Der Autor

Tomás Bento ist Germanist, Pädagoge und promovierter Diplom-Psychologe, lebt und arbeitet in Kiel. Er ist gern auf Reisen – immer auf der Suche nach Geschichten und Einblicken in fremde Lebenswelten. Madeiras Flora und Fauna haben ihn dabei besonders beeindruckt.

Das Buch

Zwischen den schroffen Felsen Madeiras lauert ein tödliches Geheimnis

Endlich Urlaub! Krimi-Autorin Laura Flemming und ihre Freundin Britta können es kaum erwarten, den Boden der wunderschönen Blumeninsel Madeira zu betreten. Doch dann begegnet ihnen an diesem idyllischen Ort der Tod: Ein Wanderer wurde vergiftet, ausgerechnet mit madeirischem Honigkuchen.
Die Ermittlungen übernimmt Comissário Mauricio Torres – ein attraktiver Mann, wie Laura feststellen muss. Als Torres Lauras Freundin verdächtigt, kommt es zum Streit. Erst spät begreift er, dass Laura sich mit mörderischen Konstellationen auskennt und ihm bei der Aufklärung des Falls helfen kann ...

Tomás Bento

Tod auf Madeira

Comissário Torres löst seinen ersten Fall

Kriminalroman

Ullstein

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ISBN 978-3-8437-2518-7
Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch
1. Auflage Juni 2021
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2021
Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, München
Titelabbildung: mauritius images / © Günter Gräfenhain
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1

Es ist nicht das, wonach es aussieht.

Das war einer der dümmsten Sätze überhaupt. Niemals hätte sie ihn in einem ihrer Romane verwendet. Genauso wenig wie »Es ist nicht so, wie du denkst« oder »Es war doch nur Sex«.

Ihre Co-Autorin, mit der sie fünf Jahre lang eine Bürogemeinschaft gebildet hatte, mochte in ihren Romanen solche Phrasen benutzen. Ihre Freundin, hätte sie bis vor zwei Wochen gesagt, ehe sie sich über ein neues Konzept vollkommen zerstritten hatten. Bevor ihre Co-Autorin sie aus ihrer gemeinsamen Büroetage geworfen hatte. Ebenso wie aus dem gemeinsamen Projekt. Eine TV-Serie, in der die eifersüchtige Hauptfigur jede Woche ihren jeweiligen Liebhaber auf eine andere absurde Weise ermordete, ohne dass ihr die Polizei jemals auf die Spur kam – das funktionierte doch ohnehin nicht. Wenngleich der Sender ein Honorar angeboten hatte, von dem sie als Romanautorin zurzeit nur träumen konnte.

Unüberbrückbare Differenzen, hatten sie der Produktionsfirma mitgeteilt. Noch so eine Plattitüde. Es hatte sie innerlich fast zerrissen, doch sie konnte sich nicht unendlich weit verbiegen.

Deswegen stand Laura Flemming jetzt ohne da. Ohne Projekt. Ohne Büro. Und ohne Mann. Dass sie keine klischeehaften Sätze schrieb, bedeutete ja nicht, dass sie auch keine zu hören bekam.

Matthias hatte sie gleich alle drei bemüht. Es war nicht das, wonach es aussah. Nicht das, was sie dachte. Es war nur Sex. Womit die beiden vorherigen Aussagen widerlegt waren. Es war nämlich genau das, wonach es aussah. Und was sie dachte. Matthias lag mit einer anderen Frau im gemeinsamen Ehebett. Einer nackten Frau. Im Alter seiner Tochter. Eine Studentin, die kurzzeitig bei ihm Gasthörerin gewesen war, wie Laura später erfahren hatte.

Der Wagen mit den Getränken rammte ihren Ellenbogen. Laura stöhnte auf, weil ihr der Schmerz bis in den Nacken fuhr. Die Stewardess entschuldigte sich, blickte sie aber nicht einmal an. Laura schaute ihr verstimmt hinterher, während sie den Getränkewagen weiter durch den engen Gang schob.

Grenzenlose Freiheit über den Wolken? Von wegen.

Links drängte sich ein ums andere Mal jemand an ihr vorbei, rechts neben ihr saß Georg, der sich so breitmachte, dass ihr nichts anderes übrig blieb, als ihren Arm eng an den Körper zu pressen, wenn sie ihn nicht ständig versehentlich berühren wollte.

Immerhin gab es keine kostenlose Bordverpflegung mehr. Laura hätte beim besten Willen nicht gewusst, wie sie unter diesen Bedingungen hätte essen sollen.

Wenn sie wenigstens Britta neben sich hätte. Aber weil sie die beiden Alleinreisenden waren und die Ehepaare nicht auseinanderreißen wollten, hatten sie denen großzügig Fenster und Mitte überlassen und selbst die Gangplätze genommen. Wie sie nun nach gut vier Flugstunden wusste, völlig überflüssigerweise. Georg und Antonia hatten während des gesamten Flugs kaum ein Wort miteinander geredet.

Zum Glück war die Sache bald überstanden.

Der Bordlautsprecher knisterte, der Pilot meldete sich aus dem Cockpit.

»Meine Damen und Herren, hier spricht der Kapitän. Wir beginnen in Kürze mit dem Landeanflug auf Santa Cruz«, verkündete er. »Wir haben klare Sicht und einen wolkenlosen Himmel. Die Temperaturen liegen bei dreiundzwanzig Grad im Schatten. Unsere Crew wünscht Ihnen einen wunderbaren Aufenthalt auf Madeira.«

Laura durchlief bei diesen Worten ein wohliger Schauer. Sie freute sich auf den Moment, in dem sie aus der geöffneten Tür des Flugzeugs treten würde. Auf die Sonne, die Wärme und das Gefühl von Freiheit.

Leider war bis dahin noch eine Hürde zu überwinden.

Laura schloss die Augen. Sie flog ohnehin nicht besonders gern, aber das Schlimmste war der Druck auf den Ohren, wenn das Flugzeug in den Sinkflug ging. Vor ein paar Jahren hatte sie sich spezielle Ohrenschützer angeschafft, die den Schmerz ein wenig linderten, doch es war und blieb unangenehm. Um sich abzulenken, ließ sie ein paar Szenen vor ihrem geistigen Auge vorbeitreiben.

Wie sie dieser langbeinigen Studentin die schwarze Netzstrumpfhose um den Hals legte und ganz langsam zuzog, bis ihr die staunenden Augen aus den Höhlen quollen und ihre gelenkigen Gliedmaßen unkontrolliert zu zucken begannen.

Wie sie dasselbe bei ihrem Mann tat.

Oder sollte sie lieber eine durchsichtige Plastiktüte nehmen, die sich bei jedem panischen Atemzug an Mund und Nase saugte? Damit würde sie nicht nur seine Qualen verlängern, sondern ihn auch noch demütigen.

Ihre Mundwinkel hoben sich unwillkürlich. Das wären schon drei Folgen der Serie, aus der nun wegen des Streits mit ihrer Co-Autorin nichts wurde.

Lauras Fantasie waren in dieser Hinsicht keine Grenzen gesetzt. Mit solchen Bildern verdiente sie ihr tägliches Brot. Davon abgesehen war es eine hervorragende Möglichkeit, Dampf abzulassen.

Seit sie die beiden erwischt hatte, schwankte sie zwischen Wut und Verzweiflung, zwischen Trotz und Depression. Sie wollte Matthias umbringen, und zugleich wollte sie ihn nicht verlieren. Sie wollte ein neues, freies Leben ohne ihn beginnen, aber sie vermisste schon jetzt seine Zärtlichkeit und Wärme, seinen klugen ruhigen Blick und seinen scharfen Verstand. All das, was er jetzt an diese blauäugige Studentin verschenkte.

Die Wut kochte wieder hoch. Laura hätte am liebsten mit den geballten Fäusten gegen die Rückenlehne ihres Vordermannes getrommelt. Aber vor all den Menschen hier im Flieger wollte sie sich diese Blöße nicht geben. Lieber würde sie noch ein paar qualvolle Todesarten für Matthias und dieses Biest ersinnen.

Der harte Ruck, als das Fahrwerk des Flugzeugs auf der Landebahn aufsetzte, riss sie aus ihren Gedanken.

»Bleiben Sie bitte zu Ihrer eigenen Sicherheit angeschnallt sitzen, bis wir unsere endgültige Parkposition erreicht haben«, mahnte die Chefstewardess.

Laura riss sich zusammen, bis die Treppe an das Flugzeug herangefahren wurde. Dann sprang sie auf, öffnete das Gepäckfach über den Sitzen, nahm ihren Rucksack heraus und schulterte ihn. Ohne auf den Rest der Gruppe zu warten, ließ sie sich mit den anderen Fluggästen zum Ausstieg schieben.


Gleißendes Licht. Ein fast durchsichtiger blassblauer Himmel. Milde Luft. Ein leichter Wind, der den Duft von Blumen und Salzwasser über das Rollfeld zu treiben schien, jenseits der grauen Piste das tiefe Blau des Atlantiks. Laura sah sich nach einem Bus um und stellte fest, dass man einfach zu Fuß zum Ankunftsgebäude laufen konnte, so klein war der Flugplatz. Dabei klang Cristiano Ronaldo Madeira International Airport doch nach etwas Übergroßem. Aber so war es ja oft. Kleine Dinge, große Namen.

»Ist das nicht wunderschön?« Britta, die zu ihr aufgeschlossen hatte, legte ihr den Arm um die Schultern. »Du wirst sehen, hier hast du dein Burn-out in ein paar Tagen vergessen.«

Laura schloss kurz die Augen und atmete tief ein. Für sie war es der erste Besuch auf der Insel. Britta dagegen war schon oft auf Madeira gewesen. Sie kam jedes Jahr für eine Woche mit drei befreundeten Ehepaaren hierher. Laura war bisher nie dabei gewesen, weil Matthias Gruppenreisen ablehnte. Nachdem sie ihn in flagranti mit seiner Studentin erwischt hatte und Brittas eigener Mann kurzfristig verhindert war, hatte Britta sie zum Mitkommen überredet. Auf dem Flughafen in Hamburg hätte sie beinahe einen Rückzieher gemacht, aber als sie jetzt durch diese wohltuende Wärme schritt und die Sonne auf ihrer Haut spürte, dachte sie, dass es doch eine gute Entscheidung gewesen war. Diese Insel würde ihr Kraft geben und sie heilen.


Eine halbe Stunde später standen sie vor dem Flughafengebäude in der Sonne und warteten auf Yannick, der sich um den Mietwagen kümmerte. Der Fitnesstrainer vom Hamburger Reisebüro RelaxTours begleitete die Gruppe jedes Jahr. Dieser Service rechtfertigte sowohl die Bezeichnung Recreation-Wanderung als auch den stolzen Preis für die einwöchige Reise.

Georg und Antonia hatten sich irgendwo im Flughafen einen dunklen, mit Nüssen besetzten Kuchen besorgt und verzehrten ihn genüsslich.

Laura wunderte sich darüber, dass Britta mit diesen Menschen über all die Jahre hinweg befreundet geblieben war. Keines der Ehepaare schien so recht zu ihr zu passen. Mit den drei Frauen war Britta gemeinsam zur Schule gegangen. Es war eine eingeschworene Clique gewesen, und später hatten sie den Kontakt aufrechterhalten. Dabei hatten sich die Lebensläufe keinesfalls parallel entwickelt. Alle vier Frauen hatten ihren Lebensmittelpunkt in Hamburg, aber damit endeten die Gemeinsamkeiten auch schon.

Laura selbst hatte Britta im Studium kennengelernt. Sie erinnerte sich dunkel an einige Begegnungen mit Brittas Schulfreundinnen, bei Geburtstagsfeiern und bei Brittas Hochzeit. Ansonsten waren es getrennte Kreise geblieben.

Stefan, der Ehegatte von Inga, ein schlaksiger Mann mit Hemd und Hose aus einem bräunlichen naturbelassenen Leinenstoff und langen blonden Rastalocken, wies mit großer Geste in Richtung Rollfeld.

»Du kannst froh sein, dass du erst in diesem Jahrtausend nach Madeira geflogen bist«, teilte er ihr mit. »Vorher war dies einer der anspruchsvollsten Flughäfen der Welt, und lediglich die erfahrensten Piloten durften ihn ansteuern. Weil die Landebahn nur gut anderthalb Kilometer lang war. Zur Jahrtausendwende hat man sie verlängert, mit einer Rampe, die einen Kilometer ins Meer hineinragt. Die gesamte Konstruktion steht auf hundertachtzig Betonpfeilern von jeweils hundertzwanzig Metern Länge, die Hälfte oberhalb, die andere unterhalb des Meeresspiegels. Das ganze Projekt hat über fünfhundert Millionen Euro gekostet. Aber dafür ist die Landung sicherer.«

»Aha.« Laura wusste nicht recht, wie sie Stefans Ausführungen kommentieren sollte. Die Fakten an sich waren interessant, aber seine belehrende Art gefiel ihr nicht. Einer der Männer in der Gruppe war tatsächlich Lehrer, daran erinnerte sie sich, aber war es Stefan? Das Auftreten passte, die Frisur und die Kleidung taten es nicht.

Sie wich dem Blickkontakt aus und schaute sich stattdessen um. Links von ihr standen gelbe Taxis in langer Reihe, rechts von ihr führte eine verglaste Fußgängerbrücke zu den entfernter gelegenen Parkplätzen. Weil das Gelände abschüssig war, war sie am anderen Ende mit zwei Betontürmen verbunden, in denen vermutlich Fahrstühle in die Tiefe führten.

Ein schwarzer Kleinbus näherte sich von der Zufahrt und parkte direkt vor den wartenden Taxis. Yannick sprang mit einem strahlenden Lächeln heraus. Er sah genauso aus, wie man sich einen Fitnesstrainer vorstellte, braun gebrannt, mit dichtem, kurz geschnittenem braunen Haar, breiten Schultern und definierten Muskeln, die sich unter dem engen Shirt abzeichneten, das er zur ebenso knappen Jeans trug. Wäre er eine ihrer Romanfiguren, Laura hätte ihn weniger stereotyp gezeichnet. Aber das wirkliche Leben war eben voller Klischees.

»So. Da wären wir«, verkündete er.

Laura reichte ihm ihr Gepäck, damit er es im Kofferraum verstaute, und machte Platz, um die anderen einsteigen zu lassen.

Britta drängte sie auf den Beifahrersitz, während sie sich selbst in die letzte Busreihe zu Georg und Antonia zwängte. Die beiden Zweierreihen besetzten die beiden anderen Ehepaare.

»Wir kennen die Insel seit vielen Jahren«, begründete Britta ihre Entscheidung. »Du bist das erste Mal hier, da sollst du möglichst viel sehen. Dafür ist der Platz hinter der großen Panoramascheibe genau richtig.«

Laura nahm das Geschenk gerne an. Sie war hierhergekommen, um neue Perspektiven zu finden, da konnte eine gute Sicht nicht schaden.

2

»Merda!«

Der Ausruf, der aus dem Inneren des Lokals kam, schreckte ihn auf. Mauricio Torres sah auf die Uhr. Seit einer Stunde hockte er vor der Bar seines Bruders und wartete darauf, dass Jacinto fertig wurde.

Natürlich gab es dafür schlechtere Orte. Die Bar befand sich in der Altstadt von Ribeira Brava, und von der Terrasse aus hatte man einen großartigen Blick über den Atlantik. Unterhalb der Mauer, an der er saß, brandeten die Wellen gegen die Steilküste. Außerdem hatte er sein liebstes Getränk vor sich stehen, einen Bica. Starken schwarzen Espresso, den er wie die meisten Portugiesen mit reichlich Zucker trank.

Mauricio hatte seinen Gedanken nachgehangen, die um die ewig gleiche Frage kreisten: Wie sollte es weitergehen? Eine Antwort hatte er wie immer nicht gefunden.

Jacinto fluchte erneut. Mauricio gab sich einen Ruck und stand auf. Er musste wohl nachsehen, was das Problem war.

Gleich darauf stand er zentimetertief im Wasser. Es sprudelte unten aus dem Spülkasten der Toilette heraus. Jacinto stand daneben, in jeder Hand eine Hälfte des Rohrs, das den Kasten mit der Porzellanschüssel verbunden hatte. Der Deckel des Spülkastens trieb mit der Unterseite nach oben auf dem Wasser.

Mauricio nahm Jacinto das zerbrochene Rohr aus den Händen.

»Stell den Zulauf ab«, sagte er.

»Das habe ich versucht, aber die Schraube klemmt.«

»Schieb einen Schraubenzieher unter den Bügel, damit er stoppt.«

»Wollte ich. Aber da ist irgendwas abgebrochen.« Jacinto schnitt eine komische Grimasse.

»Dann stellt den Haupthahn ab«, empfahl Mauricio.

»Klar.« Jacinto lachte auf. Er verschwand, und eine halbe Minute später kam der Wasserstrom zum Erliegen. Jacinto kehrte in den Waschraum zurück.

»Hätte ich auch selbst draufkommen können.«

Mauricio betrachtete seinen jüngeren Bruder. Das schmale, bartlose Gesicht, die dunklen Haare, die ihm in die Stirn hingen. Das T-Shirt, das wohl irgendwann einmal weiß gewesen war, und die ausgetretenen Turnschuhe, mit denen er durch das Wasser watete. Jacinto nahm sich selbst nicht so wichtig. Genau deshalb flogen die Frauen auf ihn. Die warmen braunen Augen und der jungenhafte Charme trugen sicher ebenfalls ihren Teil dazu bei.

»Ich wollte den Spülkasten reparieren«, erläuterte Jacinto. »Er leckt. Aber der verdammte Deckel saß so fest wie angeschweißt. Ich dachte, ich versuche es mit Gewalt …« Er hob die Hände.

»Jetzt ist er ja ab«, vermerkte Mauricio lakonisch. Jacinto lachte.

Mauricio besah sich das dünne Plastik des kaputten Rohrs. Es schien eher zu einer Campingspüle zu passen als zu einem Wasserkasten.

»Was ist das überhaupt für eine Konstruktion?«

»Das hat ein Freund von mir gemacht«, erwiderte Jacinto.

»Okay. Hast du Klebeband? Und Silikon?«

»Ich schau mal nach.« Schon war er wieder unterwegs.

Mauricio baute den Spülkasten auseinander. Das Problem war das Dichtungsgummi der Heberglocke. Es war alt und zerbröselte zwischen Mauricios Fingern.

»Du brauchst einen neuen Dichtungsring«, erklärte er Jacinto, der mit einer Rolle Panzerband und einer Silikonspritze zurückkam.

»Verdammt.« Sein Bruder warf einen schnellen Blick auf die Taucheruhr an seinem Handgelenk. »Ich habe keine Zeit, in den Baumarkt zu fahren. Ich muss die Bar öffnen. Die ersten Gäste sind vermutlich schon auf dem Weg.«

Mauricio durchsuchte seine Hosentaschen und fand eine kleine Plastiktüte mit Clipverschluss. Er steckte den porösen Ring hinein und hielt den Beutel hoch.

»Ich nehme ihn mit. Irgendwo in der Werkstatt im Hotel haben wir sicher noch welche. Ich suche einen passenden heraus und bringe ihn dir heute Abend vorbei.«

»Danke.«

»Schon gut.« Mauricio nahm Jacinto die Klebebandrolle ab. Er fügte die beiden Rohrstücke wieder zusammen und umwickelte die Bruchstelle straff mit dem Panzerband. Anschließend verband er das Plastikrohr mit der unteren Öffnung des Spülkastens und dem Zulauf der Porzellanschüssel. Damit es an Ort und Stelle blieb, dichtete er beide Seiten mit Silikon ab. Anschließend besah er sich den Zulaufmechanismus. Er war nicht gebrochen, sondern nur aus der Halterung gesprungen. Mauricio schob die Teile wieder zurück an Ort und Stelle.

»Das sollte fürs Erste halten.« Er hielt seinem Bruder Klebeband und Silikonspritze hin.

Jacinto umarmte ihn und drosch ihm dankbar auf die Schulter, ehe er ihm das Werkzeug abnahm. Mauricio schaute auf das zentimeterhohe Wasser zu seinen Füßen.

»Schaffst du das allein? Ich muss los.«

»Mach dir keine Gedanken. Ich finde schon jemanden, der mir hilft.« Er musterte Mauricio. Erst jetzt schien er die schwarze Hose, das weiße Hemd und den schwarzen Schlips zu bemerken, die sein Bruder trug. »Wie ist das mit dir? Muss ich mir Sorgen machen?«

»Nein. Ich will nur kurz bei ihr vorbeischauen.«

Jacinto studierte sein Gesicht.

»Mãe sagt, du solltest dich nicht so quälen.«

Mauricio schloss für einen Moment die Augen. Seine Mutter war eine wunderbare, warmherzige Frau. Er wollte ihr keinen Kummer machen. Aber er konnte nicht anders.

»Irgendwann wird die Zeit kommen. Du wirst schon sehen.« Er schaute auf die Uhr. »In zwei, maximal drei Stunden bin ich wieder hier, dann trinken wir einen Poncha zusammen.«

»Einverstanden.« Jacinto grinste.

Neben vielen anderen Dingen teilten die Brüder die Liebe zum madeirischen Nationalgetränk, bestehend aus Zuckerrohrschnaps – Aguardente de cana-de-açúcar –, Honig und Zitronen. Es lag in der Familie, Mauricios anderer Bruder war, wie zuvor ihr Vater, Geschäftsführer einer Brennerei in Prazeres. Die Brüder waren schon früh in Kontakt mit der Spezialität gekommen und schätzten den süffigen Geschmack, bei dem man den Schnaps kaum spürte. Erst später, wenn er einem zu Kopf gestiegen war. Aber dann war es längst zu spät, und man hatte schon mindestens zwei oder drei Gläser zu viel getrunken.

Jacinto schlug Mauricio auf die Schulter. »Wenn du in drei Stunden nicht zurück bist, rufe ich die Polizei«, kündigte er an.

Mauricio lachte pflichtschuldig. Der Witz war nicht neu, aber komisch fand er ihn nicht.

3

Vom Flughafen aus gelangte man direkt auf die Autobahn. Die vierspurige Via Rápida führte an der Küste entlang, erst nach Süden, dann nach Westen.

Laura hatte vorher keine Zeit gehabt, sich umfassend zu informieren, und nur kurz in einem Touristenführer geblättert, weil die Entscheidung für die Reise spontan gefallen und noch so viel anderes zu erledigen gewesen war. Lediglich das Kapitel über die Hauptstadt Funchal hatte sie geschafft. Da sie nicht auf sich allein gestellt, sondern in der Gruppe unterwegs sein würde, war das nicht tragisch. Britta hatte sogar einen Vorteil darin gesehen: Nach den bis ins Kleinste durchgeplanten letzten Jahren, in denen Laura die Kunst der Selbstdisziplinierung bis zur Perfektion gebracht hatte, sollte sie sich jetzt einfach treiben lassen. Dieses Talent war ihr verloren gegangen, aber sie wusste, dass sie es wieder lernen musste, wollte sie nicht in Zukunft von einem Burn-out in den nächsten stürzen.

Der Effekt war, dass die Insel sie überraschte. Vor ihrer Hochzeit war Laura einige Male mit ihrem damaligen Freund auf den Kanaren gewesen, die nur etwa vierhundert Kilometer weiter südlich lagen und ebenfalls vulkanischen Ursprungs waren. Sie erinnerte sich noch gut an karge Landschaften, trockenen Wind und staubige Pisten. Von Madeira hatte sie Ähnliches erwartet, auch wenn ihr der Name Blumeninsel geläufig war. Aber sie hatte nicht damit gerechnet, auf eine Bergwelt zu blicken, die vollkommen grün war.

Gut, irgendeinen Grund musste der Wandertourismus nach Madeira ja haben, dachte sie selbstironisch.

Es war erstaunlich, wie es dem menschlichen Gehirn gelang, Dinge auszublenden, die eigentlich offensichtlich waren. Weil man sie nicht sehen wollte. Ihr eigenes Leben war das beste Beispiel dafür. Sie hatte geglaubt, alles im Griff zu haben, und dann waren die tragenden Säulen eine nach der anderen weggebrochen. Ihre Co-Autorin. Matthias. Und Lilly.

Die Eröffnung ihrer Tochter, dass sie plante, für ein Jahr nach Schottland zu gehen, hatte sie wie ein Blitz aus heiterem Himmel getroffen. Laura hatte keine Ahnung gehabt, dass ihrer Tochter das Studium überhaupt keinen Spaß mehr machte. Dass sie die Disziplin, mit der ihre Mutter den Alltag meisterte, ablehnte. Lilly wollte etwas von der Welt sehen und das Leben genießen. Ein paar Tage vor Lauras Abreise nach Madeira war sie zu zwölf Monaten Work and Travel nach Edinburgh aufgebrochen. Laura war über Lillys Entschluss entsetzt gewesen, doch jetzt fragte sie sich, ob sie sich nicht lieber ein Beispiel an ihrer Tochter nehmen sollte. Ihre Disziplin hatte schließlich auch zu nichts anderem geführt als dazu, dass sie ausgebrannt vor einem Scherbenhaufen stand.

Auf dem ersten Stück der Strecke erspähte Laura nur kleinere Ansiedelungen. Dann wurde die Bebauung dichter, und nach einer knappen Viertelstunde tauchte auf der linken Seite die Hauptstadt Funchal auf, eine Flut roter Ziegeldächer, die sich bis zum Meer erstreckte.

Laura freute sich auf den Besuch der Stadt, der für den dritten Tag der Reise geplant war. Auf den Bummel durch die schmalen Gassen der Altstadt und die Fahrt mit dem Teleférico, der Seilbahn, mit der man den Steilhang hinaufkam. Von dort gelangte man mit einer zweiten Seilbahn zum Botanischen Garten. Anschließend wollten sie sich mit den berühmten Korbschlitten zurück in die Stadt fahren lassen. Laura hatte ein etwas mulmiges Gefühl bei der Vorstellung, in einem geflochtenen Gefährt eine steile Straße hinunterzusausen, auch wenn sie es nicht selbst steuern musste. Aber es war wohl eine Erfahrung, um die sie nicht herumkam, wenn sie Madeira mit allen Sinnen erfassen wollte.

Auf der gut ausgebauten Autobahn mit dem frisch glänzenden schwarzen Asphalt ging es quer durch die Stadt und anschließend weiter nach Westen. Die Landschaft wurde bergiger, und die Straße führte durch mehrere lange, dunkle Tunnel.

Laura las die Namen der Orte, an denen sie vorbeikamen, Câmara de Lobos, Campanário, Ribeira Brava. Sie vermittelten Urlaubsstimmung und weckten die Sehnsucht nach einer längst vergangenen Zeit. Als sie mit Matthias das erste Mal verreist war, mit seinem klapprigen Golf bis hinunter an die Algarve.

Eine Kommilitonin hatte sie damals zu einer studentischen Theateraufführung mitgenommen. Matthias hatte eine der Hauptrollen gespielt. Nach der Vorstellung hatten sie mit den Schauspielern zusammengesessen. Matthias hatte nur Augen für Laura gehabt, sehr zum Verdruss ihrer Freundin. Irgendwann waren sie zusammengekommen.

Es war eine wunderbare Reise gewesen. Matthias, der ihr damals so erwachsen vorkam. Tatsächlich war er nur zwei Jahre älter als sie selbst, aber mit Anfang zwanzig waren das noch Welten. Weil er mit einem portugiesischen Au-pair-Mädchen aufgewachsen war, beherrschte er die Sprache. Er bewegte sich mit einer faszinierenden Leichtigkeit. Laura sah ihn noch vor sich, barfuß am Strand, mit den abgeschnittenen Jeans, den schulterlangen blonden Haaren, die im Wind wehten, und dem fast griechisch anmutenden Profil. Ganze Nächte hatten sie auf der Terrasse ihres winzigen Ferienhauses gesessen, in den weiten Sternenhimmel geschaut und über alles und nichts diskutiert.

In den Jahren danach hatten sie gemeinsam ihre Träume verwirklicht. Matthias’ Professur an der Universität Hamburg. Die hübsche Wohnung im Hamburger Stadtteil Eimsbüttel. Ihre wunderbare Tochter Lilly. Lauras erster veröffentlichter Kriminalroman, der ein überraschender Erfolg geworden war.

Es war alles nach Plan gelaufen. Laura hatte die Fäden in der Hand gehalten und geordnet, während Matthias, der Geistesmensch, der Philosoph, in seinem Elfenbeinturm wandelte. Mit Disziplin und harter Arbeit hatte sie erreicht, was sie wollte.

Dass dabei im Laufe der Jahre ihre Lebendigkeit verschwunden war, hatte sie erst begriffen, als alles zerbrochen war. Im Grunde hatte sie nur noch wie ein Hamster im Rad agiert. Sie hatte sich selbst verloren und es nicht einmal gemerkt.

Ob es Matthias ebenso ergangen war? Hatte er sich in ihrem gemeinsamen Leben eingesperrt gefühlt? War er ihr deshalb untreu geworden?

Laura schnaubte leise. Das Letzte, was sie wollte, war, Verständnis für Matthias aufzubringen. Er war ein Schuft, und der einzige Grund für sein Fremdgehen war höchstwahrscheinlich seine Midlife-Crisis. Er fühlte sich nicht mehr vital und begehrenswert. Die zwanzig Jahre jüngere Frau, die er sich ins Bett geholt hatte, sollte dieses Leiden kurieren.

Die Wut schlich sich wieder an, doch Laura wollte sich jetzt nicht damit beschäftigen. Nicht die Gedanken um die Vergangenheit kreisen lassen, sondern in die Zukunft blicken. Auf das Leben, das vor ihr lag.

Sie blickte an Yannick vorbei aus dem Seitenfenster und registrierte, dass Philip und Mariella, die auf den Plätzen hinter dem Fitnesstrainer saßen, leise tuschelten. Sie drehte den Kopf etwas weiter herum, um heimlich ihre Mimik zu studieren. Das war eine ihrer Leidenschaften: andere Menschen zu beobachten und sich auszumalen, worüber sie gerade sprachen, ob sie sich Zärtlichkeiten zuflüsterten oder stritten, an ihren Gesichtern abzulesen, ob ihre Worte freundlich oder verletzend, ehrlich oder zynisch waren.

Vielleicht hätte sie das in den letzten Jahren auch bei den Menschen in ihrem persönlichen Umfeld praktizieren sollen. Aber im Hinblick auf das eigene Leben war man ja allzu oft blind.

Rein äußerlich schienen sie gut zusammenzupassen, Philip mit seinen halblangen braunen Haaren, dem sauber gestutzten Vollbart und dem hellblauen Baumwollhemd zur beigefarbenen Chinohose, und Mariella, mit ihren langen braunen Locken, dem sandfarbenen Leinenkleid und den geflochtenen Sandaletten.

Laura versuchte, sich zu erinnern, was sie über die beiden wusste. Da sie die Paare fast ausschließlich aus Brittas Erzählungen kannte, warf sie die Personen gelegentlich durcheinander. Der Lehrer – war das nun Philip oder einer der beiden anderen Männer? Nein, Stefan, der selbstverliebte Typ mit den Rastalocken, benahm sich zwar oberlehrerhaft, betrieb tatsächlich aber einen Ökoladen irgendwo in Hamburg-Altona, fiel ihr ein. Wenn Laura sich recht erinnerte, liefen die Geschäfte nicht besonders gut. Den Lebensunterhalt der Familie bestritt seine Frau Inga, die als Grundschullehrerin arbeitete. Antonia hatte einen Job in dem Reisebüro, RelaxTours, das diese Reise organisiert hatte, und Georg war bei irgendeinem Amt beschäftigt. Demzufolge war Philip der Lehrer.

Laura lächelte zufrieden. Zumindest auf ihr Gedächtnis war Verlass, wenngleich sie im Moment nicht darauf kam, was Mariella beruflich machte. Aber das würde ihr auch noch wieder einfallen.

»Wunderschön, nicht wahr?«, sagte Yannick, der ihre Miene offensichtlich mit dem Blick in Verbindung brachte, der sich soeben vor ihnen auftat, als sie aus einem Tunnel hinausfuhren.

Ein kleiner Ort, dahinter die unendliche Weite des Atlantiks.

»Ja«, erwiderte Laura aufrichtig. »Es ist noch viel hübscher, als ich es mir vorgestellt habe.«

»Das ist Ponta do Sol«, sagte Yannick. »Hier befindet sich einer der wenigen Strände der Insel. Deshalb kommen kaum Bade­urlauber hierher. Madeira hat zahlreiche Steilküsten, aber so gut wie keinen Sand. Dafür gibt es großartige Wälder und Bergpa­noramen und eine ganze Reihe einzigartiger Wanderwege.«

Er durchquerte einen Kreisel und steuerte den Bus in die nächste Unterführung. Der Blick auf den Badeort war nicht mehr als ein schneller Werbeclip gewesen.

Laura wandte sich wieder Philip und Mariella zu. Ihre Stimmen waren kaum lauter als das Brummen des Motors, aber Laura meinte trotzdem, eine gewisse Anspannung herauszuhören. Ob die beiden stritten? Und wenn ja, worüber?


Das Restaurant O Precipício befand sich an der Estrada Fajã da Ovelha, der alten Küstenstraße von Paul do Mar nach Ponta do Pargo. Die Strecke führte vom Meer bis auf das Hochplateau hinauf. Niedrige Tunnel und enge Serpentinen wechselten sich ab.

Das Restaurant lag auf dem höchsten Punkt auf einer der Klippen. Von der Terrasse aus bot sich ein atemberaubender Blick auf Paul do Mar, den Atlantik und die Steilküste.

Maria hatte diesen Ort geliebt. Oft waren sie gemeinsam hierhergekommen, um den Tag mit einem Poncha und ein paar Petiscos ausklingen zu lassen. Nur nicht an jenem Abend.

Mauricio Torres stellte seinen Wagen auf dem Parkplatz vor dem Lokal ab und lief den sandigen Grünstreifen am Fahrbahnrand entlang zurück bis zur letzten Kurve vor dem Lokal.

Hier ging es fast vierhundert Meter in die Tiefe. Am Fuß der Klippen befanden sich ein paar Felder, Wege, flache Gebäude und ein felsiger Strand, auf den die Wellen des Atlantiks brandeten. Oben an der Straße stand ein schlichtes helles Holzkreuz, mit Blumen geschmückt. Nur ein Name stand darauf, Maria Torres, und das Datum, an dem ihr Wagen über die Fahrbahn hinausgeschossen und in die Tiefe gestürzt war.

Mauricio kniete vor dem Kreuz nieder und nahm sein Smartphone aus der Tasche. Er spielte die Musik ab, die Maria so geliebt hatte. Mariza, die Fado-Sängerin. Nichts anderes brachte die portugiesische Seele so treffend zum Ausdruck wie die schwermütigen Klänge des Fado. Und nichts passte besser zu seiner Stimmung.

Fast zwei Jahre war es jetzt her, dass er seine Frau verloren hatte. Aber der Schmerz war noch genauso roh und frisch wie damals, als die beiden Beamten von der GNR, der Guarda Nacional Republicana, vor seiner Tür gestanden hatten.

Viel zu früh war ihr gemeinsames Leben zu Ende gewesen. Maria hatte sich mit einer Freundin aus Ponta do Pargo im O Precipício verabredet. Wie immer war sie zu spät dran gewesen, mit den Gedanken anderswo und viel zu schnell unterwegs. Sie war eine gute Fahrerin und liebte die kurvenreichen Strecken der Insel. Doch dieses Mal war irgendetwas schiefgegangen.

Mauricio war allein zurückgeblieben, mit dem Haus, das zu groß für ihn war, und der Villa Maria, dem kleinen Hotel, das Maria betrieben hatte. Er hatte es übernommen, weil er es nicht übers Herz gebracht hatte, es zu verkaufen. Seitdem rieb er sich auf. Jeden Tag die Fahrt von Calheta nach Funchal zu seinem Arbeitsplatz und wieder zurück. Die Verantwortung für das Personal und die Gäste. Und nebenbei die Verantwortung für seinen Job.

Seit einiger Zeit dachte er darüber nach, den Beruf aufzugeben und sich ganz um das Hotel zu kümmern. Noch hatte er sich nicht dazu durchgerungen, weil er seine Arbeit liebte. Aber seine Liebe zu Maria war größer. Die Alternative, das Hotel zu verkaufen, wäre ihm wie Verrat vorgekommen. Und, noch schlimmer, wie der endgültige Abschied von ihr.

Im Grunde seines Herzens wusste er, dass seine Brüder und seine Mutter recht hatten, wenn sie ihn dazu drängten. Aber Mauricio schaffte es nicht.

Er hob die Hand und strich über das glatte Holz des Kreuzes. Tränen liefen ihm über die Wangen und fielen auf das Gras am Straßenrand.

Es war wenig Verkehr auf dieser Strecke, nur ab und zu rauschte dicht neben ihm ein Auto vorbei. Mauricio registrierte es nicht. Erst als er sich wieder aufrappelte und der Fahrer eines dunklen Geländewagens hupte, schrak er zusammen.

Beinahe hätte er das Gleichgewicht verloren.