Verdammt nah am Himmel

Verdammt nah am Himmel

Linda Schipp

Drachenmond Verlag

Für Oma Anne, Oma Christel und Opa Eugen,

weil ihr schon immer an mich geglaubt habt.

Inhalt

Vorwort

1. Wussten Sie schon?

2. In deinem Himmel

3. Schutzengel

4. Kehlkopfkrebs

5. Wie man Leben rettet

6. Einfaltshörnchen

7. Was uns ›wow‹ denken lässt

8. Mythos der Lemminge

9. Kerngesund

10. 36 Fragen

11. Katz und Maus

12. Im Wandschrank

13. Blinde Passagiere

14. Die Glücksglas-Metapher

15. Definition von Wahnsinn

16. Memories To Do

17. Leben wollen

18. Brückensprünge enden tödlich

19. C5F

20. Mädchenhaare

21. Murphy

22. Morgen

23. Wenn wir zu Sternen werden

24. Puzzleteile

25. Du und Ich

26. Konnte das Zufall sein?

27. Wenn der Himmel hinabstürzt

28. Trigger

29. Ich bin immer da

30. Alte Freunde

31. 7 Sekunden

32. Träume

33. Tanzen

34. Wie oft man durchschnittlich am Tag floh, wenn man Jack Raider hiessß

35. Es könnte mein Leben sein

36. Abstrichröhrchen

37. Dort, wo nur Worte berühren können

38. Wahrheit

39. Die Besonderheit von Namen

40. Jonah

41. Und. Ich. Dich

42. Schuld

43. Wer ist Cara?

44. Selbsterhaltungstrieb

45. Deshalb

46. Ein Streit und zwei beschissene Stunden

47. Ebenen

48. Letztes Stück Sommer

49. Sterben

50. Marie

51. Rose

52. Was wirklich wichtig war

53. Hoffnung

Epilog

Nachwort

36 Fragen

Über die Autorin

Bücher von Linda Schipp

Vorwort

Dies ist eine Geschichte über das Leben.

Eine Geschichte über den Glauben, das Hoffen und Vertrauen.

Doch das Leben ist – ebenso wie zu glauben und zu hoffen – nicht immer leicht. Insbesondere nicht für Jack, den Hauptcharakter dieses Romans. Seine Gedanken kreisen um das Thema Suizid.

Ich möchte dich hiermit darauf aufmerksam machen, dass in diese Gedanken einzutauchen und zu fühlen, was Jack fühlt, für den einen oder anderen nicht geeignet sein könnte. Auch wenn Jack und Rose frei erfunden sind – ihre Gefühlswelt ist es nicht. Unter uns gibt es Menschen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben und diese nicht noch einmal erleben wollen.

Dies ist eine Geschichte über das Leben.

Ich möchte dich einladen auf eine Reise, die dir in besonderer Erinnerung bleiben soll. Ebenso möchte ich dich bitten, vorher in dich hineinzuhorchen, ob du für diese Reise und Jacks Gefühle bereit bist.

Sollte deine Antwort ›nein‹ lauten, bin ich sehr glücklich und froh, dass dieser Hinweis seinen Zweck erfüllt hat. Es ist gut, wenn du weißt, was für dich richtig ist.

Deine Antwort lautet ›ja‹? Mit nichts könntest du mir eine größere Freude bereiten. Mach es dir bequem, lehne dich zurück und folge mir in eine laue Sommernacht über dem Fluss von Hamborough …

1

Wussten Sie schon?

Noch 18 Stunden und 4 Minuten

Die Aussicht von hier oben hatte Potenzial, fand Jack.

Er lehnte sich an das Geländer hinter ihm und ließ den Blick über seine angezogenen Knie hinweggleiten, über die im Mondlicht funkelnde Wasseroberfläche unter ihm bis ans Flussufer zu den Hochhäusern der Stadt. Wie ungleichmäßige Stapel pechschwarzer Schuhkartons ragten sie in den tiefblauen Nachthimmel. An ihren Fassaden glitzerten winzige Lichtpunkte, als wären einige Sterne auf die Erde geregnet und an den Hauswänden kleben geblieben. Die Wasseroberfläche reflektierte das Licht der Fenster und malte ein verzerrtes Spiegelbild der Skyline auf den Fluss.

Gar nicht mal so hässlich.

Jack zerrte ein zerfleddertes Notizbuch aus seiner hinteren Hosentasche, zog den Kugelschreiber aus der Ringbindung und begann, darin zu blättern. Bei seiner Liste mit der Überschrift Top Ten Orte zum Sterben hielt er an. Er musste da etwas korrigieren. Das Panorama, das sich ihm hier auf der Pearly Gates Bridge von der falschen Seite des Schutzzaunes aus bot, hatte eindeutig eine bessere Platzierung verdient. Akkurat strich Jack die kleine Sechs durch, hielt einen Moment inne und setzte dann eine Zwei daneben. Silber.

»Tut mir leid, Pearly«, murmelte er. »Keine Goldmedaille für dich. Scheint so, als wird das nichts mit uns beiden.«

Wenn er sich recht erinnerte, toppte der Ausblick von der Klippe über den Hamborough Falls die Brücke nämlich um Längen. Sein persönlicher Platz eins. Erst gestern war Jack dort gewesen und den mühseligen Pfad bis zum Ursprung des Wasserfalls hinaufgekraxelt. Einer der Felsen ragte bis über den größten der drei Wasserfälle, sodass einem feine Tröpfchen der tosenden Wassermassen bis an die Waden spritzten, wenn man sich an den Rand setzte und die Beine hinunterbaumeln ließ.

Jack sah vom Notizbuch auf und prüfte noch einmal das Bild, das sich ihm bot. Nein, mit der Klippe über dem Wasserfall konnten es die erleuchteten Wolkenkratzer und ihre verschwommenen Konturen auf dem Fluss nicht aufnehmen. Außerdem fühlte sich der Stahlträger, auf dem er saß, unbequem und im wahrsten Sinne des Wortes arschkalt unter seinem Hintern an. Dennoch war die Pearly Gates Bridge ein würdiger Kandidat auf der Liste.

Jack quetschte das Notizbuch samt Stift zurück in die Tasche seiner Jeans und prägte sich diesen Ort ganz genau ein. Seine Vorgänger hatten Geschmack bewiesen. Die Brücke trug ihren Namen nicht umsonst: Pearly Gates, eine Metapher für Himmelspforte. Bei der feierlichen Eröffnungszeremonie vor ein paar Jahren hatte man sie eigentlich Hamborough Bridge getauft. Doch dieser Name setzte sich nicht durch. Schon in der ersten Woche nach Eröffnung hatten zahlreiche Brückenspringer die neue Gelegenheit dankend angenommen, ihrem Leben schnell und schmerzlos ein Ende zu setzen. Jack wunderte das nicht. Brücken boten den Vorteil, dass zum Schluss niemand die Sauerei wegwischen musste. Außerdem durfte man bei einem Aufprall mit über einhundertzwanzig Stundenkilometern mit hoher Wahrscheinlichkeit vom Tod ausgehen, schon bevor ein Tröpfchen Wasser in die Lunge eindrang. Praktisch war außerdem, dass sich anspruchsvolle Springer kein Ticket mehr ans westliche Ende der USA zur Golden Gate Bridge leisten mussten. Einen todsicheren Absprung inklusive guter Aussicht bekam man dank der Pearly Gates Bridge, der größten Brücke Connecticuts, nun auch an der Ostküste.

Jack seufzte. Was für ein ausgemachter Blödsinn. In den vier Sekunden, die der Sturz dauerte, brauchte man genausowenig ein schickes Panorama wie Tote üppige Blumenkränze auf ihren Gräbern. Doch natürlich gestand sich niemand die unromantische Wahrheit ein. Ihr Leben lang lernten die Leute, dass man sich einen netten Ausblick gern etwas kosten ließ. Ein paar Dollar mehr für die Außenkabine auf dem Kreuzfahrtschiff. Zwölf Dollar für den Fahrstuhl zur zweiten Plattform des Eiffelturms, achtzehn bis zur dritten. Und wer sich traute, den ungesicherten Brückenvorsprung der Pearly Gates Bridge entlangzubalancieren, bekam die Skyline von Hamborough sogar gratis. Das ließ man sich doch nicht entgehen. Man hatte schließlich nichts zu verlieren!

Bei diesen Gedanken konnte Jack nicht anders, als die Augen zu verdrehen. Den Tod – ebenso wie das Leben – sinnlos zu romantisieren, damit würde die Menschheit, einschließlich ihm selbst, wohl niemals aufhören. Deshalb sprangen sie von der Golden Gate Bridge oder der Pearly Gates Bridge und die Politiker ärgerten sich über das Image ihrer Brücken.

Jacks bescheidener Meinung nach hatten es diese Sesselfurzer allerdings nicht anders verdient.

Wer hatte denn abgesegnet, dass noch hinter dem Geländer ein Steg verlaufen sollte? Der stählerne Brückenvorsprung war wie dafür gemacht, am Abgrund entlangzuspazieren. Eine totale Fehlkonstruktion. Niemand sollte sich über Springer beschweren, solange keiner auf die Idee kam, den Brückenrand etwas besser zu sichern als mit diesem popeligen Eisenzaun. Die Brüstung reichte Jack kaum bis über den Scheitel. Sie zu überwinden, war ein Kinderspiel gewesen. Gut, fairerweise musste er zugeben, dass die physikalischen Gesetze es den Architekten schwer machten, höhere Geländer zu bauen, die den Winden oben auf der Brücke standhielten. Aber warum besaß der Zaun ausgerechnet Quersprossen? Quersprossen! Da fand selbst der ungeübteste Kletterer bequem Halt für seine Füße und konnte den Zaun erklimmen, ohne sein sorgfältig gewähltes Sterbe-Outfit zu beschmutzen.

Wer das alberne Ding bezwungen hatte, durfte ungehindert auf dem schmalen Stahlträger entlangbalancieren. Oder natürlich, wie Jack, darauf sitzen und die Aussicht genießen. Im Rücken die Brüstung, vor der Nase der verführerische Abgrund. Das glich doch einer Einladung an alle Suizidgefährdeten, oder etwa nicht? Und dann das lächerliche Blechschild am Anfang der Brücke. Die Stadt hatte es auf Empfehlung der San Francisco Suicide Prevention Stiftung am Brückenpfeiler angebracht:


Krisenberatung

Für jeden gibt es Hoffnung

Brückensprünge enden tödlich


Darunter eine Nummer und ein altmodischer Telefonhörer unter einer durchsichtigen Plastikhaube. Ob schon jemals ein Springer die Nummer gewählt oder sich durch dieses Schild von seinem Vorhaben hatte abbringen lassen?

Guten Tag, Jack Raider mein Name. Ich stehe hier am Rand der Pearly Gates Bridge und habe soeben über Ihre Infotafel erfahren, dass es für jeden Hoffnung gibt, was ja auch mich einschließt. Na, Gott sei Dank habe ich das rechtzeitig entdeckt. Gerade wollte ich in meinen Tod springen! Noch mal Schwein gehabt …

Mal ehrlich. Wer ernsthaftes Interesse daran hatte, Menschen von ihrem Todessturz abzubringen, der musste sich etwas Schlaueres einfallen lassen. Wie wäre es zum Beispiel mit einem Auffangnetz unter der Brücke, wie es kürzlich für die Golden Gate Bridge beschlossen worden war? Gut, die Kosten würden sich auf knapp dreißig Millionen Dollar belaufen. Doch hieß es nicht immer, ein Menschenleben sei unbezahlbar? Die Strapazen, in ein Netz zu hüpfen und sich von dort aus bis zum Abgrund zu kämpfen, würde sicher niemand mehr freiwillig auf sich nehmen. Es nähme dem Ganzen seinen Charme.

Oder aber man schrieb etwas wirklich Relevantes auf das dumme Blechschild, wie:


Wussten Sie schon?

… dass die Wucht des Aufpralls Aorta, Leber, Milz und Herz zerfetzen kann?

… dass manche Suizidale durch gebrochene Rippen sterben, die sich in ihr Herz bohren?

… dass etwa zwei Prozent aller Brückenspringer den Sturz mit schweren körperlichen Beeinträchtigungen überleben?

… dass bis zum Eintritt des Todes Sekunden oder mehrere Minuten vergehen können?

… dass man Brückenleichen, die nicht beim Aufprall getötet worden, sondern ertrunken sind, an schaumigen Schleimblasen an den Nasenlöchern erkennen kann?


Sicherlich würde ein solches Informationsschild den ein oder anderen dazu bewegen, seine Entscheidung zu überdenken. Ihn selbst ausgenommen, versteht sich.

Jack stützte die Unterarme auf die Knie und wandte den Kopf in die andere Richtung. Auf der rechten Uferseite zeichnete sich die Kulisse der Grünen Insel schwarz vorm Horizont ab. Die Insel zählte zu den schönsten Stadtparks der USA. Tagsüber wurde sie von Spaziergängern, Joggern, Inlineskatern, Radfahrern und Touristen belagert, die sich am Strand der Hamborough Bay sonnten oder im Fluss badeten. Man konnte das fröhliche Lachen meist bis zur Brücke hören.

Eine dritte Suizid-Präventionsmaßnahme wäre wohl, die Idylle dieses Ortes zu zerstören, überlegte Jack. Man könnte an der Sicherheitsabsperrung Bilder von aufgedunsenen Wasserleichen anbringen. Wenn die Springer hinter dem Geländer balancierten, müssten sie daran vorbeilaufen. Klar, das wäre eklig. Aber nur dann würden sie den Zweck der Abschreckung erfüllen. Vielleicht konnte man die Aufnahmen mit ansprechenden Sprüchen versehen wie: Wer wird dich identifizieren? Deine Freundin? Deine Mutter?

Manche Menschen berührte so etwas. Sie wären geschockt von den Bildern und Gedanken an ihre Familie in einem Leichenschauhaus oder einer Pathologie. Bilder ihrer schluchzenden Geschwister auf ihrer Beerdigung.

Für Jack galt das nicht. Der Gedanke an Freunde und Angehörige, die seine Leiche anstarrten und mit zitternder Hand ihren Mund bedeckten, einen Klagelaut unterdrückend, bewegte ihn nicht. Es würde nicht passieren. Da war niemand, der seine sterblichen Überreste betrauern würde, denn …


Blinkendes Licht am Brückenbeginn riss Jack aus seinen Gedanken. Fuck. Ein herannahendes Auto. Bloß blinkten die Scheinwerfer normaler Autos für gewöhnlich nicht. Das tat lediglich das Warnsignal von Einsatzfahrzeugen – wie zum Beispiel von Polizeiautos. Scheiße, wer hatte die gerufen?

Sein Blick zuckte von links nach rechts auf der Suche nach einer Fluchtmöglichkeit. Seitlich von ihm erstreckte sich nur der Stahlträger, auf dem er saß. Vor ihm der gähnende Abgrund, hinter ihm die Absperrung zur Straße. Keine Möglichkeit zu entkommen.

So eine Kacke.

Für einen Plausch mit dem Polizeipsychologen fehlte Jack die Geduld. Floskeln wie »Es gibt für alles eine Lösung« und »Sir, bitte bewahren Sie mich davor, Ihrer Mutter heute sagen zu müssen, dass der Körper ihres Sohnes am Grunde des Flusses liegt!« brachten seinen Puls schneller zum Rasen als Menschen, die behaupteten, alles im Leben hätte einen Sinn.

Er fragte sich jedes Mal, für wie dumm ihn diese Psychologen halten mussten, wenn sie glaubten, ihn beraten zu können, ohne seine Situation zu kennen. Schon der Versuch, ihn umzustimmen, kam für Jack einer Beleidigung verdammt nah. Indirekt warfen sie ihm damit vor, unüberlegt zu handeln. Als hätte er seinen Willen zu sterben nicht gründlich durchdacht. Selbstverständlich hatte er das. Jack Raider traf keine Entscheidungen, die er vorher nicht von allen Seiten analytisch betrachtet hatte. Denn er wusste, was passierte, wenn man es versäumte. Er spürte die Konsequenzen noch immer in jeder Zelle seines Körpers, sobald er an diese eine Nacht im Herbst dachte. Was bedeutete: in jeder Scheißsekunde seines Lebens.

Jack machte sich ganz klein, zog die Beine eng an seinen Körper und presste den Rücken ans Geländer. Er wagte es nicht, sich umzudrehen.

Vielleicht waren sie ja gar nicht auf dem Weg zu ihm, sondern zu einem Einsatz, der sie über die Brücke führte. Vielleicht hatte er Glück. Oder aber das hier war wie in diesem Artikel, den er mal gelesen hatte: Kurz bevor Menschen wie er ihr Leben beenden wollten, litten manche von ihnen unter Halluzinationen, die wie aus dem Nichts auftauchten. So glaubte beispielsweise ein Mann, der kurz davorstand, aus dem siebten Stock zu springen, seine verstorbene Mutter zu sehen, die in der Zimmertür stand und ihm beruhigend zuredete. Man nannte das teleologische Halluzinationen. Jacks Vermutung nach eine vom Selbsterhaltungstrieb ausgelöste Reaktion auf die Angst vor dem Tod.

Vielleicht passierte ja gerade etwas Ähnliches und das herannahende Auto existierte lediglich in seiner Fantasie.

Pff. Wer’s glaubte. Jack war suizidgefährdet, nicht durchgedreht. Und außerdem der rationalste Mensch auf diesem Erdball.

Jack hörte, wie das Auto auf seiner Straßenseite direkt hinter der Brüstung zum Stehen kam, und kniff die Augen zusammen. Die einzige Chance, einer nervtötenden »Tun Sie nichts Unüberlegtes«-Diskussion aus dem Weg zu gehen, war, tatsächlich zu springen. Das würde Jacks Planung allerdings zunichtemachen. Auf Platz eins der Top Ten Orte zum Sterben stand schließlich die Klippe über den Hamborough Falls, nicht diese Brücke. Jack hatte sich nicht umsonst die Mühe gemacht, jeden einzelnen Ort seiner Liste persönlich zu überprüfen.

Natürlich könnte er auch einfach klarstellen, dass er lediglich die Aussicht genossen hatte und nicht wirklich springen wollte. Letzteres entsprach sogar der Wahrheit. Allerdings würden sie ihn nach seinen Personalien fragen. Bei der Aussicht, seine Identität der Polizei preisgeben zu müssen, war es besser, es gleich durchzuziehen. Scheiß auf die Liste, scheiß auf seinen Plan.

Jack öffnete die Augen, robbte zum Rand des Vorsprungs und schwang die Beine über die Kante. Seine Füße baumelten im Nichts. Die Brücke war zu hoch, als dass er in der Dunkelheit die Wasseroberfläche erkennen konnte.

Von der Straße drang das Geräusch einer sich öffnenden Autotür zu ihm.

Das war’s also. Jack holte Schwung, um sich vom Rand abzustoßen, als ohrenbetäubender Lärm die Stille der Nacht durchschnitt und ihm um ein Haar das Trommelfell zerfetzte. Der Schreck ließ ihn zurückfahren, unsanft stieß er mit dem Hinterkopf gegen das Geländer. Kurz setzte sein Sehvermögen aus, sein Herz raste wie nie zuvor.

Er runzelte die Stirn. Der Krach, der aus dem Auto drang, klang verdächtig nach Britney Spears’ Baby One More Time. Polizisten im Einsatz hörten für gewöhnlich nicht Britney mit wummernden Boxen, das wusste Jack aus Erfahrung. Irgendetwas stimmte hier nicht.

Vorsichtig drehte Jack seinen pochenden Schädel und warf einen Blick zwischen den Gitterstäben hindurch auf die Straße. Der Wagen, der nicht mal zwei Meter hinter ihm unter dem schwachen Licht einer Laterne stand und die Fahrbahn blockierte, sah eher nach einem abgeranzten VW Polo aus als nach einem Streifenwagen. Außerdem war das rhythmische Blinken weder blau noch stammte es vom Autodach. Es war das Warnblinklicht. Kein Blaulicht.

Keine Polizei.

Jack atmete auf. Das bedeutete jedoch nicht, dass das Auto nicht trotzdem seinetwegen angehalten hatte. Auf der Pearly Gates Bridge gab es keinen Seitenstreifen. Es war gefährlich, mitten auf der Straße zu stoppen, selbst mit eingeschaltetem Warnblinklicht und obwohl die Brücke nachts wenig befahren wurde. Unwahrscheinlich, dass der VW Polo durch Zufall genau an der Stelle hielt, wo Jack auf dem Brückensims hockte.

Shit. Warum hatte eigentlich jeder das Gefühl, er müsste sich in anderer Leute Leben einmischen? Niemand würde an der Supermarktkasse seinem Vordermann auf die Schulter tippen und sagen: »Entschuldigen Sie, könnten Sie Ihre Gurke vielleicht gegen eine Zucchini eintauschen? Ich mag keine Gurken«.

Weder ging es die Menschen etwas an noch beeinflusste es ihr Leben, ob Jack eine Gurke oder eine Zucchini kaufte. Ebenso wenig hatte es die Leute zu kümmern, ob er seine Hirnfunktionen zum Erliegen bringen wollte oder nicht. Doch das verstanden sie nicht. Sobald er eine Entscheidung traf, die die Menschen nicht guthießen, rissen sie sämtliche Mauern der Privatsphäre ein, stürmten Jacks Privatgrundstück und entmündigten ihn. So war es schon immer gewesen. Sie zwängten ihm ihre Meinungen auf. Dabei hatte niemand eine Ahnung, was richtig war und was falsch. Ob er Gurken mochte oder Zucchini. Oder ob er auf beide allergisch reagieren und daran ersticken würde.

Ein dunkel glänzender Haarschopf tauchte aus der geöffneten Fahrertür auf und erhob sich über das Autodach. Lange Haare fielen über zwei nackte Schultern, ihre Besitzerin schüttelte sie zurück. Sie hatte eine auffällig aufrechte Haltung, locker und selbstbewusst zugleich.

Überrascht zog Jack die Augenbrauen hoch. Den Mut, einen Verrückten wie ihn vom Springen abzuhalten, hätte er einer jungen Frau wie ihr nicht zugetraut. Sie konnte nicht wissen, wer sie erwartete. Was, wenn er plante, sie mit in den Tod zu reißen? Jack beschloss, ihr Verhalten unverantwortlich zu finden. Unverantwortlich und dumm.

Versteckt hinter der Brüstung auf der anderen Seite beobachtete Jack, wie sie sich die Haare aus dem Gesicht strich, das im Schatten lag. In ihrer Aufregung hatte sie anscheinend vergessen, die Musik runterzudrehen. Ein Suizidaler, der sich vorher Mut angetrunken oder gespritzt hat, wäre nun mit Sicherheit in Panik verfallen und hätte sich bei Britneys Geplärre in die Fluten gestürzt. Glück gehabt, Kleine. Bislang hast du mit deiner Schusseligkeit niemanden umgebracht.

Durch die hinteren Scheiben sah Jack, wie sie hastig ihren Rock runterzog, der im Sitzen hochgerutscht war. Jeden Moment würde sie sich umdrehen, Jack aus schreckgeweiteten Augen anstarren und den Mund stumm wie ein Karpfen öffnen und schließen. Dann würde sie das obligatorische »Bitte spring nicht« hervorpressen und sich damit absolut lächerlich machen. Vielleicht sollte er einen dermaßen irren Gesichtsausdruck aufsetzen, dass sie ihren Hintern augenblicklich wieder in ihre Schrottkiste schwingen und mit quietschenden Reifen davonpreschen würde.

Jack konnte nicht anders, er musste sie anstarren, während sie unelegant ihre Kleidung zurechtzupfte. Warum zur Hölle ließ sie sich so viel Zeit? Hatte sie nicht ein Leben zu retten? Plötzlich … Jack traute seinen Augen nicht.

Ungeniert, als würde niemand zusehen, griff sie hinter sich und pfriemelte durch den Rock hindurch ihre Unterhose aus ihrer Poritze. Sie trug also einen String. Hat sie nicht getan. Jack konnte sich nicht entscheiden zwischen Fassungslosigkeit und Belustigung. Hätten seine Lippen gewusst, wie das funktionierte, hätte er vielleicht sogar gelächelt.

Noch immer machte sie sich keine Mühe, ihm ihre Aufmerksamkeit zu schenken. Stattdessen wandte sie sich zum Kofferraum und tänzelte im Takt der Musik darauf zu. Als der Refrain einsetzte, schleuderte sie ihren Kopf hin und her, ihre Haare flogen um ihr Gesicht. Aus voller Kehle sang sie mit, eine helle Stimme, unfassbar schief. Als hätte sie alle Zeit der Welt, öffnete sie den Kofferraum, beugte sich vor, als müsste sie etwas in dem Gerümpel suchen. Dabei wackelte sie mit dem Hinterteil zum Beat. Baby One More Time. Das Warnblinklicht links und rechts von ihr war das Rampenlicht zu ihrer Showeinlage. Nach kurzer Zeit schnellte ihr Oberkörper zurück, aus dem Kofferraum heraus und sie hielt triumphierend ihr Smartphone in die Luft.

Für den Bruchteil einer Sekunde erhellte das Warnblinklicht ihre Gesichtszüge. Im Halbdunkel glaubte Jack große Augen zu erkennen und zu dichte, breite Brauen. Etwas zu volle Lippen und rosige Wangen. Waren das Grübchen auf beiden Seiten oder nur Schatten?

Sie erinnerte ihn an ein Mädchen, das er einmal gekannt hatte.

Genauso plötzlich, wie ihr Gesicht angeschienen worden war, kehrte sie ihm wieder den Rücken und hüpfte mit wirbelnder Mähne zum Fahrersitz. Als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, verstummte die Musik, das Warnblinklicht erlosch. Der Motor startete knatternd, der Wagen setzte sich in Bewegung und verschwand mit ihr hinter der Wölbung der Brücke auf der Stadtseite von Hamborough.

Es war totenstill auf der Pearly Gates Bridge.

Augenblicklich stürzte sich die Dunkelheit über Jack. Sie umhüllte ihn, brachte ihn innerlich zum Zittern, obwohl sich die Sommerluft auf seiner Haut warm anfühlte. Jack war länger als eine Minute abgelenkt gewesen. Um ein Haar hatte er einen Hauch von Normalität verspürt. Er hatte weder an den Tod gedacht noch an den Grund, warum es nötig war zu sterben. Immer wenn er einen Moment lang nicht daran dachte, war es umso schmerzhafter, wenn die Erinnerungen zurückkehrten. Die Erinnerungen, wie …

Jack verjagte die aufkommenden Bilder des grauen Herbsttages, der alles verändert hatte.

Jedes einzelne Mal, sobald sich die Erinnerung in seine Gedanken drängte, überrollte ihn die Finsternis wie am allerersten Tag. Sie zwang ihn in die Knie. Verhöhnte ihn, wie er so dumm sein konnte zu glauben, er könnte sie jemals verdrängen. Das Erlebnis und die eiskalte Hand, die sein Herz seit diesem einen Tag fest umklammert hielt. Sie ließ ihn nicht los. Sie würde ihn niemals loslassen. Sie alle nicht.

Die Angst. Die Erinnerung. Die Schuld.

Augenblicklich sprang Jack auf und klammerte sich an die Gitterstäbe. Er versuchte gar nicht erst, die stechende Kälte in seiner Brust niederzukämpfen. Das Mädchen, es hatte nicht seinetwegen am Straßenrand gehalten. Natürlich nicht. Warum auch? Sie hatte lediglich ihr Handy aus dem Kofferraum holen wollen. Vielleicht hatte sie gecheckt, was es Neues bei Instagram gab, oder sie wollte ein Foto der Aussicht von der Pearly Gates Bridge auf Snapchat posten. Irgendwas eben. Irgendwas, das wichtiger war als sein erbärmliches Leben. Er konnte es ihr nicht verübeln.

Wenigstens würde er nun sein ursprüngliches Vorhaben in die Tat umsetzen können.

Jack wandte sich in Richtung der mit Hochhäusern gesäumten Uferseite, zu der auch das Mädchen im Auto verschwunden war. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen, darauf bedacht, auf dem schmalen Vorsprung das Gleichgewicht zu halten. Seine Knie zitterten leicht. Der Schreck der lauten Musik von eben saß ihm nach wie vor in den Knochen. Es wäre ärgerlich, wenn sein Plan, am perfekten Ort zu sterben, im wahrsten Sinne des Wortes den Bach runtergehen würde. Nur weil er zu blöd gewesen war, auf seinen zwei Füßen zu stehen.

Er hielt sich an den Gitterstäben der Sicherheitsabsperrung fest. Gut achthundert Meter musste er bis zum Ende der Brücke auf der Stadtseite von Hamborough zurücklegen. Dort würde er über das Brückengeländer auf die Straße klettern und seinen letzten Weg antreten. Bis zu den Wasserfällen waren es vielleicht zwei Stunden Fußmarsch.

Zwei Stunden noch.

Das bedeutete, er würde die Sonne nie wieder aufgehen sehen.

Gut.


Jack hatte keine drei Schritte in Richtung des Ufers gemacht, als zum zweiten Mal ein Geräusch die gespenstische Stille der Nacht durchbrach. Ein Knall, der charakteristische Lärm eines Autounfalls, gekommen aus der Richtung, in die Jack gerade lief. Der Lautstärke nach zu urteilen, ein paar Hundert Meter entfernt, wenn man mit einberechnete, wie das Flusswasser den Schall trug.

Jack hielt in der Bewegung inne und hoffte, es hatte nicht das Mädchen getroffen. Das wäre unfair. Sie war so … lebendig. Er hätte in dem Auto sitzen müssen, von dem mit Sicherheit nicht viel mehr übrig blieb als ein Haufen Schrott. Nicht sie … Ihr ganzes Leben hatte noch vor ihr gelegen.

Andererseits: Das Leben war scheiße.

Ein Glück, dass er sich damit nicht mehr allzu lange rumplagen musste.

Ob sie wohl dazu gekommen war, den Song zu Ende zu singen?