Oswald, Georg M. Im Himmel

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© Piper Verlag GmbH, München 2020
Das Buch erschien zuerst 2003 bei Rowohlt Verlag GmbH, Reinbeck bei Hamburg
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1

Ich bin gestern auf Schloss Auenberg in den Bayerischen Alpen angekommen, meine gesamte Familie begleitete mich, Mama, Paps und Tina, und alle sprachen zu mir in einem aufmunternden Ton wie zu einem Schwerkranken, der eine schlimme Operation überstanden hat und dessen Aussichten auf Heilung ungewiss sind.

Wir verabschiedeten uns in der riesigen pseudogotischen Halle. Mein Vater wünschte mir, als er mich umarmte – das hatte er seit Jahren nicht getan –, »die Kraft und die Ausdauer, das Richtige zu tun«, und ich wusste natürlich, was er damit meinte. Ich soll in dem Internat, das hier untergebracht ist – Paps nennt es »ein privates Institut« – mein Abitur machen, nachdem ich auf der staatlichen Schule endgültig versagt habe.

Ich stand auf dem Vorplatz, dort, wo ankommende Wagen auf dem weißen Kies genug Platz haben, um in einem Zug zu wenden. Ich fühlte mich wie ein Hochstapler, der sich als Schlossherr ausgab, als ich meiner Familie zum Abschied winkte. Sie stiegen in Paps’ riesigen schwarzen BMW, der Schotter knackte unter den breiten Reifen, als sie langsam davonfuhren. Wir winkten, bis sie auf der abfallenden Straße hinter der Einfahrt versanken.

Ich leerte meine Koffer, stellte meine Bücher in das Regal meines überraschend geräumigen Zimmers, das in einem merkwürdigen alpenländisch-großbürgerlichen Stil eingerichtet ist, und begriff langsam, dass ich nun für eine ganze Woche mir selbst überlassen sein würde. Dann erst beginnt das neue Schuljahr. Jetzt ist noch kein anderer Schüler außer mir da und auch keine Lehrkraft, nur Hausangestellte und Bedienstete und Gäste des Hotels, das einen der beiden Flügel dieses gewaltigen Schlosses ausfüllt. Ich beschloss, mich für eine Woche nicht als künftiger Internatsschüler, sondern als Gast zu fühlen. Es würde für lange Zeit das letzte Mal sein, dass mir so viel freie Zeit zur Verfügung stand.

Ich ging spazieren, um mich ein bisschen mit der Gegend vertraut zu machen. Halb betäubt von den starken Gerüchen des Fichtenwaldes und der Bergwiesen, lief ich einen Weg entlang zu einer Lichtung, von der sich mir ein überwältigender Blick auf das von der Nachmittagssonne beschienene Wendelsteinmassiv eröffnete. Ich war erstaunt, wie sehr mich das beeindrucken konnte.

Wieder zurück, setzte ich mich an den Schreibtisch in meinem Zimmer und beschloss, nun auszuführen, was ich mir auf so verlegene Weise vorgenommen hatte, dass es mir die meiste Zeit kaum bewusst war, nämlich mit dem Schreiben zu beginnen.

Irgendein Schriftsteller hat einmal gesagt, Romane seien Fragen, die sich kürzer nicht stellen lassen, und das trifft ziemlich genau das Gefühl, mit dem ich hier zu Werke gehe, denn ich könnte nicht behaupten, dass mir klar wäre, was ich mit meiner Geschichte sagen will. Ich weiß nur, dass ich sie erzählen muss. Sie handelt von Verrat, von Geld und Tod, vielleicht auch von Liebe, und doch beschleicht mich, wenn ich es bedenke, der klammheimliche Eindruck, all das sei von ungeheurer Nichtigkeit.

Vielleicht liegt es daran, dass die Leute, über die ich auf den folgenden Seiten eine Menge Schlechtes sagen werde, meine Leute sind. Ich bin einer von ihnen, auch wenn man mich nie gefragt hat, ob ich das sein will. Möglich, dass sich das eines Tages ändern wird, ich bin wirklich jung genug, um darauf hoffen zu können.

 

Die Geschichte beginnt mit dem Anfang jener Sommerferien, deren Ende nun erreicht ist. Ich habe das letzte Schuljahr nicht bestanden, aus Liebeskummer und aus ein paar anderen Gründen, die mit dem, worum es hier gehen soll, nichts zu tun haben. Immerhin war es mir zu Ferienbeginn gelungen, mir meine Ex-Freunden halbwegs aus dem Kopf zu schlagen, aber ich hatte darüber nicht nur meine schulischen Verpflichtungen versäumt, sondern auch, meinen Sommerurlaub zu planen.

Ich war neunzehn (mittlerweile bin ich zwanzig) und fand das, nebenbei bemerkt, ein wirklich erbärmliches Alter für einen Gymnasiasten (einundzwanzig und Absolvent eines »privaten Instituts« zur Erlangung der Hochschulreife – das ist dann schon fast wieder gut). Selbstverständlich fuhr ich seit fünf Jahren oder so nicht mehr mit meiner Familie in Urlaub, ausgenommen eine Woche Skifahren im Winter vielleicht, aber niemals im Sommer.

Meine fünfzehn Monate ältere Schwester Tina flog in diesen Ferien mit einem schwulen Freund nach Mauritius, um vier Wochen in einem Wellnesshotel zu verbringen, was ein Vermögen kostete, das sie sich als Hand-Model neben ihrem Studium der Kunstgeschichte zusammenverdient hatte. Es machte mich krank, dass sie Tausende Euros dafür kassierte, ihre Hände fotografieren zu lassen. Meine Hände wollte niemand fotografieren, obwohl sie auch nicht so furchtbar anders aussahen als ihre. Abends, wenn ich im Bett lag, betrachtete ich sie (meine Hände) und stellte mir vor, wie ich die Fingerspitzen einen Augenblicklang in Spülwasser tauchte, um sie gleich darauf erschrocken her auszuziehen. Bringt einem vielleicht keine Goldene Palme in Cannes ein, aber ein prall gefülltes Bankkonto. Vorausgesetzt, man bekommt den Job. Tina hatte sich bei einem Casting gegen Hunderte – oder gar Tausende? – von Mitbewerberinnen durchgesetzt, irgendetwas mussten ihre Hände also an sich haben, das für die Welt der Werbung von größtem Interesse ist. Meine Eltern fanden es, glaube ich, pädagogisch schwierig, dass Tina mit so einem Scheiß so viel Geld verdiente, mehr als ihr ihre Ausbildung je einbringen würde, aber immerhin machte sie keinerlei Anstalten, ihr Studium aufzugeben. Sie ist immer eine ausgezeichnete Schülerin gewesen, und die Kunstgeschichte geht ihr ganz bestimmt nur so von der Hand – und in ihrem Fall ist das ja mehr als eine Redensart. Einen schwulen Freund hatte sie sich für die Mauritius-Reise übrigens ausgesucht, weil sie genervt war von den »überhand nehmenden Zudringlichkeiten« ihrer Verehrer, so drückte sie sich aus. Der Freund hieß Kai, benahm sich nicht besonders tuntig und hatte auch irgendwas mit Werbung zu tun. Die beiden wollten in der ersten Augustwoche, die meine erste Ferienwoche war, losfliegen, und einstweilen nahm Tina in ihrer mitteilsamen Art jeden, der ihr in die Hände fiel, in Beschlag und erklärte ihm – also meistens mir –, wie großartig Mauritius war, auch wenn sie es bisher nur aus Reiseprospekten kannte.

Die meisten Leute, mit denen ich in der Schule zu tun hatte, hatten ebenfalls längst gebucht. Irgendwann nach dem Zwischenzeugnis war das losgegangen. Es bildeten sich Paare, Grüppchen, wundervolle Reiseziele wurden ausgesucht, wieder verworfen und durch noch wundervollere ersetzt. Immerhin ging es um die letzten Sommerferien vor dem Beginn des Studiums oder, bei den Jungs, des Zivildienstes (oder der Bundeswehr, aber es waren außer mir beinahe nur Verweigerer in der Klasse. Ich hatte nicht verweigert, obwohl ich der größte Verweigerer von allen war, aber ich hatte sämtliche Fristen, die man dazu einhalten musste, endgültig und unwiderruflich versäumt. Warum hätte ich mich also mit dem Abitur beeilen sollen? Nichts als die grüne Hölle wartete auf mich).

Für alle sollten diese Ferien etwas ganz Besonderes werden. Wer ans Meer wollte, buchte nicht für Italien, sondern für Mexiko, wer auf Abenteuer stand, nahm sich nicht Mexiko, sondern Sibirien vor, und wer sehen wollte, wo es den Leuten richtig dreckig geht, entschied sich nicht für Sibirien, sondern für Angola.

Ich wusste nicht, mit wem ich hätte verreisen sollen, meine Ex-Freundin kam dafür ja wohl nicht mehr infrage, und mein bester Freund Martin, mein einziger Vertrauter, war von einer Frau außer Gefecht gesetzt, die ihn volle Konzentration kostete und außerdem beschlossen hatte, mit ihm nach Sizilien zu fahren, worin er, sabbernd, wie ich ihm vorwarf, und umstandslos eingewilligt hatte.

»Warum ausgerechnet Sizilien?«, fragte ich.

»Nicht teuer, Annas Wunsch, immer Sonne«, er klärte mir Martin.

»Schade.«

»Wie bitte?«

»Nein, es ist natürlich ganz toll. Aber ich werde in den nächsten sechs Wochen hier versauern.«

»Das passt schon«, sagte Martin und klopfte mir auf die Schulter. Er meinte es anders, als er es sagte. Aber mein Problem war damit nicht gelöst. Ich hätte mich an eine der größeren Grüppchen ranschmeißen können, die sich in jämmerlicher Einfalt zu einem Kluburlaub auf Kreta entschlossen hatten, oder an jene, die einem Surfkurs mit Vollpension in Ägypten den Vorzug gaben, aber was hatte ich jetzt mit all diesen Leuten zu schaffen, denen ich das ganze Jahr über aus dem Weg gegangen war, weil ich sie, in unterschiedlichen Abstufungen, für Idioten hielt?

Außerdem hatte ich kein Geld. Eine Tatsache übrigens, die mir, sooft ich sie unter meinen Mitschülern aussprach, nichts als Hohn einbrachte, weil ich als Rechtsanwaltssöhnchen geführt wurde. Meinen Eltern gehört ein schicker Bungalow in Welting am Starnberger See und meinem Vater eine Kanzlei in der Brienner Straße in München.

»Hör mal, was kostet es dich denn, deinen Alten um einen schicken Urlaub anzuhauen? Ist doch schon in seinem Interesse, dass du standesgemäß untergebracht bist.«

Martin lag mit seiner Frage nicht falsch. Paps hätte mir bestimmt jeden Urlaub bezahlt, den ich mir gewünscht hätte, wenn – ja, wenn ich ihn darum gebeten hätte. Und genau da lag das Problem. Ich wollte ihn um nichts bitten, am allerwenigsten um Geld. Das hätte bedeutet, dass er sich in meine Pläne eingemischt hätte. Am Ende wäre er noch auf die Idee gekommen, einen echten Männerurlaub vorzuschlagen, nur wir beide. Dann könnte er mich in aller Ruhe ausforschen. Er interessierte sich ja ansonsten, was mich betraf, seit Jahren ausschließlich dafür, ob ich in der Schule versetzt wurde. War die Versetzung gefährdet, wurde er unruhig, fiel ich tatsächlich durch, war ein sogenanntes ernstes Gespräch fällig, das ich bisher dreimal geführt habe, einmal nach der siebten Klasse, einmal nach der neunten und zuletzt eben drei Monate vor dem Ende der zwölften. Aus unerfindlichen Gründen wurden die liberalen und gutmütigen Lehrer des Mariannen-Gymnasiums nicht müde, meinen Eltern zu er zählen, ich sei begabt, sehr begabt sogar, aber mindestens ebenso faul. Begabt, aber faul, das ist das Verdikt, das mich seit meiner frühesten Schulzeit verfolgt. Immerhin bewahrt es mich vor Schlimmerem. Gälte ich nicht als »begabt, aber faul«, sondern, weniger interessant, als »dumm und faul«, könnte mir blühen, dass ich etwas anderes tun müsste, als zur Schule zu gehen – arbeiten etwa oder eine Ausbildung anfangen.

Es gehört zum Beruf meines Vaters, die Lügen der Menschen zu durchschauen, und ich bin mir sicher, er denkt insgeheim, dass es mit der Begabtheit seines Sohnes nicht halb so weit her ist, wie die Lehrer sagen. Aber es ist ihm lieber, den Sohn auf dem Gymnasium zu haben und Lehrer, die von dessen Begabung schwafeln, als einen gescheiterten Oberschüler, der wegen erwiesener Nichtsnutzigkeit von jeder Lehrstelle fliegt. Und außerdem, wie sähe das aus, wenn ich kein Abitur machte? Um Gottes willen, die Königs haben einen Idioten im Haus! Die Armen. Dabei ist der Junge ja ganz nett. Komisch eigentlich, bei diesen Eltern, der Vater Anwalt, glänzend promoviert, ein hervorragender Segler und Golfer, die Mutter Literaturwissenschaftlerin und seit einiger Zeit Beraterin bei Archon Inc., die Schwester angehende Kunsthistorikerin und gefragtes Hand-Model.

Na, wie auch immer.

Martin hatte mit seiner Vermutung schon recht, Paps hätte sofort etwas springen lassen, wenn er die Spielregeln hätte bestimmen können.

Was für ein Spaß, die Vorstellung, ich mit Paps auf einem vierzehntägigen Segeltörn in der Ägäis, und wir quatschen dabei einfach mal alles durch, so von Mann zu Mann. Er ist der Skipper und ich bin sein Maat oder so was, und er bringt mir alles, alles bei. Bitte nicht!

Paps hält sich für einen korrekten Typen, weil er in seiner Jugend ein paar Punkkonzerte besucht und viel leicht auch mal einen Joint geraucht hat. Aber in Wirklichkeit ist er ein knallharter Anwalt, der sich für genau drei Dinge interessiert: den Umsatz seiner Kanzlei, Rotwein aus Bordeaux und Zigarren aus Kuba. Vielleicht interessieren ihn noch ein paar andere Dinge, teure Anzüge und Sportwagen zum Beispiel – sein Zweitwagen ist ein Porsche Carrera –, aber Geld, Rotwein und Zigarren sind eindeutig die Top-Drei.

 

Natürlich tut es mir Leid, so schlecht und gemein über meine Familie zu schreiben. Wahrscheinlich bin ich der Unerträglichste von uns allen. Die anderen leben ihr Leben mehr oder weniger so, wie ihnen das richtig erscheint, nur bei mir ist das grundsätzlich anders.

 

Über der ersten Ferienwoche lastete drückender Stillstand. Ich saß bei zugezogenen Vorhängen in meinem Zimmer und war alles leid. Ich war zugezogene Vorhänge leid und den widerlichen Sonnenschein da hinter. Ich war meine Schwester leid wegen ihrer scheinbar endlosen Reisevorbereitungen. Ich war ihre affektierte Freude daran leid, ihre Geschäftigkeit und ihr ewiges Geschnatter darüber, dass sie, erst einmal auf Mauritius angekommen, »alle fünfe aber so was von gerade« sein lassen wollte.

Ich war meine Mutter leid, die mir nachstellte und sich Zutritt zu meinem Zimmer verschaffte, angeblich, um mit mir zu »reden«, sodass ich sie rauswerfen musste. Ich war ihr sogenanntes Verständnis für mich leid, das ich nur für eine Finte hielt, um an mich heranzukommen. Wie konnte jemand, der für Archon Inc. arbeitete, für mich Verständnis haben? Ich wollte auch kein Verständnis. Ich wollte meine Ruhe.

Ich war meinen Vater leid, der mir jedes Mal, wenn er mir begegnete – was wenigstens selten vorkam –, mit seiner gut gelaunten Kumpelhaftigkeit auf die Nerven ging, mit der er seine merkwürdige Unsicherheit mir gegenüber zu überspielen versuchte. Seit dem Tag, als ich nach der Schule in seiner Anwaltskanzlei vorbei gekommen war, um meinen »freiwilligen Rücktritt aus der zwölften Jahrgangsstufe« zu besprechen, behandelte er mich auf diese Das-wird-schon-wieder-Tour, die es vermochte, auch noch die kleinste in mir keimende Hoffnung mit Stumpf und Stiel auszurotten. Wir saßen in Vaters Besprechungszimmer, schwarzes Leder und Stahl, teure Kunst an den Wänden. Wir besprachen meine Schulangelegenheit, als ginge es um ein bedeutendes Geschäft, was mich unendlich betrübte. Paps wollte mir wirklich helfen, glaube ich, aber ich kam mir so lächerlich vor neben diesem offenbar mächtigen Mann in seinem Anzug.

Aber ich bin noch längst nicht fertig mit der Aufzählung dessen, was ich alles leid war. Ich war es leid, jeden Morgen mit einem Traum von meiner Ex-Freundin aufzuwachen, und ich war es leid, das Wort »Ex-Freundin« auch nur zu denken. Erst recht war ich es leid, an ihren Namen zu denken. Es war immer derselbe, schreckliche Traum, der mich quälte, er ging ganz einfach: Wir waren wieder zusammen. Genau genommen war dieser Traum gar kein Traum, ich kann mich an gar nichts erinnern, was sich in Bildern oder Worten beschreiben ließe. Er bestand nur aus dem Gefühl, dass wir wieder zusammen waren, genauer: dass wir niemals getrennt waren, sondern so zueinander standen, als wären wir zusammengeblieben. Ich spürte es so deutlich, dass ich es zu glauben begann, irgendwann kein Zweifel daran mehr möglich war – bis ich erwachte und aufs Neue begriff, dass es aus war. Das allein hätte schon genügt, um mir für den Rest des Tages die Laune zu verderben, aber damit wirklich nichts schief ging, gab es noch meine Familie.

 

Dieser Sommer hätte einen anderen Verlauf genommen – und damit vermutlich mein ganzes weiteres Leben –, hätte meine Mutter mich nicht eines Tages los geschickt, um bei den Nachbarn um ein Päckchen Salz zu fragen. Es war wochentags, Paps war in seiner Kanzlei und Tina in der Stadt, um ihre »Garderobe für Mauritius zu komplettieren«, wie sie gesagt hatte, und Mama und ich aßen Spaghetti mit Tomatensoße. Ich hätte eigentlich gerne für mich alleine gegessen, aber sie hatte auf meiner Gesellschaft bestanden, und ich hatte gerade nicht die Kraft, ihr zu widerstehen.

Also saßen wir da und aßen Spaghetti, und Mama fragte mich, was sie mich schon seit Wochen fragte:

»Und hast du jetzt schon eine Idee, wie du die großen Ferien herumbringen willst?«

Ich schwieg eine Weile. Dann sagte ich:

»Ich habe mich entschlossen, bei Archon Inc. anzuheuern und mein Leben der Eroberung des Weltalls durch unsere Spezies zu widmen.«

Sie schenkte mir einen mitleidigen Blick.

»Du bist nicht der einzige Mensch, dem es hier schlecht geht. Ich habe auch meine Krisen. Deine Schwester auch. Paps übrigens auch. Es ist nur nicht so, dass jeder Mensch sich das Recht herausnimmt, sich so unerträglich zu benehmen wie du.«

»Wieso? Ich mache doch gar nichts. Ich sitze in meinem Zimmer, höre mit dem Kopfhörer Musik und lese oder sehe fern. Oder ich starre an die Wand oder an die Decke. Das tue ich eigentlich meistens. Wen sollte das stören? Unerträglich seid nur ihr, weil ihr mich nicht in Ruhe lasst, sondern ständig etwas von mir wollt.«

Beim Sprechen hatte sich ein heiserer Schleier auf meine Stimme gelegt. Ich klang wie ein Irrer.

»Das musst du gerade sagen, mein Guter. Du machst mir den Eindruck, als dächtest du an nichts anderes als an uns. Es ist übrigens eine wahre Freude, dir im Flur zu begegnen, wenn du dich aufgerafft hast, um auf die Toilette zu gehen oder dir etwas Essbares aus der Küche zu holen. Wie du einen dann ansiehst! So wie ein Lebenslänglicher seinen Gefängniswärter an sieht ungefähr oder eine Geisel ihren Entführer. Aber, mein Lieber, die Wahrheit ist: Du bist weder gefangen noch entführt. Niemand zwingt dich, Tag für Tag in deinem Zimmer zu verträumen. Niemand will Tag für Tag von einem Menschen umgeben sein, der so schlechte Laune hat wie du. Heb deinen Hintern in die Höhe und mach was aus deinem Leben. Du musst ja nicht gleich anfangen, für Archon Inc. zu arbeiten. Für den Anfang wäre es schon nicht schlecht, wenn du mal was für deine Familie tun würdest. Ich spreche nicht von irgendetwas Großartigem oder gar Unmöglichem. Ich spreche von einer einfachen, kleinen Geste, die zeigt, dass dir etwas an deinen Mitmenschen liegt. Wie wäre es zum Beispiel, wenn du zu Schmidts rüber gehen würdest, um Salz zu holen?«

Ich muss sie angesehen haben, als hätte sie den Verstand verloren. Sie runzelte die Stirn und seufzte:

»Salz, ja, mein Lieber. Wir haben keines mehr, und ich brauche Salz, um das Abendessen vorbereiten zu können.«

»Wenn jemand Salz braucht, kann er es doch einkaufen. Der Betreffende kann in ein Lebensmittelgeschäft gehen und ein Pfund Salz kaufen.«

»Es kann aber auch sein, dass der Betreffende gerade beim Einkaufen war und keine Lust hat, noch mal zu fahren. Außerdem könnte es ja mal ganz lustig sein, zum Nachbarn hinüberzuschauen und zu fragen, wie’s ihm geht.«

Ich suchte nach Anzeichen von Ironie in ihrem Gesicht, aber ich wurde nicht fündig. Sie meinte es vollkommen ernst. Sollte ich ihr die Bitte abschlagen? Ich stellte mir vor, wie sie Paps und Tina erzählte, ich hätte mich geweigert, ein Pfund Salz von den Nachbarn zu holen. Die ganze Lächerlichkeit dieser Bitte würde durch ihre Verweigerung auf mich zurückfallen. Ich legte mein Besteck langsam zusammen, schluckte den letzten Bissen Spaghetti hinunter und spülte mit einem Schluck Mineralwasser nach, bevor ich Mama ansah.

»Okay.«

Ich sagte es so, als würde ich zustimmen, bei einem Banküberfall mitzumachen.

»Gut«, sagte sie, »dann mal los!«

 

Also räumte ich, wie ich es gelernt hatte, mein Geschirr vom Tisch und in die Spülmaschine, wobei ich darauf achtete, die Spülmaschinentür nicht zu schwungvoll zu öffnen, weil das die Scharniere lockert und ich mir, nachdem ich dazu aufgefordert worden war, inzwischen schon einmal überlegt hatte, was es kostet, so eine Spülmaschinentür zu reparieren.

Natürlich schickte mich Mama nicht ohne Hintergedanken zu unseren Nachbarn, um ein Pfund Salz zu holen. Was für eine absurde Bitte! Ich kann nicht für alle Teile Weltings sprechen, es mag sein, dass es im alten Dorf noch Brauch ist, sich vom Nachbarn Lebensmittel zu borgen, der sie einem an der Tür schwelle mit einem Segen in die zur Schale geformten Hände legt, aber dort, wo wir leben, im sogenannten Villenviertel am Seeufer, sind wir im einundzwanzigsten Jahrhundert angekommen, und da ist das nicht üblich. Andererseits war es nun auch keine so große Sache. Es war nur einfach etwas ungewöhnlich. Was ich ein wenig pikant fand, war die Tatsache, dass es zwischen meinen Eltern und den Schmidts, also den Nachbarn, die ich um das Pfund Salz bitten sollte (warum eigentlich ein ganzes Pfund? Würde es nicht auch ein Säckchen tun? Aber ich wagte nicht zu fragen, es hätte ausgesehen wie ein Versuch, mich zu drücken), ein kleines Neidproblem gab. Das Haus der Schmidts ist etwas größer als unser Haus, es hat statt zwölf Zimmern vierzehn. Die Schmidts sind mehr als wir – zu fünft statt zu viert – und haben mehr Autos, nämlich sechs statt nur vier wie wir. Das Grundstück der Schmidts ist ungefähr doppelt so groß wie unseres und reicht direkt bis an den See, während wir keinen direkten Zugang zum Wasser haben. Wir dürfen aber, wenn wir baden gehen wollen, durch Schmidts Grundstück laufen, wann immer es uns gefällt – gute nachbarliche Abmachung. Auch die Schmidts selbst sind größer als wir, schlank und hager gewachsen, was ihnen ein vornehmeres Aussehen verleiht und uns, die wir ein wenig kleiner sind, zwingt, zu ihnen aufzuschauen. Vielleicht liegt es daran, dass unsere Familie erst durch Paps reich wurde, die der Schmidts schon lange vorher. Was die Kinder betrifft, sind meine Eltern, wie gesagt, quantitativ im Nachteil, aber qualitativ betrachtet sind die Schmidt-Kinder auch ganz schöne Nieten. Jedenfalls ist meines Wissens keines darunter, das je eine Ausbildung abgeschlossen hätte, aber es wird nur wenige Menschen auf der Welt geben, die so viele angefangen haben wie sie. Ich weiß, ich habe in dieser Hinsicht keinen Grund zur Überheblichkeit, aber immerhin, Tina ist wirklich erfolgreich, hat ihr Abitur mit einer Eins vor dem Komma abgelegt und selbstverständlich niemals eine Ehrenrunde gedreht. In ihrem Studium steht sie überall auf eins, und als Hand-Model ist sie, ich habe es erwähnt, Spitze.