Vorwort

Am frühen Morgen stehen Hunderte von Fahrgästen auf den Bahnsteigen einer U-Bahn-Station und warten auf die einfahrenden Züge. Viele sind mit ihren elektronischen Geräten beschäftigt, einige lesen, andere unterhalten sich. Ein Drehbuchschreiber wird ein solches Szenario genau beobachten, denn die visuelle Fülle an Leben wird ihm wie eine Vorlage für sein Schreiben erscheinen. Dann wird er die Fahrgäste als unterschiedliche Figuren erkennen, die in ihre Lebensgeschichten verstrickt sind. Kleidung, Gestik, Sprechen und Denken – das alles formiert sich sehr individuell und macht aus einer Figur einen (nervösen, geduldigen, zerstreuten) Typus oder sogar einen (aufmerksamen, gespannten, umtriebigen) Charakter.

Manche Figuren sind besonders neugierig und nehmen mit anderen Kontakt auf. Gespräche (Dialoge) bahnen sich an, Lebensgeschichten werden miteinander verknüpft, kleine Spiel- und Handlungsabläufe entstehen. Ein Drehbuchschreiber will wissen, wie solche Dialoge und Abläufe sich gestalten lassen, damit ein Zuschauer ihnen aufmerksam und gespannt folgt. Während seines Schreibens hat er vor allem ihn im Blick, sein (sonst meist zerstreutes) Sehen will er lenken und fesseln, für die Dauer von etwa zwei Stunden.

Genau diese unablässige, sich vertiefende und immer stärker werdende Fokussierung des Zuschauerblicks ist das Ziel eines jeden guten Drehbuchs. Anders als beim Musikhören, beim Lesen oder beim Betrachten von Kunst wird dem Rezipienten keine Sekunde der Abschweifung oder des momentanen Innehaltens gegönnt. Der Filmzuschauer kann nicht pausieren, sich ablenken oder an etwas anderes denken. Dem Film in seinen rasch abwechselnden Einstellungen folgend, wird sein Blick immer mehr an das visuelle Geschehen gebunden. Durch diese sich intensivierende Bindung entsteht allmählich auch eine emotionale. Der Zuschauer fühlt sich dann als Teil des Geschehens, spürt die Filmatmosphären auf seiner eigenen Haut, leidet mit, vergießt vielleicht sogar Tränen.

Bei alldem bemerkt er gar nicht, mit welch raffinierten Schritten und Methoden das Drehbuch und seine Verfilmung ihn zu solchen emotionalen Reaktionen gebracht und verführt haben. Benjamin Benedicts Buch über die unterschiedlichsten Konzepte des Drehbuchschreibens macht ihm diese Methoden auf wunderbar klare und einsichtige Weise deutlich. Neben den vielen, oft sehr weitschweifigen Klassikern zu diesem Thema ist dieses Buch ein dichtes, gut handhabbares und vor allem nahezu vollständiges Kompendium all der Themen und Aspekte, die für ein solches Schreiben wichtig sind. Als erfahrener Filmproduzent, der weiß, wovon er spricht, trainiert Benedict mit dem Leser die kleinen Schritte, die zum Erfolg führen könnten. Gleichzeitig aber lässt er ihn auch an seinen Filmerfahrungen teilhaben und zeigt passioniert und enthusiastisch, wie die Schaulust an Filmen sich durch ein solches Wissen immens steigert.

Zweierlei also lernt man aus diesem klug aufgebauten, reichen Buch: Mit kleinen Schritten ein Gesamtkonzept eines Drehbuchs zu entwerfen – und: Filme in Zukunft genauer daraufhin anzuschauen, mit welchen Methoden sie den Zuschauer für sich einnehmen. Nach der Lektüre ertappt man sich dabei, die ganze Umgebung als Szenario für ein Drehbuch zu sehen. Zum Beispiel einen x-beliebigen U-Bahnhof, irgendwo auf der Welt.

Hanns-Josef Ortheil, im Sommer 2014

Inhalt

Vorwort

Inhalt

Einleitung

Textprojekte und Schreibaufgaben I:
Elemente der Geschichte

1. Story

2. Entwicklungsweg der Figuren, Thema und Gestaltungsprinzip der Geschichte

3. Plot: Typologie und Masterplots

4. Genre: Erzählmodell und Emotionsmaschine

Textprojekte und Schreibaufgaben II:
Figuren

5. Merkmale und Wesenszüge einer Figur

5.1 Physischer Status/Erscheinungsbild

5.2 Psychologischer Status/Innenleben

5.3 Sozialer Status/Gesellschaftliches Leben

5.4 Gegenwart und Vergangenheit

5.5 Figurenkonstellation und Typologie

6. Techniken der Figurenzeichnung – erste Auftritte

6.1 Charakterisierung durch Handlung und Wahrnehmung

6.2 Don’t safe the cat

6.3 Charakterisierung durch Erwartung

Textprojekte und Schreibaufgaben III:
Elemente des Drehbuchs

7. Dialog und Beschreibung

8. Figuren und Sprache

9. Dialogtechniken

10. Szene und Subtext

11. Szenenbau

Textprojekte und Schreibaufgaben IV:
Bauformen der Erzählung – Struktur

12. Struktur

13. Reise des Helden

14. Serienstruktur

15. Zeit und Erzählung

Textprojekte und Schreibaufgaben V:
Techniken der Erzählung

16. Motivation und Dosierung von Information

17. Dramatische Ironie und Suspense

18. Zufälle und Rhythmen des Erzählens

19. Humor

Nachbetrachtung:

Gefühle und Erkenntnis

Literatur- und Medienverzeichnis

Filme (Auswahl)

Serien (Auswahl)

Literatur 188

Einleitung

Jeden Tag flüchtet sich die schüchterne Kellnerin Cecilia aus dem tristen Amerika der Wirtschaftsdepression in die wunderbare Fantasiewelt des Kinos und schaut immer wieder ihren Lieblingsfilm »The Purple Rose of Cairo«. Der Film bietet ihr Trost, Ablenkung, Unterhaltung, große Gefühle – schlicht jenes Glück, welches sie in ihrem Leben vermisst. Eines Tages wendet sich der Held des Films, Tom Baxter, von der Leinwand an die verzauberte Cecilia im Zuschauerraum. »Mein Gott, Sie müssen diesen Film wirklich lieben.« Tom verlässt die Leinwand und tritt in Cecilias Leben. Der große Drehbuchautor Woody Allen hat sich diese magische Geschichte ausgedacht. Sie beschreibt die Utopie des Filmemachens, dass sich das reale Publikum im Zuschauerraum und die fiktionalen Figuren auf der Leinwand wirklich begegnen, dass sie sich emotional berühren, dass sie ihr Leben teilen. Nicht so magisch wie bei Cecilia und Tom vielleicht, aber doch so, dass noch lange nach dem Ende des Films die Figuren im Publikum weiterleben, seine Gefühle und Gedanken bestimmen und – bei einer Serie – auf ein baldiges Wiedersehen hoffen lassen.

Vor diesen Momenten der Magie, vor diesen erträumten Begegnungen zwischen realen und fiktionalen Welten liegt jedoch eine lange und mühselige Phase, die von manchen Autoren als development hell bezeichnet wird. Gemeint sind die Monate oder Jahre, in denen aus einer vagen Idee zunächst eine konkrete Idee, dann eine Skizze, ein Exposé, ein Treatment, eine Outline und schließlich ein Drehbuch wird, welches dann womöglich 36 verschiedene Fassungen durchläuft, bis es gedreht wird, wie im Fall von »Der englische Patient«. Diese Zeit verbringen die Autoren meistens einsam vor ihrem Computer oder bestenfalls in der gemeinsamen Arbeitsklause eines writers’ room.

Die vage Idee, dass eine Filmfigur die Leinwand verlässt, war ein kurzer Eintrag im Notizbuch von Woody Allen. Dann galt es die Figuren zu erfinden, denen dies widerfährt, den spezifischen Schauplatz zu finden, in diesem Fall das Amerika der Großen Depression der 1930er-Jahre – zugleich eine Hochphase des Kinos. Eine konkrete Geschichte war zu konzipieren, hier die einer Frau zwischen zwei Welten, jener des Films und jener der Realität. Diese Geschichte verbindet sich mit dem Plot der Rivalität zwischen der Filmfigur Tom Baxter und dem sie darstellenden Schauspieler Gil Shepherd, die am Ende beide um die Zuneigung von Cecilia kämpfen. Dies alles wurde zu einem großartigen Drehbuch und schließlich zu einem wunderbaren Film über den Konflikt zwischen Kunst und Wahrheit, über die Macht und den Trost des Kinos und auch über Hoffnung und Verrat.

In diesem Band betrachten wir das Drehbuch als Textform. Es werden keine Filme analysiert und in ihren Elementen beschrieben, sondern ausschließlich Drehbücher. Das Drehbuch stellt eine komplexe Textform dar, an die mannigfaltige Anforderungen gestellt werden. Ein Drehbuch ist hochformalisiert in seiner Gestalt. Es ist ein technischer Text und als solcher Grundlage von finanzieller Kalkulation und organisatorischer Planung. Es muss ein Lesevergnügen sein und Schauspieler, Regisseure, Geldgeber für ein Projekt begeistern. Es soll den Eindruck des späteren Films vorwegnehmen, ja, seine Grundlage sein. Aber es wird ein Gebrauchstext bleiben. Während selbst einige Theaterstücke – man denke an den zweiten Teil des »Faust« oder Karl Kraus’ »Die letzten Tage der Menschheit« – eher für die Lektüre als für die Bühne gedacht sind, findet ein Drehbuch seine einzige Bestimmung in der Verfilmung. Ein Drehbuch steht also nie für sich allein. Es ist und bleibt aber die alles entscheidende Grundlage für einen Film. Ein Drehbuchautor hat deshalb eine große Verantwortung. Jedes seiner Worte zählt. Jedes Wort hat Konsequenzen. Schon zwei Wörter – wie z. B. »Rom brennt« – können Millionen kosten.

Bevor aber die Worte des Autors zur Handlungsgrundlage für Hunderte von Filmschaffenden werden, um dann im Idealfall Millionen von Menschen als Zuschauer zu erreichen, wartet eine lange, beschwerliche und oft einsame Reise. Einige der vielen möglichen zielführenden Wege des Erzählens, der verschiedenen narrativen Konzepte sollen Ihnen in diesem Band nahegebracht werden: als Handwerkszeug, als Hilfsmittel, als Karte für das unwägbare und schwierige Terrain der Entwicklung einer Geschichte. In diesem Buch sollen keine starren Regeln aufgestellt werden, es sollen – wie es auch der Drehbuchtheoretiker Robert McKee formuliert – Prinzipien vorgestellt werden, die zeigen, auf welch vielfältige Weise Erzählen funktionieren kann und bereits funktioniert hat. Die hier vorgestellten Beispiele gelingender Erzählungen in Film und Serie sind analytischer Ausgangspunkt für Ihr eigenes, individuelles, hoffentlich innovatives und originelles Drehbuch. Es gibt im weiten Feld der filmischen Erzählung kein Richtig oder Falsch. Es gibt aber mannigfaltige eindrucksvolle Beispiele, aus denen sich Empfehlungen und Hinweise auf Prinzipien ableiten lassen. Es werden also Techniken des Erzählens vorgestellt, Methoden der Entwicklung und Strukturierung. Nur wer die Regeln oder in diesem Fall eben Techniken kennt, kann mit ihnen umgehen. Diese Einführung ist von der Überzeugung getragen, dass ein Drehbuchautor eine Vielzahl von Erzähltechniken zur Hand haben sollte, die er je nach Bedarf und Aufgabe zur Anwendung bringen kann. Persönliche Inspiration, Intuition, Schönheitssinn, Empfindung kann niemand lernen und niemand vermitteln. Techniken der Gestaltung, analytische Methoden, Erzählprinzipien lassen sich hingegen beschreiben, man kann sie sich aneignen.

Dazu laden wir nun ein. Wir werden im ersten Teil den erzählerischen Kern eines Films und die Rahmenbedingungen des Erzählens in Form von Plots und Genre beschreiben. Im zweiten Teil widmen wir uns dem Zentrum jeder Erzählung, den Figuren. Im dritten Teil wird es um die konkreten Elemente des Drehbuchs gehen, insbesondere um den Dialog und den Szenenbau. Im vierten Teil richten wir den Blick auf die Struktur von Drehbüchern, im letzten Teil stellen wir spezifische Erzähltechniken zur Gestaltung von Spannung, zur Vermittlung von Information und zum Erzeugen von Humor vor.

Das Buch richtet sich gleichermaßen an Schüler, (Film-)Studenten, Filmemacher und interessierte Zuschauer. Die beste Voraussetzung, selbst Filme und Serien zu gestalten, ist, sie als Zuschauer zu lieben. Der Weg zum Erzählen liegt im Studium des Erzählens und dann in der Praxis des eigenen Erzählens. Auf diesem Weg möchten wir Sie mit diesem Band begleiten. Wenn wir von Autoren und Erzählern sprechen, sind die Autorinnen und Erzählerinnen immer mitgemeint und nur aus Platzgründen nicht spezifisch erwähnt. Ebenfalls aus Platzgründen mussten wir auf die originalsprachlichen Zitate verzichten und haben diese ins Deutsche übersetzt.

In »The Purple Rose of Cairo« folgt Cecilia schließlich Tom Baxter in die Welt des Films und ist enttäuscht, dass dort bei den vermeintlich rauschenden Festen in den Kulissen statt Champagner nur Gingerale ausgeschenkt wird. Wir hoffen, dass die gemeinsame Reise durch die Gestaltungsfelder von Film und Serie für Sie keine solche Desillusionierung darstellt, sondern einen Kenntnisgewinn, der Ihren Respekt und Ihre Wertschätzung für die großen Filmerzähler steigert und Ihnen hilft, auf Ihrem eigenen Weg als Drehbuchautor voranzukommen.

Textprojekte und Schreibaufgaben I:
Elemente der Geschichte

1. Story

Jemand will etwas unbedingt haben und hat Schwierigkeiten, es zu bekommen.1

Eine junge Frau sitzt gebannt vor dem Fernseher, das Telefon klingelt. Seufzend drückt sie auf den Pausenknopf, eine Freundin ist am Apparat. »Was machst du?«, fragt sie. »Ich schaue Breaking Bad.« »Worum geht’s?«

Ein Drehbuchautor trifft einen berühmten Regisseur im Fahrstuhl. Er nimmt all seinen Mut zusammen und spricht ihn an. »Ich arbeite an einer Wahnsinnsgeschichte.« Skeptisch blickt der Regisseur ihn an. »Was ist die Story?«

Kaffeepause im Büro. »Ich war gestern im Kino. Der neue Film mit DiCaprio.« »Wovon handelt der?«

Dass sich solche Fragen knapp und präzise beantworten lassen, ist die wichtigste Voraussetzung für ein gutes Drehbuch. Fast alle Filme und sogar lang laufende Serien lassen sich in wenigen Sätzen zusammenfassen und auf einen erzählerischen Kern bringen.

Ein Chemielehrer, bei dem unheilbarer Krebs diagnostiziert wird, beschließt, Chrystal Meth zu produzieren, um seine Familie finanziell zu versorgen: die erste Staffel von »Breaking Bad«.

Ein versklavter römischer General, dessen Familie von einem machthungrigen Prinzen ermordet wurde, kehrt als Gladiator nach Rom zurück, um Rache zu üben: »Gladiator«.

Ein ehrgeiziger und rücksichtsloser Werbefachmann kämpft in den Sechzigerjahren um seinen Aufstieg in der Werbeagentur Sterling Cooper: »Mad Men«.

Ein heimkehrender, desillusionierter Kreuzritter spielt mit dem Tod eine Partie Schach, um das Leben seiner Begleiter zu retten: »Das siebente Siegel« von Ingmar Bergman.

Auch die komplexesten Filmhandlungen lassen sich auf einen erzählerischen Kern bringen, der in wenigen Sätzen das Spezifische und Einzigartige beschreibt. Einen solchen Kern zu finden, ihn zu konzipieren und von ihm aus die Struktur des Drehbuchs zu entwickeln ist die prioritäre Aufgabe jedes Drehbuchautors. Als Drehbuchautor müssen Sie von Anfang an wissen, was Sie erzählen wollen. Die Frage, wie Sie etwas erzählen möchten, stellt sich erst später. Der erzählerische Kern Ihres Drehbuchs, die sogenannte Prämisse, ist die Grundlage für alle folgenden Phasen der Drehbuchentwicklung.

Was aber sind die üblichen Elemente eines erzählerischen Kerns? Die überwiegende Mehrheit aller Filmerzählungen ist auf einen oder zwei Protagonisten zentriert. Der Film »Titanic« erzählt eben nicht vom Untergang der Titanic, sondern von der jungen Adeligen Rose, die mit einem rücksichtslosen, reichen Mann verlobt ist und sich auf der Überfahrt in einen mittellosen Künstler verliebt, mit dem zusammen sie während der Katastrophe um ihr Überleben kämpft. Wie bei »Titanic« schon anhand des Titels zu erkennen, hat jede Geschichte auch ein spezifisches Setting, die sogenannte Welt der Geschichte (story world). Entscheidend ist dabei, ob es sich um die gewohnte Umgebung des Protagonisten oder eine neue, unbekannte Welt handelt.

Die story world Nordafrikas, Anfang der 1940er-Jahre voller europäischer Flüchtlinge, prägt »Casablanca«. Hier begegnet ein zynischer, einzelgängerischer Barbesitzer seiner großen Liebe wieder, um ihr am Ende zu entsagen und sich dem Kampf gegen die Nazis anzuschließen. Auch Serien sind bestimmt von Protagonisten und ihrer story world, nur handelt es sich dabei oftmals um ein Ensemble von Hauptfiguren. In »Grey’s Anatomy« ringt eine Gruppe junger Ärzte um beruflichen Erfolg und ihr privates Glück. Die Familie Crawley und ihre Bediensteten kämpfen um den Fortbestand von »Downton Abbey«. Sieben Königsfamilien kämpfen um die Macht in »Game of Thrones«.

Das bringt uns zum zweiten Element: Die Protagonisten haben oder entwickeln ein klar umrissenes Ziel. Sie wollen das Herz eines Mannes oder einer Frau gewinnen, eine große Aufgabe bewältigen, Macht erlangen oder Ehre – es gibt unzählige Ziele, auf die Protagonisten ausgerichtet sein können. In »Der Pate« nimmt der jüngste Sohn einer Mafiafamilie Rache an den Männern, die seinen Vater angeschossen haben, und wird selbst der neue Pate. Im »Nothing Hill« will William das Herz der weltberühmten Schauspielerin Anna Scott gewinnen. Der Stasihauptmann Gerd Wiesler möchte in »Das Leben der Anderen« den Schriftsteller Dreyman der Staatsfeindlichkeit überführen. Luke Skywalker möchte in »Star Wars: Episode IV – Eine neue Hoffnung« Prinzessin Leia retten und das Imperium besiegen.

Mit dem Ziel verbunden ist als drittes Element die antagonistische Kraft. Ein leicht zu erreichendes Ziel bietet eine schwache Geschichte. Eine antagonistische Kraft hingegen schafft Konflikte und Konflikte wiederum schaffen Spannung und Drama. Etwas muss sich dem Protagonisten in den Weg stellen, das kann eine äußere oder innere Kraft sein, wie etwa die Schizophrenie in »A Beautiful Mind« oder die Zwangsneurosen in »Besser geht’s nicht«. Häufiger ist ein äußerer Antagonist, dieser kann nicht menschlich sein, z. B. ein Tier wie der weiße Hai, eine Naturkraft wie die Tornados in »Twister« oder ein fantastischübernatürliches Monster wie Godzilla. Der Regelfall jedoch sind menschliche Antagonisten, sie bieten die stärksten erzählerischen Möglichkeiten. Von Darth Vader bis zu Lord Voldemort ist die Filmgeschichte bevölkert von starken Antagonisten. Für viele stellen sie sogar das Erfolgsgeheimnis jeder Geschichte dar, denn sie repräsentieren das, was die Protagonisten fürchten – und mit ihnen auch das Publikum. Zwei junge Menschen verlieben sich und alle freuen sich darüber – das ist eine langweilige und zudem sehr kurze Geschichte. Zwei junge Menschen verlieben sich, aber ihre Familien sind Todfeinde und verbieten ihnen jeden Umgang. Das ist die Grundlage für so herausragende Erzählungen wie »Romeo und Julia«. Der Antagonist bietet oft die Gelegenheit, die Werte, das Handeln und die Ziele des Protagonisten zu spiegeln.

Durch den Konflikt und den ungewissen Ausgang der Geschichte entfaltet sich das Interesse daran, wie es weitergeht. Dieses Interesse zu wecken und zu bewahren ist die Hauptaufgabe jedes Drehbuchs. Ihr erwünschtes Publikum kann groß oder klein sein, alt oder jung, filmerfahren oder unbedarft, aber es sollte den Film, der auf Ihrem Drehbuch basiert, zu Ende sehen wollen. Sie müssen es über Faszination, Neugierde, Spannung, Emotion dazu bringen, Ihrer Geschichte folgen zu wollen.

Schreibaufgaben

Legen Sie eine Liste mit je 15 Filmen und 15 Serien an und beschreiben Sie in maximal drei Sätzen die grundlegende Geschichte.

Notieren Sie Erzählideen und versuchen Sie dabei, in wenigen Sätzen den erzählerischen Kern präzise und genau zu fassen. Entwerfen Sie den Protagonisten, sein Ziel, die antagonistische Kraft, den Konflikt und die Welt der Geschichte.

1 David Howard/Edward Mabley: Drehbuchhandwerk, S. 43.

2. Entwicklungsweg der Figuren, Thema und Gestaltungsprinzip der Geschichte

Der erzählerische Kern wird bestimmt durch den Protagonisten, sein Ziel und den Weg dorthin. Damit ist die Handlung in Grundzügen beschrieben. Für die Konzeption einer Geschichte sind darüber hinaus die folgenden drei Dimensionen, welche die konkrete Handlung transzendieren, entscheidend: der Entwicklungsweg des oder der Protagonisten, das Thema und das Gestaltungsprinzip (designingprinciple) Ihrer Geschichte.

Eine grundlegende Frage für die Ausgestaltung der Story ist, ob und, wenn ja, in welcher Hinsicht der Protagonist sich verändert. Viele Filmdramaturgen halten es für notwendig, dass alle zentralen Figuren einen Entwicklungsweg durchlaufen.2 Mitunter wird die Entwicklung des Protagonisten als das schlechthin entscheidende Element einer Filmerzählung verstanden.3 Eine Figur sollte demnach am Ende der Geschichte anders sein als zu ihrem Beginn, sie sollte etwas lernen, sich ändern, sich entwickeln, zum Guten oder zum Schlechten.

Ein Verfahren, um diesen Entwicklungsweg zu konzipieren, ist die Differenzierung der Ziele (goals) einer Figur in bewusste Ziele und Absichten (wants) und unbewusste Ziele und Bedürfnisse (needs). Wants sind das, was die Figur aktiv und bewusst verfolgt, ihre klar umrissenen Ziele, needs sind das, was sie unbewusst braucht, was ihr fehlt, was ihre innere Entwicklung zu einem anderen Menschen auslöst. Wants und needs können im Gegensatz stehen oder sie können sich ergänzen. In »Das Leben der Anderen« stehen sie im Gegensatz. Stasihauptmann Wieslers want ist der Überwachungserfolg bei dem Dichter Dreyman, sein need ist die Ausbildung der Fähigkeit zur Empathie. Während er Dreyman überwacht, beginnt er das Leben der Anderen zu begreifen – in seiner Würde und Schützenswürdigkeit. Wiesler entscheidet sich schließlich, Dreyman zu helfen, ohne sich ihm zu offenbaren. Damit erreicht er sein ursprüngliches Ziel (want) als Stasihauptmann nicht, aber er entwickelt sich, er wird zu einem vollständigen, fühlenden Menschen und zu einem Helden, der seine Existenz gefährdet und seine Karriere opfert. Want und need können sich auch ergänzen. In »Das Schweigen der Lämmer« ist es das erklärte Ziel (want) von Clarice Starling, Catherine Martin aus den Händen von Buffalo Bill zu befreien, ihr need ist, die Dämonen der Vergangenheit zu überwinden. Am Ende erreicht sie beides. Die Entwicklung und Vollendung einer Veränderung können auch ausschließlich im Erreichen des want bestehen wie in »Notting Hill« oder »E. T.«. Klassische Veränderungen dieser Art sind die Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen wie in »Stand by Me«, vom Erwachsenen zum Helden wie in »Matrix«. Weitere Entwicklungsbeispiele beschreiben den Weg von zynischer Indifferenz zum Engagement für andere Menschen wie bei Rick in »Casablanca« und Han Solo in »Star Wars: Episode IV« oder – als negative Entwicklung – vom Anführer zum Tyrannen wie in »Red River« und »Der Pate«. Wenn Sie von Anfang an die Idee für den Entwicklungsweg Ihrer Figur vor Augen haben, werden Ihnen alle weiteren Schritte der Drehbuchkonzeption bedeutend leichter fallen und vor allem wird Ihnen dieser Entwicklungsweg wichtige Meilensteine für die Ausbildung der Struktur vorgeben.

Das Entwicklungskonzept bei einer Serie ist vollkommen anders angelegt. Während sich in einem 120-minütigen Spielfilm oft eine grundlegende Veränderung einer Figur ereignet, verfolgt eine lang laufende Serie ihre Protagonisten über 80 bis 100 Folgen. Dementsprechend findet oftmals eine sehr langsame Entwicklung statt. Bei einem genauen Studium des Handlungsverlaufs erkennt man, dass viele Serien den Entwicklungsweg ihrer Figuren über die Gesamtheit der Staffeln anlegen. »Breaking Bad« führt diesen Entwicklungsweg des Protagonisten sogar im Titel an, über fünf Staffeln verfolgt die Serie den Weg Walter Whites in die Finsternis des Bösen. Mitunter wird in Serien gerade die Schwierigkeit einer inneren Entwicklung thematisiert. Sowohl Don Draper aus »Mad Men« als auch Tony Soprano aus den »Sopranos« ringen um ihre Veränderung, die ihnen nur teilweise oder nur zeitlich begrenzt gelingt.

Der Entwicklungsweg der Figuren steht oftmals in Bezug zu dem Thema eines Films. Der große Hollywoodproduzent David O. Selznick sagte sinngemäß, wer eine Message versenden wolle, solle zur Post gehen und nicht zum Film. Es geht bei der Gestaltung eines Themas nicht darum, didaktisch das Publikum zu belehren. Dennoch manifestiert sich in den großen Erzählungen der Filmgeschichte eine Weltsicht, eine Deutung der großen Fragen der Menschheit. Die conditio humana, der Sinn menschlichen Lebens, die letzten Dinge, die Frage nach Leid, Tod und Liebe, die Deutung der Welt und der Emotionen – das sind die übergeordneten thematischen Felder, die Filmen und Serien zugrunde liegen. »Stand by Me« erzählt vom Erwachsenwerden, aber das Thema ist die lebensentscheidende Kraft der Freundschaft. »E. T.« erzählt von einem kleinen Jungen, der einem Außerirdischen hilft, aber das Thema bilden Glaube und Freundschaft. »Thelma & Louise« erzählt von der kriminellen Reise zweier Frauen, aber die Themen sind Freundschaft und weibliche Identität. Selbstlose Liebe ist das Thema von »Lichter der Großstadt« und »Forrest Gump«. Die Suche nach Glück und Identität ist das Thema von »Mad Men«, die verheerende Wirkung von Machtstreben ist das Thema von »Game of Thrones«. Der ewige Kampf von Licht und Schatten ist das Thema von »True Detective«, wie die letzte Episode verrät. Mitunter lässt sich über die genaue Kennzeichnung des Themas streiten. Als Thema von »Mad Men« wurde auch der Warencharakter des amerikanischen Glücksversprechens genannt. Das Thema von »24« ist womöglich nicht der notwendige Schutz der offenen Gesellschaft, sondern die Paranoia der Vereinigten Staaten nach dem 11. September 2001.

Weil das Thema als ein bloßes Schlagwort leicht zu vage bleibt, wird mitunter empfohlen, es in einer anderen Form zu formulieren. Robert McKee spricht von der beherrschenden Idee. Sie soll sich in einem Satz ausdrücken lassen, der beschreibt, »wie und warum sich das Leben verändert«.4 Bei »… und täglich grüßt das Murmeltier« könnte dieser Satz etwa lauten: »Glück erfüllt unser Leben«, und bei »Hannah und ihre Schwestern«: »Liebe erfüllt unser Leben, wenn wir intellektuelle Illusionen überwinden und unseren Instinkten folgen«.5 Einige Autoren geben den Ratschlag, das Thema nicht als Aussage, sondern als Frage zu formulieren. Das Thema von »Romeo und Julia« wäre demnach nicht: »Wahre Liebe ist stärker als der Tod«, sondern: »Kann wahre Liebe selbst den Tod überwinden?« Indem sich das Thema als Frage stellt, wird der große Vorteil aller Geschichten ausgespielt, dass sie den ewigen menschlichen Fragen nicht mit einer eindeutigen Antwort begegnen, sondern mit der Erzählung einer Geschichte. Die nüchtern gestellte Frage, ob die Liebe den Tod überwinden kann, berührt uns wenig, in Form einer großen Erzählung wie »Romeo und Julia« oder »Titanic« erreicht sie uns auf intensive und hochemotionale Weise.

Neben dem Entwicklungsweg der Figur und dem Thema der Erzählung gibt es noch ein drittes grundlegendes Element, welches hinter der Story aufscheint, das designing principle,6 das Gestaltungsprinzip. Damit wird eine erzählerische Idee bezeichnet, welche die Story organisiert und ihr eine Form verleiht. Das Gestaltungsprinzip von »In Treatment – Der Therapeut« ist, die Psychoanalyse als Erzählform für eine Serie zu verwenden. Das Gestaltungsprinzip von »24« ist eine Serie, die 24 Stunden in Echtzeit in 24 Folgen pro Staffel erzählt. Das Gestaltungsprinzip von »Slumdog Millionär« ist, einen Reifungsplot anhand des Quizshowmodells »Wer wird Millionär?« zu erzählen. Das Gestaltungsprinzip von »Vier Hochzeiten und ein Todesfall« ist, über vier Utopien und eine Dystopie den Weg zu persönlichem Glück zu finden. Das Gestaltungsprinzip von »Fight Club« ist, die Schizophrenie eines Menschen als die Geschichte zweier Menschen zu erzählen. Es gilt zu beachten, dass das Gestaltungsprinzip weder den Plot noch die Struktur des Drehbuchs beschreibt. Es ist eine spezifische und individuelle, strukturstiftende Idee zu einer einzigartigen und originellen erzählerischen Form. Sie ist damit das einzige Element, welches im frühen Stadium der Drehbuchentwicklung schon sehr spezifisch strukturelle Aspekte beeinflusst. Ein originelles Gestaltungsprinzip wird die Entwicklung Ihrer Geschichte erheblich beeinflussen. »Slumdog Millionär« ist im gesamten Aufbau der Geschichte von der Idee bestimmt, das Modell von »Wer wird Millionär?« als erzählerische Form für die Erzählung zugrunde zu legen. Nicht jedes Drehbuch kennt oder braucht ein Gestaltungsprinzip, aber es bietet die Chance, Ihre Geschichte unverwechselbar zu machen.

Schreibaufgaben

Konzipieren Sie einen Entwicklungsweg für Ihre Figuren. Im Idealfall wird nicht nur der Protagonist eine Entwicklung durchlaufen, sondern auch die weiteren Figuren des Ensembles, in denen sich dann der Wandel des Protagonisten spiegeln kann.

Formulieren Sie das Thema der 15 Filme und 15 Serien auf Ihrer Liste.

Lässt sich eine Geschichte anhand von 20 Songs erzählen, anhand der Jahreszeiten, anhand eines Gebäudes, in der Wiederkehr eines jährlich stattfindenden Familienfestes? Nehmen Sie sich die Zeit, nach einem Gestaltungsprinzip zu suchen, mit dem Sie Ihre Geschichte auf vollkommen neue Weise erzählen können.

2 Robert McKee: Story, S. 120.

3 John Truby: The Anatomy of Story, S. 32.

4 Robert McKee: Story: S. 134. Vgl. auch: Lajos Egri: The Art of Dramatic Writing, S. 1–32.

5 Robert McKee: Story, S. 135–142.

6 John Truby: The Anatomy of Story, S. 25–28.