder weniger erfolgreich betrieben. Wie der Begriff des Neoliberalismus selbst, so bleibt auch die Bilanz der Neoliberalisierungsprozesse in allen hier diskutierten Kontexten höchst umstritten: Gilt manchen die Reagan-Revolution als letztendlich gescheitert, so sehen andere in ihrer Wirtschafts- und Sozialpolitik eine an ihren Absichten gemessen erfolgreiche Aufkündigung des Gesellschaftsvertrags, wie er die goldenen Jahre des Nachkriegsfordismus gekennzeichnet habe. Gelten manchen die rot-grünen Reformen bis hin zur Hartz-Gesetzgebung als blanker Offenbarungseid der gemäßigten Linken und Zäsur in der Geschichte der deutschen Wirtschafts- und Sozialpolitik, so sehen andere in ihnen die Grundlage für die wirtschaftliche Stärke Deutschlands, die auf wiedererlangter globaler Wettbewerbsfähigkeit beruhe.

Im dritten Kapitel steht das neoliberale Regieren im Mittelpunkt und soll mit Rückgriff auf zwei theoretische Perspektiven und am Beispiel eines bestimmten Politikbereichs erörtert werden. Zum einen handelt es sich hier um Theorien von Governance, die entsprechende Restrukturierungen staatlicher Regierungsausübung beispielsweise in Richtung von Politiknetzwerken, aber auch sogenannten Public-Private-Partnerships zum Gegenstand haben. Mit dem Trend von Government zu Governance, von sanktionierender Kontrolle zu Selbstverpflichtung und ›sanfter‹ Regulierung, begegnet die Regierungspraxis der neoliberalen Forderung nach einer veränderten Rolle des Staates, der durch Delegierung von Aufgaben an Zivilgesellschaft oder Markt schlanker werden und in seinem Handeln weniger hierarchisch, sondern stattdessen moderierend wirken solle, um auf diese Weise effizienter zu werden und Kosten zu sparen. Die zweite theoretische Perspektive, die sodann eingehender beschrieben werden soll, geht auf Michel Foucaults Vorlesungen über die Gouvernementalität, d.h. die reflektierten Praktiken (neoliberalen) Regierens, zurück und interessiert sich vor allem für die Rationalitäten und Technologien des Regierens unter neoliberalen Bedingungen. Eine dieser Technologien, die im Deutschen mit dem etwas unhandlichen Begriff der »Responsibilisierung von Individuen« bezeichnet wird, soll dabei besonders hervorgehoben werden. Die Techniken der Responsibilisierung haben zum Ziel, Eigenverantwortung zu installieren und zu fördern, d.h. die Vorstellung, dass Menschen für ihr Geschick allein und individuell verantwortlich sind: Sie sind Schmied ihres Glücks – und Unglücks. Was nun neoliberales Regieren konkret im Lichte dieser Theorieperspektiven bedeutet, soll schließlich am Beispiel der Kriminalpolitik illustriert werden. Hier lässt sich besichtigen, wie einerseits der Staat Aufgaben delegiert und sich bestimmter Verantwortlichkeiten entledigt, die stattdessen von privaten Sicherheitsdiensten und börsennotierten Gefängnisunternehmen übernommen werden, und andererseits Bürgerinnen und Bürgern die Verantwortung für kriminelle Handlungen rigoros individuell zugerechnet und ihnen darüber hinaus eine präventive Verantwortung als potenzielles Opfer aufgebürdet wird, das jederzeit dafür Sorgen tragen muss, nicht in kriminogene Situationen zu geraten. Das Rezept neoliberaler Regierung der Kriminalität lautet in Kurzform: Privatisierung von Sicherheit, die einerseits dem Markt und privaten Unternehmen und andererseits der Wachsamkeit von neoliberalen Subjekten überantwortet wird.

Im Schlusskapitel soll dann noch einmal auf die Auswirkungen der Finanz- und Eurokrise der letzten Jahre eingegangen werden sowie darauf, was diese für die Zukunft des Neoliberalismus bedeuten.

2. Theoretische Grundlagen des Neoliberalismus

Die Entstehung des Neoliberalismus ist untrennbar mit der Krise des klassischen Liberalismus verbunden. In diesem Kapitel sollen deshalb zunächst die Entwicklungen nachgezeichnet werden, die zu dieser Krise geführt haben. Dabei greifen Theorie- und Realgeschichte ineinander, und die Rekonstruktion erfolgt in bewusster Anlehnung an die Perspektive der ersten Generation neoliberaler Vordenker, da diese Interpretation der Geschichte des klassischen Liberalismus bereits integraler Teil des neoliberalen Selbstverständnisses ist.5

2.1 Die Krise des Liberalismus

Der Liberalismus in seiner politischen Dimension war einstmals für Rechtsstaatlichkeit und eine rechenschaftspflichtige Regierung sowie gegen die Herrschaft des Absolutismus bzw. des Adels angetreten. In seiner ökonomischen Dimension richtete er sich gegen alle Formen von Marktzugangsbeschränkungen, seien dies eine restriktive Berufszulassung in zunftkontrollierten Tätigkeitsfeldern oder protektionistische Importzölle als zentraler Bestandteil der vorherrschenden Außenwirtschaftspolitik des Merkantilismus. Schon die physiokratische Schule im Anschluss an François Quesnay (1694-1774) hatte an der Vorstellung, dass das Ziel der Außenhandelspolitik darin bestehen müsse, möglichst viel zu exportieren und möglichst wenig zu importieren, gezweifelt. Diese Zweifel verstärkten sich unter dem Einfluss der Ideen von Adam Smith (1723-1790) und David Ricardo (1772-1823) derart, dass spätestens ab der Mitte des 19. Jahrhunderts eine allgemeine Tendenz zur ökonomischen Liberalisierung zu verzeichnen war. Das Zunftwesen wurde in vielen Ländern abgeschafft oder verlor an Einfluss, und das Außenhandelsvolumen nahm im Gefolge von zumeist bilateralen Handelsabkommen beträchtlich zu. Selbstverständlich waren diese Entwicklungen kaum ausschließlich auf die Wirkung der Ideen der schottischen Aufklärung um Adam Smith, Adam Ferguson und David Hume zurückzuführen, denn eine entscheidende Rolle spielten handfeste wirtschaftliche Interessen. So dürfte es auch kaum ein Zufall sein, dass die Freihandelslehre am meisten Verbreitung in England fand, welches durch die Handelsverbindungen des Empires nicht nur am meisten von ihr profitierte, sondern mithilfe seines Militärs im Zeichen der Pax Britannica auch Handelswege öffnete und absicherte. Dennoch darf die Macht der frühliberalen Ideen, die in Glasgow und Edinburgh um die Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelt wurden, nicht unterschätzt werden. Dies zeigt sich an Smiths Gedanken von der »unsichtbaren Hand« des Marktes, die hinter dem Rücken der Akteure dafür sorge, dass selbst ausschließlich eigeninteressiertes Handeln das Gemeinwohl fördere. Die Annahme, dass die unterschiedlichen Bedürfnisse der Marktteilnehmer durch geldvermittelten Tausch auf bestmögliche Weise (aufgrund von Arbeitsteilung und Spezialisierung) befriedigt werden, kann als geradezu revolutionäre sozialtheoretische Vorstellung bezeichnet werden.

Mithilfe dieser Vorstellung gelang es einerseits, das produktive Potenzial, das sich aus der Verbindung von individueller Freiheit und persönlichem Gewinnstreben ergibt, nutzbar zu machen, und andererseits, die vermeintliche Konflikthaftigkeit der Marktsphäre mit ihren egoistischen Akteuren in einer allgemeinen Harmonie der Interessen aufgehen zu lassen. Eigeninteresse sei also nicht per se verwerflich, sondern trage unter den Bedingungen des Marktes sogar zum Gemeinwohl bei, wobei Smith zugleich betonte, dass ausschließliches Streben nach Profit kaum zu einem erfüllten Leben führen könne. Um die Segnungen des Marktes, dessen Entstehung er in seinem wirtschaftstheoretischen Hauptwerk Vom Wohlstand der Nationen auf die natürliche menschliche Neigung zu Handel und Tausch zurückführte, zur Geltung kommen zu lassen, forderte Smith daher die Beseitigung von Marktzugangsbeschränkungen und ein Zurückdrängen der Staatsgewalt überall dort, wo sie wirtschaftliche Freiheiten durch Privilegienvergabe, Monopolförderung oder andere Eingriffe beeinträchtige. Während Smith aus diesen Gründen den Außenhandel befürwortete, wurde das bis heute gängige Trumpfargument für Handelsliberalisierung von David Ricardo entwickelt. Anfang des 19. Jahrhunderts rechnete dieser am Beispiel von portugiesischem Wein und englischem Tuch vor, dass Handel zwischen den beiden Ländern sogar in beiderseitigem Interesse sei, wenn die Produktionskosten für beide Waren in Portugal niedriger lägen als in England. Selbst dann sei es für Portugal und England sinnvoll, sich auf die Ware zu spezialisieren, bei deren Produktion sie jeweils komparative Kostenvorteile hätten, und die andere Ware stattdessen zu importieren. Ricardos ökonomische Theorie distanzierte sich in vielen Aspekten vom Optimismus Smiths und wurde nicht zuletzt in seinen Betrachtungen zum Klassenantagonismus zwischen Kapital und Arbeit zum Bezugspunkt für Karl Marx. Dennoch blieb Ricardo bei der Vorstellung von der Harmonie marktvermittelter Interaktionen, insofern Handel gleichermaßen im allseitigen Interesse sei, solange alle Beteiligten sich auf Produktion und Ausfuhr der Ware(n) konzentrierten, bei denen sie über einen komparativen Kostenvorteil verfügen. So wurde hier wie auch bei Smith das Konfliktpotenzial des Marktes, aufgrund dessen dieser über Jahrhunderte hinweg als moralisch suspekt und regulierungsbedürftig gegolten hatte, theoretisch neutralisiert. Die Ideen Smiths und Ricardos stießen nicht nur in Großbritannien auf überaus reges Interesse, auch in vielen kontinentaleuropäischen Gesellschaften fasste das, was retrospektiv als Frühliberalismus bezeichnet werden kann, Fuß: in Preußen etwa mit Wilhelm von Humboldt, dem die Welt eines der ersten systematischen Plädoyers für einen Minimalstaat verdankt und dessen Vorstellungen auch in einige der preußischen Reformen einflossen, oder im postrevolutionären Frankreich mit Benjamin Constant, der sich in unzähligen Reden und diversen Schriften zu einem der intellektuellen Wortführer des frühen Liberalismus entwickelte. Zwar hemmte die Ära der Restauration während der ersten Jahrhunderthälfte jegliche weitere politische Liberalisierung, doch nach den mehr oder weniger erfolgreichen Revolutionen von 1848 standen die Zeichen auf ökonomische und stellenweise auch politische Liberalisierung.

Zu jener Zeit kam es zu einer Radikalisierung der Forderungen der schottischen Aufklärer Smith und Ferguson durch die Wirtschaftspolitik des ›Laissez-faire‹, wie sie etwa vom französischen Ökonomen Frédéric Bastiat (1801-1850) vertreten wurde. Danach sollte sich der Staat völlig aus der Wirtschaft zurückziehen und den ›Dingen ihren Lauf lassen‹, wobei alle negativen Markteffekte von Ungleichheit bis Ausbeutung ignoriert wurden. So bildete sich mit dem aufkommenden Industriekapitalismus eine Klasse relativ verarmter Lohnarbeiter, die sich der Macht der Unternehmen gegenübersahen, welche sich weitgehend unreguliert zu Kartellen und Trusts zusammenschließen oder durch gegenseitige Übernahme Monopole bzw. Oligopole bilden konnten. Die sich daraus formierenden sozialistischen und sozialdemokratischen Bewegungen äußerten harsche Kritik gegenüber dem liberalen Staatsverständnis.

Ferdinand Lassalle (1825-1864), einer der wichtigsten Arbeiterführer des 19. Jahrhunderts, brachte diese Kritik mit seinem Begriff des untätigen »Nachtwächterstaates« auf den Punkt, und auch viele Liberale konnten sich dieser Kritik nicht gänzlich verschließen. In Großbritannien, das als Stammland des Liberalismus gelten kann, führte dies mit dem Aufkommen eines New Liberalism zu der schon in der Einleitung erwähnten Bedeutungsverschiebung. Der New Liberalism schlägt sich prominent nieder in den späten Werken John Stuart Mills (1806-1873), dessen Denken in seinen unterschiedlichen Phasen die Wandlung vom klassischen Liberalism zu dieser neuen Spielart illustriert. Noch stärker kommt diese Wandlung in dem von Hegel beeinflussten Liberalismus von T.H. Green (1836-1882) zur Geltung, dessen Denken als sozialliberal bezeichnet werden kann. Und nicht nur in der Sozialdemokratisierung des liberalen Denkens zeichnet sich die aufkommende Krise des Liberalismus ab, auch die liberale Politik geriet zunehmend in die Defensive: Im neu entstandenen Deutschen Reich, in dem ohnehin die antiliberalen Vorbehalte nie ganz verstummt waren, sorgten die Finanzkrise von 1873 und die darauffolgende Rezession des sogenannten Gründerkrachs sowie die Macht von Großindustrie und Arbeiterbewegung für eine Abkehr von liberalen Politikprinzipien in Form von Protektionismus und für die ersten Schritte hin zur Formierung des Sozialstaates. In den USA wurde 1890 der Sherman Act verabschiedet, der die weitere Kartellierung der Wirtschaft verhindern sollte. Zwar entfaltete das Gesetz zunächst nur bescheidene reale Effekte, doch seine Wirkung als symbolische Zäsur am Ende einer Phase des praktizierten oder zumindest geforderten Laissez-faire war erheblich.

Trotz dieser realpolitischen Rückschläge erfuhr das liberale Denken zumindest in seiner ökonomischen Dimension zum Ende des 19. Jahrhundert noch einmal eine Vitalisierung in Form der aufkommenden neoklassischen Wirtschaftstheorie. Diese von Leon Walras (1834-1910), Alfred Marshall (1842-1924) und Carl Menger (1840-1921) repräsentierte Neuausrichtung des ökonomischen Denkens distanzierte sich zwar in vielerlei Hinsicht von der ›klassischen‹ politischen Ökonomie Adam Smiths, doch bestätigte und radikalisierte sie den harmonistischen Zug, der von den verschiedenen Klassikern letztlich weitgehend geteilt wurde. So interessierte sich die Neoklassik weniger dafür, wie es im Produktionsprozess zur Wertbildung kommt, sondern konzentrierte sich auf Allokationsfragen, d.h. auf die Verteilung von Gütern auf (Tausch-)Märkten. Soweit sie sich mit Wertfragen befasste, wendete sie sich mit der subjektiven Wertlehre des sogenannten Grenznutzens vollständig von der klassischen Vorstellung ab, dass die in eine Ware eingeflossene Arbeit ihren Wert bestimme. Darüber hinaus gelang den Neoklassikern die Übersetzung einiger mehr oder weniger metaphysischer Annahmen der Klassiker in Modelle, die mit dem Anspruch sozialwissenschaftlicher Autorität auftreten konnten. Das Denken Smiths und vieler anderer klassischer Liberaler ist getragen von der Vorstellung einer natürlichen Ordnung, die sich nicht nur in der Natur, sondern auch in den sozialen Verhältnissen zeigt und menschlicher Erkenntnis zugänglich ist. Diese (gottgegebene) Ordnung verbürgt die Harmonie einer auf der ›natürlichen Freiheit‹ der Individuen aufbauenden Marktwirtschaft. In dieser Frage leistet die Neoklassik mit dem mathematischen Nachweis des allgemeinen Gleichgewichts zwischen Angebot und Nachfrage, das sich den Modellannahmen zufolge und bei nach unten und oben flexiblen Preisen auf Märkten quasi von selbst einstellen soll, der liberalen Wirtschaftstheorie wertvolle Hilfestellung: Ließ sich die ›natürliche Ordnung‹ und die resultierende harmonische Wirtschaft im Denken Adam Smiths noch als metaphysische Spekulation abtun, so lässt sich das allgemeine Gleichgewicht von Leon Walras nun mithilfe mathematischer Formeln auf der Grundlage abstrakter Modelle herleiten. Damit lieferte Walras zu einer Zeit, in der die Politik des Laissez-faire ihren Zenit bereits überschritten hatte, deren vermeintlich wissenschaftlich gedeckte Rechtfertigung. Vor diesem Hintergrund ist die von Marshall vertretene Forderung, die wirtschaftswissenschaftliche Disziplin nicht mehr als Political Economy, sondern schlicht als Economics zu bezeichnen, in ihrer im wörtlichen Sinn entpolitisierenden Stoßrichtung überaus symptomatisch: Die Märkte sind in den Gleichgewichtsmodellen der Jahrhundertwende zu einem selbstregulierenden System geworden, das allenfalls durch politische Einmischung in Form staatlicher Regulierungsinterventionen oder durch externe Krisen wie etwa Kriege oder Naturkatastrophen aus dem Gleichgewicht gebracht werden kann. Doch aller wissenschaftlichen Rückendeckung für eine liberale Wirtschaftspolitik zum Trotz endete die Ära des Liberalismus jäh mit dem Eintritt einer solchen externen Krise: dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914.

Dieser Krieg mit seinen in vielerlei Hinsicht katastrophalen Folgen bezeichnete insbesondere aus liberaler Perspektive nicht weniger als einen politökonomischen Gezeitenwechsel. Hatte die liberale Agenda aus unterschiedlichen Gründen schon seit dem Jahrhundertwechsel mit Rückschlägen zu kämpfen gehabt, so stürzte die Zwischenkriegszeit den Liberalismus endgültig in eine existenzielle Krise. Zum einen beförderte der Krieg einen überhöhten Nationalismus, der sich nur bedingt mit liberalen Vorstellungen verbinden ließ, und zum anderen lagen der Kriegswirtschaft eine weitgehend staatlich gelenkte Produktion von kriegsrelevanten Gütern und vielfältige Rationierungen zugrunde. Colloque Walter Lippmann