Erich Mühsam: Kleine Prosa 1898-1928

 

 

Erich Mühsam

Kleine Prosa 1898-1928

 

 

 

Erich Mühsam: Kleine Prosa 1898-1928

 

Neuausgabe mit einer Biographie des Autors.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2016.

 

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:

Unbekannter Fotograf, Erich Mühsam, 1928

 

ISBN 978-3-8430-9214-2

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-8430-9179-4 (Broschiert)

ISBN 978-3-8430-9180-0 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

 

Der Text dieser Ausgabe folgt:

Erich Mühsam: Ausgewählte Werke, Bd.1: Gedichte. Prosa. Stücke, Bd. 2: Publizistik. Unpolitische Erinnerungen, Berlin: Volk und Welt, 1978.

 

Die Paginierung obiger Ausgabe wird in dieser Neuausgabe wortgenau mitgeführt und macht dieses E-Book auch in wissenschaftlichem Zusammenhang zitierfähig. Das Textende der Vorlagenseite wird hier durch die Seitennummer in eckigen Klammern mit grauer Schrift markiert.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

 

Selbstbiographie

I
Auszug aus einem Manuskript vom Jahr 1919:

Nicht die äußeren Daten eines Lebenslaufs geben das Bild eines Schicksals, sondern die inneren Wandlungen eines Menschen bezeichnen seine Bedeutung für die Mitwelt. Nur im Zusammenhang mit dem Weltgeschehen haben die Begebenheiten im Leben des einzelnen Interesse für die Gesamtheit. Wessen Privatleben niemals die Zentren des Gesellschaftslebens berührt, dessen Biographie kann für Seelenforscher höchst wichtig sein, die Allgemeinheit geht sie nichts an.

Wäre meine Lyrik als Ausdruck meiner Gesamtpersönlichkeit alles, was ich den Volksgenossen zu bieten hätte, dann hätte ich der Aufforderung, eine Selbstbiographie zu schreiben, in der Weise entsprochen, daß ich den Literaturhistorikern Gelegenheit gegeben hätte, mich zu klassifizieren: Geboren 6. April 1878 in Berlin; Kindheit, Jugend, Gymnasialbesuch in Lübeck; unverständige Lehrer, niemand, der die Besonderheit des Kindes erkannt hätte, infolgedessen: Widerspenstigkeit, Faulheit, Beschäftigung mit fremden Dingen. Frühzeitige Dichtversuche, die weder in der Schule noch im Elternhause Förderung finden, im Gegenteil als Ablenkung von der Pflicht betrachtet werden und deshalb im geheimen geübt werden müssen. Dummejungenstreiche, zuletzt – als Untersekundaner – geheime Berichte über Schulinterna an die sozialdemokratische Zeitung; daher wegen »sozialistischer Umtriebe« Relegation. Ein Jahr Obersekunda in Parchim (Mecklenburg), dann Apothekerlehrling[165] in Lübeck; 1900 Apothekergehilfe an verschiedenen Orten, zuletzt in Berlin. Als freier Schriftsteller Teilnahme an der Neuen Gemeinschaft der Brüder Hart; Bekanntschaft mit vielen öffentlich sichtbaren Persönlichkeiten. Freundschaft mit Gustav Landauer, Peter Hille, Paul Scheerbart und anderen. Bohemeleben; Reisen in der Schweiz, in Italien, Österreich, Frankreich; schließlich 1909 dauernder Wohnsitz in München; Kabarettätigkeit, Theaterkritik, schriftstellerische Tätigkeit, meist polemisch-essayistisch. Freundschaftlicher Verkehr mit Frank Wedekind und vielen andern Dichtern und Künstlern. Drei Gedichtbände, vier Theaterstücke; 1911–14 Herausgeber der literarisch-revolutionären Monatsschrift »Kain. Zeitschrift für Menschlichkeit«, die vom November 1918 bis April 1919 als reines Revolutionsorgan in neuer Folge erschien. Seitdem in den Händen der konterrevolutionären bayerischen Staatsgewalt.

Mit diesen Mitteilungen wäre meine Biographie erschöpft, wenn ich mein Leben allein in meinen literarischen Leistungen charakterisiert sähe. Aber ich betrachte meine schriftstellerische Arbeit, vor allem meine dichterischen Erzeugnisse, nur als das Archiv meiner seelischen Erlebnisse, als Teilausdruck meines Temperaments. Das Temperament eines Menschen ist die Summe der Stimmungen, die Hirn und Herz von den Ausströmungen der Umwelt empfangen. Das meinige ist revolutionär. Mein Werdegang und meine Lebenstätigkeit wurden bestimmt von dem Widerstand, den ich von Kindheit an den Einflüssen entgegensetzte, die sich mir in Erziehung und Entwicklung im privaten und gesellschaftlichen Leben aufzudrängen suchten. Die Abwehr dieser Einflüsse war von jeher der Inhalt meiner Arbeit und meiner Bestrebungen.

Im Staat erkannte ich früh das Instrument zur Konservierung all der Kräfte, aus denen die Unbilligkeit der gesellschaftlichen Einrichtungen erwachsen ist. Die Bekämpfung des Staates in seinen wesentlichen Erscheinungsformen,[166] Kapitalismus, Imperialismus, Militarismus, Klassenherrschaft, Zweckjustiz und Unterdrückung in jeder Gestalt, war und ist der Impuls meines öffentlichen Wirkens. Ich war Anarchist, ehe ich wußte, was Anarchismus ist; ich war Sozialist und Kommunist, als ich anfing, die Ursprünge der Ungerechtigkeit im sozialen Betriebe zu begreifen. Die Klärung meiner Ansichten verdanke ich meinem Freunde Gustav Landauer; er war mein Lehrer, bis ihn die weißen Garden ermordeten, die eine sozialdemokratische Regierung zur Niederzwingung der Revolution nach Bayern gerufen hatte.

Meine revolutionäre Tätigkeit hat mich oft mit den Staatsgewalten in Konflikt gebracht. So stand ich 1910 vor Gericht wegen des Versuches, das sogenannte Lumpenproletariat zu sozialistischem Bewußtsein heranzuziehen ... Während des Krieges stand ich in den Reihen der Opposition gegen die Lenker der deutschen Schicksale ... Wegen der Weigerung, eine Arbeit im vaterländischen Hilfsdienst anzunehmen, wurde ich Anfang 1918 nach Traunstein in Zwangsaufenthalt geschickt, wo ich bis zur Auflösung der »Großen Zeit« in Niederlage und Zerfall blieb.

Selbstverständlich fand mich die Revolution von der ersten Stunde aktiv auf dem Posten ... Mitglied des Revolutionären Arbeiterrats ... Kampf gegen die Konzessionspolitik Kurt Eisners ... Teilnahme an der Ausrufung der bayerischen Räterepublik ... Standgericht: fünfzehn Jahre Festung ...[167]

 

II
Nachtrag vom Dezember 1920
(Festung Niederschönenfeld)

Diese Sätze schrieb ich vor einem Jahre in der Festungsanstalt Ansbach. Inzwischen hat sich in mir nichts, außer mir viel geändert ...

Als Ertrag des letzten Jahres sind meinem Lebenslauf[167] nur ein paar Daten hinzuzufügen. Vom März bis zum Mai mußte ich zwei Monate im Ansbacher Landgerichtsgefängnis zubringen, weil ich einen bayerischen Minister beleidigt hatte. Ich benutzte die Abwechslung, um zwei Bücher zu schreiben: Eine Streitschrift »Die Einigung des revolutionären Proletariats« und das Bühnenwerk »Judas. Ein Arbeiterdrama«. Im ersten habe ich mich um den Nachweis bemüht, daß ... sämtlichen Parteiprogrammen die Parole zur kommunistischen Föderation aller wahrhaft revolutionären Korporationen und Individuen gegenüberzustellen sei. Das Drama unternimmt es, »Proletkult« unter dem Gesichtspunkt zu schaffen, der die Schaubühne als revolutionär-agitatorische Anstalt betrachtet wissen will. Der Proletarier soll im Theater keine Symbolik enträtseln und keine Kunstsprache in seine Prosa übersetzen. Der Arbeiterdichter hat weder die Aufgabe, das Proletariat zu sich hinaufzuziehen, noch sich zu ihm herabzulassen. Er ist kein Dichter des Proletariats, sofern er sich nicht selbst als Angehöriger des Proletariats von Natur wegen erkennt. Der Hirnarbeiter ist nichts Besseres als der Handarbeiter. Wer sich selbst den Charakter eines »Intellektuellen« gibt, versucht, sich über das Proletariat zu erhöhen. Ist mir mit »Judas« ein Zeitstück gelungen, das Wissen und Gefühl des Proletariats in seiner Sprache und in seinem Gedankenkreis bewegt und von proletarischen Herzen erfaßt wird, so ist das Stück gut, auch wenn alle literarische Kritik es verdammen sollte. Mit gesprochenen Opern, mit Mosaikszenerie, mit expressionistischem Gelall dient das Theater allenfalls dem Modernitätsbedürfnis der Bourgeoisie, aber nicht dem Drang des Proletariats, aus Kunst erhöhtes Erleben zu ziehen. Dieser Drang wird befriedigt durch Verständlichkeit im Wort, durch Abwandlung revolutionärer Probleme in bewegter lebendiger Handlung, durch Antönen an Saiten, die in der Arbeiterseele revolutionär schwingen.

Im Sommer 1920 erschien mein Gedichtbuch »Brennende[168] Erde. Verse eines Kämpfers«. Auch diese Gedichte sollen Zeugnis des Geistes sein, der die Kunst nicht aus dem Leben herausheben, sondern dem Leben und seinem besten Teil, der Revolution, dienstbar machen will. Der Zweck heiligt die Kunst! Zweck meiner Kunst ist der gleiche, dem mein Leben gilt: Kampf! Revolution! Gleichheit! Freiheit![169]

 

III
Dezember 1927

In die Zeit, seit ich im Kerker Rechenschaft ablegte über mein Schaffen und Wollen, fällt das Kaspar-Hauser-Erlebnis meiner Rückkehr unter die Menschen, Weihnachten 1924. Ich bemühe mich, in der von der Zäsur des Weltkriegs tief aufgewühlten Welt durch Rede, Schrift und Beispiel auf die revolutionären Ziele hinzuwirken, die aus den vor sieben und acht Jahren geschriebenen Notizen zu erkennen sind. Die Dichtkunst ist nichts als eine meiner Waffen im Kampf.

Erschienen sind seit der Veröffentlichung der »Brennenden Erde« unter dem Titel »Alarm, Manifeste aus zwanzig Jahren« eine kleine Sammlung politischer Gedichte, Aufsätze und Aufrufe; unter dem Titel »Revolution« die »Kampf-, Marsch- und Spottlieder«, ferner als Appell gegen die vergiftete Kampf weise der Klassenjustiz die Schrift »Gerechtigkeit für Max Holz!« Seit 1926 gebe ich die anarchistische Monatsschrift »Fanal« heraus. Dort sind die grundsätzlichen Bekenntnisse zu suchen, die meine Stellung zu den öffentlichen Problemen der Gegenwart klarlegen.

Die private Gelegenheit des fünfzigsten Geburtstags gibt Anlaß, das Lebenswerk, soweit es ausgesprochen literarischen Charakter angenommen hat, im Überblick vorzulegen.[169]

 

Peter Hille

gestorben am 4. Mai 1904

Berlin ist die zivilisierteste Stadt der Welt; daran wird es liegen, daß es so wenig Kultur kennt. In Berlin hat das Bequemlichkeitsbedürfnis der Weltstädter sich alles Praktische schon längst nutzbar gemacht. Die Möglichkeiten der Beförderung und Beleuchtung, der Behausung und Ernährung sind fabelhaft; alle Verkehrseinrichtungen funktionieren mit größter Sicherheit in Häusern, Straßen und öffentlichen Anstalten; tadellos ist die Ordnung in allen geschäftlichen, privaten und allgemeinen Beziehungen, aufs beste pulsiert die Gleichmäßigkeit in den Verwaltungen wie in den Familien. Auf der anderen Seite: völlige Verständnislosigkeit gegen alles, was im funktionellen Getriebe nicht mitrollt, was den praktischen Bedürfnissen, der Bequemlichkeit und dem Nutzen der Gesamtheit nicht dienstbar ist; die äußerste Fremdheit gegenüber allem Zwecklosen, allem Eigenleben, aller Kultur.

Der bemerkenswerteste Ausdruck der Kultur ist die Kunst, soweit sie nicht bestellt, dem Unterhaltungs- und Vergnügungsbedürfnis der Menge nicht angepaßt ist, soweit sie um ihrer selbst willen da ist und um des Künstlers willen, der sich in ihr mit der Welt und seiner Zeit auseinandersetzt. Ich möchte so sagen: soweit sie lyrisch ist. Der Lyriker als Berliner Bürger: schon die Vorstellung ist komisch, ist eine contradictio in adjecto. Nein, ein Lyriker – welcher Kunst er immer frönt – kann kein Berliner sein, überhaupt kein Weltstädter und kein Bürger, mag sein Schaffen noch so stark beeinflußt sein von den Eindrücken, die seine Seele aus dem flutenden Strom der Großstadt aufgesaugt hat. Zeit und Leben, alles, was um ihn wirkt und quillt, ist dem lyrischen Künstler Mittel und Reiz zum Gestalten; er ist immer Phonograph, Grammophon nur jenen, die seine Töne hören können, die seine Farben sehen, die seine Schwingen zittern fühlen.[170]

Vor drei Jahren starb ein Lyriker, ein Dichter, der seine Zeit und seine Umgebung, dieses nüchterne, zweckvolle, poesiearme und kulturfremde Berlin, tief erlebte und genoß; der dem Instrument, das er aus dem klanglosen Holz seiner Zeit und der salzlosen Luft des Raumes, in den er gestellt war, baute, Weisen entlockte, die zeit- und raumlos sind, golden tönen über dem Atem von Menschen, für die sie nicht erklangen, nicht geformt wurden.

Nur selten vernahmen die Berliner etwas von Peter Hille. Wenn verehrende Freunde seinen Namen ganz laut in den Weltstadtlärm riefen, dann sah man vergnügt auf den sonderlichen Mann herab, der zerzaust und ein wenig abgerissen daherging, ein schmutziges Notizbuch in der Hand, in das er fast unaufhörlich schrieb: Gedanken und Einfälle, Stimmungen und Randglossen über das, was er erblickte, erhorchte, ertastete; der jede Seite mit dem Bleistift sechsmal überquerte und sich um die spöttisch Blickenden nicht kümmerte, die von den Schönheiten nichts ahnten, die der Dichter für seinen persönlichen Bedarf aus ihrer Häßlichkeit hob. Und dann sprach man von ihm, als die Nachricht von seinem Tode durch die Blätter ging. Was erfand man nicht für Mordgeschichten, um sein Sterben interessant zu machen! Ermordet sollte er sein, und ganz mysteriöse Dinge sollten es veranlaßt haben, daß man ihn eines Tages mit blutendem Kopf ohnmächtig auf der Bank eines Berliner Vorortbahnhofes auffand. Die guten Leute, die sein Leben nie als ein tiefes, herrliches Geheimnis empfunden hatten, witterten hinter seinem Tode geheimnisvolle, poetisch-gruselige Umstände. Und doch war für jeden, der nicht mit des Dichters Sinnen fühlt, sein Tod so nüchtern, so unsagbar nüchtern! Ein fünfzigjähriger Organismus, geschändet von allen Entbehrungen, allen Strapazen materieller Not, war verbraucht. Auf der Heimfahrt von Berlin nach Schlachtensee, wo ihn Fremde zuletzt versorgten, brach er zusammen, die Lungen versagten, er schleppte sich auf einer Zwischenstation aus dem Zug, fiel und zerschlug[171] sich den Kopf. Man setzte ihn auf eine Bank. Da wurde er gefunden. Man brachte ihn nach Groß-Lichterfelde ins Krankenhaus, und dort starb er. Das ist alles.

Peter Hille ist verhungert, ganz regelrecht verhungert; nicht, wie mancher andere Bettler, durch ein plötzliches Aufhören der Lebenszufuhr, nicht von heute auf morgen, sondern im jahrzehntelangen bitteren Kampf seines schwachen Leibes gegen die Bedürfnisse des Lebens, deren Befriedigung ihm vorenthalten war. Vorenthalten von der Gesellschaft, die ihn umgab, die ihn nicht bemerkt hatte im Getöse der Weltstadt, aber an seinem Grabe nun plärrte: Seht doch, ein Dichter ist tot, ein Dichter! Und die romantische Geschichten wob über sein Ende, die ihr die Schuld an diesem Tod abnehmen sollten.

Soll ich die Leute entschuldigen, die besten Herzens diesem qualvollen Siechtum zusahen? Es liegt mir nicht, zu sagen: sie können nichts dafür! Um so schlimmer! Entschuldbar sind nur die Taten, die bewußt geschehen, an denen Geist und Hand mitwirken, die gewollt sind und kämpfend verübt werden. Stumpfheit und Blindheit, blödes, verständnisloses Zuschauen ist nie entschuldbar. Der Fluch solchen Handelns an Peter Hille, an seinem besten, seinem reinsten Geist, fällt ohne Gnade, fällt bleischwer auf das deutsche Volk, auf seine »Gebildeten«.

Gewiß: Peter Hille selbst wußte nicht, was ihm Böses geschah. Er litt an besseren Leiden als an denen des Leibes. Er merkte kaum, wie gemein er mißhandelt wurde. Er hat die Qualen, die man ihn dulden ließ, nicht vergolten mit der Verhärtung seiner Seele. Er ging unbeirrt unter den Menschen, die ihm das Brot entzogen, und hob Schönes aus ihren Häßlichkeiten, Schönes, von dem sie selbst nicht wußten. Auch nicht deshalb wird sein Tod zur Anklage, weil er noch viel Wundervolles hätte dichten, uns viele Reichtümer hätte hinterlassen können, sondern, weil er das Leben liebte, selbst unter den Nöten, die man ihm auflud.[172]

Wie fremd, wie fern war Peter Hille seinen Zeitgenossen! Wie liebte er sie, er, der in ihnen die Menschheit verkörpert sah! Sein tiefstes Erleben lag in anderer Zeit. Im Kern seines Wesens fühlte er sich ins Mittelalter gehörig, in jene herrlichen Tage Michelangelos und Dantes, wo die Kultur eine Heimat, die Kunst eine Stätte hatte. Seine Erscheinung war wie aus einem Märchen, der gütige Weise mit dem lächelnden Kindesauge, dem unschuldigen Knabenkörper, den reinen, weißen streichelnden Händen und dem mächtigen Denkerhaupt mit dem großen Bart. Still und heiter ging er durch lärmende Straßen und glaubte sich in einsamen Gefilden, umgeben von Engeln und Genien.

Seine Kunst war rein und tief. Ganz Dichter, ganz Bildner, schaute er ins Leben. Jeder Gedanke formte sich ihm zum Symbol, jeder Satz zum Vers, jede Empfindung zum Reim. Sünde war ihm ein fremdes Wort, Häßlichkeit ein fremder Begriff, Moral ein fremdes Gefühl. Lauter und keusch wie das Quellwasser war sein Empfinden, groß und schön die bildhafte Umdeutung seiner Gedanken. Was er sah, dachte, fühlte, formte sich ihm spontan zum greifbaren Wortbild. Es gab nichts Abstraktes für ihn. Jeder Bewegung, jeder Stimmung, jedem Gefühl und jedem Genuß gab er Worte von sichtbarer Wesenheit.

Ich will keine langen Proben seiner Kunst geben. Wer sie kennenlernen will, lese seine hinterlassenen Werke. Eine kurze Probe nur aus der »Brautseele«:

 

»Der zweiten Keuschheit

köstliche Müdigkeit ruht

in dem wieder

niedergeschwiegenen Blut,

bis des Lebens innige Anmut

wieder höhersteigende Kräfte gewinnt

und weiter sich spielt

nach des Lebens lieblicher Weise.«[173]

 

Ich zitiere diese Zeilen nicht als letzte Höhe seines dichterischen Könnens; nur als Probe der innigen Keuschheit seines Empfindens und als Beispiel für die tiefe innere Gereimtheit seiner Worte.

Schönheit war Peter Hille alles; und Schönheit, Dichtung und Leben war ihm Eins. Und doch sah er auch die grausamen Abgründe, an deren Rand man ihn stieß. Und doch kannte auch er Minuten der Bitterkeit, in denen er der Häßlichkeit Worte gab. Wie schmerzlich ist dieser Aphorismus:

»Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. Wer nicht arbeitet, soll speisen; wer aber gar nichts tut, darf tafeln.« Wie übel mußte man diesem Dichter erst mitspielen, ehe er solchen Satz fand. Wie oft stritt ich mit ihm über den Wert der Menschen Οἱ τλειστοι κακοὶ –: er wollte es nicht glauben, nicht sehen. Einmal schrieb er mir, als ich wütend gewesen war, weil ihn Leute in einem Kabarett verspottet hatten: »Ärgere Dich doch nicht über die Bande; lache doch über sie.« Zu kränken war er nicht.

Vielleicht hat er recht gehabt. Dem Künstler unserer Zeit, dem Fremden, Leidenden bleiben nur zwei Möglichkeiten, sich abzufinden. Einer kämpft an gegen die Frevel der menschlichen Ordnungen, baut sich ein Ideal der Wirklichkeit, wird Sozialist und Anarchist und hofft auf die Tage, die keinen Hunger mehr kennen werden und keine Not des Leibes. Er stellt sich bewußt in Gegensatz zur Gesellschaft, verbündet sich den Ausgestoßenen und Benachteiligten und eint seine Empfindungen zum Gefühl des Hasses gegen Staat und Gesellschaft, in dem Wunsch nach Rache. Der andere geht, wie Peter Hille, still seines Weges, liebt Leben und Liebe und dichtet Schönheit in die Menschen, die ihn verhungern lassen ...

Noch ist nicht die Zeit, Anekdoten von Peter Hille zu erzählen. Erst mag die Welt die Augen öffnen für das Vermächtnis, das er hinterlassen hat. Nur eine kurze Episode will ich berichten. Vielleicht wird mancher mehr darin finden als eine Anekdote. Wir waren zusammen im[174] Lesezimmer der Neuen Gemeinschaft. Peter Hille hatte sein Notizbuch vor sich liegen und den Bleistift in der Hand. Der Kopf lag ihm schwer auf der Brust. Nach langem Schweigen blickte er plötzlich auf, legte die Hand feierlich auf den Tisch und sagte ernst und stark: »Eben habe ich den Sinn meines Lebens gefunden. Ich bin: also ist Schönheit.«[175]

 

Brevier für Menschen

Tapferkeit

Nicht wer sich gezwungen in Gefahr begibt, ist tapfer, noch wer aus Übermut der Gefahr entgegenläuft, sondern nur, wer um seiner Erkenntnis willen auf sich nimmt, was die Pflicht des Gewissens fordert. Darum schweige das Lob gefahrvoller Taten, und es erhebe sich der Ruhm der aufrechten Gesinnung.