WESTEND

Ebook Edition

Tom Schimmeck

Am
besten
nichts
Neues

Medien, Macht und Meinungsmache

WESTEND

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Publisher

ISBN 978-3-86489-518-0
© Westend Verlag Frankfurt/Main
in der Piper Verlag GmbH, München 2010
Satz: Fotosatz Amann, Aichstetten
Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany

Inhalt

Ein Wort an und über den Leser

Kapitel 1: Showplatz Mitte

Im Terrarium ▪ Kulissen ▪ Geistesblitzchen ▪ Der moderne Hofstaat ▪ Bussibussi, Schickimicki ▪ Schlag nach bei Hugenberg ▪ Ein Tausch? ▪ Eyetracking ▪ Hasard schlechthin ▪ Darstellungspolitik

Kapitel 2: Verfüllungsgehilfen

Glamour mit Schmuddelecken ▪ Rollout ▪ The suits are moving in ▪ Rendite, Rendite! ▪ Irgendwas mit Medien ▪ Churnalism ▪ Fuck you ▪ Schnell-viel-oft ▪ Glatt ▪ Bauer ist überall

Kapitel 3: Männchen, Macher, Mutationen

Stolz und Vorurteil ▪ Tonangeber ▪ Schnaps mit Luis Trenker ▪ Merkelei ▪ Zaungäste und Zahlenspiele ▪ Gorillas im Nebel ▪ Ein Allwissender ▪ Vaterfiguren ▪ Margaret Merkel ▪ Hofschranzentum

Kapitel 4: Die Verachtung der Vision

Die neuen Rebellen ▪ New journalism ▪ Dandys ▪ Weimar, Weimar! ▪ Fett und dick ▪ Ortlos ▪ Gutmenschen ▪ Halali auf die »Abweichler« ▪ Sedimente

Kapitel 5: Chronik einer Zermürbung

Friede den Palästen ▪ Andrea XY unbekannt ▪ Ypsiland ▪ Der Volontär ▪ Operation BMW ▪ So was sagt man nicht ▪ Eiskalte Windmacher ▪ Der Furor der Amateur-Psychiater ▪ Frisur und Charakter ▪ Zur Rache, Schätzchen

Kapitel 6: Gefühlsecht

Die Masse muss verlieren ▪ Schmerzfrei ▪ Elefanten rauf und runter ▪ Trash hält die Straße frei ▪ Todescountdown ▪ Der tote Torhüter ▪ Löwen, so viel man will ▪ Zur Primetime wird gefühlt ▪ Implosion

Kapitel 7: Rampensäue im Rampenlicht

Der Bauchredner des Volkes ▪ Der Bezwing-Zwang ▪ Der Seelenmüll der Spießer ▪ Cui bono? ▪ Er nuschelt ▪ Citizen Kane ■ Bei Hofe ▪ Narziss und Salesman ▪ Champagner im Le Fouquet’s ▪ Frechheit siegt

Kapitel 8: Das Fieber der Propheten

Eingebettet im Mainstream ▪ Das Ende der Gewissheiten ▪ Island schmilzt nicht ▪ Eigenleben ▪ Keine Panik! ▪ Die Weltverschwörung der Spießer? ▪ Weggekauft ▪ Im Schützengraben der Ideologie ▪ Die Ritter von Richistan ▪ Götterdämmerung

Kapitel 9: Lying on K Street

Mehr netto ▪ Gammelobst ▪ Dr. Evil ▪ Wettrüsten ▪ Vorgekaut ▪ Mietgesichter ▪ Im Strudel des Spin ▪ Umerziehung ▪ I love the game

An die Journalisten

Anmerkungen

Literatur

Personenregister

Ein Wort an
und über den Leser

In seinem schönen Auge glänzt
In seinem schönen Auge glänzt
Die Träne, die stereotype;
Und eine dicke Dummheit liegt
Beständig auf seiner Lippe.
Heinrich Heine

Ohne Sie, lieber Leser, wäre alles halb so schlimm.

Bevor Sie sich genüsslich und hoffentlich gut gepolstert zurücklehnen, um Ihr harsches Urteil über die Journalisten, die Politiker und das Böse schlechthin weiter zu festigen, ein paar Worte über Sie. Auch Sie tragen große Schuld: Sie sind es, der noch den miesesten Textkrempel kauft, der zwanghaft die abstrusesten TV-Kanäle durchzappt. Nein, natürlich nicht Sie ganz persönlich, aber doch Sie alle, als breite Masse sozusagen, als gottverdammtes Publikum. Sie haben Bild zum Leitmedium der Republik erkoren, per »demokratischer Abstimmung am Kiosk«, wie schon Axel Caesar Springer unselig zu frohlocken pflegte. Vor gut 40 Jahren. Sie haben sich keinen Deut geändert.

Genüsslich suhlen Sie sich, hochverehrter Endverbraucher, auf dem Boulevard, lassen sich von honigsüßen »Promis« Aktien, Gummibärchen, Waschmittel und Weltanschauungen andrehen. In Meinungsumfragen antworten Sie beharrlich falsch, heben Politiker aufs Treppchen, denen Sie niemals auch nur die Hand geben würden. Sie bescheren den peinlichsten Programmen, den dämlichsten Postillen, den abwegigsten Büchern die tollsten Quoten und Auflagen. Der Mensch, sagt die Forschung, wird mittlerweile mit 100 Milliarden Bits pro Sekunde an Reizen konfrontiert. Bewusst verarbeiten kann er 100 Bits. Sie wählen genau die Falschen. So stempeln Sie uns, die sich mühen, es gut zu machen, Ihnen die Welt möglichst klug, facettenreich und unterhaltsam darzureichen, die immer nachfragen und noch ein Stückchen weitergehen, zu Idioten. Schon schauen Verleger, Chefredakteure und Programmdirektoren uns mitleidig an: Warum, Autor, fragt ihr fades Grinsen, reißt du dir denn ein Bein aus? Hast du es immer noch nicht kapiert? Shit sells!

Ich bin wahrlich nicht der Erste, dem das aufstößt. Theobald Tiger alias Kurt Tucholsky schrieb schon im Sommer 1931 in der Weltbühne:

»Jeder Direktor mit dickem Popo

spricht: >Das Publikum will es so!<

Jeder Filmfritze sagt: >Was soll ich machen?

Das Publikum wünscht diese zuckrigen Sachen!<

Jeder Verleger zuckt die Achseln und spricht:

>Gute Bücher gehn eben nicht!<

Sag mal, verehrtes Publikum:

Bist du wirklich so dumm?«

Die Frage bleibt im Raum. Zumal Tucholsky wohl den Faschismus heraufziehen sah. Aber nicht ahnen konnte, wozu, viel später, Bravo, Stern und SuperIllu, Sat. 1, RTL 2 und die heimattümelnden Dritten fähig sein würden. Klar: Mist muss auch sein. Keiner will nur edelsten Klängen lauschen, nur filigranste Pinselstriche bewundern, nur güldene Worte wägen. Darum geht es mir gar nicht. Sondern allein darum, dass uns die Jauche nicht bald über dem Kopf zusammenschlägt. Kugelhagel, Seifenopern, Blasmusik und schneller Sex – das darf auf Dauer nicht alles sein.

In diesem Buch gehe ich auf vielen Wegen der Frage nach, wie es um unsere demokratische Öffentlichkeit bestellt ist. Ich will dabei nicht jammern, will vielmehr aufzeigen, wie in Deutschland und der Welt heute Meinungen entstehen, oder genauer: gemacht werden. Wer die geistigen Modeschöpfer sind, wie sie arbeiten. Wo Ursachen von Gleichschaltung und Verflachung liegen. In jeder zweiten Sonntagsrede hören wir schöne Sprüchlein von Demokratie, Transparenz, Kritik und Freiheit. Ich frage mich, ich frage Sie, inwieweit unsere Gesellschaft noch willens und fähig ist, mit unverstelltem Blick auf sich und die sie betreffenden Dinge zu schauen. Denn davon hängen Demokratie, Kultur, Fortschritt ab.

Der Text ist im friedlichen Westeuropa geschrieben, also aus einem Blickwinkel relativen Glücks. Selbst hier aber schreitet die Vernebelung der Köpfe voran. Durch gezielte Propaganda wie durch schlampige Selbstverblödung. Rundherum sehen wir größere Bedrohungen wachsen: Einen bizarren Populisten wie Silvio Berlusconi, der Macht und Medien in seiner Faust ballt. Einen lupenreinen Potentaten wie Wladimir Putin, in dessen Land die Pressefreiheit durch Exekutive, Justiz und Killerkommandos bedroht wird. Eine weltweit operierende PR-Industrie, die mit Storys und Bildern Stimmungen fabriziert, um die Urteilskraft von Millionen Menschen im Sinne ihrer zahlenden Kundschaft einzutrüben.

Zurück zu Ihnen, lieber Leser. Denn eigentlich mag ich Sie, brauche ich Sie. Manchmal, selten, schicken Sie ganz unerwartet ein Lob. Und ich bin den ganzen Tag froh. Auch konstruktive Kritik kann ich verkraften. An die restlichen Zusendungen gewöhnt man sich über die Jahre: die beckmesserischen Studienräte, die sich in Kommastellungen verbeißen; die übellaunigen Plaudertaschen, die gar nichts hören, aber bei der erstbesten Gelegenheit wieder ihren schlechten Senf einspritzen wollen. Einst hatte ich der taz vorgeschlagen, Lesern, die offensichtlich Unfug schreiben, sofort das Abo zu entziehen. Das war jedoch ökonomisch nicht durchsetzbar.

Nun aber Obacht, Leser! Neuerdings wird ja recht präzise dokumentiert, was Sie lesen, hören, gucken, anklicken. Was Sie mit Medien so anrichten. Das wirft in der Summe kein gutes Licht auf Sie. Wir Journalisten beobachten Sie, registrieren ganz genau, welche Duftmarken Sie in den Foren und Kommentarschwänzen setzen. Ihre Ergüsse sind jetzt global sichtbar. Im Internet, lieber Leser, hinterlassen Sie eine unauslöschliche Spur sprachlicher Verwüstung. Weshalb Sie stets prüfen sollten, ob die weite Welt jenen Unfug, den Sie da gerade wieder in die Tastatur zu hämmern trachten, wirklich wissen will. Ob manch hastig hingetippte Schmähung Ihnen dereinst gut zu Gesicht stehen wird, wenn Sie noch grauer sind als Ihre Gedanken. Sie sind empört? Dann studieren Sie mal Ihresgleichen, z. B. auf www.focus.de.

Genug der Gemeinheit. Ich wollte nur klarstellen: Wir, Medienmacher wie -nutzer, haben wenig Grund zu Selbstzufriedenheit. Auch Sie, lieber Leser, sind schlechter als Ihr Ruf. Wobei ich einräumen muss: Der von uns Journalisten ist längst ruiniert (sofern wir nicht zufällig Quizshows moderieren). Aber ich bin sicher: Auch Sie können Kritik vertragen. Und sind dankbar für die wunderbare Fügung, die Ihnen gerade dieses Buch in die Finger gelegt hat.

Das ist eine krude Mixtur: Analyse, Reportage, Bilanz, Porträt, auch Sittenbild, wenn es um die lieben Kollegen geht. Manchmal wollte ich den Zorn nicht zügeln. Geschrieben habe ich dieses Buch, weil ich meinen Beruf liebe. Viel Lektüre und Diskussionen stecken drin, Erlebnisse und Beobachtungen aus nun bald 31 Arbeitsjahren. Ich hoffe, dass es Ihnen Freunde macht, geneigter Leser, und sich in Ihrem Kopf zu einem brauchbaren Ganzen fügt. Oder, um es mit Goethe zu sagen – weil das immer gut klingt und hier auch perfekt passt:

»Was eine lange, weite Strecke

Im Leben voneinander stand,

Das kommt nun unter einer Decke

Dem guten Leser in die Hand.«

Kapitel Eins
Showplatz Mitte

Es ist durchaus keine Kleinigkeit,
in den Salons der Mächtigen der Erde auf scheinbar
gleichem Fuß, und oft allgemein umschmeichelt,
weil gefürchtet, zu verkehren.
Max Weber, 1919

Im Terrarium

Ein ganz alltäglicher Berliner Morgen. Grauer Himmel über der eingemauerten Spree, die sich mäandernd durch Mitte windet. Leer anmutende Landschaft. Die Mitte der neuen Hauptstadt, aber noch immer kein Zentrum. Gewiss: Da stehen jede Menge imposante Bauten, neu und alt, dicht an dicht. An die 4000 Bundestagsbüros ließ sich die Nation hier bauen, aufgereiht an kilometerlangen Korridoren. Dazu ein Kanzleramt, Ministerien, den Bundesrat, die Landesvertretungen. Rundum aberhundert Botschaften, Denkfabriken, Repräsentanzen von Vereinen, Konzernen, Verbänden. Die Insassen all dieser Bauten wuseln durch die Straßen und Flure von Berlin-Mitte. Hier schlägt das politische Herz des Landes. Sagt man. Doch ist es ein kaltes Herz, merkwürdig losgelöst vom Restkörper der Republik. Weshalb die ganze Metapher schief daherkommt. Also wohl nichts taugt. Herz hat hier wirklich nichts zu suchen.

Dazwischen, selbstverständlich, jede Menge Redaktionsstuben. Die Journalisten sollen ja gut aufpassen, genau hinhören, was all die Minister, Staatssekretäre, Abteilungsleiter und Beamte, die Fraktionschefs, Ausschussvorsitzenden und einfachen Abgeordneten, die Parteivorsitzenden, Stellvertreter und Generalsekretäre, die Lobbyisten, Funktionäre und PR-Leute wie auch die Institutsleiter, Experten und Meinungsforscher sowie deren Pressesprecher, Berater und Assistenten so sagen. Sollen prüfen, ob stimmt, was die behaupten. Im Idealfall sogar herausfinden, was die alle tatsächlich tun.

Ortstermin: Pressehaus am Schiffbauerdamm. Man wünscht sich artig einen guten Morgen. Lachen im halligen Innenhof, rundum ragen sieben Stockwerke auf. Deutsche Korrespondentenbüros von den Aachener bis zu den Westfälischen Nachrichten, die Auslandspresse von Anadolu Ajansi bis Tokyo Shimbun. Durch die Glasdecke hoch oben sickert trübes Tageslicht. Das Café unter der Freitreppe verströmt einen guten Duft. Auf einem Monitor läuft ein Nachrichtenkanal, am unteren Rand die unvermeidlichen Laufbänder mit Newsfetzen und Aktienkursen. Journalisten nehmen mit schnellem Schritt die breite Treppe zum großen Saal, einem Terrarium mit Blick auf den Fluss, wo jetzt die Regierungspressekonferenz beginnt, wie an jedem Montag, Mittwoch und Freitag. Die Fütterung der Medien. Die publizistische Sättigungsbeilage. Hier wird ausgereicht, was offiziell verlautbart werden soll. Es darf gefragt werden. Kein Journalist aber, der einem echten Knüller auf der Spur ist, wäre so dämlich, die Konkurrenz ausgerechnet hier durch allzu auffällige Neugier auf seine Story zu stoßen. Viele Mitglieder verzichten ganz auf Wortmeldungen, tauchen kaum je im Saal auf – zumal das Ganze auch in die Redaktionsbüros übertragen wird. Andere nisten hier geradezu, lieben die Atmosphäre, nutzen die Chance zum schnellen Gedankenaustausch, stellen sich an eines der 44 Saalmikros und haken nach – aus genuiner Neugier oder aus Eitelkeit.

Ein ruhiger Tag heute. Keine großen Pannen, Katastrophen, Rücktritte. Pure Routine. Im Saal vielleicht drei Dutzend Journalisten, locker über die 210 Sitzplätze verteilt. Auf dem Podium vor der großen blauen Stirnwand sind die Sprecher und Sprecherinnen der Bundesministerien aufgereiht. Mittig thront der Vizeregierungssprecher. Sehr konzentriert drechselt er an seinen langen Verlautbarungssätzen, die ein wenig nach Sagrotan duften. Sie sind oft sperrig, aber meist druckreif. Er spricht langsam, ein Duktus wie beim Diktat. »Die Bundeskanzlerin hat gesagt …«, »Die Bundeskanzlerin betont …«, »Die Bundeskanzlerin erwartet …«, »Die Bundeskanzlerin hält daran fest …«, »Die Bundeskanzlerin stützt ausdrücklich den Kurs …«, »Die Bundeskanzlerin ist zutiefst davon überzeugt …«. Hinter seiner leisen, überakzentuierten Sprechweise lauert gezügelte Aggression. Ein Pokerface. Der Mann kam aus Schröders innerstem Machtzirkel, zählte zu den »frogs« – den friends of Gerd, zur Hannoveraner Clique, der »Maschseemafia«. Jetzt zeigt er, seit Jahren schon, allzeit bereite Beflissenheit im Umgang mit der neuen Herrin. Zu diesem Zeitpunkt ahnen wir noch nicht, dass er seiner Kanzlerin im Sommer 2009 für die »menschlich einmalige Behandlung«1 danken und Urlaub nehmen wird, um im Stab von Kanzleraspirant Frank-Walter Steinmeier dessen absehbare Niederlage grammatisch einwandfrei zu begleiten. Mit mokantem Lächeln bittet der Vizeregierungssprecher nun um Fragen.

Über 900 Parlamentskorrespondenten sind Mitglied der Bundespressekonferenz. Neben den Standardterminen mit den Ministeriumssprechern veranstaltet der Verein der Politjournalisten seit 1949 aktuelle Pressekonferenzen »mit maßgeblichen Personen aus Politik, Wirtschaft und Kultur«, wie es in seiner Selbstdarstellung heißt – mit Politikern, Industriekapitänen und Gewerkschaftsbossen, gelegentlich auch mit Aktivisten, Wissenschaftlern oder Künstlern. Auch die gut 400 Korrespondenten im Verein der Ausländischen Presse in Deutschland haben hier Fragerecht. Mit Stolz verweist man darauf, dass diese Zusammenkünfte unter Journalistenregie in Deutschland bereits mit dem Ende des Ersten Weltkrieges begannen – damals eine Entmachtung der bis dahin tonangebenden Militärs. Ein Akt deutscher Pressefreiheit. Die Nazis gliederten diese Reichspressekonferenz dann zügig in ihren Propagandaapparat ein. Am 15. März 1933 erklärte Reichspropagandaminister Joseph Goebbels, fortan werde es tägliche Pressekonferenzen geben, in denen die Journalisten erfahren würden, »was geschieht, … wie die Regierung darüber denkt und wie Sie das am zweckmäßigsten dem Volke klarmachen können«. Goebbels hatte den »Idealzustand« glasklar vor Augen: »Dass die Presse so fein organisiert ist, dass sie in der Hand der Regierung sozusagen ein Klavier ist, auf dem die Regierung spielen kann.«2 Die Pressekonferenz fand nun täglich im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda statt und bestand vor allem aus geheimen »Presseanweisungen«, was wie zu schreiben und was zu verschweigen war. Diese waren nach Vollzug zu vernichten. In den zwölf Jahren der Naziherrschaft sollen etwa 80 000 bis 100 000 Anweisungen ergangen sein.

Von solcher Art Pressionen ist längst keine Rede mehr. Seit 1949 entscheiden wieder Journalisten, wer eingeladen wird. Am 15. September, dem Tag, da Konrad Adenauer zum ersten Kanzler der Nachkriegsrepublik West gewählt wurde, hängten ein paar Zeitungsleute einen Zettel ins Bonner Bundeshaus: einen Aufruf an »alle beim Bundestag akkreditierten Journalisten zur Gründung einer Bundespressekonferenz«. Beim ersten Mal kamen Adenauer und sein Wirtschaftsminister Ludwig Erhard. Die Presse ist seither frei. Niemand wird in Berlin heute weggesperrt oder erschossen, weil er einem Minister an den Karren fuhr. Macht und Medien verkehren miteinander nach komplexen geschriebenen und ungeschriebenen Regeln. Manchmal sogar fair.

Und doch würden viele Politiker noch immer gern diktieren, was gesendet und geschrieben wird. Sie verfügen über einen Kasten voller Werkzeuge, mit denen Medien zu beeinflussen sind. In den Räten der Rundfunkanstalten und über deren politisch ausgewählte Häuptlinge wird zuweilen ganz ungeniert Druck ausgeübt, um Themen zu befördern oder zu unterdrücken und Leute mit passender Gesinnung in wichtige Sessel zu hieven. Oder – wie Ende 2009 im Falle des ZDF-Chefredakteurs Nikolaus Brender – zu entfernen. Im Pressealltag straft die Macht gern mit Distanz und belohnt mit Nähe, Berlins heißester Währung. Wer gehört dazu, sitzt in welchem Zirkel, darf wo mitreisen? Interviews verteilen die Strippenzieher wie Gunstbeweise. Wer genehm und verlässlich ist und für optimale Verbreitung sorgt, bekommt gern mal einen Tipp. »Bestechung durch Information«, nennen das die Insider. Mancher »Scoop« ist ja nur deshalb exklusiv, weil irgendeine Polit-Nase ganz gezielt einem Journalisten einen Satz gesagt hat – in der sicheren Erwartung, dass der diesen sogleich groß aufblasen wird. Schon, weil nur er ihn »hat«.

Kulissen

Dieser Saal zieht sie alle magisch an. Hier wird verlautbart, verkündet, verkauft. Hier wird deutsche Wirklichkeit inszeniert und ausgedeutet. Hier multipliziert sich Meinung. Viele Politiker mögen das aseptische Ambiente dieses Raumes – so sicher, kontrolliert und gut ausgeleuchtet. Hier steht der Darsteller solo im Rampenlicht. Er muss, anders als etwa im Parlament, keine Widerworte fürchten. Das publizierende Publikum bleibt immer höflich, dessen kritische Fragen sind kalkulierbar. Großes Theater, und alle sitzen bequem.

Man spürt in diesem Haus ein Urvertrauen der Berichterstatter in die eigene Bedeutung. »Dies ist der höhere Marktplatz der Information«, meint ein Korrespondent stolz. »Die Kanzlerin tritt hier regelmäßig auf.« Marktplatz? Vielleicht. Doch was wird hier feilgeboten? Wer ist Verkäufer, wer Käufer? Information? Auch. Entscheidender aber ist der Auftritt, die Wortwahl, die meldungsgerechte Zuspitzung, die Tagesform beim verbalen Pingpong mit der Presse. Gerade für karge politische Kost wählt der Politstratege die Bundespressekonferenz gern als Geschmacksverstärker. Sie bietet enorme Reichweite bei minimalem Aufwand: hingehen, reden, fertig. Vor der dezent blassblauen Wand mit der Inschrift »Bundespressekonferenz« lassen sich selbst vollkommen inhaltsleere Sprüche mit Bedeutung und Brisanz aufladen, gewinnen allein durch die Präsenz vieler Medienvertreter an Wichtigkeit. Viele schreiben und senden eben viel.

Ein Skandal? Viel schlimmer: das Übliche. Die waltenden Kräfte sind nicht einmal sonderlich schwer zu durchschauen. Die Massenmedienmeinungsmaschine, die hier im Dauerbetrieb vor sich hin brummt, hat einen recht einfachen Grundmechanismus, mit passgenau ineinandergreifenden Rädchen. Sie gleicht einer Legebatterie für Nachrichten – reibungsarm, effizient, hochproduktiv. Allerdings bleibt dem Journalisten in ihr selten eine eigenständige Rolle. Er fungiert meist nur als Förderband. Er bringt die frisch gelegten kommunikativen Eier zügig zum Empfänger. Wobei ihm immer weniger Zeit für Qualitätskontrolle bleibt. Viele faule Eier flutschen durch.

Vielleicht aber lässt sich in diesem Hort der Meinungsmacher begreifen, warum politische Öffentlichkeit heute so stereotyp daherkommt. Wieso das Kollektiv der Beobachter so viel Gleichklang erzeugt. Worauf dieser eklatante Mangel an Eigensinn zurückzuführen ist, der etwa zur Folge hat, das Politiker unisono herauf-und heruntergeschrieben werden. Woher diese neue Neigung zur schlichten Theaterkritik rührt, die nicht mehr beschreiben will, worum es geht und wer was warum will, sondern nur, wer gerade wie dasteht, sich »positioniert«, und wer wann wo laut auf- oder abtritt. Ist es nur die Hast? Verbreiten sich Einschätzungen hier gar wie durch osmotischen Druck auf alle Köpfe?

Geistesblitzchen

Zum Beispiel, wenn der Regierungschef kommt, im aktuellen Fall die Kanzlerin. Sie erscheint gern zum Sommer hin in der Bundespressekonferenz. Manchmal auch aus besonderem Anlass. Wie etwa Mitte Januar 2008: ein sehr kurzfristig angekündigter Auftritt. Auf der Einladung ist ihr Thema recht vage umrissen: »Aktuelle Fragen der Innen-und Außenpolitik«. Die politische Lage ist erhitzt. Ihr hessischer Parteifreund Roland Koch läuft gerade im Endspurt eines Landtagswahlkampfes. Schlechte Umfragewerte ließen ihn zu einer Eskalationsstrategie greifen. In einer U-Bahn-Station im fernen München war am Donnerstag vor Weihnachten ein 76-jähriger Rentner von zwei jungen Männern bespuckt, als »Scheiß-Deutscher« beschimpft und bis zum Schädelbruch getreten worden. Überwachungskameras hatten die hässliche Szene festgehalten. Sie lief im Fernsehen. Am Tag vor Heiligabend verhaftete die Polizei einen 20-jährigen Griechen und einen 17-Jährigen mit türkischem Pass, geboren in München, beide ohne Schulabschluss, dafür mit dicker Polizeiakte. Zum Tathergang erklärten sie: »Wir waren besoffen.« Acht Tage nach dem Überfall ist Sheriff Koch zur Stelle: »Wir haben zu lange ein seltsames soziologisches Verständnis für Gruppen aufgebracht, die bewusst als ethnische Minderheiten Gewalt ausüben«, streut er via Bild. »Wer in Deutschland lebt, hat sich ordentlich zu verhalten«, schnarrt der Wahlkämpfer. »Wir haben zu viele kriminelle junge Ausländer.«

Der Startschuss. Ein Thema ist »gesetzt«. Von Stund’ an debattiert die Republik gar heftig über ihren Nachwuchs, insbesondere jenen mit »Migrationshintergrund«. Konservative Politiker echauffieren sich über »Kuschelpädagogik« und »Multikultigesäusel«, pochen auf schärfere Strafen, längere Haftzeiten, fordern »Erziehungscamps« nach US-Vorbild und den – ein neues Wort – »Warnschussarrest«. Koch, der just das Große Verdienstkreuz mit Stern und Schulterband erhalten hat, sorgt sich gar um die »christlichabendländische Kultur«. Forsch präsentiert sich der liebe Landesvater bei Wahlkampf-Frühstücken und »Schlachte-Essen«, beim Seniorenkaffee und beim Dämmerschoppen als Anwalt der stummen Masse, der sich wacker gegen die »sogenannte Political Correctness« stemmt: »Ich bin ein Politiker, der Wert darauf legt, dass in politischen Auseinandersetzungen auch das zu Wort kommt, was die Mehrheit der Menschen denkt.«

Journalisten lieben Typen wie Roland Koch: einfach in der Sprache, berechenbar im Handeln. Das minimiert ihre Verwirrung. Der Volljurist und Judokämpfer ist stets für einen Fight gut, denn er hat in allen Lebenslagen eine Medienstrategie, einen Plan, »den Gegner auf die Matte zu legen«. Bei »Roko«, wie sie ihn einst im heimischen Eschborn nannten, ist alles kühl kalkuliert. Wenn der eine Melodie pfeift, machen die ihm gewogenen Medien, voran das Boulevard, leicht einen zackigen Marsch daraus. So kam er an die Macht, im Februar 1999. Die damals frischgebackene rot-grüne Koalition zu Bonn schickte sich gerade an, das alte, noch am deutschen Blut haftende Staatsbürgerschaftsrecht zu reformieren. Da schlug CDU-Wahlkämpfer Koch in Hessen zu, mobilisierte Massen mit einer Unterschriftenkampagne und ritt auf einer Welle von Türkenangst als Sieger in den Landtag zu Wiesbaden ein.

Acht Jahre später nun kämpft Roland Koch mit den U-Bahn-Schlägern um den Erhalt der damals errungenen Macht. Seine scharfe Law-and-Order-Kampagne löst Proteste aus, der Generalsekretär des Zentralrats der Juden wähnt den CDU-Mann bereits in NPD-Nähe. Eine Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung wird später zu dem Schluss kommen, dass Kochs Knüppel dieses Mal gar zu derb war und die »hochgradige kurzfristige Emotionalisierung« Wähler en masse vertrieben hat. Noch aber ist es nicht so weit. Noch ist Wahlkampf. Und jetzt ist die Kanzlerin dran. Sie soll ein wenig mitlärmen mit Koch, etwas sagen zu den Schlägern, zu den protestierenden Sozis, irgendetwas Schlagzeilenträchtiges. Sie dürfte ihm wahlweise auch in den Rücken fallen, das wäre ein Knüller, Wahnsinnsstoff für Wochen: Merkel rügt Koch, offener Krach in der CDU, Erdrutschniederlage für Koch, Merkel unter Feuer, CDU vor der Spaltung, Merkel-Regierung wankt …

Es wird nicht passieren. Doch für Merkel ist der Auftritt heute tatsächlich ein wenig heikel. Kochs Holzhammerkampagne dürfte ihr kaum schmecken, öffentlich widersprechen aber darf sie ihrem wahlkämpfenden Stellvertreter an der CDU-Spitze auf gar keinen Fall. Merkel stehen viele Redenschreiber und Referenten zur Seite, wie auch eine Visagistin, eine Schneiderin, ein Friseur. Sie verfügt über etliche Leute in Partei, Fraktion, Kanzleramt und Bundespresseamt, die vorab die Stimmung sondieren und dezent nachjustieren, Erwartungen wecken, die Köpfe schon mal in die richtige Richtung drehen, das Ereignis warmreden. Nur Amateure lieben den Zufall.

Die Blätter rascheln bereits. »Will Merkel ein Machtwort sprechen?«, fragt sich Bild. Am Morgen erklärt der parlamentarische Geschäftsführer Norbert Röttgen beim »Dienstagsfrühstück mit Pressevertretern« seine Christenunion schnell zur »führenden Kraft der Koalition«. Manche schreiben tatsächlich, was Fraktionschef X oder Minister Y ihnen bei solchen Frühstücken aufs Brötchen schmieren. Oder lassen es wenigstens »einfließen«.

Um 12 Uhr dann ist das Terrarium der BPK übervoll. High Noon, Angela Merkel nimmt Platz am endlos breiten Podiumstisch. Die Fotografen schalten auf Dauerfeuer. Die Kameras laufen. An die 500 Augen studieren jede Geste, jedes Lachfältchen. Das große Lauern. Gewürzt mit Ironie, Neugier, auch Ehrfurcht. Sie steigt mit Plattitüden ein: Deutschland stehe besser da als bei ihrem Amtsantritt, spricht die Kanzlerin. In 100 Minuten wird sie 54 Fragen beantworten. Und dabei genau jene Botschaft herüberbringen, die sie und ihre Strategen vorab kalibriert haben. Unterstützung für den Wahlkämpfer Koch, mit einem Hauch von Distanz. Festigung des Bildes der stetig und nüchtern regierenden Kanzlerin. Grundmelodie: Wir wissen, was wir tun, haben alles unter Kontrolle und werden sowieso siegen. Die erste Nachfrage um 12:11 Uhr lautet: Gibt es zu viele jugendliche Kriminelle in Deutschland?

Die Medien werden bis zur Erschöpfung berichten. In der 20-Uhr-Tagesschau bekommt Merkel 90 Sekunden plus Ansage, ein Zehntel der gesamten Sendung. Der Beitrag enthält 15 Schnitte, ein paar Szenen, einen »Aufsager« vor dem Kanzleramt. Merkel taucht dreimal auf. »Es kann in Wahlkämpfen keine Tabuthemen geben«, sagt sie im ersten Statement und versichert, hinter Koch stehe die »gesamte CDU« (13 Sekunden). Sie habe das »tiefe innere Gefühle«, die Große Koalition könne die Arbeit fortsetzen (8 Sekunden), sie ist ganz lässig (6 Sekunden):»Jeder pflegt da so seinen Stil und … ich guck’ mir das an.« Dazwischen sind zwei Sozis eingepasst – Peter Struck (7 Sekunden) muffig, Kurt Beck (5 Sekunden) versöhnlich. Medienforscher messen solche Details über Jahre. 1983, ermittelten sie, waren Politikerstatements im TV im Schnitt noch 30 Sekunden lang, heute sind es 15 Sekunden. Dieser Beitrag minimiert den Soundbyte noch weiter. Millionen werden die Worte Sekunden später vergessen haben. Haften bleibt ein vager Eindruck: Die Merkel steht zu ihren Leuten, die macht ihr Ding, die lächelt, und der Dampfer fährt irgendwie weiter.

Die emsigen Schreiber liefern neben ellenlangen Nachrichtentexten voller Merkel-Worte allerlei stimmungsvolles, erläuterndes und kommentierendes Beiwerk. Die meisten Zeitungen präsentieren mehrere Artikel zum Ereignis. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung etwa betet in spröder Ausführlichkeit herunter, was die Kanzlerin gesprochen hat, was »Frau Merkel sagte …« (sechsmal), »versicherte«, »nannte«, worauf sie »verwies« und woran sie »erinnerte«. In der Analyse zeigt sich der FAZ-Beobachter zufrieden mit ihrem nüchternen Stil, der Gelassenheit – in Kontrast zu den »Streithähnen in der Koalition«: »An diesem Dienstag beschränkte sich die Bundeskanzlerin auf das Sachliche und das Gegenwärtige.«3 Auch Spiegel Online vermeldet: »Nüchtern« reagiere die Kanzlerin, »gelassen mitten im Schlachtengetümmel«, bietet auch ein Video und lädt zur Online-Diskussion »Große Koalition – Krach ohne Ende?«.4 Merkel zeichne »ein positives Bild von Deutschland«, weiß der unbestechliche Spiegel-Korrespondent, und »lässt sich von SPD-Sprüchen nicht provozieren«. Die Berliner Zeitung sieht es genau andersrum: »Merkel, die sonst als coole Kontrolleurin auftritt, wirkte wie eine Getriebene.«5 Der Tagesspiegel schmeißt die Sinnsuche gleich hin: »Müßig ist es, nach einem tiefen Sinn in der Kanzlerschaft Merkel zu suchen.«6 So basteln sich alle ihr Bild. Der Münchner Merkur fühlt sich »an einen Maskenball« erinnert – »so oft wechselte sie binnen einer Stunde die Verkleidung«.7 Die Leipziger Volkszeitung lobt »Frau Merkel« gönnerhaft: »So schwierig ist es doch nicht, sich Journalisten in einer Fragerunde zu stellen.« Die taz beklatscht ihre »kunstvolle Verrenkung«. Die Frankfurter Rundschau bietet sogar eine Eheberaterin auf, die erkennt: »Sie verhält sich wie eine Mutter, die sagt: So Kinder, jetzt spielt mal schön, aber ich bestimme, wo es langgeht.«8

Es ist ein Tasten im Ungefähren, ein Schattenboxen im Nebel. Das Gros der Berichterstattung ist losgelöst vom politischen Kontext, bleibt ganz auf die Person fixiert. Die Beobachter wandeln auf schmalen Deutungspfaden, gefangen im Jetzt des erzeugten Geräusches, das sie aufnehmen und verstärken. Die Ereignislosigkeit wird zum Ereignis stilisiert, mit vielen spekulativen »Vielleichts« nachgewürzt. Da wird mit Hingabe geheimnisst, gemutmaßt, gerätselt und hin und her gewogen, werden Physiognomien und Blicke seziert, Befindlichkeiten erörtert. Berichterstatter analysieren den Sauerstoffgehalt im Saal, flechten kleinste, belanglose Szenen und Geistesblitzchen ein, mit Wendungen wie: »Irgendwann kommt einem der Gedanke …«. Auch die Kleidung hat Symbolkraft: »Rot das Blouson, schwarz die Hose«, »In schwarzem Top und weinrotem Blazer …«

298 Zeilen verbraucht etwa ein Chefbeobachter der Süddeutschen Zeitung auf der prominenten Seite Drei. Minutiös analysiert er Merkels »sehr beherrschtes Mienenspiel«, als hinge Deutschlands Schicksal davon ab: »Man muss schon sehr genau hinsehen, um zu erkennen, dass bei mancher Frage der linke Mundwinkel zuckt, als wolle er ein spöttisches Lächeln vorbereiten. Aber es geschieht dann nichts weiter. Manchmal spitzt sie ein wenig die Lippen, manchmal sieht es so aus, als malme sie mit den Zähnen, und manchmal schiebt sie das Kinn nach vorne, wie es ihr Vorgänger Gerhard Schröder auch getan hat.« Donnerwetter, denkt man. »Häufig dreht sie die Augen nach oben, aber nicht, um den Fragesteller zu desavouieren, sondern weil sie über manche Antwort offenbar besser nachdenken kann, wenn sie ins Nichts schaut, statt in die Horde vor sich.«

Auch wir schauen ins Nichts. Jetzt müsste eigentlich eine Conclusio folgen. Wir brennen darauf zu erfahren, welche hochpolitische Schlussfolgerung der Autor wohl ziehen wird. Nun, diese: »Aber dass man in ihrem Gesicht irgendetwas darüber ablesen könnte, was sie in manchen Momenten wirklich denkt, oder wie aufrichtig ihre Antworten wirklich sind, das wäre definitiv zu viel behauptet.«9 Definitiv. Viel zu viel. Womit wir exakt so schlau sind wie vorher. Damit wir aber doch noch etwas verstehen über die tieferen politischen Beweggründe hinter dem tollen Toben und Treiben am Regierungssitz, all diesem Zucken und Malmen, teilt der Hauptstadtkorrespondent uns eine top-exklusive Beobachtung mit. Am Rande der SPD-Klausursitzung vor einigen Tagen, enthüllt er, war in einer kurzen Pause »eine Szene zu beobachten, die vielleicht mehr darüber aussagt, wie es um diese Koalition bestellt ist«. Gespannt erwarten wir jetzt eine kleine Sensation. Und siehe da, hier kommt sie schon: »Einer stand ganz allein an einem der Stehtische im Foyer und aß eine Wurst: Franz Müntefering.«

Es geht um die Wurst! Und wir sind ein wenig stolz auf den Korrespondenten, dass er diese Story im harten Hauptstadtgeschäft tagelang unter dem Deckel halten konnte, sie sich aufgespart hat für seine Großanalyse der Großen Koalition.

Der moderne Hofstaat

Luxusprobleme einer friedlichen, reichen Nation? Wohl auch. Noch. Glücklich das Land, in dem kein Putsch droht und keine blutige Revolte. In dem sogar das Wetter noch ziemlich stabil ist, die Erdbebengefahr recht gering, und ein jeder sein leeres Stroh so lange dreschen darf, wie er lustig ist. Spiegelt sich in den Nicht-Nachrichten aus dem nahezu hermetisch abgeschlossenen Reich der Bundespressekonferenz womöglich einfach die gemütliche Langeweile einer herrlich heilen Welt? Oder doch eher die Entrücktheit einer politisch-publizistischen Klasse, deren Wahrnehmung sich immer weiter auf sich selbst und das artifizielle Treiben in Berlin-Mitte reduziert? Mittendrin, und trotzdem völlig entrückt?

Berlin – ein krasser Kontrast. Auf wenigen Quadratkilometern neuer Mitte hat sich mit dem Umzug von Parlament und Regierung zur Jahrtausendwende ein moderner Hofstaat etabliert. Schon rein kulissentechnisch betrachtet erscheint Berlin gegenüber Bonn als kolossaler Fortschritt: Reichstag, Brandenburger Tor, Gendarmenmarkt und die breite Prachtallee Unter den Linden – überall ragen mächtige Säulen und wuchtige alte Gemäuer auf, aus deren Ritzen historische Bedeutung sickert. Hier lässt sich hübsch posieren. Hier ist endlich gut wichtig sein. Bonn war doch arg klein für die große Performance, für die pompöse Dauerwerbung politischer Markenprodukte. In der restaurierten Berliner Mitte aber kann man sich fein in Szene setzen.

Allmählich etabliert sich hier eine hübsch dekorierte Behelfswirklichkeit, eine polit-mediale Parallelgesellschaft. In ihr entscheidet der »Spin«, das gekonnte Zurechtfrisieren von Botschafter und Botschaft. So wächst in der exklusiven Mitte zwischen erster (Legislative), zweiter (Exekutive) und vermeintlich vierter Gewalt (Medien) das Heer der Macht-Dienstleister: PR-Päpste, Werbegurus, Unternehmensberater, Kommunikationsstrategen, Eventmanager und Imagemacher streiten auf Seiten der politischen und wirtschaftlichen Macht, um deren »Message« maximale Schlagkraft zu geben. Sie stehen im Dienst jeder Sache, die Umsatz bringt. Sie bewachen den Zugang zu Informationen. Sie setzen Personen und Interessen in Szene. Sie machen Meinung – mit »Agenda-Setting«, »Dialogmarketing« und »Politainment«. Sie designen die Darsteller, drechseln ihnen passende Sätze, planen minutiös, was wann in die Welt gesetzt wird und wer wie wirken soll.

Sie sind überall. Selbst ins Haus der Bundespressekonferenz konnten die PR-Firmen vordringen. Zum Beispiel die Notfallstrategen der PRGS, der »Unternehmensberatung für Politik- &Krisenmanagement«, die Firmen in öffentlicher Bedrängnis »maßgeschneiderte Hilfestellung« bieten, »von punktueller Unterstützung bis zum Komplettpaket«. Oder die Societät für strategische Medienberatung. Ihr Kopf, Marcus Johst, hat es gern prägnant. Einem Branchenblatt eröffnete der fröhliche Kärntner auf die Gretchenfrage der PR, wie er es in der Flut von täglich bis zu 10 000 Meldungen schaffe, mit der Botschaft seiner Kunden durchzudringen: »Indem wir unsere Nachrichten mit Emotionen aufladen, die gerade in einen aktuellen Berichterstattungstrend passen. Zum Beispiel: Vorstände sind gierig, Gewerkschaften haben nur ihren Machtanspruch im Visier, Konzerne verachten den Konsumenten, etc. Ganz so simpel ist es natürlich nicht. Aber wer rasch eine Botschaft auf den Informationsmärkten platzieren will, darf nicht mit Gewalt gegen den Strom schwimmen, sondern sollte sich elegant an die Bedürfnisse der Leitmedien und ihre plakativen Thesen anschmiegen.«

Früher verbrauchten PR-Experten viele Vokabeln, um den Warencharakter ihres manipulativen Treibens zu bemänteln, ihre Tricks in ein hübsches Licht zu rücken. Manch einer gerierte sich, als säße er im Ethikrat. Johst, Jahrgang 1966, einst Journalist beim Klatschblatt Gala, verkörpert jene neue Spezies Berliner Lautsprecher, die keinen Hehl mehr daraus macht, dass sie für zahlende Kunden maximalen Lärm erzeugt. Seine trockene Analyse: »Zurzeit haben die guten Schreiber keine Zeit für Hintergrundgespräche, denn sie müssen Seiten zuknallen und in die Produktion schicken, weil die Redaktionen ausgedünnt sind. Wir Krisenberater müssen uns immer den Gegebenheiten anpassen. Zurzeit ist es wahnsinnig wichtig, gut durchgearbeitete Hintergrundinformationen mit Quellenhinweisen und viel absichernden Elementen parat zu haben, damit sich der Journalist sicher fühlt. Wenn das nicht geht, dann hilft ein markiges Statement, damit die Story wenigstens irgendwie von uns dominiert wird und wir die Eigendynamik einigermaßen in den Griff bekommen.«10 Auf einem PR-Kongress gefragt, ob PR-Leute lügen dürfen, sprach er: »Die Lüge zu vermeiden ist großes Handwerk, aber es gelingt nicht immer.«

Sobald in einer Firma Skandalöses geschieht, der offene Machtkampf tobt, der CEO mit der Kasse durchbrennt, der Präsident oder gar das Produkt ins Zwielicht geraten, eilen Krisenkommunikatoren wie Johst herbei, um die medialen Wogen zu glätten. Als etwa eine von Uschi Glas promotete Hautcreme (»Uschi Glas hautnah«) bei der Stiftung Warentest als »mangelhaft« durchrasselte, war Kommunikator Johst mit dem kernigen Satz zur Stelle: »Die Stiftung Warentest wird keinen ruhigen Monat mehr haben, bis hier die ganze Wahrheit auf dem Tisch liegt.«11 Es gehe stets darum, »dem Kunden eine Glaubwürdigkeit aufzustellen«, erläutert er. »Was in den Zeitungen steht, muss generell als Quatsch wahrgenommen werden.«

Auch die Firma Kohl PR &Partner, ebenfalls Mieter im Haus der Bundespressekonferenz, bietet »strategische Textentwicklung«, »Pflege der Beziehungen zu Politik und Medien« und »Betreuung während des Krisenfalls«. Man gibt sich sehr offen, konkrete Nachfragen nach Nutznießern aber bleiben unbeantwortet: »Wir nennen keine Kunden aus dem Public Affairs Bereich.« In ihrer Online-Werbung prahlen die PR-Profis, dank guter »persönlicher Kontakte zu politischen Entscheidern und Schlüsselakteuren« direkt ins Parlament hinein agieren zu können – mit Fraktionsgesprächen, parlamentarischen Abenden, »Round Tables« voller Experten, ja sogar mittels der »Initiierung von Anfragen im Bundestag«, die wohl freundlich gesinnte Abgeordnete erledigen. Kohl PR ist stolz auf solche Arbeit: »Der Auftraggeber zählt heute zu den Marktführern auf seinem Gebiet.« Um etwa den »Ruf der Chemie in Lebensmitteln« aufzubessern, organisierte Kohl PR für die zahlende Industrie Foren, zu denen Gesundheitspolitiker, Beamte, Wissenschaftler und Fachjournalisten geladen wurden. »Die neuen lebensmittelrechtlichen Bestimmungen«, resümiert die PR-Firma erfreut, »fielen weitgehend im Sinne der Hersteller aus.«12

Auch bei Kohl PR spielt ein Ex-Journalist eine Schlüsselrolle: der ehemalige Stern-Mann Peter Rall. »Nackte Fakten sind out«, lautet sein Credo. Journalisten und Leser, predigt er seinen Kunden, wollten »einprägsame kurze Sätze«. Rall hilft, die richtigen Sprüche zu machen: »Sie sind eine starke Plattform, um sich in Szene zu setzen und seine Botschaft zu verankern. Starke Zitate prägen sich ein und haben das Zeug zum Slogan.« Er liefert den zündenden Satz, das optisch attraktive Ereignis. Beispiel: Die Genossenschaft Deutscher Brunnen (GDB) wünschte sich einen »aufmerksamkeitsstarken Event«. Kohl PR ersann im Herbst 2004 die Aktion »Mehrweg läuft«: Auf der Zielgeraden des Frankfurter Marathons wurde ein gewaltiger Mehrwegkasten aufgebaut, der »größte der Welt«, wie die Firma betonte, weithin zu bestaunen. Schon beim Aufbau sorgte intensive »Pressekontaktarbeit« für mächtig Wirbel. Auch schloss man eine »Medienkooperation« mit Bild und dem Hessischen Rundfunk, vermarktete alles auch an Privatsender. Der Slogan (»Mehrweg läuft«) und das Brunnen-Logo waren allgegenwärtig, auf Bannern wie in den Informationen der Marathon-Veranstalter. Im Schlussbericht zeigte sich die PR-Firma hochzufrieden: »Die regionalen Zeitungen berichteten, zum Teil mehrmals, über den Aufbau des Kastens und über den Marathonlauf durch den Kasten. Der Hessische Rundfunk schaltete während der Live-Übertragung mehrmals direkt in den Kasten, die Fernsehsender RTL und n-tv berichteten ebenfalls über das Projekt.« Viel Wirbel. Viel Werbung. Mehr Umsatz. Mission accomplished.

Harmlos? Vollkommen. Mehrwegflaschen sind schließlich keine Marschflugkörper. Umso anschaulicher zeigt die kleine Mehrweg-Show, mit welchen Techniken heute Themen aller Art in die Köpfe katapultiert werden. Die Rezeptur: Man kleide ein paar simple, gut haftende Botschaften in »strategische Texte«, wickele sie um ein künstliches »Event«, reichere sie so mit Bildern und einem vermeintlichen Neuigkeitswert an und streue sie schließlich über viele »Medienpartner«. Für die Auftraggeber, teilt Kohl PR &Partner in einer Bilanz für das Jahr 2007 stolz mit, habe man eine »Gesamtauflage« von 311 Millionen erreicht.

PR braucht die Nähe zu Zeitungen und Sendern – zur maximalen Verbreitung ihrer Botschaft. Doch müssen PR-Leute ausgerechnet im Haus der Bundespressekonferenz, der Bastion der Hauptstadtberichterstatter, nisten? Der Bundespressekonferenz e.V. windet sich an diesem Punkt ein wenig. Letztlich habe der Verein keinen Einfluss auf die Auswahl der Mieter, heißt es aus dem Vorstand. Die 17 700 Quadratmeter Bruttogeschossfläche sind im Besitz der Allianz Immobilien GmbH und wollen vermietet sein. Die Verlage aber sparen seit Jahren. Schriftlich hat die Bundespressekonferenz sie angefleht, doch das Haus füllen zu helfen. Ohne Erfolg. Also besetzt die PR den Platz. Beim Verein der Hauptstadtjournalisten ist man schon dankbar, dass wenigstens keine Rüstungslobbyisten mit im Nest sitzen. Und die PR-Leute? Ist es ihnen nicht peinlich, der Presse derart auf die Pelle zu rücken? Das seien »nette Nachbarn«, beteuert eine PR-Frau, die ungern namentlich zitiert werden möchte,. »Es kommt bei Kunden gut an, dass man in einem Haus mit Medien sitzt. Und wir haben einen direkten Blick auf den Reichstag. Da ist schon sehr viel Setting, viel Atmosphäre.«

Bussibussi, Schickimicki

»Ideen, die Deutschland beflügeln«, steht auf einer riesigen Plakatwand am Eingang zum Bundespresseamt, einem Koloss am Reichstagsufer, 700 Meter spreeaufwärts. Die deutsche Flagge flattert. Beinahe lautlos öffnet sich die automatische Tür. »Na, dann kieken se mal«, ruft der Pförtner mit einladender Geste, »hier gibt’s Pressekonferenzen.«

Schon im Foyer türmen sich die Pressemitteilungen. »Merkel plädiert für …«, teilt das Amt mit. Die SPD vermeldet: »Frank-Walter Steinmeier hat den richtigen Ansatz.« An der Wand der Tagesplan: Ehrungen, Staatsbesuche, Fototermine. Der Kulturstaatsminister wird sich am Vormittag ablichten lassen. Der kasachische Präsident schaut um 13 Uhr im Kanzleramt vorbei. Vollgestopfte Pressefächer aus robustem Edelstahl. Gleich daneben – praktischerweise – riesige Altpapiertonnen. Ein Amt. Ein Ort eingeübter Abläufe, streng strukturiert. Staatsdiener schreiten gemächlich durch Korridore. Ein Kaffeeautomat, ein Verkaufsautomat, bestückt mit Bounty, Snickers und Kinderschokolade – für die Nerven.

An der Wand zur Linken Broschüren en gros. Einschläfernde Publikationen wie »Deutschland aktuell« oder »Die Bundesregierung«. Graues Verlautbarungseinerlei, in einer mit Zuversicht aufgepumpten Sprache, die sich bemüht locker gibt: »Für alle ein Gewinn«, »Chancen nutzen«, »Jugendschutz – wir halten uns daran«, »Alter schafft Neues«, »Power für Gründerinnen«, »Aufstieg durch Bildung«, »Die Hightechstrategie zum Klimaschutz«. Die Zeitung für die Bundeswehr schlagzeilt schlicht: »Erfolgsgeschichte«. Gut 500 Mitarbeiter verfolgen hier die Nachrichten, heften der Regierungschefin zweimal am Tag eine »Kanzlermappe« zusammen (»Sofort auf den Tisch«) und bringen regierungsamtliche Infos unters Volk. Der Apparat scheint mit sich selbst beschäftigt. Dem 53-seitigen »Aktenplan« ist zu entnehmen, dass unter Kennzeichen 13003 »Kantinenangelegenheiten« abgelegt sind, unter 21009 Meldungen der Bulgarian Telegraph Agency und unter 39320 »Kampagnen der Bundesregierung im Allgemeinen«. Auf der Website findet sich eine merkwürdige Definition der Kunden: »Die Medien spielen in der Demokratie eine zentrale Rolle: Sie sind Mittler zwischen der Regierung auf der einen Seite und den Bürgerinnen und Bürgern auf der anderen Seite.«13 Eine Art Sprachrohr also?

Draußen rumpelt quietschend eine S-Bahn vorbei. Sonst aber läuft in Mitte vieles wie geschmiert. Hinter blitzblanken Glasfronten zeigen die Repräsentanzen der Autobauer ihre funkelndsten Limousinen. Das Hauptstadtstudio der ARD bietet im Schaufenster die Maus, Bernd das Brot, das Sandmännchen und anderes Kuschelgetier feil, auch Schlüsselbänder der Arztserie In aller Freundschaft. Souvenirläden verhökern Ampelmännchen, bergeweise Bären und den Reichstag – als 1000-Teile-Puzzle – an Touristenschwärme, die unverdrossen, x-tausendmal täglich das Brandenburger Tor fotografieren. Es gibt ein paar schicke Boutiquen, sogar eine Prise Kultur. Im Showroom des Energieriesen EnBW läuft die Ausstellung »Stars helfen Kindern«, mit Werken von Eva Padberg, Mario Gomez, Marianne Birthler, Franziska von Almsick, Tita von Hardenberg, Franz Beckenbauer, Verona Pooth, Ulla Schmidt, Cherno Jobatey, Henry Maske, Tim Mälzer und Günther Oettinger. Sport, Schickeria und ein bisschen Politik – die typische Berliner Hauptstadt-Melange. Die Mitte-Society. Sieht sich auf Konferenzen, Kongressen, bei Seminaren, Eröffnungen und Kamingesprächen. Feiert viel. Bussibussi im San Nicci, im Borchardt oder im Grill Royal. Man trifft sich bei der Party, der Gala, dem Sommerfest, zur Preisverleihung, zur Premiere, zur Buchpräsentation, beim Festival oder beim Ball. Ein bisschen fesch, auch mal richtig fein, frisch gefönt von Udo Walz (CDU), der jetzt neun Salons hat, eine eigene Casting-Show und stolz erzählt, er werde »mit Blaulicht zum Frisieren von Hollywood-Schauspielerinnen chauffiert«14. Ein paar Fernsehnasen zeigen sich, geile Sternchen umschwirren graue Generalsekretäre, vielleicht ist Friede Springer da oder Liz Mohn, Angela Merkel, Guido Westerwelle oder Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg. Der Friseur sowieso. Und sicher auch Bürgermeister Klaus »Wowi« Wowereit, der das heulende Elend rundum so charmant verwaltet.

Womöglich wirkt die wachsende soziale Kluft als Würze, erhöht sie doch das aufregend-morbide 20er-Jahre-Kribbeln der polit-medialen Schickimicki-Kaste. Es ist eine surreal wirkende Kunstwelt. Mit einer hauchdünnen Glitzerschicht. Ein selbstreferentielles System. Man managt seinen Laden, seine Partei, seine Stiftung; organisiert sich, frisiert sich, präsentiert sich; macht Politik, Meinung, ein paar Geschäfte. Mitte – das Gehege der gernegroßen Tiere. Wer sich aus dieser Kulisse mit Bus oder Bahn in beliebiger Richtung fortbewegt, hat stets schon nach zwei, drei Stationen das Gefühl, in einer anderen Welt anzukommen. Oder genauer: in die Wirklichkeit zurückzukehren.

Die Realitäten brechen auseinander. Den meisten Mitte-Menschen scheint gleichgütig, dass in nahezu jeder Himmelsrichtung, nur wenige Minuten entfernt, eine stetig wachsende Zahl von Suppenküchen, Tafeln und Kleiderkammern immer mehr Armen Überlebenshilfe leisten. Der Medienmensch turnt drüber hinweg. Rastlos rennt er von Event A zu Event B, stets auf der Suche nach Informationskrümeln und Soundbytes, nach dem einen Halbsatz, den sonst keiner hat. Unablässig hört er vielerlei Geschichten. Oft schreibt er mehrere Artikel pro Tag. Der Medienmensch sieht sich gern als Motor, ahnt aber doch, dass er meist eher Objekt anderer Mächte ist. Er spürt, wie man ihm den Kopf verdreht, seine Aufmerksamkeit ablenkt, umlenkt, weglenkt. Ihm dämmert, dass man ihn mit gründlich eingespeichelten und vorgekauten Formulierungen füttert. Schon presst er die Lippen zusammen, schüttelt übersatt den Kopf. Doch beharrlich stopfen sie mehr Worte und Bilder nach. Er lernt, schneller zu verdauen.