Lavenza, Lara Andromedas Fluch – Die Clans von Faircrest

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© Piper Verlag GmbH, München 2019
Redaktion: Martina Schwarz
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Für Anne

Playlist

Turning Tables – Adele
I Miss You – blink-182
Dancing On My Own – Calum Scott
Youth – Daughter
Intertwined – dodie
Sick of Losing Soulmates – dodie
Nocturne Op. 9, No. 2 – Frédéric Chopin
Sign of the Times – Harry Styles
Naive – The Kooks
Flowers In Your Hair – The Lumineers
Even If It’s a Lie – Matt Maltese
Small Town Moon – Regina Sektor
Us – Regina Spektor
City Of Stars – Ryan Gosling, Emma Stone
Winter Song – Sarah Bareilles, Ingrid Michaelson

Teil 1

Vor dem Bankett

1. Kapitel

Es war Tradition, dass Lizzie und ihre beste Freundin Morgan Endress an Freitagabenden auf das Dach von Lizzies Haus kletterten, um der Sonne beim Untergehen zuzusehen, Kekse zu essen und Kakao zu trinken, bis ihnen schlecht wurde.

Das war ihre persönliche Belohnung für eine erfolgreich überstandene Schulwoche und ein Ritual, das sie schon als Kinder eingeführt hatten. Damals hatten sie das noch heimlich machen müssen, weil Lizzies Mutter Eleanor immer Angst gehabt hatte, sie würden vom Dach fallen. Um nicht als Rabenmutter dazustehen, sollte ihre Tochter vor lauter Übermut in den Vorgarten plumpsen, kletterte sie wenn nötig auch höchstpersönlich zu ihnen hinauf und holte sie herunter – zur Belustigung der ganzen Nachbarschaft. Das hatte Lizzie und Morgan aber nie davon abgehalten, es in der darauffolgenden Woche erneut zu versuchen. Irgendwann hatte Eleanor den Widerstand aufgegeben und den beiden erlaubt, ihre Dach-Dates, wie sie es nannten, abzuhalten. Unter der Auflage eines Mindestabstands zur Dachrinne von eineinhalb Metern und viertelstündlichen SMS, die ihr versicherten, dass noch keine von ihnen abgestürzt war, versteht sich.

Daran hielten die beiden sich eisern, auch wenn sie inzwischen wahrscheinlich zu alt waren, um noch derart unter Eleanors Fuchtel zu stehen. Aber es machte ihnen nichts aus, sie waren nur froh, die Woche hinter sich zu haben und das Wochenende nun mit der untergehenden Sonne willkommen heißen zu können.

»Ich bin so müde«, stöhnte Lizzie und rieb sich den Nacken.

Morgan nickte bekräftigend. »Nie wieder werde ich mich freiwillig dazu melden, eine Präsentation zu halten.«

Lizzie stopfte sich einen ganzen Oreo Keks in den Mund und nuschelte durch die Krümel: »Jetzt haben wir es ja hinter uns. Ein Hoch auf Marie Antoinette!«

»Marie Antoinette!«, rief auch Morgan das Thema ihrer Präsentation aus.

Sie prosteten sich mit ihren heißen Schokoladen zu und ließen den Blick über das Firmament schweifen.

Es war ein schöner Abend im frühen Herbst. Die Sonne stand bereits im Begriff, sich auf die andere Seite der Welt zu verabschieden. Zur Hälfte ragte sie noch über den Wald am Horizont und tauchte die kleine Stadt namens Faircrest in ihr warmes Licht, eine Mischung aus Gold und Rosa. Ein paar fusselige Wolken wurden sacht über den Himmel geweht, sonst war er klar.

Die beiden hatten es sich auf einer karierten Decke bequem gemacht und eine zweite lag bereit für den Fall, dass es später kalt werden sollte. Zwischen ihnen türmte sich ein ganzer Berg von Süßigkeiten und Knabbereien, den sie zuvor für den Anlass eingekauft hatten. Man konnte ohne Zweifel behaupten, dass es den beiden in diesem Moment außergewöhnlich gut ging.

»Weißt du, was ich glaube?«, brach Lizzie das einträchtige Schweigen, nachdem sie eine Weile in ihrem Glück geschwelgt hatten.

»Dass es total dämlich ist, dass nie jemand gemerkt haben soll, dass Clark Kent Superman ist, obwohl er sich einfach nur eine Brille aufgesetzt hat?«

»Knapp daneben«, antwortete Lizzie.

»Schade, daran habe ich nämlich gerade gedacht«, meinte Morgan und griff in die Schüssel M&Ms, die neben ihr stand.

»Aber wo du gerade von Superman redest. Ist dir auch schon aufgefallen, dass Robert ihm verblüffend ähnlich sieht?«

Morgan stöhnte auf. »Du schaffst es, auch wirklich jedes Gespräch auf Robert zu lenken. Bitte Lizzie, fang jetzt nicht an, von seinen süßen Locken zu schwärmen, sonst muss ich mich in euren Vorgarten übergeben!«

Gemeinsam spähten sie in besagten Garten. Dort machte sich gerade Lizzies Tante Meredith in ihrem Blumenbeet zu schaffen. Vermutlich hatte sie nicht einmal bemerkt, dass die beiden auf dem Dach über ihr saßen.

Lizzie schürzte die Lippen. »Hatte ich auch gar nicht vor. Das ist mir nur grade aufgefallen, als du von Superman geredet hast. Hab doch mal ein bisschen Vertrauen in mich und meine Kenntnis von deinem schwachen Magen.«

Robert war Morgans älterer Cousin und Lizzie war schon seit Jahren derart in ihn verknallt, dass es ihr sogar selbst peinlich war. Auch wenn er zum Glück nichts davon wusste.

»Danke sehr«, sagte Morgan.

»Aber wo du es gerade erwähnst, Robert hat tatsächlich sehr süße Locken.«

Morgan machte Würgegeräusche und Lizzie lachte laut genug, dass Tante Meredith irritiert den Kopf hob.

»Eigentlich wollte ich dir ja erzählen, dass ich glaube, dass Lady Lucy als Bürgermeisterin kandidieren will.«

Überrascht sah Morgan sie an. »Im Ernst? Gegen meinen Grandpa?« Jetzt war es an ihr zu lachen. »Der wird ihr den Posten nie im Leben kampflos überlassen. Noch auf dem Sterbebett wird er sich gierig an diese blöde Anstecknadel klammern.«

»Ich glaube, Lady Lucy macht diesmal ernst. Gestern hat sie bei den Lennox vorgesprochen, um sie auf ihre Seite zu ziehen.«

Bei Lady Lucy handelte es sich um Lizzies Großmutter mütterlicherseits. Es war Brauch in Faircrest, die Ratsmitglieder, die sich in der Regel nur noch mit Krückstock fortbewegen konnten, mit Sir und Lady anzusprechen. Allerdings nur, weil die sich mindestens genauso fest daran klammerten, wie Charles Endress an seine Anstecknadel. Ihre Kinder und Enkel machten sich einen Spaß daraus, hinter die formelle Anrede nur den Vornamen zu setzen, und so war aus Lizzies Grandma Lady Lucy geworden und aus Morgans Grandpa Sir Charles. Inzwischen hinterfragten das nicht einmal mehr die Ratsmitglieder selbst.

Morgan wühlte in den M&Ms, bis sie ein rotes gefunden hatte, und schob es sich in den Mund. Die Nuss knackte zwischen ihren Zähnen. »Also, meine Stimme hat deine Grandma. Ich hoffe nur, dass sie nicht versucht, Faltenröcke als Schuluniform einzuführen oder so. Besser als Sir Charles ist sie allemal.«

Das mit Sir Charles war in gewisser Weise auch ein Brauch: Niemand mochte ihn wirklich, nicht einmal Morgan, die eigentlich die meisten Menschen leiden konnte. Und wenn er gerade nicht da war, ließ man auch selten ein gutes Haar an ihm. Doch sobald Sir Charles einen Raum betrat, erfüllte er ihn sogleich mit seiner beachtlichen Präsenz. Sir Charles Endress strahlte etwas aus, das einfach nach Respekt verlangte.

Vor vielen Jahrzehnten hatte er im Krieg gekämpft. Seither trug er eine knotige rote Narbe am Hals, die bis zu seinem Kinn reichte, außerdem hatte er zwei Finger verloren. Man erzählte sich, das sei nur ein kleiner Preis für die zahlreichen Tode, die er verschuldet habe, als er seinem Land diente. Aber so genau konnte das keiner sagen, denn Charles sprach nie über seine Zeit an der Front.

Heute diente Charles Endress hauptsächlich seiner Stadt. Seit Lizzie denken konnte, war er Bürgermeister, und sie konnte nicht behaupten, dass er seinen Job allzu schlecht machte.

Trotzdem war er aber nun mal ein alter Stinkstiefel, dessen höchstes Ziel es war, an denselben alten Traditionen festzuhalten, die es schon seit Jahrhunderten in Faircrest gab. Ein bisschen frischer Wind wäre wunderbar.

Gerade als Lizzie das dachte, traf die beiden eine kühle Brise und ließ sie frösteln. Lizzie schnappte sich die Decke und breitete sie über ihre und Morgans Schultern aus.

»Lady Lucy meinte jedenfalls, dass Charles Ansichten veraltet sind und dass man mal andere Schwerpunkte setzen müsste. Was auch immer sie damit meint«, fuhr sie fort.

»Das klingt furchtbar vernünftig«, erwiderte Morgan. Sie zog ihr langes, dunkelbraunes Haar unter der Decke hervor und ließ es im Wind wehen. Morgan liebte Wind in ihrem Haar. Fast so sehr wie Lizzie.

Lizzie blieb eine Weile stumm, denn als nächstes kam der Teil des Sonnenuntergangs, den sie am meisten liebte, und den wollte sie auf keinen Fall verpassen. Die Sonne verschwand zur Gänze hinterm Horizont und nahm das Rosa des Himmels mit sich, das nach und nach von einem hellen Blau ersetzt wurde. Dann war da nur noch das Blau des Meeres, das immer tiefer und immer dunkler wurde. Es ging alles so rasch, dass Lizzie es mit eigenen Augen mitverfolgen konnte. Schließlich war die Mondsichel, die schief am Horizont hing, von dunkler Tinte umgeben.

Zum Schluss kamen die Sterne.

Erst einer, der sie schüchtern anzwinkerte, als würde er für seine Sternen-Kumpels nachsehen, ob die Luft auch wirklich rein war. Dann folgten die anderen, nach und nach, bis sie alle dort versammelt waren und die beiden Mädchen an ihrer grenzenlosen Schönheit teilhaben ließen. Lizzie kam es vor, als säße sie unter einer Kuppel, die nur aus Magie und Tinte bestand.

Aber etwas trübte ihre Stimmung. Ein bitterer Geschmack ging mit dem Funkeln der Sterne einher und ein bisschen fühlte sie sich sogar von ihnen verspottet.

»Morgan?«, sagte sie leise. Augenblicke wie dieser vertrugen keine lauten Stimmen.

Der Name hing zwischen ihnen in der Luft wie an einem seidenen Faden und es schien unklar, ob Morgan vorhatte, danach zu greifen. Doch dann sagte sie: »Ja, Lizzie?«

»Erzähl bitte die Geschichte.«

Und das war der Moment, in dem die Stimmung kippte.

Morgan seufzte. »Ich möchte die Geschichte nicht erzählen.«

»Bitte! Du kannst sie so gut erzählen.«

Es war merkwürdig, dass Morgan die Geschichtenerzählerin von ihnen beiden war. Lizzie war diejenige, die den Kopf in den Wolken hatte und der Geheimnisse zuflogen wie Brieftauben. Aber es fiel ihr schwer, die Worte zu fassen zu kriegen und sie in die richtige Form zu pressen. Morgan dagegen war darin eine Meisterin. Sie wusste immer genau, wie sie ihre Gedanken formulieren musste, damit die Zuhörer spürten, was sie ihnen sagen wollte.

Um ihren Gedanken trotzdem Ausdruck zu verleihen, versuchte Lizzie sich im Zeichnen, und diese Neigung hatte sie wohl von Eleanor geerbt, die eine waschechte Künstlerin war. Zu dieser Geschichte hatte Lizzie bestimmt schon ein Dutzend Bilder gemalt, auch wenn das perfekte noch nicht dabei gewesen war. Vielleicht würde die nötige Inspiration ja kommen, wenn Morgan ihr die Geschichte dieses Mal erzählte. Jedenfalls schien der Himmel an diesem Abend wie gemacht dafür und es fühlte sich auch irgendwie alles richtig an. Sie spürte den kleinen Skizzenblock in ihrer Jackentasche förmlich pochen.

»Ich habe sie dir schon hundert Mal erzählt«, meinte Morgan, obwohl sie beide wussten, dass sie früher oder später doch nachgeben und die Geschichte erzählen würde.

»Und mit jedem Mal hat sie mir noch besser gefallen! Bitte, Morgan«, bettelte Lizzie.

Morgan seufzte ergeben. »Na schön. Wo fange ich an?«

 

»Zu jeder Stadt der Welt gibt es eine Geschichte, die man sich über ihre Gründung erzählt. Manche sind realistischer, andere ziemlich fantastisch, wie die, dass die Begründer Roms von einer Wölfin gesäugt wurden.

Auch Faircrest hat so eine Geschichte und die handelt größtenteils von den Sternen.

Man weiß inzwischen, dass die Menschheit aus Sternenstaub besteht, aber die Legende von Faircrest geht noch einen Schritt weiter und behauptet, dass die gesamte Stadt samt ihrer Einwohner aus Sternen geschaffen wurde.

Nach der Überlieferung hieß Faircrests Schöpferin Andromeda. Man kennt sie als Tochter des äthiopischen Königs Kepheus und als Gemahlin des Halbgotts Perseus, die schließlich selbst als Sternbild am nächtlichen Himmel endete.

Eine schrecklich lange Ewigkeit musste sie in unendlicher, glänzender Stille verharren, bevor sie schließlich für drei Tage auf die Erde zurückkehren durfte. Diese drei Tage verbrachte sie auf einem großen, grünen Hügel, von dem aus man einen guten Blick auf die umliegenden Täler hatte. Sie sah die Dörfer ringsum und beobachtete die Menschen bei ihrem täglichen Treiben. Sie erinnerte sich an ihr eigenes irdisches Leben, das sie für immer verloren hatte. Der Gedanke erfüllte sie mit unerträglicher Trauer und Schwermut und sie stieß ein tiefes Seufzen aus. Das Bedürfnis etwas von sich auf der Erde zu hinterlassen, wuchs in ihr.

Sie wusste, sie war in der Lage, selbst Leben zu schaffen, auch wenn es seinen Tribut fordern würde. Eine Nacht lang haderte sie mit sich. Die Sterne hatten ihr Seufzen gehört und sprachen ihr aus dem Himmel Mut zu.

Schließlich hatte sie ihre Entscheidung getroffen und so holte sie die Sterne ihres Sternbildes, einen nach dem anderen, zu sich herunter. Andromeda formte aus ihnen eine kleine Stadt voll schöner, weißer Gebäude. Dazu schuf sie drei Familien, denen sie auftrug, sich zu mehren und ihr den angemessenen Respekt zu zollen. Als Zeichen ihrer Verbundenheit gab sie jeder dieser Familien ein Geschenk aus den hellsten Sternen ihres Sternbildes: Sirrah, Mirach und Alamak.

Zuletzt ließ sie einen Baum in der Mitte der Stadt wachsen. Eine Eiche, groß und mächtig, die Faircrest schützen sollte, wenn sie selbst es gerade nicht tun konnte.

Dann waren ihre drei Tage vorüber und Andromeda entschwand zurück an den Himmel.

Die drei Familien waren gehorsam und taten voll Ehrfurcht, was Andromeda ihnen aufgetragen hatte. Sie mischten sich mit Einwohnern aus fremden Städten und die Familien wurden immer größer. Jedes Jahr feierten sie ein dreitägiges Fest zu Andromedas Ehren.

Niemand weiß, wie lange das jetzt her ist, aber die Traditionen von damals sind geblieben. Die Familien sind nun so riesig, dass sie sich Clans nennen. Ihre Namen lauten Lennox, Chevally und Endress und jedes Jahr im Oktober feiern sie drei Tage lang die Güte ihrer Schöpferin.«

Morgan schien zu Ende erzählt zu haben, aber sie wussten beide, dass sie ein winziges Detail ausgelassen hatte.

Also war Lizzie so frei, es zu ergänzen: »Und jedes Jahr muss einer von ihnen sterben.«

2. Kapitel

Letztes Jahr hatte es Lizzies Großonkel Byron getroffen, Lady Lucys Schwager. Er war mit Anfang siebzig noch nicht alt und definitiv nicht krank genug gewesen, um einfach so zu sterben. Der dritte Tag des Andromedafests wurde traditionell mit einem großen Bankett begangen. Da hatte Byron noch dagesessen und putzmunter mit seinen Enkeln gelacht. Später hatten er und seine Frau Mary-Ann sogar getanzt und sehr zufrieden gewirkt.

Am nächsten Morgen fand man ihn schlaff und grau in seinem Bett. Angeblich dahingerafft von plötzlichem Herzversagen.

Aber alle kannten den wahren Grund von Byron Chevallys überraschendem Ableben. Er war das Opfer des scheinbar willkürlichen Schicksals geworden, das jedes Jahr eines der Clanmitglieder traf und es vorzeitig aus dem Leben stahl. Im Jahr zuvor hatte Morgan eine Großtante verloren. Sie alle hatten schon persönliche Verluste erlitten. Der einzige Grund, weshalb sie jetzt so ruhig blieben, war, dass dieses Jahr die Lennox dran waren. Denn ja, bei diesem makabren Spiel gab es eine Reihenfolge, von der noch nie abgewichen worden war.

Und mit den Lennox hatten Lizzie und Morgan so wenig Kontakt wie möglich. Damit hielt sich auch ihre Trauer über den anstehenden Verlust in diesem Jahr in Grenzen und das wiederum bot ihnen eine kurze Verschnaufpause, bevor sie in den nächsten Jahren wieder selbst bangen mussten.

Lizzie fröstelte und zog sich die Decke enger um die Schultern.

»Warum willst du die Geschichte immer wieder hören, wenn sie dir solche Angst macht?«, fragte Morgan.

Eine Weile ließ Lizzie den Blick über die Sterne schweifen, diese kleinen funkelnden Lichter, die zu schön sind für diese Welt. Dann antwortete sie: »Das ist es ja, sie macht mir keine Angst. Ich liebe die Geschichte. Wovor ich Angst habe ist, dass sie totgeschwiegen wird und keiner den unangenehmen Teil erwähnt. So werden wir es nie verhindern können.« Sie zog den Skizzenblock aus ihrer Tasche. »Und du erzählst sie einfach am schönsten.«

Sie zeichnete die Umrisse einer Frau, die dem Nachthimmel zugewandt dastand und die Hand nach einem Stern ausstreckte, der besonders hell leuchtete, als wolle sie ihn zwischen Daumen und Zeigefinger nehmen. »Würden wir aufhören, das Bankett zu feiern, vielleicht würden die ganzen Tode dann ausbleiben«, murmelte sie, den Blick auf ihrer Skizze. Dann hob sie den Kopf, um Morgan nachdenklich anzublicken. »Meinst du, Andromeda hat helles oder dunkles Haar?«

Morgan sah erst Lizzie an und schielte dann auf ihre eigenen Haarspitzen, als würde sie ihr ebenholzfarbenes mit Lizzies blondem Haar vergleichen. Dann zuckte sie mit den Schultern. »Vielleicht ist es ja rot.«

Lizzie zog eine Schnute. »Das kann auch sein.«

Sie atmete tief durch. Diese Zeit des Jahres brachte eine nur schwer zu ertragende ständige Nervosität mit sich, der sie sich auch nicht entziehen konnte, wenn ihre Familie gerade nicht an der Reihe war. Und trotzdem wollte Lizzie die Geschichte immer wieder aufs Neue hören. Sie hatte das vage Gefühl, dass sie eines Tages dazu in der Lage sein würde, ein Schlupfloch zu finden. Etwas, das sie alle übersehen hatten.

Als sie eine Weile geschwiegen und damit wieder etwas Abstand zwischen sich und die Angelegenheit gebracht hatten, räusperte Morgan sich.

»Irgendwann werden wir alle sterben. Und so gruselig die Sache auch ist, es trifft doch meistens die Alten und Kranken. Ihr Todestag wird höchstens ein wenig vorgezogen.«

Lizzie schauderte. Es sah Morgan ganz und gar nicht ähnlich, so nüchtern an eine Sache heranzugehen. Sie war jemand, der verletzten Vögelchen die Flügel schiente und bei jedem Disneyfilm weinte, sogar bei Cinderella. Aber das unausgesprochene Gesetz, nicht über den unangenehmen Teil des Andromedafests zu reden, hatte sie bisher beflissentlich befolgt.

Trotzdem holten die Worte ihrer Freundin auch Lizzie auf den Boden der Tatsachen zurück. Mit einem Mal war das Thema abgeschlossen und Lizzie wusste, dass es sie nun eine Weile nicht mehr beschäftigen würde.

Also saßen sie da und versuchten ein wenig von der Leichtigkeit zurückzugewinnen, die die untergehende Sonne mit sich genommen hatte. Sie aßen und tranken ihren Kakao und unterhielten sich über unverfängliche Themen.

Irgendwann fragte Morgan: »Wie spät ist es?«

Lizzie sah auf ihre Uhr. »Fast halb neun. Du musst los, oder?«

Morgan nickte. Die beiden kletterten durch das Dachfenster zurück ins Haus und schlossen es anschließend hinter sich, damit die Insekten, die der Sommer ihnen hinterlassen hatte, nicht mit hinein konnten. Die warme Heizungsluft im Inneren umfing Lizzie sofort wie eine Decke. Sie spürte regelrecht, wie ihre Gänsehaut sich wieder legte, als sie sich aus dem kühlen Wind in die Wärme des Hauses begaben.

Sie standen im Atelier von Lizzies Mum, das ein bisschen muffig roch, weil es den Dachbodengeruch nie ganz los geworden war. An den Wänden zogen sich Bücherregale entlang und dazwischen stand Eleanors Zeichentisch.

Sie verdiente ihren Lebensunterhalt damit, Kinderbücher zu schreiben und zu illustrieren, ein Job, mit dem sie Lizzie und sich vermutlich nicht so komfortabel hätte über Wasser halten können, hätten die Chevallys ihnen nicht ab und an mit ihrem Vermögen ausgeholfen.

Der Bogen Papier, der momentan auf dem Tisch lag, zeigte eine gelbe Ente mit einer roten Schleife um den Hals, die offenbar mit einem Frosch redete. Eleanors Stil war sehr realitätsnah, mit einem zarten Unterton. Sie benutzte gern Pastellfarben, die, obwohl sie mit Buntstiften malte, wie bei einem Aquarell an den Rändern verliefen.

»Woran arbeitet deine Mum gerade?«, fragte Morgan und betrachtete neugierig das Bild.

»Ein Kinderbuch über eine Ente, die nicht schwimmen kann und möchte, dass der Frosch es ihr beibringt. Wahrscheinlich gibt es am Ende noch eine Moral oder so, aber ich schätze ich bin eingeschlafen, als Mum davon erzählt hat.«

»Meredith freut sich bestimmt, dass Frösche darin vorkommen«, sagte Morgan, als sie die Treppen ins Erdgeschoss hinunterstiegen.

»Sie ist Feuer und Flamme«, pflichtete Lizzie ihr bei. Ihre Tante liebte Frösche, manchmal sogar mehr als Menschen. Ihre eigenen beiden Exemplare Barney und Pearl lebten in einem Terrarium, das fast ein Drittel von Merediths Zimmer einnahm.

Als sie in die Küche kamen, stand Lizzies Tante gerade an einem der Hängeschränke und nahm einen Plastikbehälter heraus, in dem ein paar kleine Grillen umherhüpften.

Eleanor saß auf einem Hocker an der Kücheninsel und löffelte Joghurt, während sie Zeitung las.

»Na ihr beiden, hattet ihr Spaß?«, fragte Meredith über die Schulter hinweg. Sie schüttelte die Dose ein wenig und Eleanor verzog angewidert das Gesicht.

»Schon«, antwortete Morgan. »Allerdings ist es verdammt schnell verdammt kalt geworden.«

»Der Herbst kommt mit großen Schritten«, sagte Meredith. »Immerhin war der Himmel klar. Habt ihr gesehen, wie hell der Große Bär heute leuchtet?«

»Ist das der, zu dem auch der Große Wagen gehört?«, fragte Lizzie, die bei Sternbildern immer durcheinander kam.

»Genau, aber heute war der komplette Große Bär gut zu sehen«, erklärte Meredith.

Sie ging um die Kücheninsel herum. »Habt ihr Lust, den Fröschen ihr Abendessen zu geben?«

Eleanor stöhnte. »Jetzt verstör die Kinder doch nicht dermaßen!«

»Das Wunder der Natur verstört nicht, es lehrt uns, die Erde wertzuschätzen.«

»Ich weiß es nicht ganz so sehr zu schätzen, wenn die Dinger sich mit ihren kleinen schleimigen Händen lebende Grillen ins Maul stopfen«, sagte Eleanor und schob sich ungerührt einen weiteren Löffel Joghurt in den Mund.

»Ein andermal vielleicht«, sagte Lizzie, in der Tat leicht verstört.

»Banausen«, meinte Meredith leichthin. Sie warf das dunkle Haar zurück und ging nach nebenan in ihr Zimmer.

Eleanor warf ihren Joghurtbecher in den Mülleimer, um sich gleich darauf eine Tafel Schokolade aus dem Kühlschrank zu holen. »Habt ihr Hunger? Es ist noch Auflauf von gestern da. Oder ich kann Pizza bestellen. MEREDITH, WILLST DU PIZZA?«, rief sie.

»KEIN HUNGER«, kam die Antwort.

»Wir haben genug auf dem Dach gegessen«, sagte Lizzie.

»Genug für die ganze nächste Woche«, stimmte Morgan zu.

Also setzte Eleanor sich auf die Couch und öffnete die Tafel Schokolade, die nun offenbar als ihr Abendessen herhalten musste. »Geht ihr noch aus?«, fragte sie, bereits mit dem ersten Stück im Mund.

»Nein, wir gehen nicht aus«, erwiderte Lizzie mit einem nicht gerade subtilen Seitenblick auf ihre Freundin.

Morgan wurde rot. »Ich habe noch ein Date«, nuschelte sie.

Eleanor legte sich eine Hand aufs Herz und sah ganz verzückt aus. »Ach, ich wäre auch gern wieder achtzehn. Mit Zacharias?«

An dieser Stelle verdrehte Lizzie die Augen, aber Morgan nickte schüchtern. »Er hat mich ins Palazzo eingeladen.«

»DAS PALAZZO?«, tönte Tante Merediths Stimme aus dem Nebenzimmer und auch sie schien ganz aus dem Häuschen zu sein. So sehr, dass sie die Frösche für einen Moment vergaß und den Kopf durch die Tür steckte. »Den Jungen musst du dir warmhalten, Liebes!«

»Es ist nichts Ernstes«, erwiderte Morgan schnell. »Wir gehen nur essen und schauen, wie es läuft.«

Lizzie betrachtete die geröteten Wangen ihrer besten Freundin und fühlte sich schlecht, weil sie den ganzen Tag gebetet hatte, dass das Date eine Katastrophe werden würde.

Sie hatte kein Problem damit, Morgan zu teilen, sie hoffte nur irgendwie auf ein Mitspracherecht, mit wem sie sie teilen sollte. Zacharias Shelby entsprach in dieser Hinsicht so gar nicht ihren Vorstellungen. Man könnte sagen, er war ihr nicht ganz geheuer.

Immer war er übermäßig gut gelaunt und erzählte jedem, der ihm nicht den Mund mit Paketband zuklebte, seine Pläne für die Zukunft. Er wollte berühmt werden, so viel hatte sie sich gemerkt. Wenn sie sich recht erinnerte, als Schauspieler. Seinen Eltern gehörte das Pferdegestüt am Stadtrand und Zacharias liebte es, sich in den Sattel zu schwingen und seine kurzen, goldenen Locken im Wind wehen zu lassen, gerne auch mit geöffnetem weißen Hemd. Die Beweisfotos konnte man auf seiner Website bewundern.

Ganz richtig, Zacharias besaß eine eigene Website.

Lizzie fragte sich, ob eine derart zur Selbstdarstellung neigende Person überhaupt real sein konnte oder ob er nicht vielleicht ein Roboter war, den Wissenschaftler auf die Menschen losgelassen hatten, um zu schauen, ob sie ihn für echt hielten. Aber Morgan hatte Gefallen an ihm gefunden. Vor einem Monat war er das erste Mal in der Bibliothek an ihrem Tisch aufgekreuzt. Zuerst unter dem Vorwand, ihnen eine Frage zu den Öffnungszeiten stellen zu wollen. Doch ehe sie sich versahen, lag er ihnen schon mit einer Anekdote in den Ohren, die ihn, eine Yacht und sein Pferd Sternentänzer beinhaltete. Als er wieder verschwand und Lizzie dachte, dass sie beide nun einen neuen Erzfeind hatten, meinte Morgan nur: »Irgendwie ist er niedlich.«

»Niedlich?«, war Lizzies entgeisterte Antwort gewesen.

Sie fand, dass Morgan viel zu schlau war für einen solchen Aufschneider. Aber Morgan sah das anders, also waren Lizzie die Hände gebunden.

Jetzt nahm ihre Freundin sich die Jacke vom Haken, drauf und dran, in ihr Verderben zu rennen.

»Wenn ich dich da rausholen soll, musst du mir nur kurz schreiben, ich bin sofort da!«, beeilte Lizzie sich zu sagen. »Das Codewort lautet Makakenäffchen

»Wie bist du denn darauf gekommen?«, fragte Morgan, als sie sich die Haare aus dem Kragen ihrer Jacke zog.

»Zacharias erinnert mich an eins«, sagte Lizzie.

Morgan seufzte. »Ich rufe dich an, wenn ich zu Hause bin.«

Sie sah Lizzie aufmunternd an, drückte sie kurz an sich und verschwand dann durch die Haustür.

Lizzie ging resigniert zurück ins Wohnzimmer, wo Eleanor und Tante Meredith sich lebhaft unterhielten.

Wie sie so nebeneinander saßen, boten sie einen interessanten Anblick. Sie hatten die gleichen grauen Augen und ähnliche Gesichtszüge, aber in allem anderen unterschieden sie sich stark. Als hätten sie es sich zum Ziel gesetzt, der jeweils anderen so wenig zu ähneln wie möglich. Beide hatten sie mal goldblondes, gewelltes Haar gehabt. Doch inzwischen färbte Meredith ihres regelmäßig tiefschwarz und glättete die schulterlangen Strähnen jeden Morgen in einer aufwendigen Prozedur. Eleanor war bei der Farbe geblieben und hatte lediglich ein paar hellere Strähnen hinzugefügt. Heute hatte sie es zu einem Knoten gebunden, sonst trug sie es meist offen in sanften Wellen. Des Weiteren mochte sie Make-up nicht sonderlich, Meredith dagegen liebte es und war auch außergewöhnlich geschickt darin, sich zu schminken. Der letzte Unterschied war der kleine silberne Ring, der an Merediths linker Augenbraue glänzte und ihrem Gesicht etwas Verwegenes verlieh.

Der hob sich jetzt, gemeinsam mit ihrer Augenbraue, als sie Lizzie ansah und fragte: »Warum hast du dir den Jungen nicht geangelt?«

»Äh, nein danke«, sagte Lizzie. »Bist du schon fertig mit den Fröschen?«

»Nein, ich wollte gerade zurückgehen«, meinte Meredith. Lizzie wusste, dass ihre Tante die Frösche eigentlich vergessen hatte und es nur nicht zugeben wollte, sprach sie aber nicht darauf an. Niemand diskutierte gern mit Meredith Chevally.

»Kann ich dir helfen?«, fragte Lizzie stattdessen.

Eleanor schüttelte sich, als liefe ihr ein Schauer über den Rücken, aber Meredith strahlte Lizzie an. »Ich mache noch mal eine richtige kleine Amphibienforscherin aus dir.«

Im Endeffekt ließ Lizzie ihre Tante die ganze Arbeit machen, nicht aus Faulheit, sondern weil sie sich mehr vor den lebenden Grillen ekelte, als sie zugeben wollte. Stattdessen legte sie sich auf Merediths Bett, ließ den Kopf über die Kante baumeln, stützte die Beine an der Wand ab und sah über Kopf dem grotesken Schauspiel der Natur zu.

»Du, Tante Meredith?«, sagte sie schließlich.

»Ja, meine Liebe?«

»Als Nächstes sind die Lennox dran, nicht wahr?«

Meredith hielt für eine Nanosekunde inne, dann antwortete sie: »Richtig, wir müssen uns dieses Jahr keine Sorgen machen, mein Schatz.«

»Meinst du, es steht schon fest, wen es treffen wird, oder wird das kurzfristig entschieden?«

»Was glaubst du denn, wer das entscheidet?«, fragte Meredith verblüfft.

»Ich habe keine Ahnung, das ist es ja, was mich so verwirrt. Müsste es nicht einen Mörder geben? Warum sucht keiner nach ihm?«

»Ich schätze, man hat schon vor langer Zeit aufgegeben, nach einem Mörder zu suchen«, erwiderte Meredith und schloss das Terrarium. Dann drehte sie sich zu Lizzie um. »Du machst dir viel zu viele Gedanken über das Ganze.«

»Irgendwann wird mir der eine Gedanke kommen, auf den alle nur gewartet haben, und dann kann ich uns vielleicht retten. Na ja«, sie hielt kurz inne, »zumindest die, die noch gerettet werden können.«

»Manchmal frage ich mich, woher du diesen Tatendrang hast. Von deiner Mutter bestimmt nicht.«

»Dann muss ich ihn wohl von Dad haben«, sagte Lizzie leichthin, aber sie beide spürten, dass die Stimmung im Raum sich veränderte.

»Du hast doch nicht etwa vor, deine Mutter auch so mit Fragen zu löchern, oder?«, fragte Meredith misstrauisch. »Dann müsste ich dir den Hintern versohlen und dafür bist du nun wirklich zu alt.«

»Keine Sorge, habe ich nicht vor. Aber irgendjemanden muss ich ja fragen«, verteidigte sich Lizzie.

»Und dafür muss ich wieder herhalten! Typisch! Du bist neugieriger, als gut für dich ist.« Meredith setzte sich zu Lizzie aufs Bett und sah ihr ins Gesicht. »Ich meine es ernst, wir sind erst übernächstes Jahr wieder dran. Du hast noch massenhaft Zeit, dir einen Plan auszudenken, um uns alle zu retten.«

»Du glaubst nicht daran, dass ich uns retten kann«, stellte Lizzie fest.

Meredith seufzte schwer und sah plötzlich älter aus als gewöhnlich. »Ich glaube, dass das schon so viele vor dir probiert haben. Sie sind alle gescheitert. Dein Vater war damals genauso wissbegierig. Eleanor wollte nichts davon hören, aber ich weiß, dass ihn diese Sache umgetrieben hat. Es ist eine grässliche Angelegenheit und sie bringt uns alle um den Verstand, deswegen ist es besser, ihr nicht mehr Macht zu geben, als unbedingt nötig. Wenn wir dauernd darüber reden, bestimmt sie irgendwann unseren Alltag.«

»Du klingst wie Mum.«

»Deine Mutter predigt oft Dinge, die ihr selbst unglaublich schwerfallen. Sie versucht mit aller Macht, nicht auf falsche Gedanken zu kommen, das sollten wir respektieren.«

»Tante Meredith!«, murrte Lizzie. »Wenn ich nicht darüber rede, dann platze ich!«

Meredith ließ sich seufzend auf das Bett zurückfallen. »Was möchtest du denn wissen?«

»Kannst du wiederholen, was in Onkel Byrons Autopsiebericht stand?«

Meredith gab sich geschlagen: »Verdacht auf Herzinfarkt.«

»Aber es wurde nie bestätigt?« Lizzie hob ein bisschen den Kopf, der inzwischen ganz rot war, weil ihr das ganze Blut hineinfloss, und sah zu ihrer Tante, die an die Decke starrte.

Meredith sagte: »Es gab nicht so viel, was sonst infrage kam.«

»Glaubst du, jemand hat ihn ermordet?«

»Ich hoffe nicht.«

»Aber du glaubst es?«, hakte Lizzie nach.

»Eigentlich kann ich es mir nicht so recht vorstellen. Wer hätte ein Interesse daran haben sollen, Byron zu töten? Er war ein netter alter Mann, der gern Angeln ging.«

»Glaubst du, Andromeda hat ihn getötet?«

»Glaubst du denn an Andromeda?«, fragte Meredith zurück.

»Ich bin dran mit Fragen«, wehrte Lizzie sich.

»Du hast genug gefragt, jetzt bin ich dran«, konterte Meredith.

Lizzie fummelte eine Weile mit beiden Händen am obersten Knopf ihrer Bluse herum. »Ich glaube schon manchmal, dass sie existieren könnte. Sonst würde das alles doch gar keinen Sinn ergeben.«

»Aber du bist zu stur, um einfach so die Existenz einer Göttin zu akzeptieren«, vermutete Meredith.

»So ungefähr«, gab Lizzie zu. »Und wenn es sie gibt, warum tötet sie dann jedes Jahr einen von uns?«

»Das ist die Frage. In der Legende wird es nur mit einem kurzen Satz angeschnitten, keiner weiß, was ihre wirklichen Beweggründe sein könnten, wenn es denn überhaupt welche gibt.«

Meredith zupfte einen Faden vom Jeansstoff an Lizzies Knie.

»Dieses Thema macht mich unglaublich müde, vielleicht lege ich mich kurz hin, bevor ich den Garten umgrabe.«

»Ist es nicht schon ein bisschen spät dafür?«, fragte Lizzie mit einem Blick aus dem Fenster, wo nur noch Straßenlaternen den Abend erhellten.

»Wenn es dunkel ist, blühen die Nachtkerzen erst so richtig und leuchten im Mondlicht. Es gibt keine schönere Atmosphäre, um Tomaten einzupflanzen.«

»Wenn du das sagst«, meinte Lizzie gedehnt.

»Du bist wirklich frech!«, schimpfte Meredith, als sie sich erhob und über ihre Kleidung strich, als müsste sie sie glätten. Was überhaupt nicht nötig war, weil Samt für gewöhnlich nicht knitterte und Merediths hübsches schwarzes Oberteil genau daraus bestand.

Bevor Lizzie auf ihr Zimmer ging, blieb sie noch mal bei ihrer Mutter im Wohnzimmer stehen. Eleanor hatte sich mit etwas zugedeckt, das aussah wie echtes Fell, aber keines war, weil sie alle echtes Fell verachteten. Auf ihrer Nase saß nun ihre Lesebrille mit dem silbernen Rahmen und sie las wieder in der Zeitung, vermutlich die Klatschspalte.

Als sie Lizzie kommen hörte, sah sie auf. »Sind die Biester satt?«

Lizzie zuckte mit den Schultern. Die Frösche hatte sie vergessen. »Werden wir sehen, wenn sie morgen früh im Kühlschrank hocken und den Käse auffressen.«

»Diese furchtbaren Dinger, ich sollte sie im nächsten Teich aussetzen!«

»Das würdest du nie tun«, erwiderte Lizzie. »Hey Mum, darf ich rüber zu Austen?«

Eleanor sah auf ihre Uhr. »Du willst um diese Zeit noch durch die halbe Stadt laufen? Das halte ich für keine gute Idee.«

»Vor nicht mal zehn Minuten hättest du mir noch erlaubt, mit Morgan auszugehen!«, protestierte sie.

»Ja, mit Morgan. Ich vertraue Morgan. Wenn du jetzt zu Austen gehst, stellt ihr beide wieder weiß Gott was an.«

»Es ist Jahre her, dass wir zusammen irgendetwas angestellt haben.«

»Nein, es ist Jahre her, dass ich euch dabei erwischt habe«, erwiderte Eleanor. »Ihr seid nur gerissener geworden. Geh auf dein Zimmer, sieh dir einen Film an und telefonier von mir aus mit Austen, morgen früh könnt ihr euch treffen.«

Also trollte Lizzie sich.

Als sie die Zimmertür hinter sich schloss, fühlte sie sich erneut ein wenig ruhelos. Um diese Zeit des Jahres konnte Lizzie es sich nicht leisten, still zu sitzen und ihren Gedanken nachzuhängen. Nicht, wenn sie allein in ihrem Zimmer hockte und nichts zu tun hatte, außer die Wand anzustarren. Zugegeben, es war eine interessante Wand, die weiße Tapete war bedeckt von Gemälden, die sie oder Eleanor gemalt hatten.

Eines davon war ein Stillleben aus dem vergangenen Sommer. Es zeigte eine Vase voll blauer Iris, die auf dem Tisch in ihrem Garten stand. Im Hintergrund sah man das hohe Gras und die Bäume und eine winzige Tante Meredith, die mit der Hand die Augen vor der Sonne abschirmte. Das Gemälde war recht groß und eines von Lizzies Lieblingsbildern, weshalb sie es, anders als die meisten anderen, eingerahmt hatte.

Daneben hing ein Bild, das sie selbst gemalt hatte: Kleine Mädchen in rosa Tutus, die in einem Ballettstudio hintereinander an einer Stange standen, alle in unterschiedlichen Haltungen und alle den Blick in eine andere Richtung gewandt. In das Bild hatte sie eine verschwommene Erinnerung eingearbeitet. Als sie noch klein waren, hatten Lizzie und ihre Cousine Maxine gemeinsam mit anderen Mädchen aus Faircrest Ballettunterricht erhalten.

Obwohl es an Lizzies Wand für fremde Augen also einiges zu entdecken gab, war ihr der Anblick mehr als vertraut und sie kannte jedes einzelne Bild so genau, dass sie es blind noch mal hätte malen können. Wenn Lizzie sich von ihren Gedanken ablenken wollte und aus irgendwelchen Gründen (Eleanor) das Haus nicht verlassen konnte, half deshalb nur noch Lesen.

Sie hatte mehrere lange Regalbretter an der Wand, auf denen die Bücher teils nebeneinanderstanden, teils übereinander gestapelt lagen. Die Buchrücken waren ganz wellig, weil sie schon mehrmals gebrochen waren. Die meisten hatte Lizzie geschenkt bekommen, denn Erwachsene liebten es, jungen Menschen ihre verstaubten Romane zu überlassen.

Lizzie nahm sich eine abgewetzte Ausgabe von Der Fänger im Roggen und setzte sich damit auf ihr Bett. Die weiße Bettwäsche war frisch gewaschen und der Geruch des Waschmittels stieg ihr in die Nase. Sie lehnte sich in die Kissen zurück, atmete tief ein und versuchte sich zu entspannen. Lizzie wollte jetzt nicht an Onkel Byron denken, an den Lennox Clan, der bald ein Mitglied weniger haben würde, oder an Morgan, die sich gerade auf den größten Trottel der westlichen Hemisphäre einließ. Ihre Katze Daisy sprang zu ihr aufs Bett und schnurrte auffordernd. Lizzie strich ihr geistesabwesend durch das flauschige weiße Fell und ließ sich von dem entspannten Brummen einlullen. Erst als Daisy sich neben ihr einrollte, das Schnurren aufgab und schlief, hörte Lizzie zu lesen auf.

Sie sah auf die Uhr an der Wand. Es war viel zu früh, um Morgan anzurufen, mit Sicherheit waren sie noch beim Essen. Also schloss Lizzie schließlich, ohne das Licht zu löschen, die Augen und verfiel in einen unruhigen Schlaf.

3. Kapitel

Sie erwachte wenige Stunden später, kaum erholt und mindestens genauso unruhig wie zuvor. Sie wusste selbst nicht, warum sie schon wach war, denn draußen war es noch stockduster. Bis sie ein Prasseln an ihrer Fensterscheibe hörte. Misstrauisch spitzte Lizzie die Ohren und – da, schon wieder! Jemand warf kleine Steinchen gegen die Scheibe.

Sie schwang sich so schnell aus dem Bett, dass Daisy erschrocken auffuhr und wegrannte. Dann öffnete sie das Fenster. Kühle, nach Tau duftende Nachtluft wehte herein und klärte Lizzies Kopf. Sie wusste wer dort unten stand, noch bevor sie das silbrige Haar im Mondlicht schimmern sah.

Es war Austen, ihr Cousin, der jetzt grinste, als er sie bemerkte. »Na endlich, ich friere mir hier draußen bestimmt schon seit einer Viertelstunde den Arsch ab!«

Dann kletterte er an der Hausfassade nach oben, indem er sich über eine Mülltonne auf den Balkon schwang und sich an der Fensterbank hochzog, auf der er sich schließlich elegant wie eine Katze niederließ.

»Na, Babydoll.« Sein Haar und seine Zähne blitzten im Mondlicht um die Wette. Austen Chevally war die Art von Junge, vor denen Mütter ihre Töchter warnten.

Natürlich hatte Lizzie nicht zu befürchten, dass ihr Cousin ihr das Herz brach. Gerade machte sie sich eher Sorgen, dass er das Gleichgewicht verlieren und sein eigenes Genick brechen könnte.

»Komm schon rein, du Spinner.« Sie gab sich keine Mühe, zu verbergen, wie sehr sie sich über seinen Besuch freute.

Austen fläzte sich auf Lizzies Bett, während sie sich im Schneidersitz auf ihren Schreibtischstuhl setzte. »Warst du bei einem Mädchen?«

Austen verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Ein Gentleman genießt und schweigt«, meinte er süffisant.

»Oh bitte! Sag schon, war es Millicent?«

Sein Gesicht verdüsterte sich. »Millicent kann mich mal kreuzweise.«

»Ist sie wieder mit Cooper zusammen?«

»Ja.«

Lizzie betrachtete ihre Fingernägel. »Ich mochte sie sowieso nie.«

»Ich weiß.« Austen fuhr sich stöhnend durch sein weiß gefärbtes Haar. »Ist ja auch egal, deswegen bin ich nicht hier.«

»Klar, du wolltest nur mal eben Hallo sagen, das verstehe ich.«

»Oh nein, meine liebe Lizzie, ich wollte dir einen Herzenswunsch erfüllen!« Er wackelte mit den Augenbrauen.

Sie durchforstete ihr Gedächtnis nach Herzenswünschen, die sie vor Austen geäußert haben könnte, aber vor ihrem geistigen Auge erschien lediglich ein Bild von Robert, das sie schnell wieder wegwischte. Heute Nacht hatte sie andere Sorgen.

Als Austen merkte, dass sie nicht von selbst darauf kam, kramte er in seiner Jeanstasche und zog schließlich einen silbernen Schlüssel hervor.

Erwartungsvoll sah Lizzie ihn an.

Austen zog die Augenbrauen noch weiter nach oben, wenn das überhaupt möglich war. Beinahe berührten sie seinen Haaransatz, der so dunkel war wie seine Augenbrauen. »Den habe ich meinem Patenonkel abgeluchst.«

Lizzies Augen weiteten sich. »Nein!«

Er grinste. »Doch.«

»Der ist fürs Museum?« Die Begeisterung ergriff rasant Besitz von ihr. Noch während Austen ihre Frage bejahte, sprang Lizzie auf und ging zum Fenster. »Warum sagst du das nicht gleich? Wie viel Uhr haben wir eigentlich? Drei? Dann bleiben uns ja noch ein paar Stunden! Schlafen Mum und Meredith?«

Austen war aufgestanden, er nickte. »Alle Lichter waren aus, bis auf deins. Vielleicht sollten wir es löschen, bevor wir gehen, damit keine Motten reinfliegen.«

Lizzie nickte und spurtete zum Lichtschalter. »Du hast recht, ich muss nur Daisy raussetzen, damit sie nicht aus dem Fenster springt.«

»So dumm ist sie nicht.«

»Du würdest dich wundern.«

Sie zog die Katze unter dem Bett hervor, setzte sie auf den Flur und schloss leise die Tür. Dann lief sie zum Fenster und ließ sich nach draußen gleiten, bevor sie gekonnt nach unten kletterte. Sie bereute es ein bisschen, keine Jacke mitgenommen zu haben, doch als Austen neben ihr im Gras landete und sah, dass sie fröstelte, reichte er ihr seine Lederjacke. »Hier, ich bin zu männlich, um zu frieren.«

»Oh ja, ich spüre das Testosteron. Deine bloße Anwesenheit löst Eisprünge aus«, meinte Lizzie.

»Du könntest auch einfach Danke sagen.«

»Danke«, sagte sie artig und die beiden schlichen sich vom Grundstück.

Lizzie lebte mit ihrer Mutter und Tante in einer sehr ruhigen Gegend von Faircrest. Die Vorgärten waren gepflegt und die Gehwege sauber gekehrt, in den Einfahrten standen Familienautos und hinter den Fenstern brannte um diese Zeit natürlich kein Licht mehr. Dafür erhellten hübsche, altmodische Straßenlaternen die Nacht.

»Wie bist du überhaupt an den Schlüssel gekommen?«, fragte Lizzie ihren Cousin. »Hank weiß doch, dass du es darauf abgesehen hast.«

»Ich hab den Ersatzschlüssel ganz zufällig in seinem Arbeitszimmer gefunden. Ich glaube, er hat selbst vergessen, dass er da lag.«

»Genial.« Lizzies Augen glänzten vor Vorfreude. In ganz Faircrest gab es keinen Ort, den sie so liebte wie das Museum. Nirgendwo fühlte Lizzie sich so aufgehoben wie dort, umgeben von Kunst. Ihr Herz pochte heftig.

Als ihr das Tempo, mit dem sie unterwegs waren, nicht mehr genügte, sprang sie voraus und sah Austen herausfordernd an. Morgan hätte an dieser Stelle die Augen verdreht und gemault, dass sie nicht laufen wollte, doch Lizzies Cousin rannte los und flog mit ihr durch die Nacht.

So brauchten sie schließlich nur fünf Minuten bis zum Marktplatz und zwei Minuten später standen sie vorm Kunstmuseum.

Lizzie nahm Austens Hand und drückte sie sich an die Wange. »Fühl mal, wie warm.« Austen lachte, auch seine Wangen waren erhitzt und sein silbernes Haar ganz zerzaust. »Bist du bereit?«

Sie nickte ungeduldig: »Mach schon auf!«

Austen tat wie ihm geheißen und einen Augenblick später standen sie im Eingangsbereich des Museums, der noch nicht sehr spektakulär war, sondern lediglich ein paar langweilige Gemälde von Faircrest zeigte, die hinter dem Infotresen hingen.

Lizzie beschäftigte sich nicht weiter damit, sondern lief zielstrebig durch die Flügeltür zum ersten Ausstellungsraum.

Oh ja, die Gemälde hier gefielen ihr sehr viel besser. Lizzie war umgeben von Teegesellschaften und Reitturnieren. Dinge, die sie in der Realität vermutlich entsetzlich angeödet hätten. Doch in der Theorie, wenn sie sie von außen betrachten konnte, mit filigranen Pinselstrichen auf Leinwand gebannt – das war Lizzies Vorstellung von Schönheit.

Sie kniff die Augen ein wenig zusammen und wartete darauf, dass sie sich an das dämmrige Licht gewöhnten, dann wandte sie sich einem großen Bild zu, das ein Fest im Sommer zeigte, bei dem die Leute Hüte trugen und Kuchen aßen.

Es gab Menschen, die liebten abstrakte Kunst, doch für Lizzie musste sie impressionistisch sein. Gerne beschönigend, aber so detailliert wie möglich. Sie sah dieses Gemälde und wusste, dass die Szene sich genau so zugetragen haben musste, und ohne weiter darüber nachzudenken, spann sie darum eine Geschichte.

Das Gemälde zeigte das Andromedabankett von 1864, das an einem besonders warmen Tag im Frühherbst nach draußen verlegt worden war. Das sagte zumindest das Kärtchen neben dem Gemälde, also musste es wohl stimmen.

Lizzie war noch ganz in die Betrachtung vertieft, als Austen neben sie trat. Er legte den Kopf schief, als suche er ein Detail in dem Gemälde. Etwas, das ihm den tieferen Sinn verriet.

»Die da sieht aus wie du«, sagte er irgendwann und deutete auf eine blonde, mittelalte Frau, die mit einem Hund zu schimpfen schien.

»Charmant.«

Austen langweilten sowohl derlei Veranstaltungen, als auch ihre künstlerische Darstellung. Er war einer derjenigen, die sich für abstrakte Kunst begeisterten. Er würde sich bis zum letzten Ausstellungsraum gedulden müssen und das konnte dauern, denn Lizzie verbrachte gern Stunden mit der eingehenden Betrachtung von Bildern. Da Austen aber von Natur aus ungeduldig war, versuchte er, sie weiter zu locken (was Lizzie natürlich bewusst war): »Ich finde, wir sollten unseren alten Freunden Hallo sagen gehen.«

»Du willst doch nur steinerne Brüste betatschen«, erwiderte Lizzie ungerührt.

»Du tust so, als gäbe es keine echten Brüste, die ich betatschen könnte.«

»Ich glaube, dass dir jedes Paar Brüste recht ist, solange es sich von dir betatschen lässt«, sagte sie, ohne den Blick von dem Bild abzuwenden.

Austen trat näher an sie heran. »Komm schon Liz, sie haben dich bestimmt vermisst.« Er zog sie am Arm.

»Du bist doch bescheuert«, sagte sie, ließ sich aber lachend mitziehen. Jetzt, wo sie den Schlüssel hatten, würde sie noch viele weitere Nächte hier verbringen und jedes einzelne Bild bis ins Detail studieren können. Beim Gedanken daran, wurde sie ganz kribbelig.

Austen zog sie durch den Torbogen in den nächsten Ausstellungsraum, der von Mondlicht durchflutet war. Allein das hätte Lizzie schon den Atem geraubt, aber natürlich standen sie nicht in einem leeren Raum, ganz im Gegenteil. Sie waren umgeben von Statuen – weißen Statuen überall. Der Mondschein fiel durchs Glasdach und tauchte die lebensgroßen Figuren gleichzeitig in Licht und Schatten.

Schon bei Tageslicht meinte man manchmal, aus dem Augenwinkel zu sehen, wie sich die Statuen bewegten. Aber bei diesem Spiel aus Licht und Dunkelheit fühlte Lizzie sich, als stehe sie zwischen atmenden Menschen. Und Tieren und ganz anderen Gestalten.

Lizzie betrachtete eine Frau, die zu gehen schien und ein langes Gewand hinter sich herzog. Ihr Haar war lose hochgesteckt. Als die Schatten darauf tanzten, war es für einen Augenblick, als wehte es im Wind.

Ihre Lieblingsstatue stand in einer Ecke. Es war ein junger Mann mit gerader Nase und vielen, vielen Muskeln. Seine Locken hingen ihm wirr in die Stirn. Lizzie glaubte, dass er gerade aus einem Kampf kam, und seinem stolzen Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hatte er ihn gewonnen.

Er sah aus wie Robert Endress.

Quer durch den Raum schien er ihr zuzulächeln. Komm zu mir.

Natürlich ging sie hin.

»Wie kann man nur so in eine Statue verknallt sein?«, hörte sie Austens Stimme hinter sich.

»Halt die Klappe, Austen«, sagte sie über die Schulter. Austen stand inmitten eines Kreises aus Nymphen, die allesamt halbnackt waren. Er sah nicht unzufrieden aus.

Sie stellte sich vor ihren Krieger und ging auf die Zehenspitzen, um ihm in die leeren Augen blicken zu können. Andächtig legte sie die Hand auf seine kalte Wange und betrachtete sein detailliert gearbeitetes Gesicht. Seine Lippen waren anders als Roberts. Außerdem hatte er keine Wimpern und die langen dichten Wimpern waren vermutlich der auffälligste Teil von Roberts Gesicht. Aber die Nase passte perfekt, genau wie die schönen Wangenknochen.

Lizzie seufzte. Dem echten Robert war sie nie so nahe gekommen. Seit sie denken konnte, schwärmte sie für Morgans Cousin, aber sie erinnerte sich an keinen Augenblick, in dem sie auch nur in Erwägung gezogen hätte, dass er ihre Gefühle erwidern könnte. Es war aussichtslos, aber sie konnte sich auch nicht von dieser Verliebtheit befreien. Die Gefühle waren in ihr und vermutlich schon so tief in ihrer Seele verwurzelt, dass sie sie nicht entfernen und gleichzeitig weiterleben konnte. Davon war sie zumindest überzeugt, aber sie hatte auch noch nie versucht, sich zu entlieben oder so etwas, und konnte nicht wissen, ob sie danach überhaupt noch Lizzie sein würde.

Selbst wenn sie andere Jungs geküsst hatte, und sogar wenn sie in einer Beziehung gewesen war – Robert war stets die einzige Person geblieben, die sie wirklich zu lieben glaubte. Zumindest in romantischer Hinsicht.