Aiken, G. A. Lions - Fesselnde Jagd (New York Shape Shifters 8)

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Übersetzt aus dem Amerikanischen von Doris Hummel

 

© dieser Ausgabe: Piper Verlag GmbH, München 2020
© Shelley Laurenston 2013
Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Wolf with Benefits«
© Kensington Publishing, New York 2013
© der deutschsprachigen Ausgabe: Piper Verlag GmbH, München 2015
Covergestaltung: Cover&Books by Rica Aitzetmüller
Covermotiv: stock.adobe.com

 

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Kapitel 1

»Bist du mein Daddy?«

Ricky Lee Reed, ursprünglich aus Smithtown, Tennessee, und erst vor wenigen Jahren nach New York City verpflanzt, glotzte das Kind, das ihm diese Frage gestellt hatte, einen kurzen Moment lang an, bevor er seine Aufmerksamkeit dem erwachsenen Weibchen zuwandte, das das Kind auf dem Arm hielt.

Er musste zugeben, dass er nicht erwartet hatte, diese Frage zu hören … also, überhaupt jemals. Dafür gab es zwar eine ganze Menge Gründe, aber der wichtigste war, dass er diese Frau gar nicht kannte. Er gehörte nicht zu den Typen, die so viele Weibchen flachlegten, dass sie deren Gesichter oder Namen vergaßen. Also … warum stellte dieses Kind ihm diese Frage? Und was noch seltsamer war: Warum hob das Weibchen plötzlich die Augenbrauen und fragte: »Und … bist du es?«

Moment mal. Wusste sie das denn nicht? Sollte sie das denn nicht wissen? Lieber Gott, diese Stadt. Gut möglich, dass er sich nie daran gewöhnen würde, hier zu leben. Niemals. Das Leben hier war zwar überraschenderweise sicherer als in Smithtown, Tennessee, aber es war auch entschieden seltsamer. Vielleicht, weil es in Manhattan viel mehr Vollmenschen gab – er hatte festgestellt, dass Vollmenschen viel seltsamer waren als Gestaltwandler – und Smithtown praktisch nur aus Wandlern bestand. Hauptsächlich aus Wölfen. Abgesehen von ein paar Bären am Stadtrand, die zu alt und zu groß waren, als dass das Rudel sich die Mühe machen würde, sie zu vertreiben. Aber all diese Wölfe auf einem Haufen in Kombination mit genügend schwarz gebranntem Schnaps, um die gesamte russische Armee außer Gefecht zu setzen, bedeutete, dass in den Hügeln rund um seine Heimatstadt mehr Gefahren lauerten, als es im Hexenkessel New Yorks jemals der Fall sein konnte. Ganz gleich, was sie in den Filmen immer behaupteten. Aber doch konnte das Leben in Manhattan im Vergleich zu dem, das er zurückgelassen hatte, so viel seltsamer sein.

Er hatte sich dieser Bank in dem riesigen Sportzentrum nur genähert – dem Zuhause sämtlicher von Gestaltwandlern geführter Sportmannschaften New Yorks –, um sich mit dem hübschen Weibchen zu unterhalten, das bereits darauf saß. Und um vielleicht ihre Telefonnummer zu ergattern. Er fand sie wirklich süß, wahrscheinlich wegen ihrer Lockenmähne. Die meisten Weibchen in seinem Rudel hatten glattes Haar, aber ihres war blond-braun, mit vielen schwarzen Strähnen, und ein einziges Durcheinander aus Locken. Nichts als wilde, weiche Locken, die beinahe ihre Augen bedeckten und bis zu ihren Schultern hinab reichten. Ja. Ihm gefiel ihr Haar. Die Tatsache, dass sie eine Schakalin war, interessierte ihn jedoch nicht sonderlich. Sie war trotzdem eine Hündin, genau wie er, und er suchte sowieso nicht nach einer Gefährtin. Nur nach ein paar Dates, und vielleicht ein bisschen Spaß …

Spaß. Nicht Vaterschaft.

»Nein«, antwortete er den beiden schließlich. »Ich bin nicht dein Daddy.«

Die Frau umarmte den Jungen auf ihrem Schoß und küsste ihn auf die Stirn. »Tut mir leid, Denny. Vielleicht finden wir deinen Daddy ja eines Tages.«

Seine Südstaatenhöflichkeit diktierte Ricky Lee eigentlich, die ganze Sache damit auf sich beruhen zu lassen. Keine Fragen zu stellen und nicht vorzuschlagen, dass sie einen besseren Überblick über ihre verflossenen Liebhaber behalten sollte. Aber er konnte sich einfach nicht dazu durchringen, wieder zu gehen. Er war zu neugierig.

Sie schaute ihn an. »Oh … du bist immer noch hier?«

Bevor er fragen konnte, warum er nicht auf dieser Bank sitzen bleiben konnte, ohne angestarrt zu werden, trotteten noch mehr Kinder auf das Weibchen zu: ein junges Mädchen, dessen große braune Augen förmlich an seinem Handy klebten, ein Junge und ein Mädchen im Kleinkindalter, das der Junge an der Hand hielt. Sie umringten die Schakalin, und die Kleinste versuchte, den anderen Jungen, Denny, beiseitezuschieben, um seinen Platz auf dem Schoß ihrer Mutter einnehmen zu können.

Das waren wirklich eine Menge Welpen für ein so junges Weibchen.

»Mit wem unterhältst du dich?«, wollte die Schakalin von dem älteren Mädchen wissen. Moment mal. War sie überhaupt schon alt genug, um eine Tochter im Teenageralter zu haben?

»Mit niemandem.«

»Das ist ganz schön viel Getippe für niemanden.«

Mit einem dramatischen Seufzen, das nur Teenager zustande brachten, fragte das Mädchen: »Müssen wir hier noch lange rumhängen?«

»Ich gehe nicht, bevor ich bekommen habe, was ich will«, verkündete der größere Junge mit erstaunlich großem Selbstbewusstsein für einen Neun- oder Zehnjährigen. »Also komm mal wieder runter.«

»Ich hab noch was vor, du dämliche Nervensäge.«

»Musst du dir noch mehr Spitzenschuhe kaufen? Oder deinen Körper noch mehr verbiegen und verrenken, bis du irgendwann dreißig oder so bist und dich mit der Tatsache abfinden musst, dass deine Karriere vorbei ist? Wenn man das überhaupt eine Karriere nennen kann.«

Das Mädchen hatte schon beinahe seine Hände um den Hals seines Bruders geschlungen – und er wusste, dass sie alle Geschwister waren, da einen niemand sonst so zur Weißglut bringen konnte wie der eigene Bruder oder die eigene Schwester –, als die Schakalin sie anfauchte: »Lass ihn in Ruhe!«

»Immer beschützt du ihn.«

»Vielleicht liegt das daran, dass ich von den Göttern mit echtem Talent gesegnet wurde, was viel besser ist als nur irgendwelche Gene, durch die meine Beine abartig lang wachsen.«

»Ich hasse dich«, zischte der Teenager seinen Bruder an.

»Ich lebe für Hass«, entgegnete der Junge. »Er entfacht mein kreatives Feuer.« Das war eine wirklich seltsame Aussage für einen kleinen Jungen. Wirklich seltsam. Aber noch seltsamer wurde es, als der Junge plötzlich Ricky anschaute und fragte: »Bist du unser Daddy?«

Und noch bevor Ricky ohne den geringsten Anflug von Unsicherheit antworten konnte: »Auf gar keinen Fall«, schwang mit voller Wucht die Tür auf, die zur Eisfläche im Trainingsstadion führte, und Rickys Hockey spielender Bruder, Reece Lee, sauste hindurch.

Ricky schnappte sich instinktiv das Kind, das in der größten Gefahr schwebte – das kleine Mädchen –, und brachte sie beide mit einem Sprung in Sicherheit. Die Schakalin hatte noch immer den Jungen auf dem Schoß, sprang blitzschnell auf und schlang ihre Arme ganz fest um ihn. Gleichzeitig machte sie einen Satz zur Seite und schob so den älteren Jungen und seine Teenagerschwester aus dem Weg.

Selbst als improvisiertes Team war ihr Timing makellos, denn im nächsten Augenblick krachte Rickys jüngerer Bruder in die Holzbank, auf der sie eben noch gesessen hatten, und zerstörte sie komplett. Ricky machte jedoch keinerlei Anstalten, Reece Lee zu Hilfe zu eilen. Er wusste es besser. Und tatsächlich platzte ein paar Sekunden später ein zwei Meter zwanzig großer und beinahe zweihundert Kilo schwerer Hybride durch dieselbe Tür und stampfte auf Reece zu.

Der Hybride packte Reece an seinem Trainingstrikot und hob ihn hoch, nur, um ihn direkt wieder auf den Boden knallen zu lassen. Reece fuhr seine Reißzähne aus und begann, sich mit Zähnen und Klauen zu wehren. Es war keiner dieser schönen Kämpfe, die man aus Actionfilmen kannte. Es war eher, als würde man zusehen, wie sich zwei Pitbulls in einem Hinterhof gegenseitig an die Gurgel gingen.

»Willst du einfach nur da rumstehen?«, fragte die Schakalin und funkelte Ricky an.

»Das war der Plan.«

»Aber ich hab dich doch vorhin mit dem Kleineren gesehen«, fügte sie über das laute Knurren, Jaulen und Brüllen hinweg hinzu. »Du kennst ihn.«

»Flüchtig.«

Sie kniff die Augen zusammen. »Ihr seid Brüder, stimmt’s?«

»Jedenfalls laut meiner Momma, aber ich verlange immer noch einen DNA-Test, der das zweifelsfrei beweist.«

Der größere Junge versuchte, an der Schakalin vorbeizuhuschen, um den Kampf besser verfolgen zu können, aber seine ältere Schwester schnappte ihn am T-Shirt und hielt ihn fest.

»Bist du irre?«, fragte sie ihren Bruder.

»Toni hat mir versprochen, dass ich ihn treffen darf!«

»Ich hab versprochen, dass ich es versuchen werde«, schoss die Schakalin zurück. Ha. Der Junge hatte sie »Toni« genannt. Nicht »Mom« oder »Mommy«. Und dann ging Ricky endlich ein Licht auf … das waren nicht ihre Kinder. Zumindest nicht alle. Sie waren ihre Brüder und Schwestern.

Das Mädchen hielt seinen jüngeren Bruder am Nacken fest, und dank der Tatsache, dass jedes hundeartige Raubtierkind dort überschüssige Haut hatte, konnte sie sich besser an ihm festkrallen als an jedem Lederhalsband. »Toni lässt dich bestimmt nicht bei einem Kampf von zwei Raubtieren mitmischen.«

»Aber …«

»Kyle, ich hab dir doch schon so oft gesagt, dass wir Aasfresser sind«, erinnerte sie ihn. »Warte, bis die Geier kommen. Dann kannst du dir vielleicht einen Happen zum Mittagessen holen.«

Als Ricky eine Augenbraue hob, grinste die Schakalin nur höhnisch und zuckte kaum merklich mit den Schultern.

Ricky beschloss, nicht zu viele Fragen zu stellen, und konzentrierte sich auf seinen Bruder und den Hybriden – der ein verdammt talentierter Eishockeyspieler war –, der Reece inzwischen auf den Rücken geworfen hatte und seine mächtigen Löwen-Bären-Pranken um die Kehle des Wolfes schlang.

Reece wehrte sich allerdings sehr anständig. Verzweifelt versuchte er, den wahnsinnigen Hybriden von sich herunterzustoßen. Zu dumm nur, dass es nicht funktionierte.

Nachdem er ein paar Treffer im Gesicht des Hybriden gelandet hatte, funkelte Reece Ricky wütend an. »Willst du vielleicht irgendwas unternehmen?«, quietschte er erstickt.

»Hast du mir nicht erst gestern gesagt, dass ich mich aus deinen Angelegenheiten raushalten soll?«, fragte Ricky grinsend zurück.

»Du verdammter …«

»Hey!«, unterbrach Ricky ihn. »Es sind Welpen anwesend. Pass auf, was du sagst.«

Die Schakalin seufzte. »Ernsthaft?«, fragte sie. »Ich meine … ernsthaft

»Was denn?«

»Ihm wird von einem Kerl die Seele aus dem Leib geprügelt, dessen Haare gerade spontan gewachsen sind.«

»Das ist seine mächtige Mähne. Die wächst ihm nur, wenn er richtig wütend ist.«

»Und du hast kein Problem damit, dass er deinen Bruder praktisch zu Brei haut?«

Ricky dachte einen Augenblick lang darüber nach, aber er musste sich mit seiner Antwort schon zu viel Zeit gelassen haben, denn die Schakalin reichte den Kleinen auf ihrem Arm an das junge Mädchen weiter.

»Ich muss mich hier wirklich um alles kümmern«, fauchte sie Ricky an, bevor sie zu den beiden kämpfenden Männchen hinüberstapfte und über ihr Knurren hinweg brüllte: »Entschuldigen Sie bitte, Mister … äh …« Sie sah sich nach dem ältesten Jungen um, Kyle.

»Novikov«, gab Kyle bereitwillig Auskunft.

»Richtig. Mr. Novikov? Mr. Novikov?«

Der Hybride hielt inne, seine Hand noch immer an Reeces Kehle, während er den Wolf mit seinem massigen Körper weiter zu Boden drückte. Langsam blickte er zu der Schakalin hinauf, und seine Mähne bedeckte seine finsteren blauen Augen fast völlig.

»Hi.« Sie legte eine Hand auf ihre Brust. »Ich bin Antonella Jean-Louis Parker. Kurzform Toni. Toni mit ›i‹, nicht mit ›y‹. Wie dem auch sei, Ulrich Van Holtz hat möglicherweise erwähnt, dass ich heute vorbeikomme. Und das hier ist Kyle.« Sie schnipste mit den Fingern, und der Junge sprang blitzschnell an ihre Seite. »Kyle hätte wirklich gerne ein Autogramm von Ihnen, und auch wenn es mir leidtut, Ihre … Wolfsprügelei unterbrechen zu müssen, habe ich heute einen ziemlich straffen Zeitplan.« Sie tippte auf die sehr stabil aussehende Taucheruhr an ihrem Handgelenk. »Besteht denn irgendeine Möglichkeit, die ganze Sache ein wenig zu beschleunigen? Vielleicht könnten Sie ja später noch mal über den Wolf herfallen? Kyle würde das wirklich sehr zu schätzen wissen.«

Der Junge strahlte. »Das würde ich.«

Der Hybride betrachtete die Schakalin für mehrere lange Sekunden, bevor er schließlich nickte. »Zeitpläne verstehe ich.« Dann schaute er zu Reece hinunter und brüllte ihm ins Gesicht: »Zeitpläne! Lern endlich mal das Konzept!«

Novikov löste seinen Griff von Reeces Hals und kam auf seine mächtigen Beine. Als er aufrecht stand, hatte sich seine Mähne bereits wieder beträchtlich verringert, wie die Schakalin bemerkte, die ihn mit leicht zusammengekniffenen Augen ansah. Der Hybride drehte sich zu ihr um und kehrte Reece den Rücken zu. Im selben Moment schlug er nach hinten aus und verpasste Reece einen Tritt, und Rickys Bruder flog durch die Luft, bis er gegen eine der zahlreichen Säulen des Gebäudes knallte.

Ricky zuckte zusammen. Er würde wetten, dass das wehgetan hatte.

»Was soll ich unterschreiben?«

»Hol das Shirt, Kyle.« Der Junge streifte seinen Rucksack ab und zog blitzschnell ein Eishockeytrikot und einen wasserfesten Filzstift heraus. Den Farben des Trikots nach zu urteilen, war es eins der Gestaltwandler-Mannschaft aus Washington. Ein Team, dem der Hybride einst angehört hatte. Der Typ hatte schon einer Menge Teams angehört, und viele seiner ehemaligen Mannschaftskollegen hassten ihn noch heute.

Der Junge reichte dem Hybriden das Trikot und den Stift. Während Novikov unterschrieb, fragte er den Jungen: »Und, spielst du auch Hockey?«

»Nein, Sir.«

»Ehrlich? Warum nicht?«

»Weil ich gedenke, meine Brillanz für etwas Reelles und Wichtiges einzusetzen und nicht für so etwas Unbedeutendes wie Sport.«

Die Schakalin zuckte zusammen und ließ den Kopf sinken, während Novikov seinen nach oben riss.

»Wie bitte?«

»Sehen Sie, das, was mir an dem gefällt, was Sie machen«, erläuterte der Junge mit angespannter Stimme und unterstrich mit seinen Händen jedes einzelne Wort, »sind die rohe Wut und Gewalt. Ich kann das für meine Arbeit verwenden. Und während Sie vermutlich schon bald vergessen sein werden, nachdem Sie in den Ruhestand gegangen sind, was der normale Lauf der Dinge für Sportlertypen wie Sie ist, die in der Highschool für gewöhnlich am glücklichsten waren …«, er drehte sich zu seiner Teenager-Schwester um, die ihn mit einem Ein-Finger-Gruß bedachte, »… wird mein Vermächtnis über Jahrhunderte hinweg weiterleben. Die Menschen werden meine Werke studieren und sie kopieren. Meine Arbeit wird eine neue Kunstbewegung auslösen, eine neue Welle der Kreativität, geboren aus Blut, Gewalt und Wut. Und Sie … Sie, Mr. Novikov, werden mein David sein.«

»David?«

»Wie Michelangelos David? Aber stattdessen wird mein Werk den Namen Jean-Louis Parkers Novikov tragen, und es wird das großartigste Kunstwerk sein, das die Welt je gesehen hat. Und Sie … Sie, Mr. Novikov, werden meine Muse sein.«

Der Hybride blinzelte und fragte schließlich genau das, was Ricky dachte: »Wie alt bist du?«

»Elf. Aber ich lasse nicht zu, dass mein Alter mich von meiner Zukunft abhält. Nur jene mit einem schwachen Geist tun das.«

Novikov seufzte und gab dem Jungen das unterschriebene Trikot wieder zurück. »Ich wünschte, ich könnte sagen, dass du mich anwiderst, aber ich verstehe dich besser, als dir je bewusst sein wird, Junge. Also gehe hin und mach sie fertig.«

»Das werde ich. Vielen Dank!«

Er nickte erst dem Jungen zu, dann der Schakalin. »Ma’am«, sagte er, bevor er sich wieder in Richtung Eisfläche davonmachte.

Im selben Moment rief der Junge ihm jedoch nach: »Und besteht vielleicht die Chance, dass ich Sie nackt zeichnen kann?«

Novikov blieb stehen, und sein ganzer Körper zuckte ein wenig. Die Schakalin riss bei der Frage des Kindes die Augen weit auf, klatschte eine Hand auf ihren Mund und drückte den Jungen ganz fest an sich, als Novikov sich wieder zu ihnen umdrehte.

»Er macht nur Spaß«, platzte sie schnell heraus, bevor Novikov überhaupt eine Frage stellen konnte. »Er macht nur Spaß.«

Der Junge wehrte sich gegen die Schakalin, und seine gedämpften Worte klangen wie »Nein, tue ich nicht!« Die Schakalin lockerte ihren Griff jedoch kein bisschen, sondern lächelte nur. »Und vielen Dank für das Autogramm.«

Novikov nickte, grunzte, ging zurück aufs Eis und knallte die Tür hinter sich zu.

Die Frau ließ Kyle wieder los und wirbelte den Jungen mit einer Hand herum, bis sie ihm ins Gesicht sehen konnte.

»Hast du den Verstand verloren?«

»Es war doch nur eine Frage. Er sollte sich angesichts dieses Privilegs geschmeichelt fühlen. Der größte Künstler, den die Welt je gekannt hat, ist der Ansicht, sein Körper sei seine kostbare Aufmerksamkeit wert. Er sollte sich angesichts dieser Ehre vor mir verneigen.«

Die Schakalin starrte ihn mehrere Sekunden lang an, bevor sie verkündete: »Du bist ein Idiot. Und wenn du das noch mal machst oder ich von jemand anders erfahre, dass du es wieder getan hast, dann trete ich dir so in den Hintern, dass du von hier bis nach Washington fliegst.«

»Ja, aber …«

»Hast du mich verstanden?«

»Um der Wahrheit die Ehre zu geben, habe ich nicht …«

Sie packte den Jungen am Nacken und riss ihn mit einer Hand unsanft hoch. Er baumelte gut einen Meter über dem Boden und sah der Schakalin direkt in die Augen. »Hast du mich verstanden, Kyle?«, fragte sie erneut.

»Ja, Ma’am.«

»Gut.«

Sie ließ ihn los und drückte ihm das signierte Trikot wieder in die Hand, als er auf festem Boden gelandet war.

Der Teenager seufzte. »Können wir jetzt endlich gehen?«

»Wir müssen erst noch mit Ric sprechen. Pass du auf Dennis auf.«

Die Schakalin blickte zu dem kleinsten Jungen auf dem Arm des Mädchens, bevor sie sich umdrehte und Ricky anschaute. Er schaute zurück. Und lächelte.

Nach einer Weile fragte sie: »Gibst du sie mir wieder?«

Erst da fiel Ricky auf, dass er immer noch den Welpen auf dem Arm hielt, den er vor Novikovs Wutausbruch gerettet hatte.

»Oh. Tut mir leid.« Ricky reichte ihr das Mädchen. Die Kleine war eingeschlafen und hatte den Kopf auf seine Schulter gelegt, und ihre kleine Faust steckte in ihrem Mund. Sie winselte leise, als sie von einem zum anderen gereicht wurde, schlief jedoch ruhig weiter, als sie auf dem Arm der Schakalin saß.

»Danke«, sagte sie und lächelte ihn zaghaft an.

Es war vor allem dieses Lächeln und weniger ihre Höflichkeit, die ihn dazu brachte.

»Weißt du«, begann Ricky, »wenn du heute Abend noch nichts vorhast …«

Während sie mit ihrem Handy auf Ricky zeigte, fragte die Teenie-Schwester: »Bist du unser Daddy?«

Angewidert wandte sich Ricky an die Schakalin: »Gute Güte, es muss doch einen einfacheren Weg für dich geben, einen Mann loszuwerden.«

»Vielleicht, aber ich hab festgestellt, dass nichts schneller funktioniert.« Sie zwinkerte ihm zu und deutete dann mit ihrem Kinn hinter ihn. »Außerdem solltest du vielleicht mal nach deinem Bruder schauen – er blutet immer noch.«

»Ja. Ich vermute, Novikov hat eine Arterie zerfetzt – mal wieder.«

Sie blieb stehen und sah sich noch einmal zu ihm um. Dann stieß sie jedoch ein grunzendes Lachen aus und entfernte sich ohne ein weiteres Wort.

Kapitel 2

Antonella »Toni« Jean-Louis Parker beförderte ihren elf Jahre alten Bruder mithilfe ihres Fußes in das Büro. Es war allerdings kein richtiger Tritt, eher ein Schubs.

Sie hatte sich ihre dreijährige Schwester Zia auf die Hüfte gesetzt und folgte Kyle nach drinnen, während ihre fünfzehnjährige Schwester Oriana ihren fünf Jahre alten Bruder Dennis hinter sich her zerrte und dabei hysterisch lachte.

»Hör auf, Kyles unangebrachtes Verhalten zu billigen«, befahl Toni ihrer Schwester. Die beiden starrten einander an und brachen dann gleichzeitig in Gelächter aus.

»Du bist so ein Freak!«, machte sich Oriana über Kyle lustig. »Ich kann nicht fassen, dass wir wirklich verwandt sind.«

»Ich weiß wirklich nicht, was die ganze Aufregung soll«, beschwerte sich Kyle und ließ sich auf einen der Bürostühle fallen. »Es war doch nur die Bitte, ihn ihn nackt zeichnen zu dürfen.«

»Eine Bitte, die von überhaupt keinem Elfjährigen kommen sollte. Und sie sollte besser nicht noch einmal von dir kommen.«

Kyle seufzte dramatisch, wie er es gerne tat, und erinnerte Toni zum wiederholten Mal: »Ich bin Künstler, Antonella.« Was Toni an diesen Unterhaltungen mit Kyle immer am meisten nervte, war sein Tonfall. Seit seinem vierten Lebensjahr klang er wie ein fünfzigjähriger Snob, der einem Straßenhändler, der sich kaum über Wasser halten konnte, den Unterschied zwischen arm und reich erklärte. Eine Menge Leute wunderten sich darüber, dass ein so junger Mensch schon so reif und auf intelligente Weise unhöflich klingen konnte. Sie nahmen dann meistens an, dass er nur seine Eltern nachahmte. Aber in Wahrheit … hatte er diesen Tonfall ganz allein entwickelt. Genau wie seine Fähigkeiten als Bildhauer schien auch seine unhöfliche, herablassende Haltung ein Geschenk Gottes zu sein. »Ich hab keine Zeit für diese lächerlichen Regeln, die Durchschnittsmenschen wie du aufgestellt haben, um zu bestimmen, was man fragen darf und was nicht.«

»So viel Unhöflichkeit in zwei kleinen Sätzen«, bemerkte Toni.

»Es ist nicht meine Schuld, dass du meine Welt nicht verstehst.«

»Ich verstehe dich nicht?«

Machte Kyle etwa Witze? Antonella Jean-Louis Parker sollte den künstlerischen Geist nicht verstehen? Den brillanten Geist? Tonis ganzes Leben drehte sich darum, den brillanten Geist zu verstehen. Und das lag nicht daran, dass sie ihre Dissertation oder einen wichtigen Artikel für Scientific American darüber geschrieben hatte. Toni musste den brillanten Geist verstehen, weil das ihr Leben war. Es war schon seit so vielen Jahren ihr Leben, dass sie aufgehört hatte, sie zu zählen.

Und weil das nun mal ihre Familie war. Nicht nur diese vier Kinder. Toni hatte noch sechs weitere Geschwister, zehn insgesamt. Ihre Eltern pflanzten sich einfach immer weiter fort. Wie die Karnickel. Oder, besser gesagt, wie die Schakale, die sie tatsächlich auch waren. Da Schakale sich ihr Leben lang an denselben Partner banden und sich nicht von irgendwelchen Regeln eines Rudels ablenken ließen, pflanzten sie sich fort, wann immer sie wollten. Tonis Eltern hatte genau das getan, und ihr jüngster Nachwuchs, Zia und ihre Zwillingsschwester, waren zur Welt gekommen, als ihre Mutter fast fünfzig gewesen war.

Und obwohl ihr Vater, Paul Parker, nur – wie Kyle es so eloquent formulierte – »durchschnittlich« war, war ihre Mutter Jackie alles andere als das. Tatsächlich war Jacqueline Jean-Louis eine weltbekannte Geigerin. Sie war bereits auf einigen der größten Bühnen der Welt vor ausverkauften Rängen aufgetreten, hatte für königliche Familien gespielt und mehrere erfolgreiche CDs und DVDs auf den Markt gebracht, die der ganzen Welt ihr Talent bewiesen. Aber Jackie war nicht nur eine begnadete Geigerin, sie war auch ein Wunderkind gewesen. Sie war als kleines Kind schon so talentiert gewesen, dass sie bereits damals als brillant gegolten hatte.

Nur ein Wunderkind in der Familie zu haben, war schon unglaublich. Die meisten Familien würden niemals, ganz gleich, wie weit sie ihre Blutlinie zurückverfolgten, auf ein Wunderkind stoßen. Und trotzdem hatten es Tonis Eltern irgendwie geschafft, dass zehn ihrer elf Kinder als Wunderkinder betrachtet wurden. Zehn. In einer Familie. Gut, es war eine Familie von Schakal-Gestaltwandlern, aber Wandler unterschieden sich nicht von Vollmenschen, wenn es darum ging, wie viele Wunderkinder normalerweise im Stammbaum einer Familie zu finden waren.

Das Besondere an Wunderkindern war jedoch, dass sie nicht einfach nur brillant waren. Es gab eine Menge kluger bis sehr kluger Köpfe und sogar Genies auf der Welt. Was Wunderkinder von allen anderen unterschied, war ihre Hingabe. Das Geigentalent ihrer Mutter hätte nicht das Geringste bedeutet, wenn sie nicht ab dem zarten Alter von drei Jahren jeden Tag mehrere Stunden damit verbracht hätte, auf ihrem Instrument zu üben. Die Gene ihrer Schwester Oriana würden gar nichts bedeuten, wenn sie nicht jeden Morgen und jeden Abend an sechs Tagen in der Woche zum Ballettunterricht gehen und an sieben Tagen in der Woche auch noch zu Hause trainieren würde. Alle wahren Wunderkinder besaßen diese Entschlossenheit und Getriebenheit.

Gott, diese Getriebenheit. Toni konnte sich nur allzu gut vorstellen, dass manche Leute die Nase voll davon hatten, was eine Familie alles dafür tun musste, um ein Wunderkind dabei zu unterstützen, dorthin zu gelangen, wo es hinwollte. Aber Toni? Nun, Toni musste sich mit zehn von ihnen herumschlagen. Zugegeben, die Zwillinge Zia und Zoe hatten diese Getriebenheit noch nicht wirklich entwickelt. Im Moment waren sie einfach nur von Natur aus begabt. Aber der kleine Denny, der gemeinsam mit Zia versuchte, auf ihren Schoß zu klettern, hatte seine Getriebenheit bereits gefunden, obwohl er erst fünf war. Er arbeitete vor und nach dem Kindergarten stundenlang an seinen Gemälden. Gemälde, die eher aussahen wie Fotografien, weil sie so unfassbar detailliert waren. Kyle bezeichnete das natürlich nicht als »Kunst«. Stattdessen befand er: »Denny ist noch in der Entdeckerphase, in der er einfach alles nachmalt. Obwohl ich zuversichtlich bin, dass er, sofern er diese Phase in den nächsten ein oder zwei Jahr hinter sich lässt, durchaus Potenzial hat.« Für Kyle war das, als hätte er seinen Bruder als den nächsten Leonardo da Vinci bezeichnet. Und natürlich kam es den Jean-Louis-Parker-Kindern ganz und gar nicht seltsam vor, einen Fünfjährigen zu bitten, seine »Entdeckerphase« möglichst schnell hinter sich zu lassen. Wenn man mit ihnen mithalten wollte, benötigte man dieselbe Getriebenheit und dasselbe Talent.

Tragischerweise hatte Toni, die Älteste, weder das eine noch das andere. Mehr als einmal hatte sie ihre Mutter gefragt: »Ich bin nicht wirklich dein Kind, oder? Gib es einfach zu.« Worauf ihre Mutter jedes Mal geantwortet hatte: »Du hast meine Augen.«

»Aber vielleicht ist Dad nicht …«

»Du hast seine Nase, seine Füße und das lockige Haar seiner Mutter. Finde dich endlich damit ab, Süße. Du bist eine Jean-Louis Parker, ob es dir nun passt oder nicht.«

Also hatte Toni sich letzten Endes damit abgefunden, »die Durchschnittliche« in einer Familie aus Wunderkindern zu sein. Aber sie waren auch Schakale, und ältere Geschwister halfen ihren Eltern oft, die jüngeren zu großzuziehen. Es stimmte allerdings auch, dass die meisten Geschwister in Tonis Alter inzwischen ausgezogen wären, eine eigene Familie gegründet und ihre eigenen Welpen gehabt hätten. Aber da sich ihre Mutter bis zu den Zwillingen weiter fortgepflanzt hatte – bis endlich das verfluchte Wunder der Menopause zugeschlagen hatte – und sich die anderen Kinder auf ihre jeweiligen Karrieren konzentrierten, hatte es sich für Toni einfach nicht richtig angefühlt, ein eigenes Leben zu beginnen. Ihre Familie brauchte sie. Da sie die Einzige ohne wirkliches Talent war, war sie auch die Einzige, die sich Vollzeit um die anderen kümmern konnte. Sie hatte kein anderes Ziel, als dafür zu sorgen, dass ihre Geschwister – bis zu ihrem achtzehnten Lebensjahr – ihr volles Potenzial ausschöpften, ohne im Gefängnis zu landen.

Und deshalb ertrug Toni Kyles Snobismus, Orianas Unverschämtheiten, Cherises Beinahe-Agoraphobie, Freddys lähmende Panikattacken und seinen Drang, Dinge anzuzünden und zu klauen … und so weiter und so fort. All ihre Geschwister hatten so ihre Probleme, und Toni hatte es sich zur Aufgabe gemacht, dafür zu sorgen, dass sie so menschlich wie möglich blieben. Das war nicht leicht. Auch wenn sich ihre Geschwister niemals dazu herablassen würden, einen Konkurrenten um die Ecke zu bringen – da sie der Ansicht waren, dass ohnehin niemand besser war als sie oder eine echte Bedrohung darstellte –, machte Toni sich durchaus Sorgen, dass einige von ihnen Leute aus dem Weg räumen würden, die ihnen in die Quere kamen. Die sie aufhielten. Einmal hatte es ein Kind lustig gefunden, dem neunjährigen Troy, dem Mathegenie, die falsche Uhrzeit für den Beginn eines wichtigen Mathematikwettbewerbs mitzuteilen. Und der Junge hatte es noch lustiger gefunden, als ein hysterisch weinender Troy ihn am nächsten Tag aufgesucht und zur Rede gestellt hatte. Sicher. Das Heulen … wirklich sehr lustig. Nur, dass Troy nicht geweint hatte, weil er traurig gewesen war oder sich durch das Handeln des Kindes verletzt gefühlt hatte. Er hatte aus Frustration geheult. Ein Gefühl, mit dem nur sehr wenige Mitglieder aus Tonis Familie auf normale oder rationale Weise umgehen konnten. Der Junge hatte die Tränen allerdings gar nicht mehr lustig gefunden, als Troy ihn mit seinem bis zum Platzen mit fest eingebundenen Mathebüchern gefüllten Rucksack in Grund und Boden geprügelt hatte.

Aber was noch schlimmer für Toni gewesen war, war die Tatsache, dass Troy als so wichtiges Wunderkind quasi mit einem kleinen Klaps auf die Finger davongekommen war. Man hatte noch nicht einmal die Empfehlung ausgesprochen, er solle sich einer Therapie unterziehen, höchstwahrscheinlich, weil er damals an irgendeiner wichtigen Gleichung gearbeitet und seine Schule ein gesteigertes Interesse daran gehabt hatte, dass er sie löste, damit sie in den Medien damit angeben konnten, und Therapiesitzungen wären mit seinem vollen Stundenplan nur sehr schwer zu vereinbaren gewesen. Also war es an Toni hängengeblieben, ihm zu erklären, dass es keine gute Option war, jemanden aus Frustration zu verprügeln. Und diese Verantwortung ihren Geschwistern gegenüber nahm sie sehr ernst. Irgendjemand musste das schließlich tun. Gott, wenn Toni sie nicht ernstnehmen würde, dann würde Kyle ständig durch die Straßen spazieren und Wildfremde darum bitten, sie nackt zeichnen zu dürfen.

»Ich verstehe einfach das Problem nicht, Toni. Und wenn schon, dann hab ich Novikov eben gefragt, ob …«

»Halt die Klappe, Kyle.«

»Ja, aber …«

»Halt. Die. Klappe.«

»Hier geht es um meine Kunst!«, tobte Kyle. »Verstehst du denn nicht …?«

Toni, die keine Lust hatte, diese spezielle Rede zum wiederholten Mal über sich ergehen zu lassen – für sein Alter hatte Kyle eine ganze Menge Reden in petto – streckte ihre Hand nach dem Nacken des Jungen aus, doch er kletterte blitzschnell über Oriana und auf den Stuhl, der auf der anderen Seite neben ihr stand.

»Ich hör ja schon auf«, versprach er hastig. »Ich hör ja schon auf.«

Toni atmete langsam aus und wandte ihre Aufmerksamkeit dem Mann am Empfang zu, einem Rotluchs. »Könnten Sie Mr. Van Holtz sagen, dass die Jean-Louis Parkers hier sind?«

»Haben Sie einen Termin?«, fragte der Luchs und blickte noch nicht einmal von seinem Computer auf, um ihr in die Augen zu schauen.

»Ja, wissen Sie nicht mehr? Ich war vor zwanzig Minuten schon mal hier? Und hab genau die gleiche Unterhaltung mit Ihnen geführt?«

Der Luchs sah sie an und zuckte mit den Schultern. »Und?«

Toni schluckte ein entnervtes Jaulen hinunter und fauchte: »Wie ich bereits sagte, wir haben einen Termin.«

»Und Ihr Name ist?«

Das war genau der Grund, warum sie die kleineren Katzen hasste. Löwen und Tiger konnten auch lästig sein, aber sie waren nichts im Vergleich zu den Kleinkatzen. »Antonella Jean-Louis Parker.«

»Haben Sie nicht was Kürzeres?«

»Nur meine Faust«, schoss sie zurück. In dem Moment ließ Oriana ihr Handy sinken und sagte: »Mann, jetzt hol endlich Ulrich, bevor dir meine Schwester das Gesicht abreißt.«

Der Luchs seufzte und hob das Telefon ab, um den Wolf anzurufen, wegen dem sie hergekommen waren.

Oriana widmete sich wieder ihrem Handy, sagte jedoch zu Toni: »Dieser Wolf war süß.«

Toni blinzelte verwirrt. »Welcher Wolf? Ulrich?«

Oriana verdrehte die Augen und erwiderte: »Nein. Der, mit dem du im Eisstadion gesprochen hast. Der mit der Baseballkappe.«

»Oh. Der. Ja. Der war süß.« Aber nur ein Wolf. Es war nicht so, dass Wölfe etwas Besonderes oder Ungewöhnliches waren oder so. Ihre Mutter war die beste Freundin von Irene Conridge Van Holtz, ebenfalls ein ehemaliges Wunderkind. Tante Irene war eine brillante Wissenschaftlerin, ein Vollmensch und die Gefährtin von Niles Van Holtz, dem Alphamännchen des Van-Holtz-Rudels. Und da die Jean-Louis Parkers für Irene so etwas wie ihre eigene Familie waren, hatten sie eine Menge Zeit unter Wölfen verbracht. Eine Menge Zeit. Nicht, dass Toni das etwas ausgemacht hätte. Onkel Van und sein Rudel waren lustig, und die meisten Angehörigen der direkten Blutlinie der Van Holtzs waren ausgezeichnete Köche, was wiederum bedeutete, dass die Jean-Louis Parkers immer gut aßen. Aber Toni hatte nicht das Gefühl, dass es im Augenblick nötig war, noch weitere Wölfe in ihr Leben zu lassen.

»Groß«, fügte Oriana hinzu. »Nette Schultern.«

Tonis Einschätzung nach war er unnatürlich breit gewesen. So breite Schultern bei so schmalen Hüften wirkten einfach nicht richtig.

»Hübsches Lächeln.«

All diese Zähne. Strahlend weiße Zähne, die er ihr andauernd gezeigt hatte, wenn er sie angelächelt hatte. Sie persönlich hatte sein Lächeln als seltsam bedrohlich empfunden. So als würde jeder, den er traf, eine potenzielle Mahlzeit für ihn darstellen.

Aber auch wenn Toni für die meisten Männchen nicht empfänglich war – sie war auch nicht blind. Er war ein gut aussehender Wolf, aber nicht so wie die Van-Holtz-Wölfe, die sie immer an europäische Cover-Models erinnerten. Er war zu groß. Zu breit. Zu … amerikanisch. All diese Muskeln und das dunkelbraune Haar, das nur bis zu seinen mächtigen Schultern reichte. Bernsteinfarbene Augen und eine flache, breite Nase, die kaum dazu beitrug, das Dauergrinsen in seinem Gesicht weniger nervig wirken zu lassen.

»Außerdem«, fuhr Oriana fort, »schien er sich an deinem durchschnittlichen Aussehen und deiner unbezähmbaren Lockenmähne nicht zu stören.«

Toni sah ihre Schwester ganz langsam an. »Vielen Dank, Oriana.«

Ihre Schwester lächelte, ohne von ihrem Telefon aufzublicken. »Gern geschehen.«

Toni spielte ernsthaft mit dem Gedanken, Oriana das Telefon aus der Hand zu reißen, da sie allem Anschein nach noch immer die Bedeutung von Sarkasmus lernen musste, aber Ric Van Holtz betrat die Lobby, bevor sie sich die Mühe machen konnte.

»Hey, Leute. Tut mir leid, dass ich euch vorhin nicht treffen konnte. Ein kurzfristiges Meeting mit einigen Investoren.«

»Kein Problem«, versicherte Toni ihm und reichte ihm Zia, als er seine Arme ausstreckte. Ric konnte toll mit Kindern umgehen, ganz egal, welcher Gattung oder Spezies sie angehörten, und die Jean-Louis-Parker-Welpen liebte er.

»Wie ist es in der Eishalle gelaufen?«, erkundigte sich Ric und streichelte sanft mit seiner Hand über Zias Haar, als sie ihren Kopf an seine Schulter schmiegte.

»Gut.«

»Abgesehen von dem Kampf«, murmelte Oriana.

Rics Nasenlöcher blähten sich auf. Er hatte eine recht schmale Nase, aber sie konnte sich ziemlich dramatisch aufblähen, wenn er wütend wurde. »Hat Novikov dir wehgetan? Soll ich ihn umbringen lassen?«

»Das scheint mir ein wenig extrem.« Toni warf ihrer Schwester einen warnenden Blick zu, aber da die Göre ihre Aufmerksamkeit wieder voll und ganz auf ihr Handy gerichtet hatte, gab es keine Garantie dafür, dass sie ihn überhaupt gesehen hatte. »Mit Mr. Novikov war alles in Ordnung.«

»Er hat ja nicht mit uns gekämpft«, stellte Kyle klar.

»Oh.« Ric beruhigte sich sofort wieder. »Dann hat er wahrscheinlich mit Reece Reed gekämpft, da es mitten am Tag ist und Reece der Einzige zu sein scheint, der sich immer wieder mit diesem Idioten anlegt.«

»Novikov hat mein Trikot signiert, genau wie du’s gesagt hast.« Kyle hielt das Trikot hoch, damit Ric es sehen konnte.

»Gut. Ich bin froh, dass er gemacht hat, was ich ihm gesagt hab.«

»Ja«, fügte Oriana hinzu, »es ist super gelaufen, bis Kyle ihn gebeten hat, ihn nackt sehen zu dürfen.«

Ric schloss für einen kurzen Moment die Augen. »Schon wieder, Kyle? Schon wieder?«

Völlig entsetzt fragte Toni: »Oh, mein Gott, Kyle! Hast du Ric etwa auch gefragt, ob …?«

»Ich werde mich von den Sitten der Gesellschaft nicht aufhalten lassen!«

»Es sind nicht die Sitten der Gesellschaft, die uns Sorgen machen, Kyle«, erklärte Ric freundlich. »Es sind die Irren der Gesellschaft.«

»Dann willst du also sagen, dass Bo Novikov ein …«

»Nein«, unterbrach Ric ihn sofort sehr entschlossen. »Das will ich damit nicht sagen. Und auch wenn du bei mir oder Novikov in Sicherheit sein magst, bedeutet das nicht, dass das auch für den Rest der Welt gilt. Du musst einfach vorsichtiger sein.«

Kyle deutete auf Toni. »Aber dafür hab ich doch sie. Um mich vor den Irren der Gesellschaft zu beschützen.«

»Ehrlich? Darauf werde ich jetzt also reduziert?«, wollte Toni wissen. »Dein Leibwächter zu sein? Ist das mein Leben? Wird das mein Leben sein?«

»Ich würde mir keine Sorgen darüber machen, dass du den Job allzu lange ausüben musst«, bemerkte Oriana.

»Warum nicht?«

»Wie gut kannst du ihn mit deinen Stummelbeinen schon beschützen?«

Toni blickte an ihren Beinen hinunter, bevor ihr bewusst wurde, dass sie in eine lächerliche Unterhaltung verstrickt war. Mal wieder.

»Weißt du was?«, fragte Toni und stellte sich auf ihre winzigen Stummelbeine. »So faszinierend das auch sein mag, wir müssen gehen. Wir müssen unseren Flug erreichen.«

Ric blinzelte. »Euren Flug?«

»Ja. Es gibt nichts Schlimmeres, als zu versuchen, diese Meute in denselben Flieger zu bekommen, wenn wir unseren ursprünglichen Flug verpasst haben. Wir fliegen mit Standard Air.« Tonis Spitzname für Fluggesellschaften, die sich vorwiegend an Vollmenschen richteten.

Als Toni zu Ric emporblickte, sah sie, dass er sie mit einer Mischung aus Amüsiertheit und Mitleid anschaute. »Du hast noch nicht mit eurer Mutter gesprochen, oder?«, fragte er.

Toni begann sofort, sich die Stirn zu reiben. »Nein. Warum?«

»Ich glaube, es gibt eine kleine Planänderung.«

»Nein«, erwiderte Toni und schüttelte den Kopf. »Nein. Keine Planänderung. Keine verrückten Ideen in letzter Minute. Nein.« Sie war unerbittlich in dieser Sache. Nein!

Toni holte ihr Handy aus der Gesäßtasche ihrer Jeans und warf einen kurzen Blick darauf. Keine Anrufe. Von niemandem. Ihre Eltern hätten ihr doch eine Nachricht geschickt, richtig? Oder sie angerufen? Irgendwas?

Es sei denn …

Langsam blickte Toni zu Oriana hinüber.

Das jüngere Weibchen ließ sein Telefon sinken und sah sie mit nervtötendem, hämischem Grinsen an. »Oh. Stimmt ja«, begann die Göre vorsichtig. »Ich hab ja ganz vergessen, dass ich eine Nachricht von Mom für dich hab.«

»Wirklich? Du hast es vergessen?«

»Jetzt mach nicht gleich wieder so eine große Sache daraus«, erwiderte ihre Schwester und klang furchtbar gelangweilt. »Du weißt doch, wie Mom ist.«

»Mom ist im Augenblick nicht das Thema.«

»Hör mal, es ist nicht meine Aufgabe, Nachrichten zwischen dir und deiner Mutter zu übermitteln.«

»Wenn das stimmt, dann brauchst du das hier auch nicht mehr, schätze ich.«

Toni riss Oriana das Telefon aus der Hand und warf es durch den Flur, wo es gegen die Wand am anderen Ende knallte. Sie empfand große Befriedigung, als sie hörte, wie ein Teil des Geräts bei dem Aufprall zerbrach.

»Und jetzt hol’s, Hündchen«, brüllte Toni ihrer Schwester hinterher.

»Du bist so ein albernes Kleinkind!«, schrie Oriana zurück.

»Und du bist eine verwöhnte Göre!«

Ric stellte sich schnell zwischen die beiden und drehte sich zu Toni um. »Mein Wagen kann euch zu eurer Mutter bringen.«

Toni keuchte heftig, während ihre Reißzähne aus ihrem Zahnfleisch schossen und sich in ihre Unterlippe bohrten. Sie nickte. »Na schön.«

»Großartig. Großartig.« Ric drehte sich um und packte Oriana am Arm, während Zia weiter friedlich an seiner Schulter schlief. Ein Streit zwischen ihren Geschwistern störte sie oder ihre Zwillingsschwester nie wirklich. »Holen wir, was von deinem Telefon noch übrig ist, und dann rufen wir meinen Fahrer an.«

Er schob Oriana den Flur hinunter und ließ Toni ein paar Sekunden Zeit, um sich wieder zu beruhigen.

»Wow«, murmelte der Luchs hinter dem Schreibtisch. »Ihre Schwester hat recht. Sie haben wirklich sehr dürre Beine.«

Toni spielte flüchtig mit dem Gedanken, den ganzen Mist vom Schreibtisch des Luchses zu fegen, aber das würde sie nie wirklich bei jemandem tun, der nicht zu ihren Geschwistern gehörte. Aber genau das war das Schöne daran, dem Jean-Louis-Parker-Clan anzugehören: Manchmal musste man gar nichts tun, weil immer ein Bruder oder eine Schwester in der Nähe waren, die die Sache für einen erledigten.

»Das muss schwer sein«, wandte sich Kyle an den Luchs, »zu den überlegenen Katzen zu gehören, die im Laufe der Geschichte bis zurück zu den alten Ägyptern von allen angebetet und bewundert wurden. Und trotzdem sitzen Sie hier. Hinter einem Schreibtisch. Eine gemeine Drohne. Die Anweisungen von niederen Hunden und Bären entgegennimmt. Rufen Ihre Vorfahren Ihnen aus dem Jenseits zu, fauchen Sie Ihnen zu, wie enttäuscht sie von Ihnen sind? Schreien sie vor Verzweiflung auf, weil Sie trotz Ihrer edlen Blutlinie dort gelandet sind, wo Sie gelandet sind? Oder geht Ihr Hass auf das typische Elend der Katzen zurück, immer allein zu sein? Stets umherzustreifen und sich zu wünschen, einen eigenen Gefährten, eine Familie oder ein Rudel zu haben? Aber alles, was Sie haben, sind Sie selbst … und ihr jämmerlicher Job als Drohne? Bricht es Ihnen Ihr Katzenherz, so … durchschnittlich zu sein? So gewöhnlich? So … menschlich

Toni zuckte zusammen, was ihr dabei half, nicht loszulachen.

Normalerweise unterbrach sie die Egos zerstörenden Ausführungen ihres Bruders lange bevor er den Teil mit »so menschlich« erreichte, aber diesmal, bei diesem speziellen Luchs … konnte sie es einfach nicht. Was sie jedoch tun konnte, war, ihren kleinen Bruder von hier wegzubringen, bevor er mit ansehen musste, wie ein Luchsmännchen leise in seinen Starbucks-Kaffee und sein Mittagessen schluchzte, das aus einem Eiersalat-Sandwich bestand.

Denn genau das würde passieren. Ihr Bruder mochte vielleicht die Hände eines wahren Künstlers haben, aber sein Hirn … sein Hirn war das eines sadistischen Psychiaters, der Spaß daran hatte, herauszufinden, ob er seine Patienten während einer Therapiesitzung dazu bringen konnte, sich ihre eigenen Augen herauszureißen.

Toni nahm Denny auf den Arm, packte Kyle an der Hand und zerrte ihn aus dem Büro. Sie würde am anderen Ende des Flurs auf ihre Schwester und Ric warten.

»Wirst du mich jetzt anbrüllen?«, fragte Kyle sie, als sie sich von dem Büro entfernt hatten und das Schniefen des Luchses das einzige Geräusch war, das noch an ihre feinen Schakalsohren drang.

Sie lächelte ihren Bruder an.

Sicher. Sie waren typische Schabrackenschakale, was bedeutete, dass sie gegen ihresgleichen kämpften, wann immer ihnen der Sinn danach stand, aber sie waren auch eine Familie. Und man legte sich immer auf eigenes Risiko mit einer Schakalfamilie an.

»Nein, kleiner Bruder.« Sie zwinkerte ihm zu. »Diesmal nicht.«

Kapitel 3

Rickys Bruder Rory Lee saß an dem ausladenden Schreibtisch in seinem Büro und blickte zwischen Ricky und Reece hin und her. »Er ist völlig nutzlos für mich«, erklärte Rory ihm. »Nutzlos! Ich kann ihn für diesen Job heute Abend nicht gebrauchen.«

Als Ricky Lee Reeces Wunden gesehen hatte, war ihm klar gewesen, dass sie diese Unterhaltung mit ihrem ältesten Bruder Rory würden führen müssen. Das war einfach zu erwarten gewesen. Rory Lee Reed war nicht nur der Älteste, sondern auch der Verklemmteste der drei, aber er hatte es immer als seine Rolle bertachtet, sich um die beiden anderen zu kümmern – auch wenn sie seine Hilfe gar nicht nötig hatten.

Gut, man konnte argumentieren, dass Reece Reed immer jemanden brauchte, der sich um ihn kümmerte, da der Trottel es immer wieder schaffte, in lebensgefährliche Situationen zu stolpern. Die Wahrheit war jedoch, dass ihr jüngster Bruder ganz genau wusste, was er tat, und jede Minute genoss. Und Rory genoss es, so zu tun, als komme er sich ausgenutzt vor.

Und was genoss Ricky? Nun, wie sich herausgestellt hatte, genoss Ricky es, zuzuschauen, wie Rory sich aufregte, während sich Reece sehenden Auges in bescheuerte Situationen manövrierte und sich verprügeln ließ. Er fand das unterhaltsam. Wie NASCAR-Rennen und gutes amerikanisches Bier.

Reece sagte irgendetwas, und Rory sah Ricky an. »Was hat er gesagt?«

»Du hast das nicht verstanden?«

»Bei seinem verdrahteten Kiefer und solange die gerissene Arterie in seinem Hals noch verheilt? Nein.«

»Ich schon.«

»Ricky«, knurrte sein Bruder, »du nervst mich.«

»Reece meint, er könnte den Job ohne Probleme erledigen.«

»Wie denn? Sein Kiefer ist total verdrahtet! Weil du nicht dafür gesorgt hast, dass er sich nicht in Schwierigkeiten bringt, wie ich es dir gesagt hatte!«

»Ich spiele für meinen Bruder nicht den Aufp…«

»Halt die Klappe!« Rory stützte sich mit den Ellbogen auf dem Schreibtisch ab und vergrub seine Hände unter der Baseballkappe in seinem Haar. Er kratzte sich am Kopf und knurrte ununterbrochen.

Armer Kerl. Er nahm diese ganze Sache so ernst. Oder zumindest Einzelheiten davon. Ricky und Reece nahmen nur ihre Fälle ernst. Ihnen lagen ihre Klienten am Herzen und sie wollten dafür sorgen, dass sie so sicher wie möglich waren. Das war schließlich ihr Job. Spezialisten für Personenschutz. Das stand auf ihren Visitenkarten. Ehrlich, die Reed-Jungs hätten keinen anderen Beruf finden können, der besser zu ihrem Wesen gepasst hätte. Als ein anderes Mitglied ihres Rudels, Bobby Ray Smith, aus der Navy entlassen worden war, hatten er und sein bester Freund, Mace Llewellyn, eine eigene Agentur für Personenschutz gegründet. Die älteren Rudelmitglieder in Tennessee und ihre Verwandten waren zwar alles andere als glücklich über diese Idee gewesen, aber Ricky, Rory und Reece hatten schon länger das Gefühl gehabt, dass Smithtown, Tennessee, allmählich ein wenig überfüllt war, und Bobby Rays Angebot, in New York neu anzufangen, gerne angenommen. Es war eine gute Entscheidung für sie alle gewesen.

Die Geschäfte liefen für Llewellyn Security wirklich gut und weiteten sich jeden Tag ein wenig mehr aus. Obwohl die meisten ihrer Klienten Gestaltwandler waren, waren sie auch gerne Vollmenschen zu Diensten. Geld war schließlich Geld, verdammt. Und je mehr Geld sie mit den Vollmenschen und den reicheren Gestaltwandlern verdienten, desto häufiger konnten sie den Wandlern helfen, die zwar nicht genügend Geld hatten, um sie zu bezahlen, aber trotzdem verzweifelt ihre Hilfe brauchten. Was Ricky an seinesgleichen wirklich liebte, war die Tatsache, dass sie andere beschützen wollten, ganz egal, welcher Gattung oder Spezies sie angehörten. Sicher, Löwen kämpften manchmal gegen Wölfe, Wildhunde gegen Hyänen und Bären prügelten gerne auf jeden ein, aber wenn sich ihresgleichen einer echten Gefahr von außerhalb ausgesetzt sah, sei es von den Vollmenschen oder der Vollmenschen-Regierung, dann arbeiteten sie alle zusammen. Es war einfach selbstverständlich, dass alle individuellen Probleme eines Rudels oder Clans hintangestellt wurden, wenn das Überleben der Gestaltwandler weltweit auf dem Spiel stand.

Doch während sich die größeren von Gestaltwandlern geleiteten Organisationen wie die Gruppe oder KZS mit weitläufigeren Situationen befassten, die eine oder mehrere Regierungen einschlossen, waren es kleinere Unternehmen wie ihres, die sich um individuelle Fälle kümmerten. Denn je weniger Vollmenschen Beweise für die Existenz von Gestaltwandlern sahen – desto weniger Vollmenschen mussten durch tragische »Unfälle« ihr Leben lassen.

Mace Llewellyn kam an Rorys Büro vorbei. Er starrte konzentriert auf die Akte in seiner Hand und schenkte ihnen kaum einen flüchtigen Blick, bevor er ein »Hey« brummte und weiterging. Es wäre bedeutungslos gewesen, wenn Reece seinen Gruß nicht mit einem Gurgeln erwidert hätte.

Mace machte ein paar Schritte zurück und ließ seinen Blick langsam durch das Büro schweifen, bis er an Reece hängen blieb. »Was ist denn mit seinem Gesicht los?«, fragte er.

»Der Kiefer ist verdrahtet«, erklärte ihm Ricky, der nicht gerne um den heißen Brei herumredete.

»Warum ist sein Kiefer verdrahtet?«

»Kampf mit Novikov.«

Das Löwenmännchen schloss die Augen, stieß ein tiefes Seufzen aus und fragte: »Wie oft müssen wir dir eigentlich noch erklären, dass du dich vor einem großen Job nicht mit Novikov anlegen sollst?«

Reece gluckste etwas, und Ricky übersetzte: »Er hat nicht angefangen.«

»Das ist mir egal!«, brüllte der Löwe.

Ricky sah Reece an. »Das ist ihm egal.«

»Stimmt mit seinen Ohren auch was nicht?«, wollte Llewellyn wissen. »Hat Novikov ihm so oft auf den Kopf gehauen, dass er unsere Sprache nicht mehr versteht?«

»Ich versuche nur, zu helfen.«

»Nein. Du versuchst, mich auf die Palme zu bringen.«

Vielleicht ein bisschen …

Llewellyn zeigte auf Rory. »Bring das in Ordnung, Reed. Bring. Das. In. Ordnung

Nachdem der Löwe aus dem Büro gestürmt war, funkelte Rory seine beiden jüngeren Brüder an.

Ja, er sah wirklich mächtig wütend aus.

»Das ist doch keine große Sache«, versicherte Ricky. »Du musst nur einen Ersatzmann finden. Ich werde ja trotzdem dabei sein.«