alles, was man sich vorzustellen vermag,
ist irgendwann irgendwo Realität

den im Geiste Verwandten

Hikaru Greyson

TAMA MONOGATARI

beneath the ancient sun

von Eltern und Kindern

BENEATH THE ANCIENT SUN

 

Was sind wir? Sind wir die Summe unserer Erinnerungen? Sind wir die Summe unserer Entscheidungen? Sind wir die Summe unserer Träume? Was sind wir wirklich? Wir sind prädestiniert aufgrund der Gene der Vorfahren, geprägt von vergangenen Ereignissen, durch unzählige Faktoren beeinflussbar, den unantastbaren Mächten ausgeliefert, Bastler zukünftiger Erwartungen, Bindeglieder einer nicht endenden Kette – mit einem Auge beobachten wir das Schicksal, das wir nicht ergründen können und auf den Zufall reduzieren; das andere Auge ruht auf dem unausweichlichen Tod, der die Schritte lenkt und einem höheren Zweck dient. Wir hoffen und bangen, sehen uns immer wieder mit dem Leid und dem Glück konfrontiert. Und wir können nur danach streben, etwas zu hinterlassen oder mitzunehmen, bevor wir weitergehen. Wir sind ein Teil der Unendlichkeit.

die Sonn’ scheint blutend

am Tage, ganz und gar rein

soll ihr Wille sein,

obgleich das Leid der Wesen

mir das Herz zerdrückt

Susanoo verstärkte den Druck. Langsam tasteten seine zitternden Finger nach den rotblonden Haaren seiner Geliebten, und als sie in der Mähne verschwanden, zog er ihren Kopf in den Nacken. Sofort sprang ihr Mund auf. Fast gleichzeitig entwich ihr ein kaum wahrnehmbarer Laut. Zwischen den spitzen Eckzähnen drang Speichel hervor.

Als die langen Fingernägel des jungen Mannes unterhalb ihres Bauchnabels einen kleinen Kratzer hinterließen, zuckte die Kitsune zusammen und drückte seine Hände von sich.

»Du hast mir versprochen, zärtlich zu sein«, flüsterte sie. »Weißt du noch?«

»Sicher, ich hab es nicht vergessen«, hechelte Susanoo.

Es war schwierig, sich zurückzuhalten, aber für seine Geliebte wollte er sich Mühe geben. Mit weniger schnellen Bewegungen verschaffte er sich Zutritt zum Versteck zwischen ihren Beinen. Im Mondlicht schimmerten die feinen Härchen darüber fast weiß. Am liebsten wäre er mit der Nase in dieser gut riechenden Höhle verschwunden, aber für heute begnügte er sich damit, mit den Fingerspitzen daran herumzuspielen.

Die Kitsune wand sich, während sie alle Gliedmaßen in Ekstase verdrehte. Ihr nackter Hintern rutschte auf dem Bettlaken umher und verteilte den Schweiß überall. Nach fast fünf Minuten hatte sie alle Hemmungen verloren. Sie packte Susanoo am Hals und flehte ihn an, sie zu nehmen.

Der Ookami fuhr in sie, und zunächst spannte sich ihr Körper an, die Augen fest geschlossen. Dann allerdings stöhnte sie bereits lauthals vor sich hin. Zuerst darauf bedacht, nicht zu wild mit ihr umzugehen, steigerten sich Susanoos zärtliche Bewegungen bald in feste Stöße, die ihre Becken zusammenklatschen ließen und dabei schmatzende Geräusche hervorriefen. Schon bald explodierten beide vor Lust.

Schließlich sank der Wolfsjunge erschöpft auf den zarten Körper hinunter. Leise schnaufend lagen sie da, bis Susanoo die Kraft fand, seinen Kopf zu heben und seine Geliebte anzublicken.

»War es so schön, wie du gehofft hast?«

Stumm starrte ihn das Fuchsmädchen an, doch es lächelte.

An die nächsten Minuten konnte sich Susanoo nur noch dunkel erinnern. Seine ohnehin abgeschweiften Gedanken waren wie von einem dunklen Schleier umhüllt, durch dessen von zahlreichen Motten hineingefressenen Löcher ein Meer aus Flammen zu erkennen war.

Er wollte sich die Stirn massieren, doch sein großgewachsenes Gegenüber war schneller und hatte ihn am Kinn gepackt. Die Kraft des blonden Mannes wurde aufgrund seiner blanken Wut beinahe verdoppelt. Susanoo hatte mit seinen siebzehn Jahren kaum eine Chance, sich dagegen zu wehren, und das, obwohl er die Kräfte eines Wolfes besaß.

»Wo ist meine Tochter?«, schrie sein Peiniger.

»Finger weg von meinem Sohn!«, ertönte plötzlich eine andere Stimme, etwas weniger wütend aber mindestens genauso aufgebracht.

Der kleingewachsene stämmige Vater des Jungen stieß den Vater des Mädchens zurück. Er funkelte ihn grimmig an, dann strich er sich durch den dunklen Bart und atmete tief durch. Trotzdem ließ er zuerst seinen Kameraden zu Wort kommen.

»Hast du gewusst, dass sie sich heimlich treffen, Bobby?«, knurrte der blonde Mann.

»Jawohl, ich habe es gewusst«, gab der braunhaarige Mann zu. »Es sind Jugendliche, John, fast noch Kinder. Sie ignorieren die gutgemeinten Ratschläge ihrer Eltern und machen, was sie wollen. Und in diesem besonderen Fall, wie kannst du es ihnen verübeln? Sie haben niemand anderes!«

Natürlich konnte John seinen Freund Robert verstehen. Mit einem Fell auf dem Rücken und einem langen Schweif an dessen Ende konnte man sich nicht jedem Menschen offenbaren. Es war nur verständlich, dass Johns Tochter und Roberts Sohn zueinander gefunden hatten. Sie teilten ihr Leid, das die Welt über sie gebracht hatte.

Ein Fuchsmädchen und ein Wolfsjunge. Eine Kitsune und ein Ookami.

Schon verwandelte sich die Wut in Trauer. Die brennende Hütte heulte nun so laut, dass man sich auf nichts anderes mehr konzentrieren konnte. Am grässlichsten war das Knirschen, wenn das winzige Gebäude einen weiteren Schritt in Richtung seiner Zerstörung machte. Es schien, als würden die Flammen bis zum sternenbehangenen Himmel züngeln.

»Wo ist meine Tochter?«, fragte John noch einmal.

»Nicht hier«, antwortete Susanoo an Bobbys Stelle, unfähig den Blick zu erheben. »Kaguya ist verschwunden.«

PROLOG dann wirst du weiterlaufen

Müde lächelte Constantia Shinri in die Finsternis. Irgendwie war alles so gekommen, wie sie es vorausgesagt hatte. Doch auf eine gewisse Art und Weise hatten sich einige Begebenheiten in einer Form zugetragen, die ihr nicht behagten. Um es kurz zu sagen; der Plan war aufgegangen, allerdings nicht zur Gänze.

Natürlich spielten Weltenbummler mit ganzen Planeten, als wären es ihre Baukästen, und sie schubsten allerlei Wesen wie Spielfiguren herum. Nichtsdestotrotz hatte Shinri ihrem ehemaligen Partner Hikari versprochen, sich nicht zu stark in die Geschichte um Tama einzumischen. So war es ihr nun nicht vergönnt, den Schwertkämpfer Haru aus seinem Schlaf zu erwecken. Aber das regelte sich schon von alleine. Immerhin gab es da eine Kitsune, die nicht ruhen würde, bis sie ihre Freunde wieder um sich wusste. Und letzten Endes würde das Geschlecht Tama diese Welt regieren, so wie es vorherbestimmt war. Trotzdem, es gab einige Fehler auszubügeln. Und das musste unverzüglich getan werden.

Langsam stemmte sich die Magierin Shinri von ihrem Thron und schnippte mit den Fingern. Im nächsten Augenblick befand sie sich im Einhundert-Pfade-Wald. Nicht nur war sie durch den Raum gereist, sondern auch durch die Zeit. In der Ferne hörte man Laute, die nur von einer Feierlichkeit stammen konnten.

Ein aufgeregt wirkender Zwerg stolperte an ihr vorbei, blieb dann jedoch stehen und drehte sich zu ihr um. Noch nie zuvor hatte dieser Zwerg eine so schöne und sinnliche Frau gesehen. Als diese aber plötzlich mit den Fingern schnippte und sich in einen alten krummen Mann von kleiner Statur verwandelte, zog der Zwerg eine Grimasse.

Der Alte zwinkerte dem Zwerg grinsend zu und drückte dann den Zeigefinger auf die Lippen. Obwohl der Zwerg nicht wusste, welche von beiden nun die wahre Erscheinung seines magiekundigen Gegenübers war, zuckte er mit den Schultern und beschloss, niemandem von diesem Erlebnis zu erzählen, bevor er verwirrt davonlief.

Nachdem der Alte für sich alleine war, schob er eine Kapuze über seinen Kopf. Unbeirrt ging er auf eine Gestalt zu, die in der Ferne stand und wie gebannt in eine bestimmte Richtung starrte. Es handelte sich um Ākadon, der Haru genauestens musterte. Gerade eben hatte er sich mit dem blonden Regenten auf ein Gespräch einlassen wollen, als der Alte ihn plötzlich ansprach.

»In dieser Richtung wirst du nur den Tod finden.«

»Meinen oder eher den meiner Feinde-köchel?«, antwortete Ākadon, nachdem er seinen Gesprächspartner, der ihm gerade einmal bis zur Hüfte reichte, angeblinzelt hatte. Sein Gespür riet ihm, den Alten nicht zu unterschätzen.

»Ist dir deine Mission denn so wichtig, dass du diese Frage überhaupt stellen musst?«, lautete die Gegenfrage.

»Wenn ich für meine Überzeugung sterbe-tropf, dann soll es so sein.«

Und mit diesen Worten ließ der Aschene den Alten hinter sich.

Eine Zeit lang blieb der Alte inmitten des Waldes stehen, dann schnippte er wieder mit den Fingern. Nun befand er sich auf einer Ebene, direkt vor einem imposanten Gebirge, das den Kontinent Tama in zwei Teile spaltete. Wieder war es eine Reise durch Raum und Zeit gewesen.

Es dauerte nicht lange, bis Āzandra seinen Weg kreuzte. Stur ging sie an dem Alten vorbei, ohne ihn zu beachten.

»In dieser Richtung wirst du nur den Tod finden.«

»Meinen oder eher den meiner Feinde-platsch?«, knurrte Āzandra, die schließlich doch stehengeblieben war.

»Ist dir deine Mission denn so wichtig, dass du diese Frage überhaupt stellen musst?«, lautete die Gegenfrage.

»Dann lasse ich es darauf-heul ankommen.«

Und mit diesen Worten ließ die Aschene den Alten hinter sich.

Nachdenklich blieb der Alte auf der Ebene stehen, dann machte er sich an den Aufstieg zum kleinen Turm, der in der Nähe des Tunnels errichtet worden war. Dort ließ er seinen Blick über die Umgebung streifen, nachdem er die Kapuze von seinem Kopf gezogen hatte.

Hier gab es eine Stelle, an der der Boden anders wirkte. Als wäre etwas vergraben worden. Der Alte stopfte ohne zu zögern seine Hand in die Erde und begann zu wühlen. Seine Finger umschlossen etwas, woraufhin er fest daran zog.

Ein nackter Arm kam zum Vorschein, dann eine Schulter, schließlich ein ganzer Oberkörper. Erst als auch noch der Rest der Leiche zum Vorschein kam, hielt er inne. Der Alte küsste ihr die Stirn.

Mit einem Mal schlug Selena die Augen auf. Sie brach zusammen, keuchte heftig und hustete wild. Nachdem sie sich endlich gefangen hatte, den Körper immer noch voller Staub sowie Dreck, blickte sie auf und stemmte sich auf die Knie.

Freundlich half ihr der Alte in die Höhe. Dann strich er ihr schwarzes Haar aus dem hübschen Gesicht und lächelte sie an.

Wie wunderschön sie waren, die Kinder Aurelias. Shinri hatte vorhergesagt, dass eines der Zwillingsmädchen zusammen mit Haru die Welt verändern würde. Des Regenten Wahl war auf Helena gefallen. Aber dass ihre Schwester den Tod gefunden hatte, war nicht vertretbar. So sollte die Geschichte nicht ausgehen. Selena verdiente eine zweite Chance.

»Es war nicht geplant, dass es so endet. Pass gut auf, kleine Prinzessin von Tama. Du wirst nun in diese Richtung laufen. Du wirst laufen, bis deine Füße bluten, und dann wirst du weiterlaufen. Immer weiter, bis du ans Meer kommst. Reise nach Kenka und vergiss alles, was du erlebt hast. Deine Erinnerungen an deine Zwillingsschwester sollen von dir abfallen, und du wirst ein glückliches Leben führen. Sei dankbar.«

Selena tat wie ihr befohlen. Ohne etwas zu sagen, machte sie sich auf den Weg.

Der Alte schnippte und verwandelte sich sogleich zurück in Constantia Shinri, danach ging die Weltenbummlerin wieder in ihr Reich, nun mit einem reinen Gewissen.

Es war an der Zeit, sich auszuruhen, die grausame Uhr des Lebens ticken zu lassen.

KAPITEL 1 von Aufopferung und Entbehrung

Jene wundervolle Geschichte, die ich euch nun erzähle, ist wahr. Aber sie entlarvt meine vorherige Geschichte als Lüge, zumindest was den Frieden anbelangt. Sowohl ganz Kenka als auch das Reich Tama waren mit Problemen konfrontiert, welche die gesamte Welt erschüttern konnten. Nichtsdestotrotz müsst ihr diese Geschichte verinnerlichen, um zu verstehen, was Zusammenhalt wirklich bedeutet.

Oichi, die legendäre Kitsune, welche sowohl Ritter als auch Samurai vor ihrem vorzeitigen Ende bewahrt hatte, fand ihren inneren Frieden an jenem Tag, an dem sie im toten Tal, fortan als Tal der Auferstehung bekannt, zwei Völker vor dem schrecklichsten aller Fehler behütete.

Wie man allerdings weiß, kann so ein innerer Frieden nur aufrecht erhalten werden, solange man selbst an ihm festhält. Und Oichi verlor ein Jahr nach dem Ereignis, das in meiner vorherigen Geschichte das Finale darstellen sollte, … nun, sie verlor alles.

Es tut mir leid, dass wir nicht bei dem schönen Ende der vorherigen Geschichte bleiben können. Wie fantastisch es wäre, jede Geschichte mit einer glücklichen Begebenheit enden zu lassen. Und wie weh es mir tut, euch nun zu enttäuschen. Aber es ist wichtig, dass ihr versteht, warum Tama auch in dieser Welt eine wichtige Rolle spielt.

Natürlich wäre Oichi nicht Oichi, wenn sie sich nicht alles Verlorene wiederbeschaffen würde. Aber bis dahin litt sie Qualen, die kein Geschichtenschreiber jemals authentisch wiedergeben könnte. Und alles, was ich tun kann, ist zu erzählen.

Zweifellos konnte man jene Zeit, zu der die sechzehnjährige Kitsune weinend durch den hohen Schnee stapfte, als ihren Tiefpunkt bezeichnen. Schneidender Wind drückte sie gewaltsam zu Boden, Kälte kroch ihr bis in die Gedärme. Jeder einzelne Schritt schmerzte so unfassbar sehr. Nicht nur, dass ihre Gliedmaßen wie dünne Äste eines mickrigen Baumes im Sturm zitterten, und dass ihre Knochen aufgrund der seit Monaten andauernden Anstrengungen beinahe zerbarsten – nein, sie fühlte sich auch innerlich vollkommen zerstört.

Alle Prinzipien, die ihr einst heilig gewesen waren, waren gebrochen worden. Sie hatte ihre Freunde verlassen, ihre Liebe von sich gestoßen, und sie wusste den Weg zurück nicht. In den letzten Wochen hatte sie nicht nur Fleisch zu sich genommen, wie sonst bloß an den verzweifeltsten Tagen, sondern hatte eigenhändig Tiere getötet, was für ein magisches Wesen undenkbar war. Ihre Schnauze hatte sich in die einer wilden Bestie verwandelt, immer auf der Suche nach neuen Opfern, und ihre spitzen Zähne hatten sich durch die frischen Kadaver gewühlt.

Egal, für Oichi war das alles unbedeutend geworden, solange sie sich auf dem Pfad zur Rettung ihrer Kameraden wusste. Doch nun, nachdem sie an diesen Ort gelangt war, gab es keine Hoffnung mehr. Sie war in die schneebedeckten Hügel westlich des Gebirgszuges in Tama gereist, um Shinri aufzusuchen. Aber die Magierin war nicht aufgetaucht. Nicht einmal, nachdem die Kitsune stundenlang an dem Ort, an dem sie und ihre Freunde vor fast zwei Jahren eine wunderbare Begegnung gehabt hatten, geheult hatte. In der Tat, sie hatte geheult und gewinselt. Noch nie waren die tierischen Instinkte in ihr so stark gewesen.

Niemand konnte wissen, dass Shinri keineswegs nicht helfen wollte, sondern es einfach nicht konnte, da es ihr die Regeln dieser Welt nicht erlaubten, sowohl Fluch als auch Segen des Herrn des Waldes zu brechen. Für Oichi machte es keinen Unterschied. Es war ihr einerlei, aus welchem Grund ihr Beistand verwehrt blieb.

Nun allerdings war sie am Ende. Sie hatte ihre Hoffnung aufgegeben. Immerhin gab es nicht die geringste Spur einer Möglichkeit, Haru und Helena irgendwie in das Reich der Lebenden zurückbringen zu können. Als sie im Schnee lag, darauf wartend, dass ihr entkräfteter Körper zugeschneit würde, damit sie ebenfalls sterben könnte, erinnerte sie sich nicht an die Worte ihrer Mutter. Dass ein Ende auch immer einen Neuanfang bedeutete. Dass Hoffnung niemals vergebens war, da Leben und Tod nur Illusionen waren.

Oichi wartete auf das Ende, akzeptierte es endlich.

Und in diesem Moment senkten sich zwei kräftige Pranken, eine weiße und eine schwarze, auf sie.

KAPITEL 2 im Himmel dein Gesicht

Als die Axt sich senkte und die ersten beiden Holzscheite zu Boden fielen, waren die intensiv rote Decke am Horizont sowie der darüber liegende gelbe Dunst noch getrennt, doch als Owain mit dem Hacken aufhörte, hatten sie sich bereits vermischt, und nun war der gesamte Himmel wie von einem lodernden Feuer erleuchtet.

Diese beeindruckende Farbe erinnerte den Skalden sehr an Oichis Haar. Mit Melancholie erfüllt blickte er in die Ferne und wartete auf die Rückkehr seiner geliebten Kitsune. Aber er wusste, wie stur sie war. Sie würde nicht ruhen, bis sie ihre Aufgabe bewältigt hatte. Oder bis ihre Aufgabe sie zugrundet gerichtet hatte.

Owain wischte sich übers Gesicht, gleichgültig gegenüber der Frage, ob die Feuchtigkeit auf seinem Ärmel nun von Schweiß oder von Tränen kam, und er setzte sich in das hohe Gras, um gedankenverloren zu warten, bis auch der hinterste Teil des Himmels vom Licht der Sonne berührt wurde.

Ein neuer Tag war angebrochen. Neue Gelegenheiten. Man durfte kaum darüber nachdenken, wie viele Wesen an diesem – wie jedem – Tag geboren wurden oder aber starben. Im Fluss der Zeit treiben ihre Seelen dahin, Körper und Geist, unfähig alles zu begreifen.

Widerwillig ließ Owain seine Gedanken hinter sich und glitt wieder in sein wahres Leben. Ein letzter Blick zum Horizont, dann stemmte er sich in die Höhe und kehrte langsam zur Hütte am Bach zurück.

Es war ein kleines Gebäude, notdürftig zusammengehämmert, aber in dieser Gegend brauchte man sich kaum vor etwas zu schützen. Das Wetter war stets gnädig, wilde Tiere gab es im näheren Umkreis nur sehr wenige, und fremde Menschen waren hier noch keine aufgetaucht. Man könnte sagen, es lag gut behütet an einem friedlichen Ort.

In jeder Himmelsrichtung gab es etwas anderes zu bestaunen. Hinter der Hütte gab es einen kleinen Wald, in dem angenehme Gesänge von etlichen Vögeln zu hören waren. Auf der linken Seite gab es ein Bächlein, in das man Hände und Füße stecken konnte. Auf der rechten Seite gab es eine niedrige Klippe, auf der Blumen in allen Farben wuchsen. Und trat man aus der Hütte heraus, so hatte man einen prächtigen Ausblick auf die weiten Wiesen, die Owain so mochte.

Dies war ein kleines Stück neu gewonnener Heimat für den jungen Mann aus dem Reich der Ritter. Manchmal gelang es ihm hier, seine Last zu vergessen und unbeschwert zu lachen.

Als Owain eintrat, die Füße von den Stiefeln befreit, sah er sich gründlich um. Nichts hatte sich verändert, also schlief Kanhilda vermutlich noch. Aus diesem Grund setzte er sich an den Tisch und verharrte dort, bis die Sonnenstrahlen auch noch das Innere der Hütte erhellten.

Fast eine Stunde wartete er, als schließlich ein Geräusch aus dem Nebenzimmer drang. Sofort stand er auf und ging auf die Tür zu. Leise drückte er sie auf, danach lugte er in den Raum dahinter. Es handelte sich um ein kleines Schlafgemach, kaum größer als das Bett aus dünnen übereinander gestapelten Matratzen, das es füllte.

Auf dem Bett lag ein siebzehnjähriges Mädchen, eine junge Frau sozusagen. In diesem Moment blinzelte sie verschlafen und drehte das hübsche Gesicht in den Schatten, damit das Morgenlicht sie nicht mehr blendete. Ein kurzes Gähnen, dann lächelte sie Owain zu, und es war ein bittersüßes Lächeln, dass ihm das Herz schmerzte. Danach streckte sie die schmale Hand unter der Decke hervor und bedeutete ihm mit dem Zeigefinger näherzukommen.

Natürlich konnte Owain dieser zärtlichen Aufforderung nicht widerstehen, also huschte er in das Zimmer und zu der Frau unter die Decke, wo er auf die Seite gedreht liegen blieb und sie anstarrte.

Kanhilda war eine interessante Frau, nur wenige Wochen jünger als Owain selbst. Sie war gütig, anmutig, schlau, abenteuerlustig und auch etwas ungeschickt. Ihr Kinn fand sie nicht so schön, und ihre breiten Füße konnte sie ebenso wenig leiden, doch Owain liebte sie umso mehr. Als er ihr das erste Mal begegnet war, hatte er sich schlagartig zu ihr hingezogen gefühlt, und als er von ihrem Schicksal erfahren hatte, war er nicht mehr von ihrer Seite gewichen.

Das Herz des Skalden pochte wild, wenn sie lachte, jedes Mal erneut. Es flatterte aufgeregt, wenn sie sang und tanzte, während er auf der Okarina spielte. Es ging über vor Glück, wenn sie ihn küsste. Und erst ihre leckeren Brötchen; und nicht zu vergessen die Geschichten, die sie erfand. Kaum von der Hand zu weisen, dass sie es im Leben weit gebracht hätte. Aber manchmal erschien den Menschen das Leben unfair.

»Hach, Owain«, säuselte die junge Frau mit dem ansonsten so sorgfältig gekämmten Haar, beigebraun und schulterlang, das nun jedoch in alle Richtungen abstand. »Warst du schon draußen? Hast du schon Holz gehackt?«

Er nickte bloß, woraufhin sie die Wangen aufblies.

»Wie kannst du nur? Ich sagte doch, du sollst mich wecken, wenn du aufwachst.«

Vielleicht hatte sie beleidigt klingen wollen, doch ihre Stimme war so mitfühlend wie sonst auch.

»Ich weiß, Kana«, flüsterte Owain. »Tut mir leid. Aber du hast so niedlich ausgesehen, wie du vor dich hingedöst hast. Und du weißt, wie wichtig dein Schlaf ist.«

»Mag sein«, entgegnete sie schmollend, »aber jetzt bin ich wach. Also küss mich endlich, du Regelbrecher.«

Und er küsste sie.

Wie jedes Mal verspürte er dabei unglaubliches Glück, doch er empfand auch Schuld. Immer noch dachte er an Oichi, wenn seine Lippen die seiner neuen Liebe berührten. Nichtsdestotrotz war Oichi diejenige gewesen, die ohne ein Wort des Abschieds weggegangen war – einfach verschwunden. Und Kana brauchte Owains Hilfe. Es erschien dem Skalden nur gerecht, sich um diese Frau zu kümmern, während die andere einsam und unerreichbar durch die Welt streifte.

Owain lächelte.

»Ach, Kana, du bist so wunderbar.«

»Du auch, Owain«, sagte sie und liebkoste sein Haar.

Dann blickten sie sich eine Zeit lang gegenseitig an.

»Bist du hungrig?«, fragte Owain schließlich.

»Ich hätte gerne eine dünne Scheibe Brot«, antwortete Kana nickend, »mit etwas Fleisch.«

»Kommt sofort!«

Nach dem Holzhacken hatte er sich etwas erschöpft gefühlt, doch nun sprang Owain mit neugewonnener Energie auf. Gut gelaunt stellte er sich vor den Vorratsschrank in der Küche und bereitete seiner Geliebten das Frühstück zu. Dass sie Lust auf Fleisch hatte, war ein gutes Zeichen. Womöglich hatte sie heute einen ihrer besseren Tage.

Zurück im Schlafzimmer war er erstaunt, dass Kana sich von selbst aufgerichtet hatte. Sie kämmte ihr Haar im Schneidersitz und lächelte Owain mit leuchtenden blaugrünen Augen an, als er eintrat und ihr das Essen brachte.

Es dauerte etwas, bis sie das zähe Fleisch gekaut hatte, doch sie aß zur Gänze auf. Danach wischte sie sich mit dem Unterarm über den Mund, um die letzten Krümel zu entfernen.

»Köstlich«, lobte sie ihren Geliebten. »Jetzt ein wenig Ruhe; aber möchtest du anschließend einen kleinen Spaziergang unternehmen?«

»Sehr gerne«, sagte Owain grinsend, der seinen Augen und Ohren kaum trauen konnte. Was für ein wunderschöner Tag.

Und tatsächlich unternahmen Sie eine Stunde später einen Spaziergang. Kana schlüpfte in die lange violette Tunika, die ihr so gut stand. Auch war es ein seltsames Gefühl, nach so vielen Tagen wieder einmal die braunen Lederschuhe an ihren Füßen zu sehen. Mit großen Schritten lief sie hinaus ins Freie.

Lächelnd blickte ihr Owain hinterher, dann ging er ihr nach und ergriff ihre Hand. Zusammen schlenderten sie entlang der Klippe, sodass Kana ihrem Geliebten etwas über die bunten Blumen erzählen konnte, und anschließend folgten sie dem Bach, an dessen Rand sie sich schlussendlich setzten.

Durch das nicht sehr dichte Blätterdach drangen so viele Sonnenstrahlen, dass diese Gegend wie die Ruhestätte mystischer Geister wirkte. Vereinzelte Nebelschwaden, die sich noch nicht aufgelöst hatten, hingen in der Luft, und helle Lichtpunkte, womöglich Pollen oder Überreste von Spinnennetzen, segelten langsam dahin.

Mit der Zeit wurde es zunehmend wärmer, doch hier im Halbschatten würde die unerträgliche Hitze keinesfalls Überhand nehmen. Das leise Plätschern des Baches und auch die schrillen Laute der Vögel waren hypnotisierend. So kam es, dass Owain und Kana einnickten, Schulter an Schulter.

Als sie erwachten, stand die Sonne bereits an ihrem höchsten Punkt. Eine Weile blieb das verliebte Paar noch an diesem unwirklichen Ort, dann kehrten sie zur Hütte zurück. Es war ein kurzer aber unglaublich schöner Ausflug gewesen. Es hatte viel Gerede stattgefunden, aber auch das Schweigen hatte seine Vorzüge gehabt.

Auf halbem Weg zur Hütte kam ein Wind auf, und er blies so heftig, dass man sich dagegenstemmen musste, um nicht weggeweht zu werden. Es dauerte nur kurz und war wie die Warnung eines Riesen, den man besser nicht provozieren sollte. Und in diesem Moment fiel Owains Blick auf Kanas liebenswertes Gesicht, mit entzückend zusammengepressten Augen und einem widerstrebenden Lächeln. Das Haar auf ihrem Kopf flatterte wie das Banner eines Heeres, und plötzlich kamen längst vergessen geglaubte Gefühle auf.

Mit einem Satz riss Owain seine Geliebte zu Boden und küsste sie so leidenschaftlich wie selten zuvor. Zunächst erschrocken, erwiderte Kana seine Hingabe daraufhin, und schon bald lagen sie nackt übereinander, ihre Mienen in unvorstellbarer Entzückung.

Das Liebesspiel dauerte nicht lange an, doch sie blieben anschließend etliche Stunden im Gras liegen und starrten stumm in den Himmel. Wolken bildeten unterschiedliche Formen und regten die Fantasie an.

Gegen Abend kehrten sie in die Hütte ein. Nachdem Owain ein stärkendes Essen zubereitet hatte, verzehrten sie es gemeinsam am Tisch; zwischen ihnen eine Kerze, deren Licht gerade so ausreichte, um ihre Nasenspitzen zu erleuchten.

Irgendwann packte Owain seine Okarina aus und spielte eine herzzerreißende Melodie. Natürlich sang und tanzte Kana dazu. Ein gewaltiges Spektakel, nicht nur aufgrund der nahezu greifbaren Verbundenheit dieser beiden sich Liebenden.

Es war schon fast Mitternacht, als Owain und Kana in das Bett stiegen.

»Da ist so viel Gutmütigkeit in deinen Augen«, sagte sie und gähnte.

»Ich finde, sie sind farblos und zeigen wenig«, meinte er schulterzuckend.

Aber Kana schüttelte nur den Kopf.

Sie schlüpften unter die Decke und löschten das Licht. Nun war es nur noch der Schein des Mondes, der ihre Körper aus der Dunkelheit holte.

»Ich liebe dich, Kana.«

»Ich liebe dich auch, Owain.«

Ein letzter Kuss vor dem Entschlafen, und wie beim allerersten Kuss zwischen ihnen gab es auch diesmal keinerlei Schuldgefühle, sondern nur Glück und reine Liebe.

Im stillen Reich unter dem Mond schliefen Owain und Kana ein.

KAPITEL 3 weiße Shiro schwarzer Kuro

Im Traum lief sie durch einen Irrgarten aus Bambus, ein Richtung Himmel sprießendes Gefängnis, und der Ausgang, falls es denn einen gab, war nicht auszumachen. Immer wieder stolperte sie mit den Füßen über unsichtbare Hindernisse. Kam sie überhaupt voran? Bewegte sie sich? Oder schwebte sie auf der Stelle, unfähig das Ziel zu erreichen? Sie hätte ja gerne um Hilfe gerufen, aber das war ihr verboten. Und natürlich waren Verbote gleichgesetzt mit nicht zu bändigenden Tatsachen in dieser Art von Traum. Somit fühlte sie sich, als ob sie immer kleiner wurde, bis sie schlussendlich in einem Klumpen aus Nichts verschwand.

Oichi schlug die Augen auf. Noch bevor ihre Sinne irgendwelche Eindrücke verarbeiten konnten, stellte sie sich die Frage, ob sie tot war. Nun, sie musste tot sein, immerhin war sie erfroren, aber dann wiederum wirkte dieser Ort hier kaum wie ein Platz im Jenseits.

Es war ein gewöhnliches Stück Wald mit Bäumen und Büschen und Blumen, in dem viel Moos wuchs und sich ein winziger Teich befand. Durch die Äste drang genug Sonnenlicht, um die Schmetterlinge beobachten zu können, die sich im Halbdunkel fortbewegten. Sie schlugen mit ihren bunten Flügeln und machten auf den ebenso farbenprächtigen Blüten Halt, um Nektar zu schlürfen.

Langsam erhob sich Oichi. Auf eine merkwürdige Art und Weise fielen ihr die Bewegungen leicht, so als ob sie sich ihrer Erinnerungen widersprechend nicht durch einen Schneesturm gekämpft hätte.

Ihre Schritte führten sie auf den Teich zu, der eingebettet zwischen zwei dicken Stämmen lag. Als sie sich unmittelbar davor in das Gras hockte und sich nach vorne lehnte, konnte sie ihr Spiegelbild im Wasser erkennen. Ein reizendes Mädchen blickte ihr entgegen. Allerdings war es von Trauer gekennzeichnet. Seltsam, dass ihr Gesicht deshalb nur noch hübscher wirkte. Fast so, als ob dies die letzte Etappe vor einem neuen Moment des Lächelns wäre, ein letzter flüchtiger Augenblick der Hoffnungslosigkeit.

Voller Verdruss schlug Oichi auf die Wasseroberfläche, sodass die Konturen verschwammen und sich auflösten. Danach formte sie mit ihren Händen eine Schale und trank von der klaren Flüssigkeit, bis sie keinen Durst mehr verspürte.

Eine Zeit lang hielt die Kitsune ihre Augen geschlossen, doch schließlich öffnete sie sie und legte den Kopf in den Nacken. Von hier unten wirkten die Bäume wie in den Erdboden gerammte Klingen. Schon wieder waren ihre Gedanken vom Krieg eingenommen. Wie gerne hätte sie einmal an etwas Friedliches gedacht. Allerdings überkamen sie diese Erinnerungen vom Schlachtfeld, auf dem Blitze durch Körper schossen und rasende Bestien nach Blut lechzten, recht häufig. Irgendwann musste sie lernen, diese Erinnerungen auszublenden oder viel eher zu akzeptieren, ansonsten würde sie daran zugrunde gehen.

Erstmal musste Oichi in Erfahrung bringen, wo genau sie sich nun befand. Allzu weit konnte sie nicht gelangt sein, denn auch ohne ein Anzeichen von Schnee war die Luft hier sehr kühl. Vor allem jedoch interessierte sie, wer oder was sie hierher gebracht hatte, und zu welchem Zweck.

Rufe verschiedener Vögel drangen durch den Wald, und es hörte sich so an, als wären sie ziemlich aufgeregt. Am unteren Ende des Hanges neben dem Teich schien irgendetwas zu passieren. Und Oichi war neugierig genug, der Sache auf den Grund zu gehen.

Ohne vollkommen aufzustehen, lief oder vielmehr hechtete sie zwischen zwei Büsche, die am Rand eines nicht sehr steilen Gefälles standen. Von dort aus hatte sie uneingeschränkte Sicht auf die beiden Bären, die auf der Wiese unter ihr miteinander rauften.

Es waren keine ausgewachsenen Kreaturen, aber die beiden Tiere waren bereits so groß und schwer, dass sie sich gegenseitig tiefe Wunden hätten zufügen können, wäre ihr Streit nicht bloß eine Rangelei unter Geschwistern gewesen. Davon wussten die Wesen um sie herum jedoch nichts, weshalb etliche Vögel und auch einige Nagetiere eilig davonstoben, als das laute Brüllen der Bären einsetzte.

Das Besondere an diesen beiden Bären war ihre Färbung, denn das Männchen war tiefschwarz, während das Weibchen ein weißes Fell besaß. Allerdings hatte Oichi die Tiere schon längst an ihrem Geruch und den vertrauten Geräuschen erkannt.

»Shiro! Kuro!«

Augenblicklich ließen die jungen Bären voneinander ab. Sie führten ihre geplanten Bewegungen nicht weiter aus, und weil sie gerade auf Kollisionskurs waren, krachten sie in ihr Gegenüber und purzelten auf den Waldboden. Doch kaum fünf Sekunden später waren sie wieder auf den Beinen, um dem Fuchsmädchen entgegen zu laufen.

Lachend hatte sich Oichi nach vorne gelehnt. Nun rutschte sie den Hang hinunter, und kurz darauf lag sie eingedrückt zwischen den massigen Körpern der Bären.

»Ich habe euch so vermisst«, stieß die Kitsune hervor, als sie sich aus dem Knäuel behaarter Gliedmaßen befreit hatte und den beiden Bären die Köpfe streichelte. Sofort erhielt sie eine Antwort in Form eines liebevollen Schnaubens.

In der Tat waren der weiße Bär Shiro und der schwarze Bär Kuro ziemlich gute Freunde von Oichi, oder aber man hätte sie als ihre Ziehkinder bezeichnen können. Als die Kitsune vor einem Jahr ihre Suche angetreten hatte, war sie schließlich auf zwei Bärenjunge getroffen – zwei Neugeborene, deren Mutter leider gestorben war.

Ohne irgendeine Art von Hilfe hätten Shiro und Kuro kaum in dem gefährlichen Wald überlebt, welchen sie ihr Zuhause nannten. Also hatte sich Oichi ihrer angenommen. Mit großer Fürsorge und Geduld hatte sie sich um die beiden Bären gekümmert. Es lag in der Natur der Kitsune, anderen zu helfen, und zudem war es eine willkommene Ablenkung gegen den Schmerz des Verlustes gewesen.

»Na, ihr? Was macht ihr denn hier?«, fragte Oichi. »Habe ich euch denn nicht gesagt, ihr sollt mir nicht folgen?«

Womöglich verstanden die Bären ihre Worte, doch antworten wollten sie nicht, denn sie stupsten die Kitsune ein letztes Mal mit der Schnauze an, dann trotteten sie gemütlich davon. Ihr Hunger nahm Überhand, und so wateten sie in einen kleinen Fluss, der durch diesen Wald lief.

Die Bären suchten nach Fischen. Dabei wandten sie einen Trick an, den Oichi ihnen gezeigt hatte. Sie stellten sich ins Wasser und hielten Ausschau nach Felsen, unter denen sich ein kleiner Hohlraum befand, weil sie nicht eben am Grund des Flusses lagen. Dort war Platz genug für eine Hand oder auch eine Tatze, und war man vorsichtig, so konnte man manchmal einen Fisch ertasten, der sich in den Schutz eines solchen Felsens begeben hatte. Streichelte man den Bauch der Fische, so verfielen sie in eine Art Schockstarre, obwohl man es auch Ruhepause nennen könnte. Nach dieser Prozedur war es ein leichtes, die glitschige Beute einfach hervor zu holen und zu essen.

Verblüfft stellte Oichi fest, dass Shiro und Kuro immer noch den Kopf der Fische abbissen, um anschließend die Gedärme zu entfernen. Dies stellte eine umständliche Prozedur dar, die für die Bären eigentlich überflüssig war. Und was übrig blieb, stopften sie sich in den Rachen.

»Ihr sturen Dinger«, tadelte Oichi sie, musste allerdings laut lachen. »Wie oft habe ich euch denn schon gesagt, dass euch die Parasiten nichts ausmachen? Ich bin es, die den Fisch nicht zur Gänze herunterschlingen darf. Schlingt ihn ruhig im Ganzen runter, ihr zwei.«

Eine Eigenheit, welche die Bären von der Kitsune übernommen hatten, als sie zu dritt durch die Wälder gestreift waren. Es war eine Zeit gewesen, in der Oichi ihre Prinzipien verraten und Fleisch zu sich genommen hatte – eine Zeit, in der sie Dinge getan hatte, die sie nun bereute. Aber sie hatte dies alles tun müssen, um nicht verrückt zu werden.

Immerhin konnte Shiros und Kuros Anwesenheit sie ein wenig aufmuntern. Es war sehr wahrscheinlich, dass die beiden ihr bis in die Schneefelder gefolgt waren. Als sie dort zusammengebrochen war, hatten sie sie wohl hierher gebracht.

Plötzlich zuckten Oichis Ohren, und bevor ihr Gehirn verarbeiten konnte, dass ein verräterisches Rascheln zu vernehmen war, tauchte auch schon jene Gestalt auf, die das Geräusch verursacht hatte.

Hinter Shiro und Kuro tauchte eine großgewachsene Gestalt auf, eine menschenähnliche zwar, jedoch mit einer gewaltigen dunklen Mähne und langen Klauen.

»Vorsicht!«, rief das Fuchsmädchen.

Obwohl die Gestalt bedrohlich näher kam, machten die Bären keine Anstalten, ihre Körperhaltung einem Kampf oder einer Flucht anzupassen. Sie waren so ruhig wie immer und blickten nur kurz in Richtung des Neuankömmlings, bevor sie Oichi musterten.

Das Verhalten ihrer beiden Zöglinge veranlasste auch das Fuchsmädchen, völlig gefasst zu bleiben. Es starrte dem näherkommenden jungen Mann mit dem nackten Oberkörper herausfordernd in die Augen.

Keine zwei Schritte vor ihr blieb der dunkelhaarige Fremdling stehen. Er streckte seine Hand aus, hielt jedoch mitten in der Bewegung inne und senkte sie dann wieder. Generell wirkte seine Gestik etwas unbeholfen. Dasselbe konnte man von der Mimik behaupten, denn sein Mund konnte sich anscheinend nicht zwischen einem Lächeln und einem Zähnefletschen entscheiden.

»Ich grüße dich, Oichi«, sagte er mit klarer Stimme. »Mein Name ist Ukusim.«

Langsam erhob sich die Kitsune. Sie hatte diesen jungen Mann schon einmal gesehen. Es war vor vielen Jahren gewesen. Und nun, da sie seinen Namen hörte, kamen auch alle Erinnerungen an ihn zurück.

Viele Erinnerungen waren es jedenfalls nicht. Als Oichi noch ein Kind gewesen war, hatte sie mit ihren Freunden im Wunderforst an einem kleinen Wettrennen teilgenommen. Natürlich waren auch Iki und Almiran dabei gewesen. Und dieser Ukusim, der ihr an diesem Tag zum ersten Mal begegnet war – und auch zum letzten Mal, bis zu diesem Moment.

Ukusim war ein Wolfsmensch, ein Ookami. Wie auch Oichi war er von menschlicher Gestalt, allerdings gab es bestimmte Merkmale, die darauf schließen ließen, dass er zu den magischen Geschöpfen zählte, darunter etwa der buschige Schweif am unteren Ende des Rückens. Zudem waren Zähne sowie Nägel ungewöhnlich lang und spitz.

Die Tiermenschen waren den nichtmagischen Menschen in fast jeder Hinsicht weit überlegen. Ihre Sinne gewährten ihnen ungleich mehr Informationen über ihre Umgebung, ihre Körper waren kräftiger sowie ausdauernder, und manche konnten sogar Elemente beherrschen.

Allerdings gab es auch einige Aspekte ihres Wesens, die den Tiermenschen seit ewigen Zeiten Probleme einbrachten. So waren Kitsune etwa unfassbar neugierig und konnten schnell aufbrausend werden, während Ookami eher scheu auftraten. Oichi hatte selbst erlebt, wie abweisend Ukusim damals gewesen war. Trotzdem hörte man auch immer wieder von Wolfsmenschen, die Blutbäder zu verantworten hatten, weil man sie zu sehr bedrängt oder provoziert hatte.

Im Gegensatz zu Oichis rotblondem glattem Haar war das von Ukusim dunkelbraun und wucherte in alle Richtungen. Es reichte ihm vorne bis zur Nasenspitze und hinten bis zu den Schultern. Außerdem war der Wolfsjunge um einiges größer als das Fuchsmädchen, denn er überragte sie beinahe um zwei Köpfe. Ansonsten schien es wenige Unterschiede zwischen ihnen zu geben. Auch Ukusims Haut war hell, und seine Iriden leuchten rötlich, wenn auch nicht ganz so hell wie die seines weiblichen Gegenübers.

Lange sahen sich die Kitsune und der Ookami an.

»Ich habe nach dir gesucht«, begann Ukusim schließlich. »Nachdem ich deinen Geruch an diesen beiden Bären wahrgenommen habe, habe ich sie davon überzeugt, dir nachzulaufen und dich hierher zu bringen.«

»Du hast was?«, fuhr ihn Oichi an. »Wie kannst du es wagen, die Bären einer solchen Gefahr auszusetzen?«

Betreten schüttelte Ukusim den Kopf.

»Es war ihre eigene Entscheidung«, erwiderte er. »Ich bat sie um Hilfe. Und wie es scheint, hattest auch du ihre Hilfe dringend nötig.«

»Das«, fauchte Oichi und senkte anschließend ihre Stimme, »ist wahr. Vielen Dank.«

Halb lächelnd griff sich Ukusim an den Hinterkopf.

»Du kennst meinen Geruch immer noch?«, fragte die Kitsune nun. »Unser einmaliges Treffen ist doch schon so lange her.«

»Mag sein«, meinte der Ookami nur. »Und du hast mich am Klang meiner Stimme erkannt, oder? Das ist genauso bemerkenswert. In der Tat sind die Fähigkeiten der magischen Geschöpfe sehr außergewöhnlich. Schade um den Wunderforst. Nur wenige konnten sich retten.«

Bei diesen Worten musste sich die Kitsune abwenden. Sie hatte das Gefühl, als wüsste sie, was als nächstes passieren würde.

»Ich brauche deine Hilfe, Oichi«, bat Ukusim und rang mit den Händen. »Es geht um deine kleine Schwester.«

Genau wie erwartet. Allerdings hatte Oichi versucht, ihre Schwester zu vergessen. Deren alberne Spielchen waren bloß eine Ablenkung. Viel wichtiger war es, Haru zurück zu bekommen.

»Tut mir leid«, sagte sie nur. Zu mehr reichte ihre Stimme nicht.

»Aber Oichi, du verstehst nicht. Deine Schwester und ihre Freundin haben uns angegriffen. Mehrmals sogar. Uns, also magische Wesen.«

»Was?«

Nun, das rückte alles in ein anderes Licht. Zwar hatte Oichi bereits davon gehört, Okuni würde sich gegen ihresgleichen auflehnen und gemeinsam mit einer anderen Kitsune Unheil stiften, doch ein tatsächlicher Angriff auf Artgenossen – das ging zu weit.

Bei diesen Gedanken stiegen Oichi Tränen in die Augen. Als ob es nicht schwierig genug war, ohne Kameraden einsam in der Gegend herumzuirren, ohne Aussicht auf Erfolg.

»Ich würde gerne helfen«, sagte sie mit zitternder Stimme, unfähig Ukusim anzublicken. »Aber es gibt etwas, das ich tun muss. Und das ist um einiges wichtiger.«

»Wenn das so ist«, entgegnete der Wolfsjunge, »dann werde ich dir jetzt helfen, damit du später im Gegenzug mir hilfst. Es sind schon so viele magische Geschöpfe gestorben, und ich will dich keinesfalls beunruhigen, aber es könnte sein, dass deine Schwester Okuni den Zorn all jener auf sich zieht, die aus dem Wunderforst entkommen sind und noch leben.

Was das bedeutete, war ziemlich offensichtlich, jawohl. Wenn Okuni nicht bald mit ihren gefährlichen Spielchen aufhörte, würde sie sterben.