Das Springen, Teleportieren oder wie auch immer man es sonst nennen will, ist einer der größten Vorteile der Unsterblichkeit. Ich kann morgens in Berlin aufwachen, etwas Chaos in eine Hollywood-Hochzeit bringen, den Ausblick von der Zugspitze genießen, zum Mittagessen mal kurz nach Rom oder Venedig springen, um die original italienische Küche zu genießen, auf der Chinesischen Mauer entlangspazieren, bei den australischen Surfern und Beachboys für etwas Unheil sorgen, bei streng geheimen Meetings dabei sein, kostenlos Konzerte, Kino-Premieren oder Sportveranstaltungen besuchen, hin und wieder eine Hochzeit auf einem von sechs verschiedenen Kontinenten crashen, ein erstes Date vermasseln und vieles mehr. Und das an einem einzigen Tag.
Oder ich kann ganz einfach in meine Wohnung zurückkehren, wenn ich keine Lust mehr auf Arbeit habe, den anderen Lebenden Sprichwörtern wie Friedrich aus dem Weg gehen will oder nur mal eine kurze Pause brauche. Gut, zugegeben, bei manchen von ihnen handelt es sich lediglich um Redewendungen, aber sie nennen sich eben so.
Ja, es gibt noch andere wie mich.
Nun ja, vielleicht nicht genau so wie mich – es gibt nur einen Murphy –, aber ihr versteht schon, was ich meine. Von vielen habt ihr sicher schon gehört: Aller guten Dinge sind drei. Alter geht vor Schönheit. Blut ist dicker als Wasser. Morgenstund hat Gold im Mund – das hat sie wirklich. Alle Zähne sind aus reinem Gold und selbst die Zunge ist goldfarben. Es sieht unheimlich aus.
Andere sind weniger bekannt. Wahrscheinlich haben nur wenige von euch schon mal von Der Teufel ist ein Eichhörnchen gehört. Ein echt fieser Genosse. Wir beide sind schon ein paarmal aneinandergeraten und leider nicht im Guten auseinandergegangen. Seitdem flüchte ich und springe sofort irgendwo anders hin, sobald ich ein Eichhörnchen sehe.
Allerdings ist Eichhörnchen nicht der einzige Unsterbliche, dem ich aus dem Weg gehe. Die Nacht ist keines Menschen Freund schert sich beispielsweise wenig darum, dass ich ein Unsterblicher und kein Mensch bin. Eigentlich gilt die Vereinbarung, dass wir unsere Kräfte nicht gegeneinander einsetzen, aber Nacht hält sich nicht daran. Vielleicht hat niemand ihm etwas von dem Gesetz erzählt, ich weiß es nicht. Freiwillig ist Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus garantiert nicht bei Nacht vorbeigekommen und hat ihm erklärt, dass er die Regeln befolgen muss. Bei uns anderen hat Krähe das natürlich getan. Von ihrem endlos währenden Gekrächze, bis ich endlich eingewilligt habe, tun mir immer noch die Ohren weh.
Doch ich halte mich an die Vereinbarung. Sonst hätte ich Archie oder Friedrich schon längst einen Katastrophentag beschert, der sich gewaschen hat.
Ich seufze bei diesem schönen Gedanken und trete ans Fenster, um von dort aus über Berlin zu schauen. Meine Wohnung liegt ziemlich weit oben in einem Hochhaus ohne funktionierenden Aufzug, was mich nicht stört, wie ihr euch denken könnt. Das Gebäude ist heruntergekommen, vieles ist kaputt oder funktioniert nicht richtig.
Einer der Nachteile, wenn ich irgendwo wohne, ist, dass meine Kräfte ebenfalls im Schlaf wirken und willkürlich Dinge oder Ereignisse in meiner Umgebung beeinflussen. Daher die defekten Fahrstühle, die trotz wöchentlicher Reparaturen einfach nicht funktionieren wollen. Inzwischen haben die Eigentümer aufgegeben und die Mieter benutzen die Treppen.
Ja, das Hochhaus ist trotzdem bewohnt. Wer hier wohnt, hat keine Alternative. Berlin ist teuer, der verfluchte Turm – Warum eigentlich nicht Murphys Turm? –, wie sie das Gebäude nennen, ist billig. Hier leben Nutten, Drogensüchtige, Squatter, der Abschaum der Gesellschaft.
Und ich.
Dass ich eine der Wohnungen okkupiere, fällt gar nicht weiter auf. Von den Eigentümern kommt selten jemand vorbei. Denn Mängel, von denen sie nichts wissen, müssen sie nicht teuer reparieren lassen. Und dann sind da ja auch noch die nicht funktionierenden Aufzüge und der Turm hat über dreißig Stockwerke.
Ich lebe in der achtundzwanzigsten Etage, nicht direkt unter dem Dach, was mir die Bewohner vom Leib hält, die sich hin und wieder trotzdem bis ganz nach oben quälen, um den wunderschönen Ausblick über Berlin bei guter Sicht zu genießen, aber doch so weit oben, dass ich der einzige Bewohner auf meiner Etage bin. Mit anderen hätte Sport ist Mord auch seine Freude gehabt. Mehrfach achtundzwanzig Stockwerke rauf- und runterlaufen an einem Tag, wer tut sich das schon freiwillig an?
Verständlicherweise bekomme ich nie Besuch, bezahle nie Miete, zwacke Strom, Wasser und Heizung einfach von den anderen ab und bin zufrieden, wenn ich den übrigen Bewohnern und den anderen Unsterblichen so aus dem Weg gehen kann. Unter uns herrscht die ungeschriebene Regel, dass wir einander nie zu Hause besuchen. Die Regel hat wohl mehr Morde unter unseresgleichen verhindert als Krähes Gesetz. Nach mehreren Jahrhunderten (in meinem Fall) oder Jahrtausenden der Unsterblichkeit kann niemand die Gesellschaft der anderen ununterbrochen ertragen.
Daher bin ich sehr schockiert, als ich plötzlich ein Geräusch höre und eine Präsenz in meiner Wohnung spüre, die ganz klar einem von uns gehört.
Es ist Arsch.
Gut, ihr könnt ihn meinetwegen Archie nennen, mir egal, ich nenne ihn trotzdem Arsch. Denn er ist einer. Nicht nur, weil er unaufgefordert in meinen Rückzugsort geplatzt ist.
Der Katastrophen-Stümper wirkt heute anders als sonst. Ich brauche einen Moment, um den Grund zu erkennen.
Arsch sieht wütend aus.
Ich glaube, ich habe sein Putten-Gesicht bisher nie zornig verzogen gesehen. Eine wirklich Furcht einflößende Grimasse bekommt er mit seinen rundlichen Wangen und puppenhaften Gesichtszügen natürlich nicht hin. Er sieht lächerlich aus. Beinahe hätte ich vergessen, dass ich sauer auf ihn bin.
»Habe ich dich etwa zu mir eingeladen, Arsch? Verschwinde sofort von hier!«, zische ich ihn an.
»Ich heiße Archie!«, erklärt mein ungebetener Besucher wie automatisch zum wiederholten Mal und holt danach tief Luft. »Was zum Teufel hast du mit Friedrich gemacht?«
Da ich mit dieser Frage überhaupt nicht gerechnet habe, starre ich ihn einen Moment lang nur verdutzt an. »Nichts«, sage ich schließlich.
»Lüg nicht!«, fordert Archie empört.
Langsam werde ich richtig sauer. Immerhin ist er uneingeladen in meine Wohnung geplatzt und nun beleidigt er mich. Das geht zu weit!
»Als ob ich das nötig hätte!«, erkläre ich ihm von oben herab. »Ich weiß zwar nicht, was es dich angeht, aber ich halte mich an die Regeln. Im Gegensatz zu dir! Also hau endlich ab! Du bist hier nicht willkommen!«
Erst jetzt scheint Arsch zu begreifen, dass er in meine Wohnung und mein Territorium eingedrungen ist. Er wird blass.
»Sorry«, murmelt er verlegen.
»Wie hast du mich überhaupt gefunden?«, frage ich. Nicht dass es ein Telefonbuch oder ein Meldeamt für uns geben würde. Und ich habe gedacht, dass wir uns nicht einfach so gegenseitig aufspüren können. Doch da habe ich mich anscheinend geirrt. Nicht nur Friedrich, sondern jetzt auch Arsch sind ein stichhaltiges Gegenargument für meine Hypothese.
»Du hast Friedrich also wirklich nichts getan?«, kontert Arsch stattdessen und wirkt leicht skeptisch.
»Nein!«
»Warum ist er dann bei mir aufgetaucht, in Tränen aufgelöst, und konnte mir nur deinen Namen sagen, als ich ihn fragte, was los ist?«
Dieses kleine Biest! Natürlich ist er gleich bei seinem strahlenden Helden petzen gegangen!
»Das lag mit Sicherheit nicht an mir! Ich habe ihn nicht anders behandelt als sonst! Und nur, weil ich ihn nicht als Lehrling haben wollte …«, rechtfertige ich mich.
»Aha!«, unterbricht mich Archie triumphierend. »Das ist es! Du hast seine Gefühle verletzt!«
Er starrt mich vorwurfsvoll an und schüttelt missbilligend den Kopf. Für einen Augenblick erinnert er mich an meinen Vater, trotz Putten-Gesicht.
»Sind wir hier im Kindergarten?«, will ich wissen. »Pfui! Du warst unartig, geh in deine Ecke und denk über dein Verhalten nach?«
»Friedrich ist ein Kind, Murphy!«, sagt Arsch mit solchem Ernst, dass ich mir hier wie der Bösewicht vorkomme, obwohl ich nichts falsch gemacht habe.
»Spinnst du? Ich weiß nicht, wie alt er ist, aber mit über hundert Jahren ist er definitiv kein Kind mehr, egal, wie alt er aussieht!«
Arsch seufzt tief. »Tue ihm einfach den Gefallen, Murphy! Bitte! Es bedeutet ihm so viel. Du bist sein großes Vorbild. Er sieht zu dir auf, wie du weißt.«
Nein, weiß ich nicht. Auf welchem Planeten lebt er denn? Alles, was ich von Friedrich höre, ist, wie toll Archie doch ist. Archie hat dies und das gemacht. Kennst du schon den neuesten Streich, den Archie verübt hat? Und so weiter und so fort. Von Heldenverehrung und Vorbildfunktion in meinem Fall können wir da definitiv nicht sprechen.
»Nein, tut er nicht. Er hat mich nur gefragt, weil du es nicht machen wolltest«, entgegne ich entschieden. Die Schuld lasse ich mir nicht zuweisen!
»Bitte?«, wundert er sich. »Er hat mich nie gefragt!«
Sieht verdammt überzeugend aus, seine Unschuldsmiene. So ein Putten-Gesicht ist also doch zu etwas gut.
»Wer’s glaubt, wird selig«, sage ich und zeige dann zur Tür. Arsch starrt mich verdutzt an. »Was soll das?«
»Da du anscheinend das Springen verlernt hast: Dort ist die Tür. Danke für den Besuch, das sollten wir wiederholen. Vielleicht, wenn Weihnachten und Ostern auf einen Tag fallen.«
Ja, die verschiedenen Formen der Unhöflichkeit habe ich drauf. Arsch auch, denn er erkennt endlich, dass er unerwünscht ist, und verschwindet. Ohne sich zu verabschieden. Unzivilisierter Bastard!
Jetzt brauche ich einen Tapetenwechsel und frische Luft. Ich entscheide mich für einen Besuch in Hamburg. An den Landungsbrücken atme ich tief ein und starre auf die Elbe, auf der wie immer viel los ist. Etliche Leute flanieren an mir vorbei, ein paar rempeln mich an und wirken verdutzt, einige Touristen wollen zur Hafenrundfahrt, andere mit der Fähre rüber nach Finkenwerder. Und dies ist nur ein Teil des üblichen Schiffsverkehrs.
Ich werde ruhiger. Bislang war der Tag, mal abgesehen von Taubenkunstwerk und Taubenfeind, nicht sehr erfolgreich. Mein Arbeitspensum leidet unter den Heimsuchungen durch Friedrich und Arsch. Obgleich ich mein eigener Chef bin, mein Tagespensum muss ich auf jeden Fall schaffen.
Es wird euch vielleicht wundern, aber auch ich bin vor den Auswirkungen meiner Magie nicht gefeit. Nicht ohne Grund benutze ich einen mechanischen Wecker und habe keine elektrischen Geräte in meiner Wohnung. Nachts kann ich meine Kräfte nämlich nicht steuern. Radiowecker, Fernseher, Computer, Mikrowellen, Herde, Rauchmelder, Telefone, Kühlschränke – all das sind Dinge, die ich nicht besitze. Bei mir hält Technik nie sehr lange, sogar wenn ich sie nicht zerstören will. Ich habe mich daran gewöhnt und das meiste ist sowieso unnützes Zeug. Ich bin in einer Zeit aufgewachsen, in der es all das nicht gab. Für mich sind ein WC und eine Dusche schon ein gewaltiger Fortschritt. Mehr Luxus brauche ich nicht.
Ich merke, dass meine Gedanken abgeschweift sind, als ich nach einer Weile die Präsenz eines anderen Unsterblichen spüre, der in einiger Entfernung durch die Gegend schlendert. Hochgeschreckt starre ich erst auf die Uhr, fluche, weil es mittlerweile schon nach elf ist, und drehe mich dann um.
Es ist das Schleimmonster.
Natürlich gibt es keine Sprichwörter über Schleimmonster! Idioten!
Das ist mein Spitzname für Hochmut kommt vor dem Fall. Gut, wer Hochmut nicht kennt, der wundert sich jetzt sicher über die Bezeichnung, die anderen werden verständnisvoll nicken.
Es ist nicht so, dass Hochmut hässlich ist. Im Gegenteil, sie ist sogar recht schön anzuschauen – wenn man sich die Nase zuhält. Ihre eigene Nase hält sie nicht ohne Grund stets nach oben. Sie kann sich vermutlich selbst nicht riechen.
Leider hat Hochmut auch eine hässliche Seite. Aus ihren Füßen tritt ein für die Menschen unsichtbarer Schleim aus. Die Fußstapfen aus Schleim sind wie tickende Zeitbomben. Du weißt nie, wann die Schleimbombe explodiert. Dieser unsichtbare Schleim ist lediglich für uns Unsterbliche zu sehen, leider auch zu riechen. Das Schleimmonster ist daher kein gern gesehener Partygast, wie ihr euch vorstellen könnt.
Wenn ein Mensch nun auf eine dieser Bomben tritt, kann es sein, dass in zehn Fällen gar nichts passiert und der elfte dann die Schleimbombe zündet. Dann wird der Schleim plötzlich spiegelglatt. Und zack! Dort liegt ein gestürzter Mensch, der sich nicht erklären kann, was passiert ist, und wieder ist ein Sprichwort bewiesen.
Da der Geruch langsam unerträglich wird, trotz einer recht angenehmen Brise an diesem heißen Maitag, und ich schon zu lange gefaulenzt habe, beschließe ich, mir nun endlich mein nächstes Opfer zu suchen. Gerade hatte ich die perfekte Idee, die ich unbedingt ausprobieren muss.