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Migration

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Band Migration

E-Book zum Magazin change Ausgabe 2/2015

© 2015 E-Book-Ausgabe

Verlag Bertelsmann Stiftung, Gütersloh

Verantwortlich: Christiane Raffel

Umschlaggestaltung: Bertelsmann Stiftung

Umschlagabbildung: Veit Mette, Bielefeld

ISBN 978-3-86793-696-5 (PDF)

ISBN 978-3-86793-697-2 (EPUB)

www.bertelsmann-stiftung.de/verlag

Inhalt

Vorwort

Vielfältiges Deutschland

Ein neuer Ton im migrationspolitischen Diskurs

Wenn aus Ausländern Wähler werden: Die ambivalente Rolle der Parteien bei der Repräsentation von Migranten in Deutschland

Die Evidenz der Massenmedien und die Zuwanderer

Willkommen heißen wir uns selbst

Migration gerecht gestalten

Triple Win – ein neues Paradigma der Migrationsgestaltung?

Faire Migrationsgestaltung in Deutschland

Wege zu einer kohärenten deutschen und europäischen Flüchtlingspolitik

Auf dem Weg zu einer »sozialen Marktwirtschaft für Migration« in Deutschland und weltweit

Wer gehört dazu?

Staatsbürgerschaft, Teilhabe und Zugehörigkeit: Auf der Suche nach einem neuen Konsens für Deutschland

Wir sind Stuttgart

Wer ist Oldenbürger? Zugehörigkeit von Zuwanderern und Zuwanderinnen aus Oldenburger Perspektive

Zugehörigkeit und gesellschaftliche Präsenz von Migranten in Deutschland

Deutschland, öffne dich!

Abwehrhaltungen und Willkommenskultur in der Einwanderungsgesellschaft

Vielfalt und Willkommenskultur: Wie Deutschland zu einer offenen und gerechten Gesellschaft werden kann

Brücken bauen – Perspektiven aus dem Einwanderungsland Deutschland

»Heimat ist dort, wo Mutti is‘!«

Deutsch oder türkisch? Wie erziehe ich meine Kinder?

Vorwort

Eine Gesellschaft, die mit dem Thema Migration anders umgehen will als bisher, muss ihr Selbstverständnis ändern. Wie könnte ein neues Paradigma der Migrationsgestaltung aussehen? Und wie kann Deutschland zu einer offenen und gerechten Gesellschaft werden?

Der vorliegende E-Book-Reader ergänzt die Schwerpunktausgabe »Migration« unseres Magazins change im Juni 2015. Die Beiträge analysieren Perspektiven für das Einwanderungsland Deutschland, berichten über kommunale Willkommenskultur und geben Empfehlungen für eine gerechte Migrationsgestaltung auf nationaler und internationaler Ebene. Bei den Texten handelt es sich um Auszüge aus Büchern des Verlags Bertelsmann Stiftung. Weitere Informationen zu unseren Verlagsprodukten finden Sie unter:

www.bertelsmann-stiftung.de/verlag.

Wir freuen uns über Ihr Interesse und wünschen Ihnen eine anregende Lektüre.

Ihr

Verlag Bertelsmann Stiftung

Vielfältiges Deutschland (Leseprobe)

Ein neuer Ton im migrationspolitischen Diskurs

Friedrich Heckmann

Ein neuer Ton klingt an im migrationspolitischen Diskurs in Deutschland: Von Willkommen und Anerkennung gegenüber Einwanderern ist die Rede. Willkommenskultur – kein Begriff im Themenbereich von Migration und Integration hat in den letzten zehn Jahren eine vergleichbare Karriere gemacht. Die überraschende Prominenz und Verbreitung des Begriffs steht für eine veränderte, freundliche Tonalität des Diskurses über Migration und Integration. Statt vor weiterer Einwanderung und einer »zum Scheitern verurteilten multikulturellen Gesellschaft« zu warnen, wollen alle plötzlich Willkommenskultur: der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Oberbürgermeister und Integrationsbeauftragte der Städte, Politiker verschiedenster Couleur, aber auch die Feuerwehr und der Sportverein von nebenan. Von den Integrationsbeauftragten hat man den neuen Ton erwartet, von den anderen nicht unbedingt.

In diesem Beitrag wird der Versuch unternommen, die Entstehung des neuen Tons in der migrationspolitischen Debatte hierzulande zu erklären und in historischer Perspektive zu bisherigen Debatten in Beziehung zu setzen. Zugleich soll auf mögliche Wirkungen der veränderten Tonalität in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen eingegangen werden. Die Legitimität des neuen Diskurses scheint jedoch noch keineswegs für die Zukunft gesichert zu sein und kann durch bestimmte Risiken erhöhter Zuwanderung gefährdet werden. Möglichkeiten, mit diesen Risiken umzugehen, sind ebenfalls Inhalt dieses Beitrags.

»Willkommenskultur« im historischen Kontext migrationspolitischer Debatten

Willkommens- und Anerkennungskultur – Letztere meint das »Willkommen« für die schon länger im Land lebenden Menschen mit Migrationshintergrund (und wir meinen im Folgenden immer beide Aspekte, wenn wir »Willkommenskultur« schreiben) – stehen im Kontext einer Situation, in welcher Wirtschaft, Politik und Gesellschaft die bisher nur wissenschaftlich prognostizierten Folgen des demographischen Wandels praktisch vor Augen treten und sie in ihren Interessen betreffen: Lehrstellen können nicht besetzt werden, in den Betrieben fehlen Fachkräfte und der Blick auf absehbare demographische Entwicklungen zeigt beispielsweise, dass in der gegenwärtigen Kohorte der Null- bis Dreijährigen in den großen Städten bereits die Mehrheit einen Migrationshintergrund hat.

Der neue Ton der migrationspolitischen Debatte und die ihn begleitenden Aktivitäten zeigen sich etwa an Folgendem: Fachkräfteinitiativen und -strategien werden entwickelt, große Firmen unterzeichnen eine von der Integrationsbeauftragten des Bundes initiierte Diversity-Erklärung, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gründet eine Projektgruppe zur Willkommenskultur und entwickelt Empfehlungen für einen neuen Umgang in den Ausländerämtern, ausländische Absolventen deutscher Hochschulen werden plötzlich als im Grunde ideale Einwanderer gesehen und das Zuwanderungsgesetz vollzieht den dafür notwendigen Kurswechsel. Der neue Trend wird dabei sehr schön durch ein Projekt des Bayerischen Staatsministeriums für Wirtschaft illustriert: »Study and Stay in Bavaria«. Wer das früher im Sinn hatte, bekam es mit der Ausländerbehörde zu tun oder musste besondere Wege gehen, um gegen den Willen des Gesetzes dennoch bleiben zu können.

Vor diesem Hintergrund ist Willkommenskultur die politische und kulturelle Antwort auf die Herausforderungen einer Lage und zukünftigen Entwicklung, in der Wirtschaft und Gesellschaft noch stärker als bisher auf Zuwanderung angewiesen sind und diese demokratisch und sozialstaatlich gestalten müssen. Diese neue Lage ist durchaus erfreulich für diejenigen gesellschaftlichen Kräfte, die »schon immer« Willkommenskultur für Zuwanderer forderten und mit ihren Möglichkeiten praktizierten, ohne dass dieser Begriff bereits existierte, wie etwa unter den großen Organisationen die Wohlfahrtsverbände, Kirchen, Gewerkschaften oder bestimmte NGOs, etwa der Interkulturelle Rat.

In historischer Perspektive ist gegenüber bisherigen migrations- und integrationspolitischen Debatten bemerkenswert, dass dies harte Kontroversen waren. Bei der Debatte um Willkommenskultur dagegen geht es etwa um Fragen ihrer bereichsbezogenen Realisierung, auch ihrer Glaubwürdigkeit, aber es gibt, sieht man von rechtsradikalen oder neonazistischen Kräften ab, keine ausgesprochene Gegenposition im öffentlichen Diskurs.

Das Neue wird deutlich, wenn man sich die bisherigen Hauptdebatten zu Migration und Integration in Deutschland seit den 1960er-Jahren vergegenwärtigt. Es waren vor allem vier Hauptdebatten mit folgenden Kernfragen:

Die Einwanderungsdebatte: Ist Deutschland ein Einwanderungsland?

Die Staatsangehörigkeitsdebatte: Wer ist ein Deutscher?

Die Multikulturalismusdebatte: Ist Deutschland eine multikulturelle Gesellschaft?

Die Scheiternsdebatte: Ist Integration in Deutschland gescheitert?

Die Einwanderungsdebatte

Die Einwanderungsdebatte entwickelte sich vor folgendem Hintergrund: Mit dem Anwerbestopp von 1973 zielte die Regierung darauf ab, die ausländische Bevölkerung in Deutschland zu reduzieren. Zwar ging die Zahl der beschäftigten Ausländer auch tatsächlich zurück, aber die ausländische Bevölkerung stieg entgegen den Erwartungen weiter an. Viele Arbeiter holten ihre Familien ins Land und ein Niederlassungsprozess begann.

Angesichts des gesunkenen Arbeitskräftebedarfs und zur Abwehr der ungewollten, aber nicht zu verhindernden Familienzusammenführung und dem damit verbundenen Niederlassungsprozess kam die Formel auf: »Deutschland ist kein Einwanderungsland.« Dieser Grundsatz wurde die offizielle Leitlinie der deutschen Politik bis 1998. Deutschland als europäischer Nationalstaat lasse sich nicht mit klassischen Einwanderungsländern wie den USA oder Australien vergleichen. Der Satz bedeutete, dass die Bundesregierung die Präsenz einer ausländischen Bevölkerung nach wie vor als temporär ansah und dass die Rekrutierung ausländischer Arbeiter eine Ausnahme gewesen sei, die man nicht wiederholen wolle. Man leugnete die Zugehörigkeit der zugewanderten Bevölkerung und sah auch keine Notwendigkeit, sie als Bürgerinnen und Bürger mit einer systematischen Integrationspolitik zu unterstützen.

Das sogenannte Kühn-Memorandum des ersten Ausländerbeauftragten der Bundesregierung hatte zwar bereits 1979 auf das Vorliegen einer Einwanderungssituation hingewiesen, ohne dies aber systematisch zu explizieren. Das Memorandum blieb auch in seiner Zeit folgenlos. Die systematische Widerlegung der Leugnung der Einwanderungsthese begann in der Wissenschaft (Esser 1980; Heckmann 1981; Bade 1983) und führte in einem langen und durch viele Anfeindungen gekennzeichneten Prozess der Kommunikation aus der Wissenschaft in zivilgesellschaftliche Organisationen und Medien zu einer fortschreitenden gesellschaftlichen Erkenntnis über die Wirklichkeit der Einwanderung. Die rot-grüne Bundesregierung von 1998 erkannte die Einwanderungsthese auch offiziell an und entschied die Debatte. Auf der Grundlage dieser neuen Situationsdefinition kam es in den Folgejahren zu einer systematischen Entwicklung von Integrationspolitik und der Entwicklung dafür notwendiger Institutionen.

Die Staatsangehörigkeitsdebatte

Mit der bleibenden Präsenz von Millionen von Zuwanderern in Deutschland stellte sich die Frage nach ihrem rechtlichen und politischen Status. Die Debatte darüber wurde wissenschaftlich und politisch vor allem über die Frage des Zugangs zur Staatsangehörigkeit ausgetragen. Diese Frage hängt eng mit dem Verständnis von Staat und Nation zusammen. Ist die Nation eine Abstammungsgemeinschaft oder zusätzlich eine Rechtsgemeinschaft auf der Basis geteilter politischer Werte und gemeinsamer Institutionen? Wenn die Nation als Abstammungsgemeinschaft verstanden wird, wie die Vertreter einer konservativen Position argumentieren (»Deutsch ist, wer von Deutschen abstammt«), wird auch die Zugehörigkeit zur Nation und die Staatsangehörigkeit an dieses Kriterium gebunden. Mit dieser Argumentation folgte man dem Prinzip des Ius Sanguinis (»Recht des Blutes«, Abstammungsprinzip).

Die Gegner dieser Position argumentieren für das Prinzip des Ius Soli, das mit Bezug auf den Zugang zur Staatsangehörigkeit von der legalen Anwesenheit im Territorium und einer gesellschaftlichen Zugehörigkeit ausgeht, ohne das Ius-Sanguinis-Prinzip abzuschaffen: Man kann Deutsch sein, wenn man in Deutschland geboren wurde oder als Zuwanderer einen Integrationsprozess durchlaufen hat. Die Debatte zeigte, dass dieses Prinzip der Realität einer Einwanderungsgesellschaft angemessener ist als das alleinige Verständnis von Nation als Abstammungsgemeinschaft. Im neuen Einwanderungsland Deutschland setzte sich mit dem neuen Staatsangehörigkeitsgesetz aus dem Jahr 2000 dieses Verständnis politisch durch. Die sogenannte Optionsregelung war dabei ein Zugeständnis an die konservativen Kräfte und in vielen Köpfen ist das alte Verständnis weiter präsent. Den eingewanderten »Ausländern« wird demzufolge eine Zugehörigkeit zu Nation und Staat von diesen Kräften noch immer verweigert. Nicht selten wird Einbürgerung zum Thema rechtsradikaler und neonazistischer Propaganda gemacht.

Die Multikulturalismusdebatte

In dieser Debatte ging vieles durcheinander und es wird auch heute noch heftig gestritten: Ja, wir sind eine multikulturelle Gesellschaft – oder nein, wir sind das keinesfalls. Man redet dabei häufig aneinander vorbei und vermischt vor allem eine normative und eine deskriptive Dimension. Im deskriptiven Sinn lässt sich die These nicht leugnen: Menschen aus vielen Ländern, die jetzt in Deutschland leben, haben ihre Kultur mitgebracht und sind davon geprägt. Viele neue Kulturen sind in Deutschland präsent. Auch im Integrationsprozess geben sie ihre mitgebrachte Kultur nicht einfach auf, sondern übernehmen Neues, ohne das Mitgebrachte zu vergessen.

Im normativen Sinn verläuft die Debatte anders: Soll die entstandene kulturelle Pluralität der Menschen im Sinne ethnischer Minderheiten in multiethnischen Nationalstaaten beibehalten und gefördert werden oder soll man einen kulturellen und sozialen Annäherungsprozess zwischen Einwanderern und Einheimischen mit gemeinsamer Sprache und gemeinsamen Institutionen anstreben? Auf dem Hintergrund der Theorie von Wiley (1967) ist zu erwarten, dass in Einwanderungsgesellschaften ausbleibende kulturelle und soziale Annäherungsprozesse auch die sozioökonomische Angleichung der Lebenslagen behindern. Zugleich scheinen multikulturelle Herkünfte und Austauschprozesse die gesellschaftliche Kreativität und Innovationsfähigkeit zu steigern (Stahl et al. 2009).

Die Scheiternsdebatte

Integration ist ein Prozess, der über Generationen verläuft. Er involviert eine Vielzahl von wechselseitigen Lern- und Anpassungsprozessen aufseiten der Migranten wie auch aufseiten der aufnehmenden Gesellschaft. Bei kontinuierlicher Neumigration zeigt sich, dass »typische« Probleme von Migrantinnen und Migranten in der ersten Phase ihrer Integration auch immer wieder in Erscheinung treten, was manche Betrachter dazu verleitet, wegen der stets gleichen Probleme Fortschritte der Integration mit zunehmendem Aufenthalt zu übersehen. Gegner einer Einwanderungspolitik nehmen dies zum Anlass, den Sinn und Nutzen jeglicher Einwanderung zu leugnen.

In der leidenschaftlichen migrationspolitischen Kontroverse des Jahres 2010 um das Buch »Deutschland schafft sich ab« von Thilo Sarrazin wird ein behauptetes Scheitern der Integration vor allem auf Gruppen muslimischer Einwanderer und ihrer Kinder bezogen. Die Wirkung des Buches bestand zum einen darin, dass Sarrazin im Gewande eines Aufklärers auftrat, der den »Mut« hatte, eine Reihe von Feststellungen über Integrationsprobleme dieser Gruppe, die in der Forschung längst belegt und dokumentiert waren, in die Öffentlichkeit zu tragen und damit ein vermeintliches Schweigekartell von Einwandererfreunden zu durchbrechen. Zum anderen mobilisierte Sarrazin traditionelle, im Kollektivbewusstsein verankerte Vorurteile gegen Fremde und speziell Muslime – und dies zum Teil im biologistisch-rassistischen Stil.

Dass Integration in Deutschland überwiegend durchaus erfolgreich verläuft, zeigt sich unter anderem darin, dass mit der Länge des Aufenthalts der Integrationsgrad steigt, dass die Migrantinnen und Migranten zunehmend die deutsche Sprache sprechen und dass die Integration in Arbeitsmarkt, Bildungssystem und Selbstständigkeit sich trotz des Fortbestehens vieler Benachteiligungen verbessert. Für den Beleg dieser Aussage hat Claudia Diehl eine Reihe von grundlegenden Daten zusammengestellt (Diehl 2007).

Beim Vergleich der neuen Debatte mit den gerade skizzierten ist bemerkenswert, dass die neue Tonalität durchweg »integrationsfreundlich« ist und keine Kontroverse beinhaltet. Mit den alten Debatten ist die neue aber durchaus verbunden, indem sie diese als Voraussetzung hat: Sie geht selbstverständlich von Deutschland als Einwanderungsland aus, betrachtet Menschen mit Migrationshintergrund als zugehörig, respektiert die Kultur der Migrantinnen und Migranten, ohne Minderheitenrechte zu verlangen, und ist eher optimistisch in Hinsicht auf den Erfolg von Integrationsprozessen.

Wirkungen

Wirkungen des neuen Tons im gesellschaftlichen Diskurs über Migration und Integration können auf den Ebenen von Individuen, von Organisationen und der Gesamtgesellschaft unterschieden werden. Der neue Ton ermutigt und stärkt zunächst jene Personen, die »schon immer« migrantenfreundliche Einstellungen und Verhaltensweisen gezeigt haben und gegen Fremdenfeindlichkeit, Ethnozentrismus und Rassismus eingetreten sind. Zugleich lässt er vorurteilsvolle Personen eine soziale Kontrolle spüren, die sie hindern kann, ihre Einstellungen zu äußern oder in diskriminierendes Verhalten umzusetzen. Dass Personen rechtsradikaler oder neonazistischer Haltungen sich von dem neuen Ton beeinflussen lassen und ihre Einstellungen überdenken, ist allerdings nicht zu erwarten; sie werden sich eher herausgefordert und in ihrer Ablehnung von Einwanderung bestärkt sehen und möglicherweise sogar ihre Aktivitäten intensivieren und ausweiten.

Für Menschen mit Migrationsgeschichte, die durch ausgrenzende Diskurse und Diskriminierungserfahrungen eine gefühlsmäßige Distanz zum Einwanderungsland Deutschland halten, könnte der neue Diskurs, wenn er denn in vielfältige und glaubwürdige Signale und Handlungen umgesetzt wird, Identifizierungsprozesse fördern. Empirische Untersuchungen müssen zeigen, ob sich diese Vermutung erhärten lässt. Insgesamt gesehen lässt sich für die individuelle Ebene gesellschaftlicher Wirklichkeit eine integrationsfördernde Wirkung der neuen Tonalität erwarten.

Betrachtet man nun die Ebene zivilgesellschaftlicher Organisationen, können folgende Einschätzungen getroffen werden: Vereine, Verbände, NGOs oder Stiftungen beginnen zu erfahren oder wissen, dass der demographische Wandel auch ihre Mitgliederentwicklung, Ressourcen und Aktivitäten betrifft oder betreffen wird. Nicht unbedingt die unmittelbaren Neueinwanderer, aber die Menschen mit Migrationsgeschichte, die schon länger im Land leben, jedoch den Weg in Vereine und andere Organisationen der Mehrheitsgesellschaft noch nicht gefunden haben, stoßen auf ihr Interesse als potenzielle Neumitglieder. Der neue Ton der Zuwanderungsdebatte mit seinen Signalen der Offenheit kann auf der einen Seite Migranten anregen, solche Mitgliedschaften in Erwägung zu ziehen, und auf der anderen Seite zivilgesellschaftliche Organisationen bewegen, für ihre Strukturen angemessene Formen interkultureller Öffnung zu entwickeln. Es geht dabei darum, nicht nur neue Mitglieder zu rekrutieren, sondern sich auch auf mögliche Besonderheiten ihrer Interessen und Praktiken einzustellen.

Reflektiert man schließlich mögliche Wirkungen der neuen Tonalität auf gesamtgesellschaftlicher Ebene, lässt sich feststellen: Die Willkommenskultur der neuen Art ist zunächst einmal ein Projekt der politischen und gesellschaftlichen Eliten und des Staates auf den verschiedenen Ebenen staatlicher Organisation. Für die gesamtgesellschaftliche Definition der Einwanderungsfrage, das gesellschaftliche Framing, ist das ein äußerst wichtiger Tatbestand: Wer gegen Einwanderung und Einwanderer ist, bekommt es mit den Mächtigen in Staat und Gesellschaft zu tun. Wie wichtig das ist, wird am kontrastierenden Fall deutlich, der der deutschen Politik durchaus nicht fremd ist: dem Fall von Staaten und herrschender Politik, die Vorurteile und Fremdenfeindlichkeit mobilisieren und instrumentalisieren. Der neue Ton in der Migrationsdebatte stärkt also gesamtgesellschaftlich die soziale Kontrolle gegen Fremdenfeindlichkeit, Ethnozentrismus und Rassismus.

Der Staat kann in seinem ureigensten Handlungsbereich, der öffentlichen Verwaltung, eine Menge tun, um das Neue in der Migrationsdebatte bei sich umzusetzen. Das Stichwort heißt hier interkulturelle Öffnung der Verwaltung und beinhaltet nicht nur die Rekrutierung von Personal mit Migrationshintergrund, sondern auch die Erbringung von Serviceleistungen, die auf die Bedürfnisse von Migrantinnen und Migranten besser eingehen. Das verbreitete Bemühen um die Reform der Ausländerämter steht hier für einen besonders reformbedürftigen Bereich. Aber auch in vielen anderen Bereichen, vor allem auf kommunaler Ebene, gibt es vielfältige und vielversprechende Ansätze interkultureller Öffnung von Verwaltung.

Für die Durchsetzung eines neuen Tons in der Migrationsdebatte spielen die Medien eine zentrale Rolle. Sofern die Eliten, die Willkommenskultur propagieren, Einfluss auf diese haben, ist zu erwarten, dass die Medien den neuen Ton aufnehmen bzw. schon aufgenommen haben. Auch der – wenn auch nur langsam – zunehmenden Rekrutierung von Medienschaffenden mit Migrationshintergrund kommt hierbei eine wichtige Rolle zu und diese kann helfen, den neuen Ton zu verstärken.

Risiken des Konzepts

Der neue, freundliche Ton in der Einwanderungsdebatte hat, wie gezeigt, die Chance auf eine Reihe integrationsfördernder Wirkungen. Zusammen mit verstärkter Zuwanderung birgt er jedoch auch bestimmte Risiken, die wir Legitimitätsrisiko, Überforderungsrisiko und Kohäsionsrisiko nennen wollen. Das Legitimitätsrisiko ergibt sich im Kern daraus, dass keineswegs alle Zuwanderer willkommen sind. Es ist dabei durchaus legitim, Nützlichkeitserwägungen einen hohen Stellenwert in der Zuwanderungspolitik zu geben. Nicht nur die Zuwanderer, auch die aufnehmende Gesellschaft soll von der Zuwanderung einen Nutzen haben. Das Motto und die Praxis einer Willkommenskultur sind vom Entstehungszusammenhang und von den Interessen her gesehen auf die sogenannten Fachkräfte und die Hochqualifizierten ausgerichtet, werden aber aus Scham oder Kalkül, diesen Nutzenaspekt nicht in den Vordergrund zu stellen, auf die Zuwanderung insgesamt hin propagiert.

Keineswegs alle Zuwanderer sind aber faktisch willkommen: Der Staat muss weiter abschieben, will er seinen Zuwanderungsgesetzen Geltung verschaffen; Roma und andere Armutsflüchtlinge sind in Politik und Öffentlichkeit durchaus nicht willkommen und die Aufnahme von Asylbewerbern ist eine humanitäre Verpflichtung, keineswegs eine willkommene Art der Zuwanderung. Der Begriff Willkommenskultur in der Einwanderungsdebatte leidet daher unter den Widersprüchen und Notwendigkeiten von steuernder Migrationspolitik und steht folglich legitimitätsmäßig auf unsicherem Grund.

Willkommenskultur ist als Initiative ein Staats- und Elitenprojekt, das top-down verfährt. Das hat, wie weiter oben erläutert, integrationsfördernde Aspekte, birgt aber auch Risiken, die wir als Überforderungsrisiko bezeichnen. Nicht nur gibt es in der Bevölkerung einen relativ stabilen Satz rechtsradikaler Haltungen und Weltbilder, die unter bestimmten Bedingungen mobilisierbar sind, sondern es kann sich bei verstärkter Zuwanderung auch in der breiteren Bevölkerung – wie etwa in der Asylkrise von 1991/1992 – ein Gefühl einstellen, dass die Kontrolle über Ausmaß und Art der Zuwanderung verloren gegangen ist oder verloren zu gehen droht, worauf mit einwandererfeindlichen Haltungen reagiert wird. Das Projekt Willkommenskultur kann sich dann immer mehr von der Lebenswelt breiterer Bevölkerungsgruppen entfernen und droht, seine Glaubwürdigkeit und Wirkung zu verlieren. Wann ein solcher Schwellenwert überschritten wird, ist nicht zu prognostizieren, aber es lassen sich bestimmte Indikatoren nennen, die Spannungen indizieren. Hierbei lassen sich objektive Indikatoren, Reaktionen der Aufnahmegesellschaft und Reaktionen der Migrantengruppen unterscheiden:

Objektive Krisenindikatoren:

stagnierende oder zurückgehende Integration von Migranten in Arbeitsmarkt und Wirtschaft

stagnierende oder zurückgehende Integration von Migranten im Bildungs- und Qualifikations system

zunehmende Abhängigkeit von wohlfahrts staatlichen Leistungen bei Migranten

anhaltende Sprachprobleme bei Migranten

zunehmende Konzentration von Migranten in bestimmten Segmenten des Wohnungsmarktes und in Stadtteilen

Reaktionen in der Aufnahmegesellschaft:

starke Verschlechterung des gesellschaftlichen Meinungsklimas gegenüber Migranten und Minderheiten – Niederschlag in Umfragen, Mediendarstellungen, Internetkommunikation

Entstehung oder Wachstum von sozialen Bewegungen, Organisationen oder Ein-Punkt-Parteien, die gegen »Überfremdung« und Zuwanderung zu mobilisieren suchen

zunehmende Gewalttaten gegenüber Migranten und gesellschaftlichen Minderheiten

Reaktionen der Migrantengruppen:

ausbleibende oder sich verschlechternde Identifikation mit dem Aufnahmeland im Generationenverlauf

verstärkte innerethnische Sozialkontakte und Beziehungen, Rückzug aus Kontakten und Beziehungen mit der Mehrheitsgesellschaft

zunehmende ethnische Selbstorganisation

Realer Hintergrund für die Möglichkeit solcher Entwicklungen ist unter anderem, dass tatsächlich ein beträchtlicher Teil der Zuwanderung in Deutschland kaum oder nur schwerlich zu steuern ist: Europäische Binnenwanderung im Rahmen der Freizügigkeit, Familienzusammenführung und Asyl sind Wanderungsformen, die primär von den Entscheidungen und Ressourcen der Migranten selbst, nicht durch den deutschen Staat gesteuert werden. Der Staat hat hier beträchtliche Souveränitätsrechte abgegeben und es hat praktisch in allen Einwanderungsländern eine »rights revolution« für Migrantinnen und Migranten gegeben.

Verstärkte Zuwanderung führt in der aufnehmenden Gesellschaft zu mehr ethnischer und kultureller Heterogenität. Wenn man in der Durkheim’schen Tradition soziologischen Denkens davon ausgeht, dass zentrale gemeinsame Werte die Grundlage gesellschaftlicher Institutionen und gesellschaftlicher Kohäsion darstellen, verstärkt zunehmende ethnische und kulturelle Heterogenität ein gesellschaftliches Kohäsionsrisiko. Institutionen, die das arbeitsteilig und routinemäßig aufeinander abgestimmte Alltagshandeln der Menschen ermöglichen, basieren auf kulturell fundierten und weitgehend geteilten Werten. Auch (kulturelle) Interessen sind wertbestimmt. Für kulturelle Annäherung spricht auch, dass kulturell geteilter Sinn Kommunikation als Grundlage sozialen Handelns und sozialer Beziehungen ermöglicht.

Es stellt sich die Frage, wie die aufnehmende Gesellschaft mit dieser verstärkten kulturellen und sozialen Heterogenität umgeht. Sie muss sich fragen: Soll eine Minderheitenpolitik im Sinne einer konsequent multiethnischen Gesellschaft oder eine Politik der kulturellen Annäherung verfolgt werden? Eine Assimilierungspolitik zu betreiben, ist keine erwägenswerte Option.

Eine Politik der Förderung von Minderheitenbildung würde auf einen ethnischen Pluralismus bzw. »ethnischen Korporatismus« (Walzer 1983) abzielen: Staatliche Stellen und gesellschaftliche Institutionen ermutigen die ethnischen Gruppen, sich als solche zu organisieren, einen formell rechtlichen Minderheitenstatus zu erreichen und damit ihr Gewicht in Politik und gesellschaftlichem Leben geltend zu machen. Gruppenrechte und auf Gruppen bezogene Maßnahmen liegen auf der Linie einer solchen Politik. Ethnische Grenzen und kulturelle Unterschiede werden dadurch intensiviert und institutionalisiert. Das Risiko dabei: »Bei Vorliegen von Chancen auf individueller Ebene verlieren ethnische Differenzierungen immer mehr an Bedeutung; bei – nach ethnischer Zugehörigkeit – systematisch verteilten Chancen bleiben bzw. verstärken sich die Segmentationen« (Esser 1980: 75).

Die Alternative zu einer Minderheitenpolitik, die für nationale Minderheiten angemessen ist, stellt für Einwanderung eine Politik (wechselseitiger) kultureller Annäherung dar, die bei Respekt für die Herkunftskulturen kulturelle Gemeinsamkeiten in zentralen Lebensbereichen anstrebt. Normativ und faktisch ist sie wechselseitig, wenn auch nicht gleichgewichtig. Die Kultur und die Kulturen der Etablierten sind stärker als die Kulturen der Hinzukommenden. Bei Offenheit der aufnehmenden Gesellschaft verändern die Einwanderer aber auch die Mehrheitsgesellschaft.

Kulturelle Annäherung ist auch das, was empirisch den Erfahrungen der klassischen Einwanderungsländer entspricht – mit Ausnahme eines Bereichs: der Religion. Religion ist der Bereich, in dem kulturelle Annäherung zunächst nicht stattfindet, zumindest nicht in dem Sinne, dass die (mitgebrachte) Religion der Migranten für sie einen Bedeutungsverlust erleidet oder grundlegend geändert wird. In der Migration werden Menschen häufig sogar religiöser, als sie es vorher waren; die Religionsgemeinschaften, die aus den Herkunftsländern stammen und im Einwanderungskontext rekonstruiert werden, stellen zugleich Orte und Netzwerke dar, die den Menschen in spiritueller und praktischer Hinsicht mit den Anforderungen und dem Stress der Migration fertigzuwerden helfen (Hirschman 2004). Sie übernehmen nur selten die Religion oder Religionen des Einwanderungslandes; allerdings lassen sich mittel- und langfristig bestimmte Synkretismusprozesse auch im religiösen Bereich feststellen.

Insgesamt dominieren jedoch empirisch und politisch Prozesse kultureller Annäherung. Eine Politik kultureller Annäherung zur Sicherung gesellschaftlicher Kohäsion lässt sich weiterhin am Begriff und der Wirklichkeit der »Wechselseitigkeit« im Integrationsprozess erläutern. Wechselseitigkeit vollzieht sich in den gesellschaftlichen Kerninstitutionen, deren Regeln die Migranten lernen müssen, deren Funktion aber auch nur dann gesichert ist, wenn sie sich gegenüber den Migranten öffnen, also in bestimmter Weise auf die Bedürfnisse und Voraussetzungen der Migranten eingehen (interkulturelle Öffnung der Institutionen). Wechselseitigkeit existiert jedoch auch bei Vorgängen, die Integration über Marktprozesse beinhalten. Vor allem Städte lassen sich als Marktplätze begreifen, auf denen verschiedene Anbieter kulturelle, materielle und soziale Güter anbieten, die auf Nachfrage stoßen können.

Märkte sind ein geradezu paradigmatischer Fall von Wechselseitigkeit. Anbieter sind Einheimische und Migranten, Nachfrager sind ebenfalls Einheimische und Migranten. Angebote schließen materielle Güter wie Lebensmittel und Speisen, kulturelle Güter wie Musik, Literatur, Tanz, aber auch Lebensstile und Religionen ein. Städte sind auch Marktplätze, um Freunde und Ehepartner zu finden oder gemeinsam Sport zu treiben. Präferenzen sind bei Menschen zunächst einmal durch Sozialisation und Zugehörigkeit gegeben, verändern sich aber auch bei Gefallen an neuen Gütern und Beziehungen, die auf den städtischen Märkten angeboten werden.

Wenn Kommunen multikulturelle Programme anbieten, wie etwa eine türkische Filmwoche, ist das im Sinne einer Akkulturationspolitik keine Förderung von Minderheitenbildung, sondern Ausdruck des Respekts für die Herkunftskulturen von Migranten. Eine solche Politik trägt weiterhin dazu bei, dass sich die Migrantinnen und Migranten am neuen Lebensort zu Hause fühlen können, und gibt den Einheimischen die Chance, mehr über die Herkunftskultur der Migranten zu erfahren.

Insgesamt gesehen kann eine Politik der kulturellen und sozialen Annäherung dazu beitragen, gesamtgesellschaftliche Kohäsion zu stärken.

Fazit

Begriff und Wirklichkeit eines neuen, freundlichen Tons in der Migrationsdebatte in Deutschland bieten Chancen für einen verbesserten Integrationsprozess in sozialer, kultureller und identifikativer Hinsicht, sofern die Prozesse struktureller Integration in Arbeitsmarkt, Wirtschaft, Bildungssystem und Systeme sozialer Sicherung erfolgreich verlaufen. Die Chancen bestehen vor allem darin, in der Aufnahmegesellschaft mehr Offenheit zu schaffen und einwandererfeindliche Vorurteile und Diskriminierungen zurückzudrängen.

Der neue Ton wurde als Elitenprojekt top-down begonnen, wird aber zurzeit auf den mittleren Ebenen gesellschaftlicher Organisationen mit beträchtlicher Überzeugung von dortigen Führungsgruppen vorangetrieben. Wir hatten ein Legitimitätsrisiko, ein Überforderungs- und ein Kohäsionsrisiko im neuen Ton und bei verstärkter neuer Zuwanderung identifiziert. Die neue und vermutlich weiter stark ansteigende Asylzuwanderung der Gegenwart könnte die genannten Risiken des Konzepts zukünftig aktualisieren.

Literatur

Bade, Klaus J. Vom Auswanderungsland zum Einwanderungsland? Deutschland 1880–1980. Mit einem Geleitwort des Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit J. Stingl. Beiträge zur Zeitgeschichte 12. Berlin 1983.

Diehl, Claudia. »Gescheiterte Integration? Neue Befunde zur Eingliederung von Erwachsenen in Deutschland«. Georgia Augusta Wissenschaftsmagazin 5 2007. 86–93.

Esser, Hartmut. Aspekte der Wanderungssoziologie. Assimilation und Integration von Wanderern, ethnischen Gruppen und Minderheiten. Darmstadt und Neuwied 1980.

Heckmann, Friedrich. Die Bundesrepublik: Ein Einwanderungsland? Zur Soziologie der Gastarbeiterbevölkerung als Einwandererminorität. Stuttgart 1981.

Hirschman, Charles. »The Role of Religion in the Origins and Adaptations of Immigrants«. The International Migration Review (38) 3 2004. 1206–1233.

Stahl, Günter, Martha L. Maznevski, Andreas Voigt und Karsten Jonsen. »Unravelling the Effects of Cultural Diversity in Teams: A Meta-Analysis of Research on Multicultural Work Groups«. Journal of International Business Studies 2009. 1–20.

Walzer, Michael. »States and Minorities«. Minorities: Community and Identity. Hrsg. Charles Fried. Berlin, Heidelberg, New York 1983. 219–227.

Wiley, Norbert F. »The Ethnic Mobility Trap and Stratification Theory«. Social Problems (15) 2 1967. 147–159.

Wenn aus Ausländern Wähler werden: Die ambivalente Rolle der Parteien bei der Repräsentation von Migranten in Deutschland*

Orkan Kösemen

Als am 19. April 2010 der damalige niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulff die Berufung von Aygül Özkan als Ministerin in sein Kabinett bekannt gab, war das Presseecho groß. Özkan war die erste »Person mit Migrationshintergrund« in Deutschland, die den Posten einer Landesministerin erreicht hatte. Die Schlagzeilen »Vom Gastarbeiterkind zur Sozialministerin« und »Das moderne Gesicht der CDU« (Lauer 2010; Pergande 2010) stehen beispielhaft für die beiden Aspekte, die für die öffentliche Berichterstattung damals von Bedeutung waren: Chancengerechtigkeit und gesellschaftliche Erneuerung.

Das Thema Interessenvertretung – eigentlich ein Hauptanliegen von Parteien – spielte erst kurze Zeit später eine Rolle, als Özkan aufgrund ihrer Aussage über die Neutralität öffentlicher Schulen (in denen ihrer Meinung nach Kopftücher und Kruzifixe gleichermaßen keinen Platz hätten) unter Beschuss aus ihrer eigenen Partei geriet. Dieses Ereignis war ernüchternd für alle Beteiligten: für Özkan, die anscheinend dachte, sie könne sich als migrantische Ministerin vorurteilsfrei in der Integrationsdebatte platzieren; für die CDU, die ihre Gratwanderung zwischen dem Halten von Stammwählern und Werben um neue Wählergruppen in Gefahr sah; und für die Medien, die in der Berufung von Özkan nun eine Schaufensterinszenierung vermuteten (Denkler 2010).

Der holprige Amtsantritt von Özkan verdeutlicht die ungewohnte Situation, in der sich die deutsche Parteienlandschaft seit ein paar Jahren befindet. Der Umgang der Parteien mit dem migrantischen Wählerpotenzial7 ist im Allgemeinen noch unsicher. Für die Parteien ist es Normalität, ihr Verhalten im Spannungsfeld von Wählergunst, Inhalten, strategischer Positionierung, interner Ämtervergabe, Pflege der Basis und politischer Rhetorik abwägen zu müssen. Der demographische Wandel und die wachsende Zahl von migrantischen Wählerinnen und Wählern stellen die bisherigen Parteien auf die Probe, weil diese Wählergruppe im Parteienwettbewerb lange Jahre keine Rolle spielte.

Bei der Bundestagswahl 2009 waren 5,6 Millionen Personen mit Migrationshintergrund wahlberechtigt, also ein Anteil von rund neun Prozent (Bundeswahlleiter 2009; IntMK 2013: 26). Diese Zahl wird sich aller Voraussicht in den nächsten zwei Jahrzehnten deutlich erhöhen. Erst 47,5 Prozent aller volljährigen Personen mit Migrationshintergrund in Deutschland besitzen die deutsche Staatsbürgerschaft (ebd.: 23). Dies wird die Parteien aus verschiedenen Gründen zum Handeln zwingen. Die Interessen der verschiedenen Migrantengruppen sind genauso heterogen wie ihre Affinitäten zu den verschiedenen Parteien. Darüber hinaus haben für bestimmte Migrantengruppen gesellschaftliche Diskriminierungserfahrungen und -befürchtungen einen Einfluss auf ihre Wahlkriterien und sie unterscheiden sich dadurch in ihrem Wahlverhalten von Einheimischen (Wüst 2011: 173). Zudem nimmt die Parteibindung von Migranten, die bisher im Vergleich zu Einheimischen immer sehr hoch war, langsam aber stetig ab (Kroh und Tucci 2009: 823). Zusammengefasst: Migranten werden für die Parteien als potenzielle Wählergruppe immer wichtiger.

Gleichzeitig wird es für die Parteien zunehmend schwerer, diese Wählerinnen und Wähler dauerhaft an sich zu binden, weil auch deren Wahlverhalten unberechenbarer wird. Zudem ist für die Parteien schwer zu kalkulieren, welche Effekte es auf ihre nicht migrantische Stammwählerschaft hat, wenn sich Parteien thematisch und personell gezielt für migrantische Wählerkreise weiter öffnen. Dieser Beitrag sondiert die Strategien der im Bundestag vertretenen Parteien im Umgang mit dieser Herausforderung.

Dienst am Volk: Für wen sind die Parteien da?

Über die Rolle von Parteien steht im Grundgesetz: »Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit« (Art. 21 GG). Die einzigen Pflichten, die darüber hinaus für Parteien im Grundgesetz verankert sind, beziehen sich auf das Gebot einer demokratischen inneren Ordnung, der Rechenschaftspflicht ihrer Finanzierung und des Verbots von Handlungen und Zielen, die die freiheitlich demokratische Grundordnung des Landes beeinträchtigen (Art. 21 GG). Die politisch Interessierten mögen von dieser unscharfen Rollenzuschreibung überrascht sein, da Parteien faktisch den zentralen Bestandteil für das Funktionieren staatlicher Strukturen darstellen: Mit ihren Abgeordneten sind sie im Parlament gesetzgebend tätig, stellen Regierungen auf Bundes- und Landesebene sowie Bürgermeister in den Kommunen, bestimmen und wählen die Verfassungsrichter, bestimmen den Staatspräsidenten und rekrutieren Personal aus ihren Reihen für Teile der Verwaltung. Parteien beeinflussen also mittel- und unmittelbar große Bereiche des öffentlichen Lebens.

Das Parteiengesetz (Parteiengesetz 2011), auf das das Grundgesetz verweist, geht zwar auf die Aufgaben von Parteien ein, bleibt aber auch hier vage und hat eher einen sinnstiftenden Charakter. Die politikwissenschaftliche Perspektive auf Parteien präzisiert die weiten Vorgaben des Grundgesetzes. Dort finden sich zusätzliche Funktionszuschreibungen: Interessenartikulation der Bevölkerung, Bündelung und Verhandlung von Einzelinteressen, Einbindung der Bürger ins politische System, Formulierung und Durchsetzung von Politik, Vermittlung und Rechtfertigung von Politik sowie Rekrutierung von Personal für das politische System (Tzschätzsch und Blank 2009). Diese Funktionen sollten natürlich auch weiterhin in einer vielfältigen Gesellschaft gültig sein, in der die Zahl der Menschen mit Migrationshintergrund unter den Wählern wie auch unter den Parteiaktivisten zunimmt.

In der gegenwärtigen Integrationsdebatte ist der Anteil von migrantischen Mandats- und Amtsträgern so auch ein häufig angewandter Lackmustest, um zu prüfen, ob die etablierten Parteien auf die neue ethnische und religiöse Vielfalt in Deutschland bereits reagieren und sich geöffnet haben. Das reine Abzählen von Mandaten bringt uns an dieser Stelle jedoch nicht unbedingt weiter: Die ethnische Herkunft von Parlamentsabgeordneten lässt nur bedingt Rückschlüsse auf die politischen Inhalte zu, die sie oder ihre Parteien vertreten, noch haben Parteien eine Pflicht, sich ethnisch zu öffnen. In der Tat muss die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung nicht eins zu eins im Bundestag vertreten sein; das ist bei anderen sozialen Gruppen (z. B. Juristen, Lehrkräften, aber auch etwa alleinerziehenden Müttern, Arbeitern und Arbeitslosen) auch nicht der Fall. So einfach funktioniert Politik nicht und so organisiert sich auch keine pluralistische Demokratie.

Die bloße Anzahl von migrantischen Volksvertretern ist für sich allein genommen also kein guter Indikator. In einer pluralistischen Demokratie muss vielmehr eine adäquate politische Vertretung der Interessen aller gesellschaftlichen Gruppen – auch und insbesondere der Migranten – gewährleistet sein und dafür ist es grundsätzlich unerheblich, ob die parlamentarischen Interessenvertreter für die Migranten einen Migrationshintergrund haben oder nicht. Nur hat uns die Erfahrung gezeigt, dass die stellvertretende Interessenwahrung der Migranten durch Nichtmigranten in der Praxis zu keinem befriedigenden Ergebnis führt. Das ist der Funktionslogik des politischen Systems selbst geschuldet: In der Politik kommt es zu häufig zur Abwägung von Interessen verschiedener Gruppen und es kommt auch vor, dass eine dieser Gruppen nicht mit am Verhandlungstisch sitzt oder weniger Stimmgewicht hat – dann werden ihre Interessen nicht berücksichtigt. Im Fall vieler migrantischer Staatsbürger zeigt sich diese Nichtberücksichtigung deutlich bei den für sie wichtigen Themen wie doppelte Staatsbürgerschaft, Familiennachzug, muttersprachlicher Unterricht oder Antidiskriminierung. In Deutschland werden die Interessen nicht migrantischer Gruppen priorisiert, da sie politisch einfach »mehr einbringen«.

Jenseits aller normativen Vorgaben und politikwissenschaftlichen Funktionskataloge konzentrieren sich die Bemühungen von Parteien primär auf eine Sache: das Gewinnen von Wahlen und dementsprechend die Erlangung von Macht zur politischen Gestaltung. Daher ist die Wahlurne immer noch der beste Hebel, wenn es um die Etablierung pluraler Interessenvertretung geht. Der CDU-Kanzlerkandidat Edmund Stoiber hat beispielsweise die Bundestagswahl 2002 wohl auch deswegen verloren, weil er im Wahlkampf pauschal die Wähler aus Ostdeutschland angriff: »Ich akzeptiere nicht, dass erneut der Osten bestimmt, wer in Deutschland Kanzler wird. Es darf nicht sein, dass die Frustrierten über das Schicksal Deutschlands bestimmen« (»Stoiber ›geschmacklos sondergleichen‹« 2005). Obwohl politische Angriffe auf ostdeutsche Wähler seitdem der Vergangenheit angehören, braucht man nur »der Osten« mit »die Migranten« oder »die Ausländer« zu ersetzen und es ergibt sich ein Satz, der fester Bestandteil der politischen Debattenrhetorik hierzulande ist und so oder ähnlich seinen Weg in Talkshows und Bierzelte findet. Der Grund ist einfach: Mit dieser schlichten Positionierung konnte man bisher in Wahlen nur Stimmen dazugewinnen, zumindest aber keine Wählerstimmen einbüßen.

Parteien haben grundsätzlich keinen Integrationsauftrag, sondern die Aufgabe der Interessenvertretung. Sie können sich selbst aussuchen, für welche gesellschaftliche Gruppe sie das tun möchten. Mit der wachsenden Zahl an migrantischen Wählerinnen und Wählern kommt die bisherige politische Arithmetik jedoch ins Wanken. Wenn eine größer werdende gesellschaftliche Gruppe aber keine adäquate Interessenvertretung unter den etablierten Parteien findet, entstehen mittelfristig neue politische Akteure. Die Grünen und die Piraten sind Beispiele dafür. Es liegt daher im Eigeninteresse der Parteien, ihre Positionen zu überdenken, anschlussfähig für diese wachsende Wählergruppe zu werden und eine gewisse Authentizität im Bereich »Migration und Vielfalt« zu erlangen. Normalerweise dauert der Aufbau von politischer Authentizität auf einem Feld viele Jahre. Migrantische Mandatsträger können hierbei nur den Anfang darstellen, eine Grundauthentizität zu generieren, mehr aber nicht. Parteien müssen achtgeben, nicht als »Kartell der Einheimischen« wahrgenommen zu werden, die sich mit »Vielfalt« als Worthülse schmücken, ohne dass sich in den Entscheidungsstrukturen oder Inhalten etwas ändert.

Der feine Unterschied: Migranten als Wähler

Bis in die späten 1990er-Jahre war das geringe Potenzial migrantischer Wähler klar zwischen SPD und CDU aufgeteilt. Aussiedler aus Polen, der UdSSR/GUS und Rumänien wählten die Unionsparteien aus Dankbarkeit, ins Land geholt worden zu sein, und aus einer antisozialistischen Einstellung heraus. Die »Gastarbeiter« hingegen – aus den Anwerbeländern Türkei, Jugoslawien, Tunesien und Marokko – wählten die Sozialdemokraten, weil viele von ihnen ihre politische Sozialisation über die Gewerkschaften erhalten hatten und die CDU mit ihrem starken national-konservativen Flügel die meisten eingebürgerten Migranten abschreckte. Diese beiden Wählergruppen hielten sich zahlenmäßig in etwa die Waage. Den Grünen blieben zu jener Zeit nur die Krümel vom Kuchen, da sie damals unter den türkischstämmigen Wählern wegen ihrer Position im türkischen PKK-Konflikt als antitürkisch galten und die Zahl der migrantischen Wähler im linksalternativen Milieu generell niedrig war. Die FDP sah ebenfalls wenig migrantisches Wählerpotenzial in ihrer Kernklientel, die hauptsächlich aus arrivierten Selbstständigen, Bildungsbürgertum und Führungskräften aus der Industrie bestand. Die PDS hatte als ein relativ neues ostdeutsches Phänomen die größte Distanz zu den Migranten aus Westdeutschland, da sie sich programmatisch auf Wendethemen und die Herausforderungen des Systemwechsels in den neuen Bundesländern konzentrierte.

Zwei Trends zeichnen sich also hinsichtlich der Gruppe der Migranten in Deutschland ab: auf der einen Seite der zunehmende Wähleranteil, auf der anderen Seite eine abnehmende Wählerbindung. Unter den 5,6 Millionen migrantischen Wahlberechtigten zur Bundestagswahl 2009 waren geschätzt 2,6 Millionen Aussiedler und wahrscheinlich rund 600.000 Türkischstämmige. Die wichtigste Neuerung waren jedoch die 426.000 migrantischen Erstwähler, die seit der Bundestagswahl 2005 das 18. Lebensjahr vollendet hatten (Bundeswahlleiter 2009; Wirminghaus 2011). Angesichts des demographischen Wandels wird es immer mehr migrantische Wählerinnen und Wähler geben. Und da keine nennenswerte Zuwanderung von Aussiedlern mehr stattfindet und diese Gruppe bereits vollständig eingebürgert ist, wird sich die ethnische Zusammensetzung der gesamten migrantischen Wählergruppe verändern.

Bei der Wählerbindung sehen wir eine parallele Entwicklung bei den beiden Volksparteien. Lag die Parteibindung der »Gastarbeiter« an die SPD in den 1980er-Jahren noch bei 75 Prozent, betrug sie 2008 nur noch 65 Prozent und nach der Sarrazin-Debatte der letzten Jahre dürfte sie weiter gesunken sein (Roßler-Kreuzer 2011). Bei den Aussiedlern sieht es ähnlich aus: In den 1990er-Jahren lag ihre Parteibindung an die CDU bei 75 Prozent und ist 2008 ebenfalls auf 65 Prozent gesunken (Kroh und Tucci 2009: 823). Auf niedrigem Niveau gibt es zwischen den beiden Volksparteien inzwischen einen Wähleraustausch von Gastarbeitern und Aussiedlern. Die Nachkommen der Aussiedler lehnen die SPD etwas weniger ab, da sie selbst keine negativen Erfahrungen in einem linksautoritären politischen System gesammelt haben und die Partei daher wählbarer geworden ist. Mit dem Verschwinden des strikt nationalkonservativen Flügels der CDU während der Kanzlerschaft von Angela Merkel wählen auch mehr Einwanderer aus den Anwerbestaaten und ihre Nachkommen die Union, wobei dieser Effekt weniger stark ist als die Wählerwanderung der Aussiedler Richtung SPD (ebd.: 825; Wirminghaus 2011).