Aiken, G. A. Lions - Feuriger Instinkt (New York Shape Shifters 2)

Mehr über unsere Autoren und Bücher:
www.piper.de

 

Übersetzt aus dem Amerikanischen von Karen Gerwig

 

© dieser Ausgabe: Piper Verlag GmbH, München 2020
© Shelley Laurenston 2008
© Deutsche Erstausgabe 2012
Titel der amerikanischen Originalausgabe: »The Beast in Him«
© Kensington Publishing, New York 2008
© der deutschsprachigen Ausgabe: Piper Verlag GmbH, München 2012
Covergestaltung: Cover&Books by Rica Aitzetmüller
Covermotiv: stock.adobe.com

 

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Prolog

Klar, er war betrunken. Sehr betrunken. Die Vorstellung seines Vaters von einer angemessenen Abschiedsfeier für seinen Jüngsten, bevor er für die nächsten Jahre der Regierung der Vereinigten Staaten gehörte. Doch nur weil er die letzten vier Tequilas nicht hätte trinken sollen, hieß das nicht, dass er nicht merkte, dass sie sie verfolgten.

Sie verfolgten sie immer. Ständig quälten sie sie. Soweit er wusste, blieb sie nicht einmal mehr zu Hause. Ihren Pflegeeltern war das egal, solange die Schecks weiterhin kamen. Also lebte sie meistens draußen im Wald wie ein wildes Wolfsjunges. Nur dass sie kein wildes Wolfsjunges war. Nur ein armes Kind, das das Pech hatte, seiner kleinen Schwester in die Quere zu kommen.

Er nahm ihren Geruch auf und wusste sofort, wohin sie wollten – zur Highschool. Sie würden sie unter der Tribüne finden. Dort versteckte sie sich oft. Sie konnte sich überall verstecken, wenn sie musste. Im Gegensatz zu den kräftigeren Wölfinnen war der Körperbau ihrer Art klein und drahtig, wie bei allen Wildhunden.

Bis sie es zum Sportgelände geschafft hatten, stand er schon vor der Tribüne. Er hatte keine Zeit, sie zu finden und herauszuholen; er musste die Mädchen hier aufhalten.

»Hey, Bobby Ray«, gurrte Bertha, auch bekannt als »Bertha mit den schweren Knochen«. Seine Schwester, die mit sechzehn schon eins zweiundachtzig groß war, war immer noch kleiner als Bertha. Aber sie war härter, und Bertha hatte früh gelernt, sich nicht mit Sissy Mae Smith anzulegen. Sie hatte es auf die harte Tour gelernt. Jetzt ließ sie es an den kleineren, schwächeren Omegas der Stadt aus. Dennoch schien sie es auf dieses eine Mädchen ganz besonders abgesehen zu haben. Dieses eine Mädchen ohne Schutz, ohne Familie, ohne Meute. Ein Hund unter Wölfen. Der Herr konnte grausam sein, wenn er es sich in den Kopf gesetzt hatte.

»Ich weiß, warum du hier bist, Bertha. Und ich will, dass du deine Freundinnen nimmst und gehst.«

»Ach, komm schon, Bobby Ray. Wir tun ihr nichts.« Bertha ging in die Hocke, um durch die Bretter der Tribüne zu spähen. »Ist sie da? Komm raus, Jessie Ann! Wir wollen nur hallo sagen.«

»Ich sagte, ihr sollt gehen.«

Bertha stand auf, fast genauso groß wie er, und warf die Haare zurück. »Warum bist du nicht auf deiner Party, Bobby Ray?«

»Wenn mein Daddy erst einmal anfängt, meine Brüder in den Schwitzkasten zu nehmen und ihnen zu sagen, sie seien nur am Leben, weil er sie nicht in der Wiege umgebracht hat, ist es Zeit für mich zu gehen.«

Sie kam näher. »Gehst du wirklich morgen zur Navy?«

»Hab mich schon verpflichtet, Schätzchen. Morgen steige ich in den Bus.« Und bin endlich hier weg.

»Du wirst hier fehlen«, sagte sie leise, damit nur er es hören konnte.

»Das sagt meine Momma auch.« Er legte ihr den Arm um die Schultern und führte sie zurück zum Ausgang. »Hör mal, bring du die anderen hier raus. Ich warte auf jemanden.«

»Auf wen?«

»Auf einen Freund, der mir den besten Selbstgebrannten in drei Bundesstaaten besorgt. Aber er kommt nicht, wenn er Publikum sieht. Wie wäre es also, wenn ihr zurück zur Party geht und wir uns dort treffen?«

Er zwang sich zu einem Lächeln. »Und dann machen wir unsere eigene Party.«

»Okay. Dann bis in ungefähr einer Stunde?«

»Klar!«, log er und hätte sich fast schuldig gefühlt, wenn er nicht gewusst hätte, dass sie hergekommen war, um ein Mädchen von gerade mal vierzig Kilo zu verprügeln.

Bertha küsste ihn auf die Wange und bedeutete den anderen Wölfen, ihr nach draußen zu folgen. Der ganze Haufen war schon ziemlich betrunken. Noch ein paar Drinks mehr, und sie wären alle ohnmächtig, und wenn sie am nächsten Morgen aufwachten, saß er im Bus und war für immer weg aus Smithtown.

Als ihr Geruch sich verzog, drehte sich Bobby Ray um und ging wieder auf die Tribüne zu.

»Es ist okay, Jessie Ann. Du kannst jetzt rauskommen.« Er wartete auf eine Antwort, aber es schien, als habe sie immer noch Angst. Er konnte sie riechen, also war sie hier irgendwo. »Komm schon, Jessie Ann, du weißt, dass du von mir nichts zu befürchten hast. Ich begleite dich nach Hause.« Zumindest hoffte er, dass er das konnte. Der Tequila entfaltete langsam eine ziemlich starke Wirkung.

»Verdammt, Jessie Ann, ich habe keine Zeit für so etwas.« Er ging um die Tribüne herum und kauerte sich nieder, um darunter zu schauen. Er fühlte sich ein bisschen wacklig von all dem Alkohol, deshalb stützte er sich leicht mit der Hand am Metall der Tribüne ab.

»Nicht!«

Kleine braune Hände packten seine Schultern und rissen ihn zurück. Sie schlugen beide auf dem Boden auf, als die Tribüne zusammenkrachte wie Dominosteine. Wenn er da drunter gewesen wäre, wäre er zerquetscht worden.

Die Stille nach dem ohrenbetäubenden Lärm des zusammenbrechenden Metalls betäubte ihn.

»Das warst du.« Bobby Ray blickte über seine Schulter Jessie Ann Ward an. Sie war ein süßes kleines Ding, aber ein bisschen unschuldig für seinen Geschmack. Große braune Augen, eine süße kleine Nase und volle Lippen, die alles Mögliche verhießen, von dem er sich ziemlich sicher war, dass sie es nie würde einlösen können. Sie trug die langen lockigen Haare in zwei Zöpfen, und man konnte leicht die vielen Farben sehen, die sich durch jede Strähne zogen. Alle Wildhunde hatten eine Vielzahl von Färbungen in ihrem Fell und als Mensch in den Haaren. Braun, Gold, Blond, Weiß und Schwarz – alles zusammen auf einem Kopf machte es Jessie schwer, nicht aufzufallen.

Dennoch war er scharf auf sie, seit er sie das erste Mal gesehen hatte. Doch Jessie Ann war die Art von Frau, die man sich zur Gefährtin nahm und mit der man nicht einfach nur herummachte. Und er hatte nicht vor, in dieser Stadt hängenzubleiben. Diese Stadt brauchte nicht noch einen männlichen Smith mit einer Meute bösartiger Söhne und einer Gefährtin, die nicht wusste, ob sie ihn liebte oder hasste – wahrscheinlich beides.

»Ich hätte tot sein können!«, knurrte er.

»Fahr mich nicht an!«, knurrte sie zurück und setzte sich auf. »Es war sowieso nicht für dich gedacht.«

»Nein, es war für sie. Und glaubst du, du hättest es dir je verzeihen können, wenn sie wirklich da runtergegangen wären?«

»Das wären sie nicht. Es sollte ihnen nur Angst machen. Ich habe genug davon, gejagt zu werden wie eine Gazelle.«

Er schaute sie an und sah schließlich all die Verletzungen an Gesicht und Hals, die sich wahrscheinlich auch weit über ihren Körper und die Beine zogen. Sie hatten sie wieder erwischt. Verdammt. Er versuchte wirklich, sie zu beschützen, aber er konnte nicht viel tun, und Sissy Mae pfiff ihre Wölfinnen einfach nicht zurück. Noch nicht einmal siebzehn, und sie hatte schon ihre eigene Meute. Die Mädchen ihres Alters folgten Sissy durch die Stadt, als wäre sie der weibliche Messias. Er hatte keine Ahnung, was zwischen ihnen passiert war, doch Sissy betrachtete Jessie Ann Ward unverkennbar als die Omega ihrer eigenen Meute. Das Problem war, dass Jessie Ann diese Position nicht besonders gut gefiel. Sie wehrte sich, wo die meisten Omegawölfe es über sich ergehen lassen hätten, bis es vorbei war. Doch sie war kein Wolf. Sie war ein Wildhund. Und wenn sie ihre eigene Meute gehabt hätte … aber die Wildhunde starben aus. Die jungen Erwachsenen waren von einem bösartigen Grippevirus heimgesucht worden, der nur von einem zum anderen wanderte, wenn sie verwandelt waren. Es hatte mehr als die Hälfte der erwachsenen Zuchthunde ausgelöscht, bevor ihre eigenen Ärzte die Sache in den Griff bekommen und einen Impfstoff herstellen konnten, um es auszumerzen. Der verdammte Virus hatte eine Menge ältere Großeltern hinterlassen, die Welpen aufzogen, und viele Waisen. Waisen wie Jessie Ann.

Tragischerweise starb Jessies Volk aus, genau wie die Vollblut-Wildhunde in Afrika. Was bedeutete, dass sie außer ihm niemanden hatte, der auf sie aufpasste. Und wenn er morgen erst in diesem Bus saß, hatte sie nicht einmal mehr das.

»Jessie, du musst lernen, dich um dich selbst zu kümmern.« Ohne nachzudenken, streckte Bobby Ray die Hand aus, um ihre Wange zu berühren, und sie wich vor ihm zurück, was seine Gefühle verletzte. Vor allem jetzt, wo er betrunken war. »Ich würde dir nie etwas tun.«

Sie krabbelte von ihm weg. »Das weiß ich.« Wenn sie es wusste, warum wich sie dann die ganze Zeit vor ihm zurück? Verärgert hielt er sie am Knöchel fest. »Wenn das stimmt, warum rennst du dann vor mir davon?«

»Ich renne nicht davon.« Aber sie versuchte verzweifelt, ihn von ihrem Bein abzuschütteln.

»Dann hör auf, so einen Aufstand zu machen!«, blaffte er sie an. Als sie es nicht tat, riss er sie zu sich heran und schaffte es irgendwie, sie direkt auf seinen Schoß zu ziehen.

Sie schnappte überrascht nach Luft, die Arme um seinen Hals, die Schenkel zu beiden Seiten seiner Hüften. Für so ein kleines Ding fühlte sie sich wirklich gut an, wo sie war. Er legte die Hände an ihre Hüften. Bobby Ray wusste, dass er sie von sich herunterschieben sollte, aber alles, was er wollte, war, sie noch näher an sich zu ziehen.

Sie sah in sein Gesicht herab, und diese braunen Augen verschlangen ihn auf der Stelle. Ja, er wusste es, wenn eine Frau ihn wollte, und zu seiner unendlichen Überraschung wollte ihn Jessie Ann Ward. Er sah, wie sie ihren Mut zusammennahm; dann kam sie näher, ihre Lippen kamen auf seine zu. Er spürte ihren süßen Atem an seinem Mund, und er konnte sich lebhaft vorstellen, wie heiß der Kuss sein würde. Er wusste, dass sie wundervoll schmecken und sich auf ihn einlassen würde wie niemand je zuvor.

Er wusste auch, dass sie zu küssen das Dümmste wäre, was er tun konnte. Zu betrunken, um seine Gesten richtig zu dosieren, schubste er sie also von seinem Schoß und zuckte zusammen, als sie hart auf dem Boden aufschlug.

Bobby Ray fuhr sich mit den Händen durchs Haar. Irgendwann morgen würden all diese Haare weg sein. »Wir … wir können nicht.«

»Wir können was nicht?«, knurrte sie, während sie sich aufrappelte. »Du hast mich geschnappt!« Sie stand auf, und er sah, dass sie eines ihrer Star-Wars-T-Shirts trug. Sie hatte bestimmt zehn davon, und zehn Jäger-des-verlorenen-Schatzes-Shirts. Ein echter Sonderling, diese Jessie Ann.

»Sei nicht sauer, Jessie Ann. Es ist nicht …«

»Vergiss es.« Sie sah auf die kleine Uhr an ihrem Handgelenk. Sie hatte es irgendwie mit der Uhrzeit, was er faszinierend fand, denn niemanden sonst in der Stadt interessierte das. »Ich bin mit meinen Freunden bei Riley’s verabredet.« Eine Comic-Buchhandlung in der nächsten Stadt.

»Ich gehe mit dir.« Er wollte nicht, dass sie allein da draußen unterwegs war.

»Nein, ich brauche dich nicht.« Sie spuckte es ihm praktisch ins Gesicht; dann schnappte sie sich ihren riesigen Rucksack voll mit ihren seltsamen Büchern und Papieren und hievte ihn sich auf die Schultern. Er hatte keine Ahnung, wie dieses kleine Ding es schaffte, diesen Rucksack herumzuschleppen.

»Es ist zu gefährlich für dich, um diese Uhrzeit allein dorthin zu gehen.«

»Ich treffe mich mit meinen Freunden.« Ihre Freunde. Alle männlich. Er konnte oft ihren Geruch wahrnehmen, der noch an ihr klebte. Er hatte sie einmal gesehen, als er und einer seiner Kumpel aus einer Laune heraus zur Comic-Buchhandlung gegangen waren. Sie hatte dort im hinteren Bereich mit fünf anderen Typen ein Spiel gespielt, das mit einer Tafel, Papier und einem vieleckigen Würfel zu tun hatte. Er hatte das Gefühl gehabt, dass es um Drachen ging, und ungefähr zu diesem Zeitpunkt hatte Bobby Ray das Interesse verloren. Drachen, Schwerter, Feen – das ganze Zeug fand er ziemlich dumm. Aber es hatte ihm nicht gepasst, dass sie mit all diesen vollmenschlichen Jungen zusammen war. Jetzt gefiel es ihm noch viel weniger.

Sie wandte sich zum Gehen, blieb aber stehen und sah über die Schulter zu ihm zurück. »Viel Glück, Smith. Du weißt schon, für morgen. Du wirst großartig sein.« Dann rannte sie davon. Er machte sich nicht die Mühe, ihr zu folgen. Wildhunde waren verflixt schnell, und er war viel zu betrunken, um mitzuhalten.

Stattdessen legte sich Bobby Ray rückwärts auf den Boden, schloss die Augen und stellte sich vor, wie viele Stunden Schlaf er wohl brauchte, um wieder auf den Damm zu kommen. Natürlich machten ihn all die Träume über eine kleine Hündin mit unschuldigen Augen und einem verruchten Mund nur fertig und ließen ihn wünschen, die Dinge lägen anders. Taten sie aber nicht. Nicht, bevor er aus Smithtown heraus war und sein Leben ein für alle Mal änderte.

Denn vielleicht, nur vielleicht, hatte er dann irgendwann einer draufgängerischen kleinen Wildhündin, die die Träume und das Herz eines Mannes heimsuchen konnte, etwas zu bieten.

Sechzehn Jahre später

Kapitel 1

»Also, wie schlimm ist es?«, fragte Smitty und reichte Mace Llewellyn einen Becher heißen Kaffee.

»Schlimm. Richtig schlimm. Ich kann nicht schlafen. Ich esse kaum noch. Ich habe furchtbare Angst, dass sie mitten in der Nacht kommen und das Haus niederbrennen.« Er schüttelte den Kopf und nippte an seinem Kaffee, unfähig, weiterzusprechen.

»Wie lange noch?«

Mace holte tief Luft. »Noch einen Monat. Aber sie hat davon gesprochen, nicht zurückzugehen. Vor ein paar Monaten dachte ich, das würde mich glücklich machen; aber jetzt nicht mehr. Es jagt mir eine Heidenangst ein.«

Smitty verzog das Gesicht. »Kannst du denn gar nichts tun?«

Als sein Freund nur den Blick abwandte, schubste ihn Smitty mit der Schulter. »Gib’s zu, Mann. Was hast du getan?«

»Du verstehst das nicht«, stellte Mace resigniert fest. »Ich musste etwas tun. Ich muss nicht nur an uns denken, sondern auch an das Baby.«

»Was hast du getan?«

Er konnte Smitty nicht in die Augen schauen und antwortete: »Ich habe ihren Vater angerufen.«

»Und?«

»Sie rufen sie nächste Woche in den Dienst zurück.« Er schüttelte den Kopf. »Ich musste etwas tun, Smitty. Es lief aus dem Ruder.«

»Ich verstehe, Mann.«

»Nein, tust du nicht. Sie hat Freunde gegen Freunde aufgehetzt, Nachbarn gegen Nachbarn, Frauen gegen ihre Männer. Männer gegen ihre Tennistrainer. Sie hat bei Saks in der Fifth Avenue angefangen, sich zu prügeln. Wenn ihr langweilig ist – dann habe ich Angst um diese Welt.«

Smitty trank seinen Kaffee und staunte darüber, wie ein Cop im Mutterschaftsurlaub eine ganze Stadt auf Long Island zerstören konnte. Kurz bevor bei Dez die Geburt anstand, hatte Mace sie in ein riesiges Haus in Northport gesteckt und gehofft, dass es ihr so gut gefiel, dass sie es sich noch einmal überlegte, ob sie wirklich in Brooklyn wohnen und – was noch wichtiger war – täglich ihr Leben als New York City Police Detective aufs Spiel setzen wollte. Doch bald nachdem das Baby auf der Welt war, hatte Dez angefangen, sich seltsam zu verhalten. Sie sprach nie über die Arbeit, und Mace kam nach Hause und fand eine fertig gekochte Mahlzeit vor und eine lächelnde Ehefrau, die nur zu gern jeden seiner Wünsche erfüllte. Dann begannen die langen Spaziergänge in der Nachbarschaft mit dem Baby und den Hunden. Wenn Dez nach Hause zurückkam, waren dreißigjährige Ehen beendet. Tennistrainer schossen oder schlugen im Country Club um sich. Wenn Mace sie danach fragte, sagte Dez nichts, sondern bot ihm nur ein Stück selbstgebackenen Zitronen-Baiser-Kuchen an. Ungefähr zu dieser Zeit hatte der Mann aufgehört zu schlafen.

»Weiß sie es?«

»Ich weiß nicht. Sie wollten sie heute anrufen, ihr das Wochenende Zeit geben und sie am Montag wieder einsetzen – aber ich habe mich noch nicht getraut, daheim anzurufen.«

Smitty machte seinem Freund keinen Vorwurf. Natürlich waren sie zusammen Navy SEALs gewesen, hatten gemeinsam in Feuergefechten gestanden, waren in fremde Länder einmarschiert und hatten alles getan, was ihre Regierung von ihnen verlangt hatte. Aber kein einziges Mal hatten sie eine Furcht verspürt, die der glich, wenn einen Desiree MacDermot-Llewellyn mit einem Lächeln fragte, ob man Salz für seine Kartoffeln wollte.

»Na ja, zumindest haben wir noch ein paar Stunden hier.«

Mace trank seinen Kaffee aus. »Gott sei Dank. Ich kann nicht nach Hause … Sie hat mir gestern Abend Rinderschmorbraten gemacht.« Er zerquetschte den leeren Kaffeebecher. »Unmenschlich. Die Frau ist unmenschlich.«

Smitty trank seinen eigenen Becher leer und warf ihn in den Mülleimer. Er schaute auf die Bildschirme. Sie hatten an allen Stellen, die ihnen eingefallen waren, Kameras angebracht. Das war bisher ihr größter Auftrag, und Smitty wollte, dass er störungsfrei über die Bühne ging. Bisher hatte das Team mindestens vierzehn Leute aufgehalten, die versucht hatten, sich auf die Party zu schleichen. Als Mace ihm ein paar Monate zuvor gesagt hatte, dass man ihnen einen Job als Party-Security angeboten hatte, war Smitty fast in die Luft gegangen. Sicherheitsdienst bei einer Party oder einem Rave war etwas für Typen, die vorbestraft waren und deshalb keine Cops werden konnten. Es war sicher nichts für das gut bewaffnete Team, das Smitty und Mace zusammengestellt hatten, seit sie ihre Firma gegründet hatten. Dann hatte er gehört, wer die Party schmiss. Das war nicht irgendeine schwachsinnige Veranstaltung, sondern der Traum jedes Computerfreaks. Die wichtigsten Player im Computergeschäft – von Millionären bis zu Milliardären – aus dem ganzen Land kamen schon seit fünf Jahren zu diesen Partys. Hier eingeladen zu werden konnte man schon fast in seinen Lebenslauf aufnehmen. Sogar Smitty, der sich einen Dreck um Computer scherte, wenn er nicht gerade eine E-Mail verschicken oder sich einen Porno herunterladen wollte, kannte die Prominenz, die der Sicherheitsdienst zu beschützen hatte.

Innerhalb von ein paar Tagen hatte es sich von einem »Schwachsinnsjob, den wir machen müssen« zu einem Alle-Mann-an-Deck-Event entwickelt. Zum Glück hatten sie jetzt genug Leute – beim Militär geschulte Gestaltwandler, die sich ein neues Leben in Zivil aufbauen wollten. Bisher hatten sie nur drei Vollmenschen eingestellt, und die waren Dez’ beste Freunde.

»Wir gehen besser wieder rein.« Mace drückte die Hintertür auf. »Alles klar, Jungs?«, fragte er die zwei Männer und eine Frau, die die Bildschirme überwachten und über Kopfhörer engen Kontakt mit dem ganzen Team hielten.

»Yup«, antwortete die Frau, deren goldenen Leopardenaugen nichts entging, während sie rasch durch die Kanäle schaltete.

»Gut.« Mace knallte die Tür zu, nachdem Smitty herausgesprungen war, und die zwei machten sich wieder auf den Weg zurück zur Party.

Sie überprüften kurz die Security am Haupteingang und gingen dann ins Gebäude, ein vierstöckiges Sandsteinhaus, das der Firma gehörte, die sie beauftragt hatte. Es war keine große Firma, aber anscheinend ziemlich mächtig. Spezialisten für Computer- und Datenbanksicherheit oder so etwas. Um ganz ehrlich zu sein, war es Smitty ziemlich egal. Ihr Geld stank nicht, und sie hatten viel davon.

Smitty und Mace betraten den Hauptsaal und sahen sich um.

Diese Leute wussten wirklich, wie man eine Party schmiss. Das war keine reine – und langweilige – Abendveranstaltung. Das war eine Geek-Party in n-ter Potenz. Hardcore-Technomusik, altmodische Videospiele an den Seiten des Raumes, eine wahnsinnige Menge an Essen und Alkohol – alles kostenlos – und heiße Kellnerinnen, die angezogen waren wie diese verwirrenden japanischen Trickfilm-Mädchen. Er hatte in seinem ganzen Leben noch nie so viele Schulmädchenkostüme gepaart mit Strapsen gesehen. Ja, diese Leute kannten ihr Publikum.

»Smitty?«

Smitty wandte sich seinem Geschäftspartner zu.

»Das ist Sierra Cohen. Miss Cohen, das ist mein Geschäftspartner Bobby Ray Smith.«

Smitty schüttelte der Frau die Hand und taxierte sie gleichzeitig. Lecker. Schakal. Es gab nicht viele Schakale auf der Welt, aber die wenigen, die er kennengelernt hatte, waren verdammt süß.

Mit seinem charmantesten Lächeln fragte Smitty: »Das ist also Ihre Firma, Miss Cohen?«

»Oh? Nein, nein. Ich bin nur eine hart arbeitende Angestellte. Die Besitzer fühlen sich in der Öffentlichkeit nicht so wohl. Ich bin sozusagen das Gesicht des Unternehmens.«

»Ich kann mir vorstellen, warum, Schätzchen.«

Sie lachte kehlig und kam einen Schritt näher. »Ich muss sagen, Mr. Smith …«

»Smitty, Schätzchen. Alle nennen mich Smitty.«

»Smitty, ich muss sagen, ich habe mich sehr gefreut, als ich sah, dass … äh … unsere Art eine Sicherheitsfirma betreibt. Ich weiß, dass meine Arbeitgeber sich viel sicherer mit Ihrem Team fühlen als mit den Vollmenschen, die wir normalerweise für diese Veranstaltung beauftragen.«

»Na ja, wir stehen für alle Sicherheitsbedürfnisse zur Verfügung, die Sie haben. Für alle Ihre Bedürfnisse, um genau zu sein.«

Er musste sich auf die Innenseite der Wangen beißen, um nicht zu lachen, als er sah, wie Mace angewidert die Augen verdrehte. Bevor Detective MacDermot des Weges gekommen war, hätte es einen hässlichen Streit zwischen den beiden Freunden gegeben, wer diese kleine Süße zuerst ins Bett bekam. Aber jetzt, wo der eingebildete Löwe die hübsche großbrüstige Polizistin geheiratet hatte, war der arme Smitty ganz allein.

»Das ist sehr gut zu wissen. Ich bin mir sicher, dass es heute Nacht noch etwas geben wird, worum Sie sich kümmern können.«

»Könntet ihr zwei eure Zuneigungsbekundungen vielleicht unterlassen, bis der Job erledigt ist?«, unterbrach Mace sie.

»Achten Sie nicht auf ihn, Schätzchen. Er ist verheiratet.«

Mace knurrte, und Sierra sah ihn verwirrt an. »Verheiratet? Warum?«

»Weil meine Schwester sich deshalb am liebsten selbst in Brand gesetzt hätte.«

Smitty lachte, denn er erinnerte sich noch deutlich daran, wie Missy Llewellyn die gesamte Hochzeitszeremonie hindurch geknurrt und die Zähne gefletscht hatte. Dann hatten Sissy Mae, Dez und Ronnie Lee, Sissys beste Freundin und Stellvertreterin, den ganzen Tag damit verbracht, Missy zu ärgern. Es war wirklich ein Spaß gewesen zuzusehen.

»Meine Arbeitgeber stehen auf heiraten«, fügte Sierra abwesend hinzu. »Heiraten und Welpen.«

»Mögen wir unsere Welpen und Junge nicht alle?«, fragte Mace, obwohl er nicht aussah, als interessiere ihn ihre Antwort wirklich.

»Klar. Aber sie mögen ihre Welpen wirklich. Wenn ihnen jemand zu nahe kommt, werden sie echt nervös

Smitty runzelte die Stirn. »Wölfe?«

Sierra schüttelte den Kopf. »Nein.« Sie drehte sich um und nickte in Richtung eines riesigen Türdurchgangs. »Wildhunde.«

Überrascht sah Smitty, wie Sierras Arbeitgeber den Raum betraten. Es mussten ungefähr zehn von ihnen sein, und er nahm an, dass das nicht die ganze Meute war. Sie hätten ihre Welpen nicht allein gelassen, außer in der Obhut von anderen Hunden, denen sie vertrauten.

Ihr Anblick erinnerte ihn augenblicklich an eine kleine Hündin, die er einmal gekannt hatte. Und genau wie sie waren sie nicht so groß wie die anderen Arten von Gestaltwandlern. Tatsächlich waren Wildhunde die einzige Rasse, die sich in ein kleineres Tier verwandelte. Als Mensch waren die Männer normalerweise nicht größer als eins achtzig und die Frauen um die eins vierundsiebzig. Sie waren drahtig und schlaksig, und daraus, wie sie sich bewegten, schloss Smitty, dass sie um einiges stärker waren, als sie aussahen.

Eine weitere Wildhündin stürmte durch die Tür und kam schnurstracks auf Sierra zu. Sie war umwerfend – eine Asiatin mit mandelförmigen braunen Augen und vollen, sexy Lippen. Ihre dunklen Haare reichten ihr bis zur Taille, und sie strahlte Sexappeal aus.

Leider war sie markiert. Smitty konnte es aus einer Meile Entfernung an ihr riechen.

»Sierra, du musst auf die Bühne«, sagte sie mit einem ländlichen Akzent, den er außerhalb seiner Meute schon lange nicht mehr gehört hatte.

Sierra nickte. »Ich bin dran.« Ihre Hand streifte Smittys Arm, um ihm zu verstehen zu geben, dass sie zurückkommen werde.

Als sie weg war, richteten sich dunkelbraune Augen auf ihn und Mace. »Die Herren.«

»Ma’am«, antwortete Smitty. »Wie geht’s Ihnen heute Abend?«

Die Frau hob eine Augenbraue. »Machen Sie sich über meinen Akzent lustig?«

»Nein, ich dachte, Sie machen sich über meinen lustig.«

Ihr Gesichtsausdruck änderte sich rasch, und sie lächelte. »Wo kommen Sie her?«

»Tennessee.«

Sie deutete auf sich. »Alabama.«

»Wie schön, Sie kennenzulernen, Alabama.«

Sie schüttelten sich die Hände und lachten, während Mace aussah, als wollte er gleich aus dem nächsten Fenster springen.

»Ich bin Maylin. Aber alle nennen mich May.«

»Bobby Ray Smith. Wir kümmern uns heute Abend um die Sicherheit.«

»Oh, stimmt. Die Sicherheitsfirma, die von Gestaltwandlern geführt wird. Ich muss sagen, ich war recht überrascht, einen Smith so weit im Norden zu finden. Ich bin selbst aus der Nähe von Smithburg, und ich hätte nie gedacht, dass ihr je die Mason-Dixon-Linie überqueren würdet.«

»Tja, zu viele Alphamänner und nicht genug Revier. Dachte mir, es ist Zeit zu sehen, was es sonst noch da draußen gibt.«

Sie sah zu Mace hinüber. »Ihre Familie wird nicht gerade froh darüber sein, dass Sie mit einer Katze zusammenarbeiten.«

»Sie erdulden ihn besser, als man meinen sollte.«

May wollte noch etwas sagen, unterbrach sich aber, als die Musik ausging und Sierra die Bühne im vorderen Teil des Raums betrat.

»Hallo zusammen. Ich bin Sierra Cohen.« Rufe und Pfiffe folgten ihrer Vorstellung, und Sierra tat sie lachend mit einer Handbewegung ab. »Ich bin die stellvertretende Werbeleiterin. Und ich möchte Ihnen allen danken, dass Sie heute Abend hier sind.«

Sierra schwadronierte noch eine Weile, und May nahm zwei Gläser Champagner von einem vorbeigetragenen Tablett. Sie bot Smitty eines an, aber er winkte ab. »Sorry. Bin im Dienst. Muss einen klaren Kopf bewahren.«

»Ich dachte, Wölfe müssten sich nur von Tequila fernhalten.«

»Wenn er Tequila getrunken hätte«, brummelte Mace, »würden Sie ihn inzwischen ohnmächtig auf der Tanzfläche finden.«

Smitty warf ihm einen wütenden Blick zu. »So, du hast also beschlossen, doch etwas zum Gespräch beizutragen?«

Auf der Bühne erhob Sierra die Stimme. »Also lassen Sie mich Ihnen ohne lange Vorreden die Geschäftsführerin von Kuznetsov Security Systems vorstellen … Jessica Ward.«

Smitty riss den Kopf herum und sah Jessie Ann auf die Bühne gehen, als gehöre sie ihr. Vielleicht stimmte das auch.

Der Applaus, den Sierra bei ihrer Eröffnungsrede erhalten hatte, war nichts im Vergleich zu dem, wie Jessie Ann empfangen wurde. Es klang, als wären sie bei einem Rockkonzert.

Sie sah der Jessie Ann aus seiner Erinnerung, die nur aus schlaksigen Gliedmaßen und einer Menge Blutergüssen bestanden hatte, überhaupt nicht mehr ähnlich. Sie hatte endlich ein bisschen zugenommen, was ihr perfekt stand, da es ihr ein paar sexy Kurven verlieh. Sie hatte sich die Haare schneiden lassen, sodass sie jetzt bis knapp auf ihre Schultern reichten, hatte sie geglättet und in einer einzigen Farbe gefärbt – dunkelbraun. Sie hatte auch keine Jeans und Science-Fiction-Shirts mehr an. Stattdessen trug sie ein einfaches blaues Seidenkleid mit winzigen Trägern, die es gerade noch hielten, und hatte Dreizehnzentimeterabsätze an den Füßen. Sie sah reifer aus und elegant, ganz anders als die Jessie Ann, an die er sich erinnerte. Er bedauerte beinahe den Verlust dieser besserwisserischen Streber-Jessie-Ann. Er hatte ihre Ecken und Kanten und ihr seltsames Benehmen immer gemocht. Es unterschied sie von allen anderen um sie herum. Jetzt sah sie aus wie jede andere wichtige Geschäftsführerin – schön, aber durchschnittlich.

Jessie Ann stellte sich vors Mikro und winkte der brüllenden Menge zu.

Als sie sich ein wenig beruhigten, sagte sie: »Es sind die Schuhe, oder?« Dann drehte sie ihren Fuß ein wenig, damit sie ihn von der Seite sehen konnten.

Nun wurde die Menge sogar noch wilder. Ganz offensichtlich kannte sie ihre Wirkung auf diesen Haufen von männlichen Geeks. Doch Smitty sah auch die Raubtiere im Raum, die sie beobachteten – während sie ihre verdammte Arbeit hätten tun sollen.

Jessie wedelte wieder mit den Händen. »Okay, okay. Hört zu, ich will euch nicht lange aufhalten. Denn dies hier ist eine Party. Aber ich wollte Sierra zustimmen und jedem Einzelnen von euch danken, dass ihr heute hier seid. Diese Party wird jedes Jahr wilder und besser, und das ist euch zu verdanken. Wie üblich geht jeder Cent, den wir zusammenbekommen, an die Kuznetsov-Stiftung, und das ganze Geld soll Waisen und Pflegekindern helfen, ein liebevolles Zuhause zu finden. Abgesehen davon …«

Ein blonder Wildhund schlich sich an Jessie Ann heran und unterbrach sie. Als er anfing, ihr ins Ohr zu flüstern, stand für Smitty fest, dass er den drahtigen kleinen Bastard nicht leiden konnte.

Jessie neigte sich zurück, die Augenbrauen hochgezogen. Smitty erinnerte sich sehr gut an diesen hochmütigen Gesichtsausdruck.

»Ist das wirklich nötig?«, fragte sie.

Der Mann nickte, und sie seufzte und wandte sich wieder dem Mikro zu.

»Phil hier bittet darum, dass diejenigen, die heute Abend unseren Spieleraum benutzen, wenn sie verlieren, bitte nicht die Maus, den Controller oder die Karten durch den Raum werfen. Und diejenigen, die gewinnen, bitte tanzt nicht um den Verlierer herum und singt: ›Ich habe gewonnen. Du bist ein Verlierer.‹« Die Menge brach in Gelächter aus, und Jess schüttelte mit einem gutmütigen Lächeln den Kopf. »Und jetzt wünsche ich euch allen einen tollen Abend und vielen Dank.«

Die Menge brach in Applaus aus, und Jessie Ann stolzierte von der Bühne.

May wandte sich wieder zu ihm um. Ein Glas Champagner war leer, das andere halbvoll. »Das ist unsere Alpha.«

»Eure Alpha?« Jessie war jemandes Alpha? Smitty konnte sich Jessie schon schwer genug als Geschäftsführerin vorstellen, aber noch viel weniger als Alpha einer Meute. Natürlich waren sie Hunde. Ein Haufen Hunde war wahrscheinlich viel einfacher zu führen als Wölfe.

»Yup, das ist sie jetzt seit fast sechzehn Jahren.«

Das konnte nicht sein. Vor sechzehn Jahren war sie selbst kaum sechzehn gewesen. Und bis auf Jessie hatte es keine Wildhunde in Smithtown gegeben.

»Sind Sie sicher? Jessie Ann müsste da ja noch in der Schule gewesen sein.«

May verschluckte sich fast an ihrem Champagner. »Wenn Sie ein bisschen Verstand haben, mein Wolfsfreund, dann nennen Sie sie nicht Jessie Ann.«

»Aber ich habe sie immer Jessie Ann genannt.«

Mace sah ihn an. »Du kennst Jessica Ward?«

»Ich bin mit ihr zur Schule gegangen. Sissy Mae hat sie mehr als einmal zerbissen.« Zu May sagte er: »Aber ich würde das lieber nicht erwähnen, wenn möglich.«

»Na, so was«, kicherte sie. »Warum wohl?«

»Warte.« Mace wandte sich ihm zu. »Du kennst Jessica Ward?«

»Warum sagst du das so? Ich kenne viele Leute!«

»Ja, aber sie sind nicht Jessica Ward.«

»Was zum Teufel soll das heißen?«

»Ich will damit nur sagen, Smitty – sie ist nicht ganz deine Liga.«

In seiner Wolfsehre angegriffen, blaffte Smitty zurück: »Zufällig war dieses kleine Mädchen mal ziemlich verknallt in mich.«

Mace prustete. »Ja, klar. Das kann ich mir vorstellen – in einem Paralleluniversum.«

Bevor die beiden Männer aufeinander losgehen konnten, arbeitete sich die Frau, von der sie sprachen, durch die tanzende Menge zu May vor.

»Wie war ich?«, fragte sie.

May hob den Daumen und reichte ihr das beinahe leere Glas Champagner. Jessie Ann leerte es vollends und stellte es auf das Tablett einer vorbeikommenden Kellnerin.

Sie sah Mace an und lächelte überrascht. »Mace Llewellyn!«

»Hi, Jessica.«

»O mein Gott! Seit wann bist du draußen?«

»Seit über einem Jahr.«

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und umarmte ihn kurz, woraufhin Smitty seine Augen zusammenkniff. »Ich bin so froh, dass es dir gut geht! Dir geht es doch gut, oder?«

»Ja. Sehr gut, um genau zu sein.«

»Es freut mich so, das zu hören. Ich habe gerade vor ein paar Wochen deine Schwester bei einem Wohltätigkeitsball gesehen, aber sie hat nicht erwähnt, dass du zu Hause bist. Um genau zu sein, hat sie dich überhaupt nicht erwähnt.«

Maces Antwort war ein Lachen.

Jess lachte auch und schüttelte den Kopf. »Ah. Ich sehe, da hat sich wenig verändert.« Sie warf Smitty einen Blick zu und wollte schon gehen. Dann blieb sie stehen, schaute zurück, und ihre Augen wurden groß.

»Ach, du meine Güte … Bobby Ray?«

»Jessie Ann.«

»Wow. Sieh dich an!« Sie trat vor ihn hin und umarmte ihn kurz und ziemlich unbefriedigend. »Ich fasse es nicht! Du siehst toll aus!«

»Du auch.«

»Wie ich sehe, ist dein Körper inzwischen in dein Ego hineingewachsen.«

Zumindest May hatte den Anstand, ihr Lachen zu unterdrücken. Im Gegensatz zu Mace, der es durch den ganzen Raum schallen ließ. Verräterische Mistkatze.

»Yup, das ist er.«

»Du bist zu den …« – sie schnippte mit den Fingern und versuchte sich zu erinnern – »… Marines gegangen? Stimmt’s?«

Mace lachte noch mehr.

»Zur Navy.«

»Richtig. Tut mir leid. Es ist ziemlich lange her.«

»Das merke ich.«

»Und warum bist du hier?«

Smitty knirschte mit den Zähnen, antwortete aber höflich: »Ich arbeite mit Mace zusammen. Uns gehört eine Sicherheitsfirma, die sich um deine Party kümmert.«

»Das ist nett.« Aber sie schien es nicht ernst zu meinen oder sich auch nur dafür zu interessieren. Ihre Augen hatten schon begonnen, den Raum abzusuchen.

Der Wildhund von der Bühne drückte ihr ein Glas Champagner in die Hand.

»Hatte ich recht mit den Schuhen?«, fragte er mit einem breiten Lächeln.

»Hör auf mit den Schuhen.«

»Glaubst du, du kannst damit tanzen?«

»Natürlich. Warum?«

»Ich will dich zu Don Lester hinüberschwingen.« Der Milliardär? »Mal sehen, ob wir ihn ins Boot holen können.«

»Warum? Wir essen nächste Woche mit ihm zu Abend.«

»Ja, aber ich will es jetzt machen.«

»Warum machst du es nicht selbst?«

»Erstens, weil es dämlich aussehen würde, wenn ich allein tanze. Und zweitens mag er dich

»Wenn du nicht seine Frau beleidigt hättest …«, brummelte sie und stürzte ein halbes Glas Champagner hinunter.

»Das war ein Versehen. Ich wünschte, ihr würdet nicht ständig darauf herumreiten.«

Jess reichte May ihr Glas, die es prompt leerte. Es schien, als seien die Hunde nicht zimperlich, was das Teilen anging.

»Mace, wir sprechen uns später. Ich glaube, ich kann euch ein bisschen Arbeit verschaffen.«

»Klingt super.«

Braune Augen richteten sich auf ihn, und Jessie beugte sich wieder vor und umarmte ihn flüchtig. »Es war toll, dich wiederzusehen, Bobby Ray. Wir sollten in Kontakt bleiben.«

Doch bevor er überhaupt darüber nachdenken konnte, ob es sich lohnte, sie um ihre Nummer zu bitten, tanzte sie schon mit einem dahergelaufenen Wildhund, um ihn bei einem Geschäft ins Boot zu holen.

May schenkte ihnen beiden ein kurzes Lächeln, bevor sie sich zum Rest ihrer Meute aufmachte.

Mace nickte. »O ja, Mann. Sie steht voll auf dich.«

Er schaute seinen Freund finster an und knurrte: »Ich wusste, ich hätte dir damals, als du nach dem Feuergefecht im Krankenhaus lagst, das Kissen aufs Gesicht drücken sollen.«

 

Der Rest des Abends verging ereignislos und langsam. Furchtbar langsam. Smitty wollte nichts weiter als nach Hause und ruhig und in Frieden schmollen. Stattdessen ertappte er sich dabei, dass er, statt seine Arbeit zu tun, Jessie Ann beobachtete, wie sie sich unter ihren Gästen bewegte, plauderte und Kontakte knüpfte. Zum Glück taten seine Mitarbeiter ihre Pflicht, und es gab keine Probleme. Für die Firma war der Abend ein voller Erfolg. Smitty dagegen konnte ihn irgendwie nicht genießen. Er schlug sogar das unverhohlene Angebot der heißen kleinen Schakalin ab. Ein Angebot, das er normalerweise nur zu gern angenommen hätte.

Der letzte Bus machte sich auf den Rückweg zum Büroparkplatz, und nur er und Mace blieben zurück.

»Warum grinst du?«, fragte Smitty und lehnte sich an sein Auto.

»Ich grinse, weil ich zufrieden bin. Der Abend ist perfekt gelaufen. Ich habe ein paar Kontakte für neue Jobs, lukrative Jobs, und meine Frau fängt am Montag wieder an zu arbeiten. Ich hätte nicht gedacht, dass mich das glücklich macht, aber es ist so.«

Smitty schüttelte den Kopf und lächelte. »Ist sie immer noch draußen in Northport?«

»Oh, zur Hölle, nein. Sie ist wieder in unserer Wohnung in Brooklyn. Wo auch ich jetzt hinfahren werde. Ich wollte nicht, dass sie noch länger draußen auf der Insel bleibt. Ich fürchte um ihre Sicherheit. Angesichts der Umstände bin ich mir sicher, dass die Stadt inzwischen unser Haus niedergebrannt hat. Um sicherzugehen, dass wir nie wiederkommen.«

Bevor die beiden Freunde sich verabschieden konnten, ging die Seitentür auf, und die Wildhundmeute kam heraus. So spät es war, schienen sie immer noch massenhaft Energie zu besitzen. Sie sprachen davon, zu einem späten Abendessen oder frühen Frühstück in einen rund um die Uhr geöffneten Diner zu gehen. In einen Pelzmantel gehüllt, ging Jessie Ann voraus auf die Ecke zu. Einer der Männer holte sie ein, legte ihr den Arm um die Schultern und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sie lachte und schob ihn von sich weg.

Sie gingen zu einem großen schwarzen Hummer und quetschten sich hinein. Jess öffnete die Beifahrertür, hielt aber inne und sah sich um. Schließlich fiel ihr Blick auf ihn und Mace. Sie lächelte und winkte.

»Danke, Jungs! Es lief super!«

»Gern geschehen«, antwortete Mace für sie beide. Smitty brachte nicht mehr als ein Winken zuwege. Dann schloss die Meute die Wagentüren, und der Hummer fuhr davon.

»Alles klar, Smitty?«

»Ja, mir geht’s gut. Ich denke nur gerade, wie sehr sich die kleine Jessie Ann verändert hat.«

»Die Leute verändern sich. Das kommt vor.«

»Ja, du hast recht.«

Aber er hatte seine kleine Jessie Ann gemocht. Mehr als ihm bewusst gewesen war. Und jetzt war sie für immer fort.

 

Jessica Ann Ward saß auf dem Beifahrersitz eines der Hummer der Meute und starrte aus dem Fenster. Sie wusste, dass es kommen würde, sie wusste nur noch nicht, wann. Sollte doch Phil das Eis brechen.

Sie hörte, wie er sich auf seinem Sitz zu seiner Frau Sabina umdrehte.

»Donnerwetter, Schätzchen«, sagte er in der wahrscheinlich schlechtesten Imitation eines Südstaatenakzents, die Jess je hatte hören müssen, »was siehst du gut aus in deinen feinen Schuhen.«

»Und du bist … ich komme nicht recht drauf«, erwiderte Sabina mit ihrem russischen Akzent, der plötzlich noch viel ausgeprägter klang.

»Aber ich bin doch der junge Mann, in den du früher mal verknallt warst, und ich bin jetzt zu einem echt männlichen Kerl von einem Wolf herangewachsen. Weißt du nicht mehr?«

»Ähm … nein.«

Irgendwann hielt es Jess nicht mehr aus. Sie brach in Gelächter aus, und ihre Meute stimmte ein.

»Sei still! Sei still! Sei still!«, schrie sie Phil in gespielter Empörung an. »So schlimm war ich nicht!«

Danny, Mays Ehemann, hielt an einer roten Ampel. »Als du hinübergegangen bist, war er so.« Er hielt die Hände mindestens dreißig Zentimeter auseinander. »Aber als du fertig warst, war er so.« Er hielt die Zeigefinger fünf Zentimeter auseinander.

Jess bedeckte ihr Gesicht mit den Händen, inzwischen rannen ihr vor Lachen die Tränen über die Wangen. »Hört auf!«

»Süße, es lief glänzend«, jubelte Sabina. »Du hast ihn fertiggemacht.« Sie genoss es immer, solche Sachen zu sagen. Und Phil sah immer so angetörnt davon aus.

»Was euch entgangen ist«, fügte May hinzu, »war das ganze Brustgetrommel, das er mit diesem großen Kater hatte.«

»Groß ist der richtige Ausdruck«, stimmte Phil zu. »Das war mal ein riesiges Ego!«

May lachte ungläubig. »Ich kann nicht fassen, dass ausgerechnet du etwas über sein Ego sagst!«

»Na ja, es war ja auch groß!«, erklärte Jess den vier Leuten, die ihr im ganzen Universum am nächsten standen. Die Ursprungsmitglieder ihrer vierzig Mitglieder zählenden Meute.

»Ich meine, das Ding war riesig! Ich saß da … unter der Tribüne … versteckt, verängstigt … und ich dachte bei mir: ›Wenn er den Kopf zur Seite neigt, fällt er dann um? Wie der Elefantenmensch?‹«

»O mein Gott, Jess!«

»Was denn? Man stellt sich eine Menge komische Fragen, wenn man sich unter einer Tribüne versteckt!«

Danny fand einen phantastischen Parkplatz direkt vor dem Diner.

»Glaubt ihr, ich sehe ihn wieder?«

»Nein«, antworteten sie im Chor.

Jess seufzte erleichtert. »Gut.« Sie wedelte mit der Hand in Richtung ihres Outfits. Sie hatte das Kleid und den Pelzmantel von Sabina geliehen, aber für die Schuhe hatte sie leider gutes Geld bezahlt.

»Ich kann das nicht ständig machen. Und ich hasse diese Schuhe! Meine Füße sind eiskalt, und ich bin in der Toilette ausgerutscht und auf den Hintern gefallen.«

»Die Schuhe machen das Outfit«, beschwerte sich Phil. »Hör schon auf zu jammern!«

»Gib mir meine Turnschuhe, May!«

»Du willst Turnschuhe zu diesem Kleid anziehen?«

»Seit wann bist du Karl Lagerfeld?«

Phil beugte sich zu seiner Frau hinüber: »Sie sind gemein zu mir, meine Liebe. Vernichte sie!«

»Ich habe Hunger«, erklärte Sabina. »Ich will Waffeln, und zwar sofort. Oder jemand muss teuer dafür bezahlen.« Sie sah Phil an, und sie wussten alle, dass sie mit »jemand« ihn meinte.

»Okay, okay, meine kleine russische Wanderheuschrecke. Beruhige dich.«

Während die anderen aus dem Hummer stiegen, schlüpfte Jess in ihre Turnschuhe. Ja, es war vorbei. Egal, wie gut Bobby Ray Smith aussehen mochte, sie war über ihren kleinen »Warte, bis er mich heute sieht«-Moment hinweg.

Er sah allerdings wirklich gut aus, du lieber Himmel. Groß, mit kilometerbreiten Schultern, und sein ganzer Körper strotzte nur so vor Muskeln unter seiner halblangen schwarzen Lederjacke, dem schwarzen Rollkragenpulli und der schwarzen Jeans. Und dann diese wachsamen, bernsteinfarbenen Augen, die unter seinen dunkelbraunen, bis zum Kragen reichenden Haaren hervorschauten. Wahrscheinlich eine Erleichterung nach so vielen Jahren im Militärdienst.

Ja, der Mann sah immer noch verdammt gut aus.

Sie wünschte, sie hätte sagen können, dass sie wirklich keine Ahnung gehabt hatte, dass er auf dieser Party sein würde, doch ihre Meute arbeitete nie mit jemandem zusammen, den sie nicht gründlich überprüft hatte. Und obwohl sie Mace über seine Schwester und ihre gemeinsamen Wohltätigkeitsaktivitäten der vergangenen fünf Jahre kannte, hatte sie erst entdeckt, dass sein Partner Bobby Ray Smith war, als Danny ihr die Informationen über seine Firma gegeben hatte.

In diesem Moment hatte sie gewusst, was zu tun war. So kindisch und lächerlich es sogar ihr selbst vorkam – sie konnte nicht widerstehen. Und wie immer war ihre Meute mehr als bereit gewesen, bei der Sache mitzumachen.

Doch jetzt war es vorbei. Sie hatte ihm gezeigt, wie weit sie gekommen war, und es fühlte sich toll an. Dennoch musste sie sich jetzt wieder um wichtigere Dinge kümmern, und Bobby Ray Smith gehörte offiziell ihrer Vergangenheit an.

Auch wenn definitiv noch ein Teil von ihr wünschte, sie hätte eine Chance bekommen, ihn in jener Nacht auf dem Sportgelände zu küssen. Nur, damit sie aufhören könnte, sich zu fragen, wie es wohl war. Inzwischen war sie sich sicher, dass es in ihrer Vorstellung so ungeheure Dimensionen angenommen hatte, dass der arme Mann dem nie hätte gerecht werden können.

Die Beifahrertür ging auf, und Jess nahm Dannys Hand, damit er ihr aus dem riesigen Fahrzeug helfen konnte. Jetzt, wo sie wieder ihr normales Schuhwerk trug, brauchte sie die Hilfe nicht mehr, aber sie lehnte sie auch nicht ab.

Lachend und zufrieden betrat die Meute das Diner.

Kapitel 2

Smitty lehnte sich zurück und beobachtete die fleißige Betriebsamkeit in der geschäftigen Küche. Er hing immer gern in diesem Restaurant herum. Der Küchenchef, der Cousin des Alphamannes der Van-Holtz-Meute, gab ihm immer das Gefühl, willkommen zu sein, und was noch wichtiger war: Er gab ihm zu essen.

»Und, wie laufen die Geschäfte?«, fragte Adelle Van Holtz, während sie dem Kellner zwei Teller mit Essen gab.

»Ganz gut. Der Kundenstamm wächst. Hatten gestern Abend einen großen Auftrag, der gut lief.«

»Gut, gut. Ich habe meinem Bruder von euch Jungs erzählt. Könnte sein, dass er Arbeit für euch hat.« Sie griff um ihn herum und nahm sich eine Flasche Wasser. »Wie du weißt, macht sich die Van-Holtz-Meute nicht gern die Finger mit den üblichen Wolfsaktivitäten schmutzig.«

»Die Smiths stehen auf die üblichen Wolfsaktivitäten. Und darauf, sich schmutzig zu machen. Also sind wir nur zu gern behilflich. Vor allem, wenn es um mein Lieblingsrestaurant geht«, beendete er seinen Satz mit einem Augenzwinkern.

Die Van-Holtz-Steakhouse-Restaurantkette war schon seit Jahren neutraler Boden für Gestaltwandler, auch wenn nicht oft Katzen vorbeikamen. Doch sämtliche Rassen von Wölfen oder Wolfsartigen konnten kommen, ihr Bedürfnis nach rohen Steaks stillen und mit den anderen Wölfen herumhängen. Das einzige Problem: Das Van-Holtz-Steakhouse war ganz und gar nicht billig. Deshalb kamen nicht oft Smiths hierher, denn sie schwammen nicht gerade im Geld wie die Van-Holtz- und die Magnus-Pack-Meute.

»Ich werde es mir merken«, sagte Adelle mit einem Lächeln. »Und jetzt sag mir, was du auf dem Herzen hast, Kleiner.«

Smitty mochte Adelle sehr. Die beiden standen sich sehr nahe, seit sie Smitty angestellt hatte, um die Sicherheit ihres Restaurants aufzumöbeln und herauszufinden, wer von ihren Angestellten sie bestahl. Wie es sich herausgestellt hatte, war es der Polarfuchs-Hilfskellner gewesen.

Adelle war mindestens zwanzig Jahre älter als er und nicht so versnobt wie die meisten Van Holtzens, und sie wusste wirklich, wie man ein Steak zubereitet. Sie hatte eine mütterliche Ader, die meilenweit reichte, und sie liebte es, Smitty zu bemuttern. Da seine Momma in Tennessee lebte und seine Schwester eine Nervensäge war, brauchte er das manchmal.

»Wie kommst du darauf, dass ich etwas auf dem Herzen habe?«

Sie strich ihm über die Wange. »Du weißt doch, dass du nichts vor mir verbergen kannst. Ist es ein Problem mit einer Wölfin?«

»Nö.« Irgendwie wünschte er, es wäre so. Wölfinnen waren wirklich leicht zu verstehen, wenn man drei einfache Regeln befolgte: Ärgere sie nicht, starre sie nicht an, es sei denn, du hast Todessehnsucht oder du bist sicher, dass du mit ihnen fertigwirst, und ärgere sie nicht. Wenn man dieser simplen Logik folgte, kam man gut mit ihnen zurecht. Aber Jessie Ann war keine Wölfin, und an dieser Frau war gar nichts simpel. Nicht im Geringsten. »Hab nur gestern Abend eine alte Freundin wiedergetroffen, und sie hat sich benommen, als kenne sie mich nicht einmal.«

»Na ja …«

»Und wie könnte das sein?«, fuhr er fort. »Ich bin unglaublich!«

Adelle tätschelte seine Brust. »Ja, das bist du.«

Nach dem Auftrag und dem Frühstück mit Mace war Smitty erst weit nach sechs Uhr morgens wieder in seinem Apartment gewesen. Er hatte sich ausgezogen und war ins Bett gefallen, in der Erwartung, innerhalb von Sekunden einzuschlafen. Stattdessen hatte er eine gute Stunde an die Decke gestarrt und sich gefragt, wie Jessie ihn so leicht hatte vergessen können. Natürlich war es nicht so, dass sie jede Stunde des Tages zusammen verbracht hatten, als sie beide in Smithtown wohnten, aber er war ihr näher gewesen als den meisten anderen, abgesehen von seiner Schwester. Er hatte ihr sogar zugehört, wenn sie endlos über irgendein Buch redete, das sie gerade las. Die Tatsache, dass er Gespräche über Elfen und Drachen und Typen mit Schwertern über sich ergehen lassen hatte, erstaunte ihn immer noch. Aber er hatte es für Jessie Ann getan.

Zum Henker, vielleicht war sie immer noch sauer. Er wusste, dass Frauen einen unvergleichlichen Groll hegen konnten. Vor allem Raubtiere. Vielleicht hatte sie ihm nicht verziehen, dass er weggegangen war, dass er sie in Smithtown alleingelassen hatte. Aber was hätte er sonst tun können? Die Navy hätte ihn kaum ein sechzehnjähriges Mädchen mitbringen lassen, »weil meine Schwester und ihre Freundinnen sie als Kauspielzeug benutzen«.

Was Smitty noch mehr störte? Dass es ihm nicht egal war. Es war ihm nicht egal, ob Jessie sich an ihn erinnerte. Es war ihm nicht egal, dass es sie vielleicht verletzt hatte, als er gegangen war. Warum zum Teufel sollte es ihn interessieren? Aber das tat es, verdammt noch mal, und er konnte seinen Daddy hören, als stünde der Mann direkt neben ihm: »Du warst schon immer ein Weichei, Junge.«

Ein Kellner blieb vor Adelle stehen, und sie musterte kurz das Tablett voller Essen. Sie nickte und schickte ihn seiner Wege. »Also bist du heiß auf die Kleine?«

Zurückweichend schüttelte Smitty den Kopf. »Himmel, nein. Sie ist nur eine Freundin. Jemand, der mir früher nahestand, aber ich könnte nie … wir könnten nie …« Er schüttelte den Kopf. »Auf keinen Fall.«

»Ha. Durcheinander. Ich habe dich noch nie durcheinander erlebt.«

»Ich bin nicht durcheinander. Du hast mich auf dem falschen Fuß erwischt, das ist alles.«

»Natürlich. Das wird es wohl sein.« Adelle tätschelte seine Schulter. »Willst du noch ein Steak? Dann geht es dir gleich besser.« Er hatte schon zwei gehabt.

»Ich könnte schon wieder essen.«