Jörg Winter

Der Kunde ist Gast

Edition Buchhandel     Band 10

Herausgegeben von Klaus-W. Bramann

Jörg Winter

Der Kunde ist Gast

Engagiertes Verkaufen im kundenorientierten Buchhandel

2. überarbeitete und erweiterte Auflage

Inhalt

Vorwort

Kundenbindung in chaotischen Märkten

Basisleistungen

Der Zugang zum Buffet

Die Party

Der erste Kontakt

Das Kundengespräch – ein Parcours mit Hindernissen

Der souveräne Umgang mit dem Preis

Zusatzwünsche erfüllen – das Dessert

Bestellen oder Alternativen zeigen

Die Verabschiedung

Die Gastgeber meistern Schwierigkeiten

Reklamationen und Beschwerden

Umgang mit Stresskunden

Umgang mit dem Telefon

Die Gastgeber stehen für den Erfolg der Party

Die innere Einstellung

Ihr Unternehmens-Knigge

Kleider machen Leute

Ästhetik

Körpersprache

Der Tag nach der Party – Kater oder Aufbruchstimmung

Merksätze auf einen Blick

Vorwort

Der Kunde ist König symbolisiert im modernen Konsum-Zeitalter nahezu unverändert den Idealzustand einer korrekten Kundenbeziehung. Zahlreiche Einflüsse behindern jedoch die Alltagstauglichkeit dieser Vorgabe. In Zeiten schwindender Umgangsformen beklagen zunehmend MitarbeiterInnen im Verkauf kantige Manieren bis hin zu persönlich empfundenen Angriffen – ein eher unkönigliches Betragen der Kundschaft. Zudem suggeriert das Königsbild allzu schnell eine Rollenverteilung, die auf Seiten der MitarbeiterInnen im Verkauf eine unterwürfige Haltung des Untertanen, Dieners, im besten Fall Hofnarren führt. Auch wenn eine solche Rollenzuordnung nicht bewusst reflektiert wird, wirkt sie dennoch unbewusst und sorgt für eine Art Abwehrhaltung und in zahlreichen Fällen für eine gebremste Servicementalität.

Zeitgemäßer erscheint ein partnerschaftliches Modell mit unverkrampften Verhaltensformen auf beiden Seiten. Der Kunde ist Gast – ursprünglich entwickelt für Disneyland, Orlando – hat sich in den vergangenen Jahren als angemessene Metapher im Einzelhandel etabliert. Im Mittelpunkt steht das Motiv der gelebten Gastfreundschaft. Konsequenterweise nimmt der einzelne Mitarbeiter bzw. das gesamte Team die Rolle des Gastgebers ein. Gast und Gastgeber bewegen sich auf einer gemeinsamen Bühne gleichberechtigt und respektvoll gegenüber dem jeweils anderen. Der Gast genießt das Recht einer zuvorkommenden Behandlung, zudem Freundlichkeit und Aufmerksamkeit und im Bedarfsfall ein über das Soll hinausgehendes Engagement. Die Beziehung Gast-Gastgeber wird durch ein Korrektiv in der Balance gehalten, indem Gäste sich an unausgesprochene oder auch zunehmend ausgesprochene Spielregeln halten, die den Partyverlauf nicht stören. So können im Verkaufsalltag anmaßende Verhaltensweisen und auch persönliche Angriffe konsequent behandelt werden.

Das vorliegende Buch skizziert praxisnah, wie das Leitbild Der Kunde ist Gast mit Leben erfüllt werden kann. Maßstab und Ziel bleibt dabei stets die radikale Kundenorientierung. Ein wenig martialisch klingend ist der Begriff der radikalen Kundenorientierung geeignet, die betrieblichen Kräfte zu bündeln und im unübersehbaren Produkt- und Servicewettbewerb praktikable Wege zur Kundenbindung zu erzielen. Die vorliegenden Beispiele basieren auf der Trainings- und Beratungspraxis des Autors – in erster Linie aus dem Bucheinzelhandel. Die dabei vorgestellten Grundprinzipien und Handlungsanleitungen können mit ein wenig Phantasie problemlos auf große Teile des Fachhandels übertragen werden.

Nichts ist so beständig wie der Wandel

Welche Zukunft hat der Buchhandel? Wie werden sich Städte und ganze Regionen entwickeln? Welche Perspektiven hat der Handel, wenn sich Kunden zunehmend dem Internet zuwenden? Und zugleich: Worin liegen die Chancen im Zeitalter der Digitalisierung? Solche Fragen fordern den Handel zu einem neuen Denken auf, sich in einer Welt des permanenten Wandels zu entdecken. Dafür braucht es die Fähigkeit, Verunsicherungen durch klaren Verstand zu bändigen, denn wie so oft ist der Blick in die Glaskugel von Ängsten und – brisant – von der Meinung anderer getrübt. Wenn es jedoch gelingt, Ängste und Sorgen hinter sich zu lassen und möglichst sachlich auf das tatsächliche Geschehen zu blicken, kann aus der Vogelperspektive Folgendes beobachtet werden.

Erstens: Es hat sich eine sichtbare Koexistenz stationärer und online geprägter Handelsformen eingespielt. Ein reiner Kannibalismus des Internets zulasten des stationären Handels ist für gut positionierte Einzelhändler ausgeblieben, wobei ›gut positioniert‹ hierbei das Schlüsselwort ist.

Zweitens: Die Standortqualität ist für Wachstumsperspektiven so wichtig geblieben wie sie schon immer gewesen ist. In diesem Punkt geht die Schere auseinander. Gut frequentierte Lagen in einem gesunden Einzelhandelsumfeld mit Flanierqualität zeigen sich eher stabil. Leerstände dagegen beeinträchtigen gut geführte Betriebe genauso wie sich ändernde Laufwege, die sich beispielsweise durch neue Einkaufszentren ergeben. Ein ähnliches Handicap für die Attraktivität eines Standortes können inaktive Einzelhändler im unmittelbaren Umfeld sein. ›Buy local‹ als Initiative für eine Art Bewusstseinserweiterung der Kundschaft stößt an diesem Punkt an eine ernstzunehmende Grenze.

Drittens: Die demografische Entwicklung lässt erkennen, dass an manchen Standorten die Kundschaft überaltert ist und mancherorts schlicht wegstirbt. Eine rückläufige Kundenfrequenz hat also nicht zwingend etwas mit einem geänderten Konsumverhalten zu tun.

Viertens: In ähnlicher Weise führen uns ganze Regionen in unserem Land vor Augen, dass die verfügbare Kaufkraft sehr verschieden verteilt sein kann. So liefern so genannte ›Speckgürtel‹ am Rande von Ballungsräumen, beispielsweise im Rhein-Main-Gebiet, im Großraum Stuttgart oder südlich von München, andere Perspektiven als strukturschwache Gebiete in Mecklenburg-Vorpommern. Sollten die aktuellen Prognosen eintreten, so werden die Metropolen an Zuzug gewinnen und ländliche Bezirke den Preis dafür bezahlen.

Diese ausgewählten Aspekte verdeutlichen, dass erfolgreiches Agieren nicht nur vom Geschick der Unternehmer abhängt, sondern im Kontext übergeordneter Rahmenbedingungen zu sehen ist. Mit dem vorliegenden Buch widmen wir uns nicht der unternehmerischen Entscheidung, an welchem Standort oder mit welchem Geschäftsmodell der Markt erobert werden soll. Es geht vielmehr darum, was für eine professionelle Buchhändlerarbeit jeden Tag bewusst getan werden kann, um unabhängig von den oben skizzierten Rahmenentwicklungen eine optimale Attraktivität der Buchhandlung zu erreichen. Unter dem Leitbild Der Kunde ist Gast wird das eigene Rollenverständnis reflektiert. »Wie möchte ich als aufmerksamer Gastgeber sein?« zieht sich als Frage durch alle Seiten. Doch schauen wir zunächst auf einige zentrale Begriffe und Zusammenhänge, die für eine stabile Kundenbindung nützlich sind.

Aufenthaltsqualität

Unsere Kunden wollen sich wohlfühlen. »Was können wir tun, damit es unseren Kunden gut geht?« ist eine zielführende Frage, die unseren Blick auf das Wichtige lenkt. Der Raum und das Raumgefühl gehören zu den Merkmalen, die den stärksten Unterschied zum Internet und auch zu Wettbewerbern ausmachen. Die Raumerschließung, die Warenpräsentation, Sauberkeit, Ordnung, jeder einzelne im Team mit seinen individuellen Verhalten – all das gehört auf den Prüfstand. Hier ist Professionalität statt Amateurhaltung gefragt. Alle Fähigkeiten dazu sind erlernbar.

Kunden inspirieren

Die jüngste GFK-Studie Buchleser und Buchkäufer aus dem Jahr 2015 zeigt, dass Zielkäufe im stationären Handel auf dem Rückzug sind. Wenn der Kunde genau weiß, was er möchte, ist das Internet für ihn in der Regel die erste Wahl. Die Erfahrung zeigt, dass der gezielte Kauf im Netz rasch, komfortabel und in der Regel auch zur vollsten Zufriedenheit des Kunden abläuft. Wo liegt aber dann die Chance für den etablierten Buchhandel? Buchhandlungen sind und bleiben der richtige Ort, wenn Kunden keine feste Kaufvorstellung haben, offen für Ideen sind und Spaß am Stöbern haben. Besser gesagt: Sie sollten der richtige Ort sein.

Kunden zu inspirieren, zu animieren, Gelegenheiten zum Entdecken geben – all das sind Großchancen des stationären Handels. Persönliche Empfehlungen als Herzstück einer modernen Buchhandlung gehören nicht an den Rand gedrängt, sondern in das Zentrum des Geschäfts gerückt. Das verbindet das Kundenbedürfnis nach individueller Inspiration mit dem eigenen Profil der Buchhandlung jenseits des Mainstream. Neben der ansprechenden Präsentation eigener Perlen liegt es auf der Hand, im Kundengespräch selbst aktiv zu sein. Denken Sie für Kunden mit! Zeigen Sie Interesse, indem Sie im Gespräch aufmerksam hinhören und mehr als bisher Ideen oder auch Zusatzinformationen loswerden, die die Kunden auf neue Ideen bringen. Nehmen Sie den Begriff ›storytelling‹ wörtlich und erzählen Sie Geschichten über Bücher. Was der Kunde nicht weiß, sieht er nicht. Unterstützen Sie ihn!

Titelrecherche

Binnen weniger Jahre hat sich etwas Wesentliches verändert: Die buchhändlerische Kernkompetenz, spezielle Titel mit Hilfe von berufsspezifischen Nachschlagewerken zu suchen und damit bibliografisch verfügbar zu machen, hat sich geradezu in Luft aufgelöst. Einst ein elementarer Ausdruck buchhändlerischer Arbeitsqualität, ist die Recherche zu einem Großteil in die Zuständigkeit der Kunden abgewandert. Selbst viele Buchhandelskollegen vertreten die Auffassung, dass Amazon schlicht die beste Suchmaschine anbietet. Kunden sind heute in der Lage, während der Titelrecherche im Laden auf dem eigenen Smartphone rascher einen Treffer zu landen als manche Buchhändler. Für viele ›Gatekeeper‹, die die Recherche immer noch als eine Form von Herrschaftswissen verinnerlicht haben, ist das provokant, denn Amazon gilt als Feind, den es zu bekämpfen gilt, wo immer er auch ansatzweise in Erscheinung tritt.

An diesem Beispiel wird der Unterschied zwischen Frosch- und Vogelperspektive deutlich. In der Froschperspektive sehen manche die nur schwer fassbare Bedrohung und reagieren häufig irrational. Bei Einigen beeinflussen möglicherweise negative Gedanken die eigentlich selbstverständliche positive ›Vor-Einstellung‹ gegenüber dem Kunden. Andere neigen sogar direkt zu einer Wortwahl, die die eigene persönliche Meinung zum großen Mitbewerber wiedergibt. Diese eigene Meinung jedoch, die persönliche Bewertung, behindert das Miteinander mit Kunden mehr als uns lieb sein kann. Aus der Vogelperspektive hingegen spielen Emotionen keine so entscheidende Rolle. Persönliche Bewertungen schwächen sich ab, und Rationalität tritt an ihre Stelle. Wer akzeptieren kann, dass Mitbewerber – egal wer sie sind und was sie tun – einfach da sind und für viele Kunden einen guten Job machen, ist auf dem Weg zum Gewinner. Sich gegen Fakten am Markt zu wehren, die nicht zu ändern sind, raubt Energie und ist schlicht unproduktiv.

Doch kommen wir zurück zur Eingangsthese: Die Recherche gehört nicht mehr zum Hoheitsgebiet des Buchhändlers. Was ist zu tun? Jenseits der technologischen Kompetenz, zu der im weiteren Sinne auch ein selbstverständlicher Umgang mit dem eigenen Webshop gehört, ist es zunehmend die Persönlichkeit, die zählt. In welcher Haltung gehen wir auf unsere Kunden zu? Mit welchen Gedanken starten wir in den Tag? Wie weit sind wir noch auf der Spur der ›Chancen-Denker‹? Oder sind wir immer noch in der trüben Welt der ›Problem-Denker‹ verankert? Das Anforderungsprofil, das Berufsbild im Buchhandel, wandelt sich demzufolge. Ein aufgeschlossener Menschentyp, selbstbewusst und bereit, auf der täglichen Buchhandelsbühne souverän mit Menschen jeder Art umzugehen, löst mehr und mehr branchentradierte Kriterien, wie Titelkenntnis, mitunter sogar Allgemeinbildung, ab.

Zukunft aktiv meistern

Offen sein für neue Entwicklungen und neugierig werden, wie andere im direkten Umfeld mit Veränderungen umgehen, sind Schlüsselqualifikationen, um auch die Zukunft aktiv zu meistern. Hans Zimmer, einer der großen Filmmusikproduzenten in Hollywood, bringt es in einem Interview auf den Punkt: Er berichtet von seiner ersten Begegnung mit seinem Klavierlehrer. Er erzählt von seiner Enttäuschung, als ihm bewusst wurde, dass ihm ein Klavierlehrer nur Stücke beibringen wollte, die bereits andere vor ihm gespielt hatten. Seine Vorstellung war jedoch eine gänzlich andere. Er erwartete von seinem Klavierlehrer, dass er ihn in seiner Persönlichkeit nach vorne bringt, seine Talente erkennt und entwickelt.

Welch ein interessanter Ansatz! Sobald Sie andere imitieren, stecken Sie fest. Übertragen auf Ihre Branche bedeutet das, dass erlernte Verkaufstechniken schön und gut sind und Halt für eine souveräne Gesprächsführung geben. Entscheidend wird aber sein, welche Haltung Sie zu Ihrem Beruf finden und wie es Ihnen gelingt, Ihre Persönlichkeit zu entfalten. Die folgenden Seiten bieten Ihnen einen Entwurf, an welchem Leitbild Sie sich orientieren können. Akzeptieren Sie die Veränderungen im Kundenverhalten und seien Sie wachsam, in welchen Punkten Ihre persönlichen Werte und Beurteilungen die Entfaltung Ihrer Gastgeberrolle beeinträchtigen. Werden Sie unverwechselbare Gastgeber auf legendären Partys!

Hamburg, im Januar 2016

Jörg Winter