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Gary Flanell




Geboren 1973 in der westfälischen Provinz. Genauer gesagt in der Stadt, in der die Züge geteilt werden und der größte Elefant der Welt die Nacht beleuchtet. Lebt und arbeitet als Journalist, Kulturarbeiter, Musiker und Radiomoderator seit über zehn Jahren in Berlin. Hat dabei diverse Stadtteile bewohnt und erlebt.

Mr. Flanell vertreibt sich die Zeit bis zum Ende gern mit dem Sammeln von kaputten Musikinstrumenten, der Gründung klangvoller (fiktiver) Bands ohne Fans sowie der Herausgabe des RENFIELD-Magazins, des einzigen Fachorgans für Krims & Krams & Rock’n‘Roll.


renfield-fanzine.blogspot.de

Gary Flanell

STUNTMAN UNTER WASSER


Erzählungen
Aus dem Kopf.
Und aus dem Leben.

GARY FLANELL: „Stuntman unter Wasser“

1. Auflage, Juni 2014, Edition Subkultur Berlin

© 2014 Periplaneta – Verlag und Mediengruppe / Edition Subkultur

Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin

www.subkultur.de

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.


Lektorat: Marion A. Müller

Coverbild & Foto: Stefanie Hirsch, stefanie-hirsch@live.de

Satz & Layout: Thomas Manegold


print ISBN: 978-3-943412-16-1
epub ISBN: 978-3-943412-64-2
E-Book-Version: 1.2


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Hausbesuch

Eddie war der Vorletzte. Jetzt war ich also allein. Seine Mail an diesem Morgen war kurz und knapp.

„Moin, es stimmt. Bin wieder in Lohn und Brot, wurde ja auch mal Zeit. Wahnsinn, dass das noch mal geklappt hat. Aber was erzähl ich dir? Du kriegst das auch hin. Ich drück dir die Daumen. Halt die Ohren steif. Ich muss los, zur Arbeit. E.“

Ich klappte den Laptop zu und nahm einen Schluck Kaffee. Mein Blick fiel auf die Küchenuhr. Zehn vor zehn. Um Viertel nach zehn hatte ich einen Termin mit meiner Beraterin. Ich zog den Gürtel vom Bademantel enger und schlich ins Bad.

20 Minuten später knöpfte ich den letzten Knopf meiner Jeans zu, als es klingelte. Ich strich die Knitterfalten halbwegs aus dem Hemd. Als ich die Sprechanlage betätigte, flötete mir eine gutgelaunte Stimme entgegen, die ich bereits kannte. „Hallo Herr Berner, ich bin‘s, Frau Dietrich vom Jobcenter. Darf ich hochkommen?!“

Eine Frage, die ich noch nie verneint hatte. Es hätte auch keinen Zweck gehabt. „Natürlich“, brummte ich und versuchte dabei die Flötenstimmlage von Frau Dietrich zu erreichen. Misslang aber.

Drei Minuten später stand Frau Dietrich in meiner Wohnung. Ich erkannte sie nicht gleich, weil ihr Gesicht von einem riesigen Präsentkorb verdeckt war, genauer gesagt von einem üppigen Blumenbouquet und zwei Flaschen Champagner, die ihr aus dem Korb raus ins Gesicht ragten. Dazu gesellten sich diverse Leckereien, Supermarktware suchte man vergebens darunter.

Frau Dietrich trug eine sehr geschäftsmäßig aussehende Kombination aus einem dunkelblauen Minirock und einem dazu passenden Jackett. Die cremefarbene Bluse darunter war etwas weiter ausgeschnitten, als ich es von einer Mitarbeiterin des Jobcenters erwartet hätte. Wir gingen in die Küche, Frau Dietrich stellte den Korb auf den Tisch und lächelte mich an. Mit voller Kraft. Ich sah eine strahlend gebleichte, makellose obere Zahnreihe. „Herr Berner, wie geht es Ihnen? Ich freue mich, Sie zu sehen. Ist ja schon etwas länger her, nicht wahr?!“

Oh ja, das war es. Frau Dietrich war schon öfters auf Hausbesuch in meiner Wohnung gewesen. Seit sich die Situation so drastisch verändert hatte, waren die Mitarbeiter vom Jobcenter besonders aktiv und kümmerten sich fast schon rührend um ihr verbleibendes Klientel.

Ich bot ihr den leicht ausgefransten Korbstuhl an und stellte die zweite Kaffeetasse meines Hausstandes vor ihr auf den Tisch. Dann nahm ich gegenüber meiner Beraterin Platz und inspizierte demonstrativ den Inhalt des Geschenkkorbes. Sie ließen sich nicht lumpen, das musste ich zugeben. Zwei Dosen Lachsfilet aus dem obersten Preissortiment vom KDW. Ein paar winzige, aber umso teurere Gläser Belugakaviar. Toskanische Antipasti, nicht der Kram in Plastikbehältern, den man bei ALDI bekommt, sondern prachtvoll verzierte Gläser, in denen dickflüssiges, golden schimmerndes Olivenöl schwappte. Diverse erlesene Konserven. Prinzessböhnchen, spanische Tapas in dicker, rotglühender Paprika-Sauce. Feinster andalusischer Schinken, knochentrocken und würzig riechend. Ein großes Stück edler Ziegenkäse aus den französischen Alpen. Eine Flasche japanischer Whiskey, den man selbst beim Fachhändler nur schwer bekam. Eine Flasche Aftershave, die ich schon mal in der Fernsehwerbung gesehen hatte.

Frau Dietrich nahm die Tasse mit dem Kaffee behutsam in die Hand. „Ob sie einen Schwanz genauso anfassen würde?“, fragte ich mich und es schüttelte mich leicht. Sie spreizte den kleinen Finger ab und beugte sich verschwörerisch zu mir hinüber. Ich sah, wie die kleine Goldkette mit dem kitschigen Anhänger, der wie ein dicker Engel aussah, mit Pfeil und Bogen genau zwischen ihre Brüste zielte. Wer schenkte heutzutage noch so einen Mist? Hatte Frau Dietrich einen etwas seltsam veranlagten Ehemann zuhause sitzen? Ihre vom Kaffee getränkte Stimme wurde sanft geröstet zu mir herübergetragen. „Sie haben sicher die neuesten Zahlen gehört, oder? Ist das nicht großartig?“, fragte sie.

„Nun ja, man muss ja kein Mathegenie zu sein, um zu sehen, wenn von zweien einer weg ist, dass dann noch genau ...“, schnaubte ich.

„Genau, Herr Berner!“, unterbrach sie mich, „recht haben Sie! Sie haben wirklich so was von recht! Wie aus den Unterlagen und Statistiken hervorgeht, ist die Arbeitslosenzahl in Deutschland in diesem Jahr auf den tiefsten Stand gefallen, der je erreicht werden konnte. Noch gestern habe ich Ihrem Kollegen, oder besser gesagt, Ihrem Ex-Kollegen, haha, Herrn Scharf, dazu gratuliert, dass auch er jetzt in den Kreis der Arbeitenden zurückgekehrt ist. Was natürlich auch Ihre Situation etwas verändert. Aber das wissen Sie ja eigentlich selbst, wenn Sie verstehen, was ich meine, nicht wahr?“

Sie musste es also vor Eddy gewusst haben. Der hatte mir gestern Nacht noch eine SMS geschickt, weil Frau Dietrich ihn um halb zwei angerufen hatte, um ihm persönlich zu gratulieren. Erst heute Morgen hatte er offiziell von seinem neuen Job erfahren.

Frau Dietrich nahm behutsam und wieder kleinfingerabspreizend einen weiteren Schluck Kaffee – wenn man eines beim Amt lernt, dann wohl Kaffee zu trinken. „Das bedeutet also für Sie, Herr Berner, dass Sie jetzt offiziell der letzte und einzige Arbeitslose in ganz Deutschland sind. Ist das nicht wunderbar? Freuen Sie sich denn gar nicht? Ich weiß nicht, ob Sie sich des historischen Ausmaßes dieser Tatsache bewusst sind. Sind Sie? Bestimmt. Sie sind ja nicht dumm, das weiß ich ja. Und weil wir es schätzen, Sie weiterhin zu unserem Kundenkreis zu zählen, hatte unser Abteilungsleiter, der Herr Marowski, die Kollegen gebeten, für Sie ein bisschen zusammenzulegen. Schließlich gehören Sie ja irgendwie auch zum Team. Und weil Sie immer so gut kooperiert haben, dachten wir, es wäre Zeit, dass wir uns mal ein wenig erkenntlich zeigen. Deshalb haben wir uns entschlossen, Ihnen diese kleine Aufmerksamkeit zukommen zu lassen und hoffen, Sie finden ein bisschen daran Gefallen.“ Während sie einfach immer weiterredete, nestelte sie mit ihren alarmrot lackierten Fingernägeln an dem Geschenkkorb rum. Ihre Zähne waren so weiß und glatt, dass nicht mal der Milchkaffee sie färben konnte.

Ich war ratlos. Jetzt war es also geschafft. Der letzte Arbeitslose in Deutschland. In ganz Deutschland gab es nur noch einen arbeitslosen Menschen. Und das war ich. Ich fühlte mich auf einmal sehr alt und sehr mohikanisch. War das abzusehen? Ich glaube, das war es.

Eigentlich hatte es ganz harmlos angefangen. Vor 15 Jahren. Die Schlosserei, in der ich arbeitete, war in Konkurs gegangen und ich verlor meinen Job. Natürlich hatte ich nie aufgegeben. Ich schrieb Bewerbungen, meldete mich brav beim Amt, tat alles, was sie wollten, ging zu Fortbildungen, aber so richtig half das alles nichts. Da gab es noch 2,5 Millionen wie mich im Land. Irgendwie ging die Zahl weiter nach unten. Ein Jahr später waren wir bei zwei Millionen, die Wirtschaft boomte, selbst der letzte Depp war noch für irgendwas zu gebrauchen und verdiente Geld. Ich nicht. Ich ging zu Vorstellungsgesprächen, war dort nett und freundlich, meist motiviert und engagiert und erreichte bei dem ein oder anderen Assessment Center sogar die zweite Runde. Es wurde nie etwas daraus.

Auch als wir die Marke von 1,5 Millionen Arbeitslosen unterschritten, hatte ich keine Panik. Da waren neben den Minderbemittelten, den Intelligenzzwergen, den Vollzeit-Säufern, den Trash-TV-Zuschauern und alleinerziehenden Müttern bestimmt noch einige Hunderttausende, die noch viel weniger qualifiziert für irgendeinen Job waren als ich. Und solche wie mich gab es auch massig. Wir waren nicht dumm, hatten aber einfach das Pech an den Hacken.

Und die Zahlen sanken weiter.

Ich erinnere mich an die Jubelschreie und an die dicken Schlagzeilen in den Zeitungen, als die Hunderttausender- Marke geknackt wurde. Im ganzen Bundesgebiet gab es auf einen Schlag nur mehr 98.765 Menschen, die ohne Erwerb waren. Ich gehörte immer noch dazu. Ich kannte 30 bis 40 andere, die auch dabei waren. Als ich die Zahlen las, dachte ich, es wäre das Beste, wenn sie uns alle in ein Reservat stecken würden. Aber so richtig beunruhigend war auch das immer noch nicht. Die Berichte mit den neuen Arbeitslosenzahlen tauchten zwar immer noch in der Presse auf, aber so ein richtig guter Aufmacher waren sie nicht mehr. Auch nicht, als wir weiter dezimiert wurden, 65.000, 50.000, 10.000. Die Wirtschaft brummte, als wäre sie gerade erfunden worden, die Innovationen wurden mehr, die Bürokratie bügelte ihre Stolpersteine zu sauseschnellen Karriererutschen und wir wurden weniger. Immer weniger. Es war nicht so, dass ich es keinem gönnte. Bei jeder Nachricht von Freunden (denn das waren wir mittlerweile), die mit einem JUHU begann, war schon alles klar. Endlich einen Job gefunden und das nach 25 Jahren Stütze. Das Unglaubliche wurde wahr.

Manchmal verringerten sich die Zahlen auch anderweitig, einige hundert Arbeitslose fielen nach der großen Grippe- und Kältewelle im letzten Winter ganz diskret aus der Statistik. Nicht nur, aber der Großteil hatte irgendwann einfach wieder einen Job ergattert. Oder einfach das Land verlassen.

Unter uns Übriggebliebenen gab es immer mehr Gerüchte. Etwa jenes, dass sich eine kleine Gruppe von überzeugten bärtigen Arbeitsverweigerern in den Thüringer Wald zurückgezogen hatte. Sich dort von Wurzeln und Beeren ernährte, nomadisierend umherzog und dabei menschliche Siedlungen mied. Aber das waren Gerüchte, niemand hatte je diese fünf zusätzlichen Arbeitslosen gesehen. Und selbst wenn es zehn Waldbrüder gewesen wären, hätte das nichts am rasanten Aussterben unserer Art geändert. Wir brauchten keine zehn Arbeitslosen, wir brauchten 10.000.

Es kam der Punkt, an dem wir nur noch 100 Mann waren. Nur Männer, bei den Frauen war die absolut vollständige Vollbeschäftigung schon vor sechs Monaten erreicht worden. Ich hatte nie herausgefunden, wer DIE letzte Arbeitslose gewesen war. Manchmal stellte ich sie mir nachts im Traum als eine junge Mutter vor, knapp über 30, Strähnchen im Haar, wie sie mit drei Kindern auf dem Arm im Büro eines Personalchefs mit zittriger Hand, aber lachend, einen seitenschweren Arbeitsvertrag unterzeichnete. Und zwar mit dem Zeigefinger, dessen Ende sich in einen Füllfederhalter verwandelt hatte. Statt Tinte gab es Blut.

Wir Übriggebliebenen kannten uns irgendwann alle. Wir waren ja gut vernetzt, schließlich hatte das Center jedem von uns mittlerweile einen brandneuen Laptop und eine Internet-Flatrate mit Rekordgeschwindigkeit spendiert. Ab und an gab es eine Verabredung zu einer geheimen Zusammenkunft und wir trafen uns an abgelegenen Orten und kamen inkognito aus allen Ecken des Landes zusammen. Beim letzten Mal hatte jemand vorgeschlagen, wir sollten uns zwecks des besseren Zugehörigkeitsgefühls doch ein gemeinsames Wappen, quasi ein Logo basteln und auf einem Wimpel ans Fahrrad, oder wer noch eins hatte, ans Auto hängen. Der Vorschlag traf auf große Zustimmung und jeder der verbliebenen Hundertschaft versprach, sich in der Zeit bis zur nächsten Konferenz einen Entwurf für das Logo der letzten Arbeitslosen Deutschlands zu entwerfen. Es wurde nie etwas daraus.

Recht früh hatte sich in den Büros der Arbeitsagentur eine Erkenntnis breitgemacht, die in allen Etagen für weitreichende Konsequenzen sorgte: Wenn es keine Arbeitslosen mehr gäbe, denen man Arbeit vermitteln müsste, dann würde auch das Jobcenter überflüssig und alle unsere Arbeitsvermittler wären selber arbeitslos. Das war das eigentliche Schreckensszenario für alle Angestellten in der Agentur. Denn sie kannten die ganzen Horrorgeschichten von der abenteuerlichen Reise ins Land der gesellschaftlichen Fußmatten von uns zur Genüge. Während wir schon seit geraumer Zeit aber immer irgendwelche Wege gefunden hatten, uns trotz der Beschäftigungslosigkeit zu beschäftigen, graute es den grauen Menschen im Jobcenter davor, in naher Zukunft in der gleichen Lage zu sein. Natürlich hatten wir es nicht offiziell mitbekommen, aber bei dem einen oder anderen Beratungstermin, in den kleinen Räumen, wo persönliche Gespräche mit dem individuellen Arbeitsvermittler geführt wurden, schwang eine greifbare Angst und Unsicherheit mit. Das Schreckgespenst der 0,05%igen Arbeitslosigkeit machte sich auf den Fluren des Jobcenters breit und ließ sich nur schwer vertreiben.

Deswegen hielten uns unsere Berater fortan zu einem recht lockeren Leben an. Denn wir waren der Kraftstoff für ihr Feuer, ihre Flamme, der ihren Arbeitsplatz nährte. Wir waren die wichtigen Ölreserven, die verbrannt wurden, um ihren Hintern nach Feierabend weiterhin zu wärmen. Wir waren wichtig. Nur hatte das keiner von uns erkannt.

Auch die Bewerbungstrainings, zu denen wir immer noch regelmäßig eingeladen wurden, änderten deutlich ihren Charakter. Wurde früher noch jede Bewerbungsmappe auf kleinste Fehler und Unzulänglichkeiten zerpflückt und jeder Arbeitssuchende mit Verbesserungsvorschlägen fast zugeschmissen, war nun alles anders. Die Coaches kamen selber oft zu spät zum Termin. Wollten sie früher selber noch ein gutes Vorbild abgeben, hatten sie diesen Idealismus schnell abgelegt. Oft wankten sie in fleckigen und miefigen Anzügen zum Gespräch, rochen nach Schnaps und Rauch, waren schlecht rasiert und wenn wir von unseren bisherigen Bewerbungsbemühungen erzählten, schliefen sie einfach ein, während in ihrer Hand langsam eine Zigarette verglühte. Auch die Inhalte der Bewerbungsseminare waren jetzt der neuen Strategie angepasst. Man zeigte uns, wie man ganz ohne Tasse einen ordentlichen Kaffeering auf einem Zeugnis arrangierte und dass auch die Herstellung einer Eselsecke einer gewissen Vorbereitung bedurfte. Auch im fantasievollen Ausschmücken der weißen Flecken im Lebenslauf wurde uns jetzt auf kreativste Weise geholfen. Sie taten alles, um uns möglichst lang bei der Stange oder besser, beim Almosen zu halten. Man kümmerte sich intensiv um uns, tröstete und beruhigte und ließ jedem von uns kostenaufwendige Sachleistungen zukommen. Es gab sogar ein Weihnachts-Arbeitslosen-Geld in Höhe von 200 Euro. Gerüchteweise ließen sich manche Sachbearbeiterinnen zum Fest der Liebe sogar zu körperlichen Zuwendungen hinreißen.

Mir schien, dass auch Frau Dietrich Ähnliches im Sinn hatte, als sie mit ihrem Präsentkorb kaffeetrinkend an meinem Küchentisch saß. Sie erzählte weiter pausenlos von der großartigen Situation, in der ich mich jetzt befand und dass alles gar nicht so schlimm wäre. Dass Arbeitslosigkeit schon lange keine Schande mehr wäre und in vielen Kulturen der Welt weder sanktioniert noch verpönt war. Es folgte ein Exkurs über die Arbeitslosigkeit bei den Griechen und Sumerern und dass selbst ein Mann wie Plato heute als Bezieher von ALG-II anzusehen wäre.

Dabei lächelte sie wieder und beugte sich immer weiter zu mir rüber, bis die kleine Goldkette mit dem kitschigen Engel fast die Tischplatte berührte. „Eigentlich“, flüsterte sie, „ist es auch an der Zeit, dass wir dieses blöde Sie mal ablegen, nicht wahr?!“ Mit links kramte sie in der Tasche ihres Jacketts herum und zauberte eine kleine Flasche Cognac hervor sowie zwei Plastikpinnchen, die sie kurz darauf mit erstaunlicher Sicherheit randvoll machte.

„Ich bin die Gisela!“, hauchte die Frau, die ich bis vor zwei Sekunden noch als meine recht distanzierte Arbeitsvermittlern Frau Dietrich kannte und drückte mir das Schnapsglas in die Hand, während sich ihr rechter Arm gleichzeitig bei meinem unterhakte. Nachdem wir beide den Fusel runtergekippt hatten, drückte sie mir einen langen feuchten Kuss auf den Mund. Ich hatte keine Zeit, ihr meine Wange zuzuwenden und spürte schon kurz darauf, dass unsere Zungen sich trafen wie zwei Boxer, die sich am Anfang eines langen Kampfes abtasteten, um den entscheidenden Schlag zu landen.

Was dann folgte, waren 45 Minuten recht unmotivierter Sex zwischen einem Arbeitssuchenden und einer Arbeitsvermittelnden, die beide einer ähnlich hoffnungslosen Zukunft entgegentaumelten. Am Ende dieses für beide Seiten eher unerquicklichen Aktes lag ich ausgestreckt auf dem Bett. Während mein Schwanz wie eine entwurzelte Palme nach einem Erdbeben auf meinem Bauch lag, beobachtete ich, wie Gisela in ihre hautfarbene Unterwäsche schlüpfte, um dann mit ihren restlichen Klamotten schnell ins Bad zu huschen. Zehn Minuten später stand sie, perfekt wieder hergestellt, frisiert und geschminkt vor meinem Bett. Ich hatte mittlerweile meine Tasse Kaffee auf meinem Bauch abgestellt und balancierte sie mit einiger Mühe hin und her. Gisela räusperte sich. Ich wusste, der Abschied stand bevor.

„Ähm, also, wir sehen uns dann in vier Wochen wieder. Es wird demnächst ein Brief mit dem genauen Datum und der Uhrzeit ankommen. Ich bitte um pünktliches Erscheinen in meinem Büro im Jobcenter, andernfalls sehe ich mich gezwungen, ähm, die Leistungen zu kürzen. Ach ja, das hier lag übrigens unter deiner, äh Ihrer, Fußmatte, Herr, äh, Berner“, sagte sie und warf einen kleinen Briefumschlag aufs Bett. Dann strich sie ihr Kostüm glatt und verließ wortlos meine Wohnung.

Ich schnappte mir den Briefumschlag und betrachtete ihn mit der nötigen Ruhe. In dem kleinen Sichtfenster stand meine Adresse, darüber ganz klein der Absender. Ich erinnerte mich. Es war der Name einer metallverarbeitenden Firma, bei der ich mich vor ewigen Zeiten als Lagerist beworben hatte. Es hatte nie eine Antwort gegeben, aber vielleicht war ich gerade kurz davor, diesem Land zu einer 100,0000 %igen Vollbeschäftigung zu verhelfen. Langsam wendete ich den Umschlag hin und her. Er war zerknittert und am oberen Ende von Feuchtigkeit ganz gewellt. Man konnte schnell erkennen, dass ihn irgendjemand mit Hilfe von Wasserdampf schon mal geöffnet hatte, ohne viel Wert darauf zu legen, das zu vertuschen. Rasch riss ich mit dem Finger die obere Kante auf und zog den Brief hervor.

„Sehr geehrter Herr Berner,

wir freuen uns, Ihnen eine Zusage für die ausgeschriebene Stelle als Lagerist in unserem Unternehmen geben zu können. Zur Unterzeichnung des Arbeitsvertrags bitten wir Sie am Mittwoch, dem 8. Februar in unsere Geschäftsstelle am Westhafen zu kommen.“

Ich warf einen Blick auf das Datum des Briefes. Er war vom 25. Januar. Jetzt war es Mitte Juli. Ich hatte nie etwas von der Firma gehört. Langsam faltete ich das Papier zusammen und steckte es in den Briefumschlag zurück. Während ich einen weiteren Schluck kalten Kaffee nahm und ziellos aus dem Fenster schaute, ging mir nur ein einziger Gedanke durch den Kopf.

Ich hatte gar keine Fußmatte.

Stuntman unter Wasser

(Mit einem Rad in der Erde)

Mein Name ist Paul. Ich bin Stuntman. Das heißt, ich war einer, denn heute ist wahrscheinlich mein letzter Arbeitstag.

Den Job mache ich jetzt seit 15 Jahren. Hab für jeden Scheiß meine Knochen hingehalten. Bin aus brennenden Autos gekrabbelt, mit Motorrädern über Raddampfer gesprungen. Habe mich mit Kollegen bis aufs Blut geprügelt, bin mit einem Fallschirm von Hochhäusern gesegelt. Konnte dabei das kleine Zelt sehen, in dem die Schauspieler, die ich gedoubelt habe, saßen und ihren Kaffee getrunken haben, während sie mich in Aktion auf dem Monitor verfolgt haben. Kaffee gab’s für mich immer erst abends, wenn die Verbände angelegt waren.

Es war eigentlich keine Absicht, dass das heute mein letzter Arbeitstag sein würde. Meine Frau weiß auch nichts davon. Das heißt, ich denke, jetzt weiß sie es schon, irgendwer da oben wird ihr bestimmt davon erzählt haben.

„Es ist aber nichts Ernstes, Frau Dweezilstein“, wird ihr irgendeiner vom Team am Telefon erzählt haben, vielleicht sogar Barney, unser Produzent, selber. Vielleicht wird er dabei sogar einmal seine Zigarre aus dem breiten sabbernden Mund genommen haben. Das wünsche ich mir. Dass Barney Schuller, dieser feiste Produzent in seinen ewig durchgeschwitzten Hawaiihemden nur einmal, wenn er meiner Frau erzählen muss, dass diesmal was schiefgegangen ist, seinen beschissenen Zigarrenstummel aus seiner heuchlerischen Fresse nimmt, um einmal im Leben die unverdrehte Wahrheit zu sagen. Zu meiner Frau. Dass er ohne seine berüchtigten Umschweife und Euphemismen einfach sagt, dass die Situation da draußen im Augenblick einfach beschissen ist.

Ich schwitze. Mehr als gewöhnlich. Liegt wohl an der Luft in der Taucherglocke. Die reicht eventuell, wenn ich richtig gerechnet habe, noch für eine Stunde. Aber ich kann im Augenblick nicht mehr besonders gut rechnen. Meine Augen brennen und um weniger Luft zu verbrauchen, atme ich nur noch ganz flach. Dadurch habe ich jetzt auch noch Seitenstechen.

Zwei Wochen war ich gebucht, eine davon ist jetzt rum. Eigentlich hatte ich keine besondere Lust, wieder mit Barney an einem seiner Schwachsinnsprojekte zu arbeiten. Barney dreht eine Menge Filme, hat bis zu fünf große Drehs im Jahr laufen, dazu unzählige kleine Experimentalfilme, die vielleicht kein Geld bringen, aber seinen Namen immer im Gespräch halten. Und ihm dazu freien Eintritt auf diversen Filmfestivals auf der ganzen Welt garantieren. Ein Platz in der Jury ist dabei sicher auch mal drin. Früher haben alle seine Filme gehasst, weil sie so beschissen sind. Im Laufe der Zeit hat aber eine Gruppe von Total-Nerds sie in ihren hippen Zirkeln zum Hit erklärt und so wird Barney seit einiger Zeit als Trash-Ikone verehrt.

Leider war ich genau in diesem Augenblick auf Barneys Angebot angewiesen, denn wie ich gemerkt hatte, werden auch für einen älter werdenden Stuntman die Jobs nicht zahlreicher.

Und Barney lockte mich mit glänzenden Aussichten. Wieder mal. Die Story für seinen Horrorfilm war wie immer grauenhaft, aber die Kohle, die in zwei Wochen auf den Bahamas zur besten Jahreszeit reinkam (und das muss man Barney lassen, in Gelddingen war er immer verlässlich), würde mich das nächste halbe Jahr über Wasser halten. Und danach käme entweder ein neuer Barneyfilm oder irgendetwas anderes. Es ist jedes Mal dasselbe.

Die Dreharbeiten der ersten Woche waren sehr gemächlich, jedenfalls was meine Arbeit anging. Es gab ein paar Explosionen im Labor eines nachgebauten Kernkraftwerkes, bei denen ich als sterbender Reaktormitarbeiter wild durch die Gegend springen musste. Danach einige Unterwasseraufnahmen, in denen ich im Taucheranzug von einem überdimensionierten Plastikhai gefressen wurde. Nichts, was ich nicht vorher schon mal getan hätte.