ANNE-MARIE BUTZEK

HILFE, WAS DARF ICH NOCH ESSEN?

Der Kampf um die richtige Ernährung

image

eBook Edition

Inhalt

Einleitung Schon wieder so ein Ernährungsbuch

Schwarz-weiße und bunte Kost

Warum das (kritische) Auge mitisst

1 Fresskultur und Esskult

Die pluralistische Tischgesellschaft

Meine Suppe ess’ ich nicht!

Zuckerbrot und Lakritzpeitsche

Tausend Mal im Topf gerührt: die Macht der Gewohnheit

2 Zoon politikon und Homo oeconomicus: Ausflug auf den Bauernhof – oder in die Agrarfabrik?

Wirtschaftliche Wildgehege gestern, heute und morgen

Politische Streichelzoos: Keine Zärtlichkeiten fürs Getier …

… aber ein Herz für den Konsum

Vegane Zukunftsvisionen

Skandal! Florierende Schlagzeilen und eingefleischte Aktivisten

3 Das leibliche Wohl

Ein Leben ohne Fleisch ist möglich – aber sinnlos?

Die Großmutter hat den Wolf gefressen: das Märchen von der (un-)gesunden Ernährung

Krebs, Diabetes, Herzinfarkt – die Milch macht’s?

Der Wink mit dem Lauch: Unverträglich keiten, Allergien und sonstiges Magengrummeln

Und sie waren glücklich bis an ihr Lebensende …

4 DiEthik

Nähr-Werte

Du musst ein Schwein sein in dieser Welt

Die Konsumenten und die Konsumierten: eine komplizierte Kiste

Die Lämma, die auch Vegetariern schwer im Magen liegen

Die biologische Keule: Fleischfresser, Pflanzenfresser, Allesfresser

Exkurs: Kulinarische Rhetorik

Blick über den Tellerrand

Ein vorläufiges Schlusswort Die Erbsenbüchse der Pandora

Anmerkungen

Abkürzungen

Literatur und Internetquellen

image

Anne-Marie Butzek studierte zunächst Medienwissenschaften, dann Russisch und Englisch und schreibt zurzeit ihre Masterarbeit. Seit dem Teenageralter ist sie – des lieben Viehs wegen – Vegetarier. Während eines Praktikums im Westend Verlag entstand aus der andauernden Beschäftigung mit dem Thema Ernährung die Idee zu diesem Buch.

Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

image

ISBN 978-3-86489-564-7

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2014

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Satz: Publikations Atelier, Dreieich

Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Printed in Germany

Einleitung Schon wieder so ein Ernährungsbuch

Ständig wird einem reingeredet in die alltäglichsten Aktivitäten. Sie müssen Ihre Arbeit so erledigen (nach den neuesten Erkenntnissen der Managementforschung), Ihre Wohnung so einrichten (mindestens nach Feng-Shui-Standards), Sie müssen Sport machen (Nordic Walking, Zumba oder die neueste Trimm-dich-Methode) und Ihr Kommunikationsverhalten mal gründlich überdenken (nur dann holen Sie alles raus, was geht, beruflich wie privat). Selbst die Mittagspausen, die bisher noch von Abenteuerlichkeiten wie Power Napping verschont geblieben sind, wandeln sich in den letzten Jahren von Erholungsrefugien zu Schauplätzen erbitterter Kämpfe.

Eine Frage treibt einen Keil zwischen die Hungrigen: Fleisch- und Tierprodukte – ja oder nein? Der Ratgebermarkt quillt über vor Schützenhilfe; momentan kommt sie überwiegend aus den Reihen der Anhänger pflanzlicher Ernährung. Sie sind sicher schon latent genervt, keine einzige Handlung mehr ausführen zu können, ohne darüber Grundsatzdiskussionen führen zu müssen, das Für und Wider abzuwägen, sich zu rechtfertigen. Dieses Buch hier kann sich also glücklich schätzen, überhaupt eines zweiten Blickes gewürdigt zu werden – es hat aber auch einen gänzlich anderen Schwerpunkt und möchte Ihnen gerade nicht sagen, wie Sie Ihr Leben führen sollen (zumindest bleiben die konkreten Handlungsvorgaben außen vor).

Als ich anfing, den Text zu schreiben, den Sie gerade in den Händen halten, begann die vegane Welle eben erst nach Deutschland überzuschwappen. In den Buchläden, Supermärkten und natürlich im Internet konnte man sich umfassend darüber informieren, wie wunderbar die Welt ohne Fleisch- oder – noch besser – ohne jegliche Tiererzeugnisse wäre. Beinahe war ich überzeugt, doch dann regte sich Skepsis. Überall nur Belege, überall nur Positives, und wenn mal kritische Stimmen zu hören waren, so klangen sie meist wie verzweifelte Notwehr reaktionärer Fleischsüchtiger. Wo waren die zumindest halbwegs objektiven Auseinandersetzungen mit den kulinarischen Phänomenen unserer Zeit? Wo gab es einen Überblick der verschiedenen Positionen und ihrer Argumente? Und überhaupt die tiefgründigen, wohlüberlegten Gegenargumente? Gab es einfach keine …?

Doch, durchaus, aber leider nicht im deutschsprachigen Raum. Mittlerweile wurden allerdings zwei Bücher übersetzt (siehe Literatur im Anhang – dort finden Sie auch weiterführende Internetquellen, die teils noch detaillierter und nuancierter auf bestimmte Punkte eingehen, aber vor allem aktueller sind als ein statisches Buch), die aus US-amerikanischer Perspektive die Irrungen und Wirrungen der modernen Ernährungsweisen verfolgen – und das gut untermauert.1 Eines davon, Ethisch essen mit Fleisch von Lierre Keith, bezieht zwar deutlich Stellung, da es eine Art Erfahrungsbericht der Autorin darstellt, dennoch oder gerade deshalb liefert es verlässliche Argumente aus erster Hand. Aber warum sollte man sich überhaupt noch mit dem Thema befassen, wenn es doch nur den Alltag erschwert und Nerven kostet? Nun, der Autor des zweiten Werks, Michael Pollan, Das Omnivoren-Dilemma, spricht von einer »nationalen Essstörung«. Er attestiert diese den USA, doch Ansätze einer solchen sind in Deutschland wohl gleichfalls zu erkennen. Wer kann denn schon noch vollkommen unbefangen ohne Gedanken ans neueste »Superfood«, an Gewicht, Lebensmittelskandale, Welthunger und so weiter essen, wonach ihm der Sinn steht?

Deshalb kann eine bewusste Auseinandersetzung nur förderlich sein. Um im Pathologiejargon zu bleiben: Eine psychische Störung entsteht nicht zum Spaß, sondern kompensiert immer irgendetwas – sie ist »funktional« –, und sie beheben zu wollen, indem man sie vollends ausblendet, ist meistens recht aussichtslos. Die folgenden Kapitel helfen im besten Fall bei der Behandlung, die ergebnisoffen und vor allem mit Schwerpunkt auf die Strategien und Muster der deutschen Essensschlacht bleiben soll. Obwohl ich mich bemühe, möglichst unvoreingenommen von außen auf die Gretchenfrage »Tier als Lebensmittel?« zu schauen (und, um das ganz klar zu machen, nur auf die Antwort zu dieser prinzipiellen Frage bezieht sich meine Neutralität!), kann es bei diesem Thema natürlich keine unbeteiligten Beobachter geben. Ich kann also nur hoffen, dass einerseits die Beispiele oder Einsprengsel persönlicher Erfahrungen nicht zu selektiv verzerrend sind. Immerhin bin ich Vegetarier, obschon momentan mehr aus ängstlicher Starre – und Gewohnheit nach fast einem Jahrzehnt entsprechender Ernährung – denn aus glühender Überzeugung. Andererseits gehört die Tatsache, dass alle Argumente in der Ernährungsdebatte jederzeit anfechtbar sind, ja auch zur gern bestrittenen, abgewiegelten oder ausgeblendeten Natur der Sache. Widerspruch zu erregen halte ich außerdem durchaus für sinnvoll, genauso wie rumzunörgeln und möglichst viele Haare in der Suppe zu finden, sei es nun die vegetarische oder vegane Suppe oder die mit Fleischklößchen. Wie ernst Sie die folgenden Seiten nehmen, ist Ihnen selbst überlassen und gleichfalls, welchen Weg Sie zukünftig wählen. Wählen jedoch müssen Sie, schließlich gibt es einfach kein Zurück in wohlig ignorante Tage, in denen das gegessen wurde, was auf den Tisch kam. Mit geschärften Sinnen schmeckt’s dann hinterher vielleicht auch wieder …

SCHWARZ-WEISSE UND BUNTE KOST

»Was darf’s denn sein?«

»Einmal Pommes, bitte.«

»Mit Ketchup oder mit Mayonnaise?«

»Von beidem etwas, bitte.«

»Von beidem?! Sind Sie von allen guten Geistern verlassen? Beides, wo kommen wir denn da hin, das wäre ja noch schöner … , wenn sich das vermischt!«

Ereignete sich dieses Gespräch in einer realen Imbissbude irgendwo auf der Welt, würde man sofort geistige Umnachtung auf Seiten des Verkaufenden vermuten oder einen besonders einfallslosen Fall von versteckter Kamera. Zu absurd diese Situation, in der nur das Entweder oder das Oder gelten darf. Zu abstrus die Vorstellung, dass im echten Leben nicht beides nebeneinander und miteinander existieren könnte: Frittierte Kartoffelstäbchen schmecken doch durchaus auch mit Ketchup und Mayo. Oder sollte man sich besser auf nur eines davon festlegen? Nehmen nur willensschwache, entscheidungsunfreudige, gar prinzipienlose Amateur-Pommesesser den leichten Weg des Soßendualismus?

In der aktuellen Debatte, wie und womit sich die Bundesbürger denn ernähren sollten, fällt gerade eine derartige Schwarz-Weiß-Mentalität ins Auge. Statt um Ketchup und Mayonnaise geht es hier ums Tierische und Pflanzliche. Entweder findet man: Fleisch und alle Tierprodukte sind Inbegriffe des Bösen, Soja und Co. hingegen wahre Heilsbringer. Oder aber man meint umgekehrt: Soja ist Teufelswerk und Fleisch der heilige Gral. Zwischentöne gibt es so gut wie gar nicht, Graustufen sucht man vergebens. Jeder meint zwar, etwas zur Diskussion beitragen zu können – schließlich ist auch jeder, zumindest in der Empirie, Experte auf diesem Gebiet –, und dennoch trägt diese basisdemokratische Beteiligung nicht dazu bei, eine bunte Meinungsvielfalt und einen pluralistischen Kompromiss auf höherer Ebene herzustellen. Stur verteidigen militante Veganer ihr Tofu und verachten alle, die dem nichts abgewinnen mögen, als verantwortungslose Barbaren. Eisern klammern sich die Fleischesser an ihr Steak und halten alle Pflanzenköstler für meschugge. Dass summa summarum gerade keine ausgewogenen Positionen entstehen, ist verwunderlich: Warum treffen sich die Gegner eigentlich niemals in der Mitte?

Etwas an der Vorstellung, dass eines der zwei verfeindeten Lager im Besitz der Wahrheit sei, weckt leise Zweifel. Zum einen ist doch die Welt da draußen weder jemals nur schwarz noch ausschließlich weiß, sondern stets grau meliert. Zum anderen muss man doch nur einen Blick auf die derzeit bekannten Fakten werfen – seien es klinische Studien, ethische Diskurse oder Wirtschaftsstatistiken –, um festzustellen: Vermutlich könnte es so sein, eventuell anders, aber höchstwahrscheinlich ist’s irgendwas dazwischen.

Schon komisch: Unternimmt man als mündiger Bürger den (durchaus notwendigen! – aber dazu gleich mehr) Schritt, auch seine alltäglichsten Handlungen wie die Nahrungsaufnahme kritisch zu hinterfragen, scheint man gerade im aufgeklärten 21. Jahrhundert nicht unterstützt, geschweige denn gewollt zu werden. Ratgeber, Schlagzeilen und Kampagnen der einen oder anderen Position erscheinen zuhauf. Dennoch ergibt sich daraus noch nicht einmal ein eindeutig zwiegespaltenes Bild. Widersprüche und Ungereimtheiten, 180-Grad-Wendungen und Revisionen mit jedem neuen Tag – was natürlich trotzdem nicht dazu führt, dass eine der beiden Parteien, Pflanzenköstler oder Fleischesser, ihren Anspruch auf die absolute WAHRHEIT (in Großbuchstaben) aufgäbe. Die Zeit scheint reif für eine Überprüfung der gängigsten (Vor-)Urteile und der am weitesten verbreiteten Meinungen.

WARUM DAS (KRITISCHE) AUGE MITISST

Aber wenn eh alles so kompliziert und nicht zu entscheiden ist, kann man das mit der Auseinandersetzung doch gleich lassen! Wie bereits angedeutet, ist die Versuchung groß, das Problematische auszublenden und in glücklicher Ignoranz weiter zu mampfen. Allerdings verdient der, der dazu noch in der Lage ist, schon fast Bewunderung. Entweder gelingt es ihm nämlich, sich dem modernen Medienrummel zu entziehen, oder aber sein Charakter steht unbeirrbar all den unschönen Details der Nahrungsmittel-produktion gegenüber. Davon geraten ja immer mal wieder welche an die Öffentlichkeit, und manche bringen es zu ausgewachsenen Skandalen. Der letzte große Eklat fand Anfang 2013 statt. Da er nicht nur die Rangliste meiner persönlichen »Lieblingsskandale« mit Abstand anführt, sondern auch verdeutlicht, an welchen Ecken es überall hapern kann, wenn’s im wahrsten Sinne um die Wurst geht, hier eine kleine Retrospektive …

Frühjahr 2013: Jetzt also Pferdefleisch. In Großbritannien wird sogar Esel in Lasagne, Burgern und Gulaschgerichten vermutet. Feingehäckselte Tiere aus Rumänien, die von Lastkraftwagen als Warentransportmittel ersetzt wurden,2 landen in schmackhafter Sauce auf Tellern in mittlerweile immer mehr europäischen Ländern. Natürlich denken die Hungrigen, es handele sich, wie auf der Verpackung zu lesen, um ein ehemaliges Rind, das den Weg in ihre Mägen findet. Der Aufschrei ist – so wie nach jeder Panne in der Lebensmittelindustrie – gellend und wird über Monate hinweg nicht verstummen. Dabei erfuhren die geschlachteten Pferde etwas, wovon viele von Arbeitslosigkeit betroffene Menschen träumen, nämlich eine sofortige Anschlussverwendung, eine finale Sinnstiftung sogar, nachdem rumänische Verkehrsbehörden ihnen die Daseinsberechtigung genommen hatten. Dieser Umstand jedoch lässt keinen der Verzehrenden das Fleisch genüsslich zerkauen – guten Gewissens, der Existenz einer Kreatur einen Zweck gegeben zu haben. Vielmehr wächst die Empörung noch: Medikamente seien im Pferdehack gewesen, die in kein Speisefleisch gehören.

Zugegeben, die Sinn-und-Zweck-Argumentation ist arg konstruiert und führt nur in Teufels moralische Küche, in die erst Kapitel 4 führen soll. Dennoch zeigt sich hier, wie delikat, wie gefahrenbefrachtet und wie kontrovers das Thema Tiere in der Ernährung eigentlich ist. Ein erneuter Blick auf den jüngsten europaweiten Eklat lässt deutlich zutage treten, warum so etwas Alltägliches wie die Nahrungsaufnahme zum Politikum werden kann, und mitunter blitzen noch ganz andere Aspekte in den dazugehörigen Debatten auf. Es geht um so viel mehr als nur ein versautes, nein, verpferdetes Mittagessen. Wenn man beim Anfang des Produktionsprozesses beginnt, dieses Beispiel auseinanderzunehmen, lassen sich, bis das einzelne Tier im Magen des Verbrauchers angekommen ist, mehrere Etappen ausmachen, die streitbar sein dürften. Diese tauchen, wenn auch nicht in chronologischer Reihenfolge, in den unterschiedlichen Kapiteln dieses Buches auf.

Zunächst einmal ist da das Pferd, eventuell der Esel oder aber auch einfach die reguläre Kuh am (vorzeitigen) Ende ihres Lebens. Hier stößt man prompt auf die Frage, welches Tier denn gerade ein Nutztier beziehungsweise ein Fleischtier darstellt. Dass diese Kategorisierungen kulturell bedingt sind, somit nicht von ungefähr kommen oder einfach »natürlich« sind, fällt im Alltag gern unter den Tisch. Nicht nur zwischen Ländern gibt es immense Unterschiede, sondern bereits bei verschiedenen Bevölkerungsgruppen innerhalb eines Landes. Sie müssen ja nur mal versuchen, einen Schweinefleisch-Döner zu bestellen … Dann gelangt man schnell weiter zum Status, der dem Tier gewährt wird.

Bleiben wir beim Pferd, denn schon an diesem Punkt unterscheiden sich die Ansichten deutlich. Europaweit handelt es sich um ein Nutztier, das ist klar. So weit also ergeben sich noch keine Probleme, denn ob Ire, Däne, Rumäne oder Portugiese, sie alle »verwenden« das Huftier. Relative Einigkeit herrscht darüber, dass man auf ihm reiten oder, der wohl seltenere Fall heutzutage, mit seiner Hilfe Lasten bewegen kann. Nur militante Pferdefreunde und radikale Tierrechtler werden bereits hier einwenden, dass die Ausbeutung, Versklavung gar, eines Lebewesens nie legitim ist. In gemäßigteren Kreisen klingen höchstens Bedenken hinsichtlich angemessener Behandlung und artgerechter Haltung an.

Kommt man aber auf einen weiteren möglichen Nutzen des Rosses zu sprechen, nämlich den für den Menschen nahrhaften, verhält es sich schon ganz anders. Ein ganzes Spektrum von Meinungen tut sich auf. An dessen unvereinbaren Polen stehen einerseits diejenigen, für die Pferdefleisch eine Delikatesse ist (zum Beispiel mehrheitlich Kasachen, aber gleichfalls etliche Deutsche), und andererseits die, für die Pferdefleisch tabu ist (beispielsweise die meisten Briten). Erschwerend kommt hinzu, dass solche Ansichten nicht unveränderlich sind. Auch in Großbritannien war während des Zweiten Weltkriegs der ein oder andere Vertreter der Gattung Equus Bestandteil des Mittagessens, ohne dass jemand dagegen aufbegehrt hätte. Und vielleicht wird im verwestlichten Kasachstan 2020 das Tofusteak die Pferdebulette als kulinarischen Höhepunkt abgelöst haben.

Wie dem auch sei, angenommen, das Huftier erfährt, aus welchen Gründen auch immer, die Behandlung »ernährender Nutzen«. Wie sollte in diesem Fall das Tier getötet und verarbeitet werden? Und welche Auswirkungen haben die Umstände des vorangegangenen Lebens auf den Schlachtungs- und Verarbeitungsvorgang? Der Pferdefleischskandal rückt den Fokus (wieder einmal) auf Medikamente, die das designierte Nutztier zu Lebzeiten erhalten hat. Dabei steht die Verbraucherperspektive im Vordergrund. Verunreinigungen können ja die Produkte, speziell das Fleisch, nach der Tötung des Tieres für den Verzehr ungenießbar machen oder gar gesundheitsschädigend.

Doch man muss gar nicht die Pillenschachtel zur Büchse der Pandora werden lassen. Seit etlichen Jahrzehnten schon erscheinen quasi im Minutentakt klinische Studien zu diesem oder jenem Lebensmittel, wobei Pferdefleisch lediglich eine Randerscheinung darstellt. Die (Boulevard-) Medien überbieten sich mit revolutionären Erkenntnissen, und auch die Politik – oder vielleicht die Konzernokratie in ihrem Nacken? – schweigt nicht, sondern erklärt, dass uns heute dieses krank macht und morgen jenes. Auch ohne Antibiotika, Phenylbutazon und Co. unterliegen Nahrungsmittel (oder ihre einzelnen Bestandteile) drastischen Schwankungen, was ihren Ruf angeht. Mal ist es Fett, dann Zucker oder momentan eben Fleisch als Gesamtpaket, das die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE), die Grünen, die BILD oder der vegane Nachbar verteufelt.

Zöge man all diese Informationsquellen fleißig zu Rate, fiele im Grunde genommen jeder Wocheneinkauf anders aus, weil stets ein anderes Produkt auf der »Besser meiden!«-Liste steht. Doch als ob das noch nicht genug wäre, tauchen immer wieder etikettenschwindelnde Burgerfrikadellen, Käsescheiben und Ähnliches mehr auf. Da ist der Inhalt nicht nur mangelhaft beschrieben, er ist vielmehr verfälscht. Fleischmahlzeit, ick hör’ dir wiehern? Leider nein, denn der Hungrige kann noch so gut geschulte Sinne haben, er wird nichts bemerken. Oder aber er will es auch gar nicht – der Fertigmahlzeitenhersteller des Vertrauens erzählt schönere Wahrheiten. Frei nach dem Freud’schen Lustprinzip steht und fällt die sorgsame Nahrungsmittelauswahl außerdem mit dem Geschmack. Persönlich kenne ich eine ausgemachte Pferdenärrin, die sich von den Meldungen zu equinem Döner nicht davon abhalten ließ, weiterhin ihren wöchentlichen Kebab zu verspeisen.

Jeder deutsche Esser sollte heute gründlich überfordert sein, lebt er nicht gerade als Selbstversorger ein nahrungsmitteltechnisch sorgenfreies oder zumindest gut überschaubares Leben. Je komplexer und verwobener die Strukturen werden, die das Pferd auf den Mittagstisch befördern, desto wichtiger wird es, sich mit ihnen zu befassen. Und wir essen ja nicht nur eine Lasagne pro Daseinsspanne, sondern zahllose, verschiedene, von allen Ecken der Welt stammende Lebensmittel. Machen wir es uns vielleicht gerade damit noch schwerer? Womöglich sind Blaubeeren im Februar genauso wenig selbstverständlich wie das Fleischgericht.

Wie dem auch sei, nicht erst in Zeiten des Internets kommt zu diesem ganzen Wust noch eine ausgewachsene Maschinerie hinzu, die potentiell zwar alle benötigten Informationen zur Verfügung stellt, jedoch oft übers Ziel hinausschießt. Vielleicht täuscht der Eindruck, aber es scheint, als könnten in letzter Zeit – vor und nach der Affäre Pferdefleisch 2013 – die Schreiberlinge in den Nachrichtenagenturen und Blogs dieser Welt kaum einen Tag zubringen, ohne die eine oder andere Nahrungsmittel-»Story« auszubuddeln beziehungsweise zu konstruieren. Zwar sind Nachrichten dieser Art sicher immer ein potentieller Verkaufsschlager, denn kaum ein Thema spricht so bedingungslos jeden an wie unser täglich’ Brot. Bei der Geschwindigkeit aber, mit der Geschichten über Pferdefleisch auf solche über Gammelware, Dioxin und Analogkäse folgen, muss hier mehr im Argen liegen. Ist eventuell die Produzentenseite heute bemühter denn je zu verdecken, was immer mehr Verbraucher bestrebt sind zu entdecken, nämlich was genau sie eigentlich konsumieren und welche Auswirkungen das auf sie und ihre Umwelt hat? Das ist sicherlich ein nicht zu vernachlässigender Faktor, der den erbitterten Kampf ums Tier und seine Produkte auslöst und befeuert.

Nun stellt sich, ähnlich auch bei anderen Eklats der letzten Jahre, das Endstadium der Situation folgendermaßen dar: Auf der einen Seite stehen jene, die gerade genüsslich ihre Lieblingsrindergulaschdosensuppe verzehrt haben, garantiert mit 98 Prozent Rind und 2 Prozent Pony (oder war das Verhältnis umgekehrt?). Diese sind wohl selten froh, unmerklich eine Delikatesse für einen solchen Schnäppchenpreis erhalten zu haben, und häufiger äußerst verärgert. Sie fühlen sich betrogen, in ihrem Vertrauen missbraucht oder gar in ihrer Gesundheit gefährdet. Auf der anderen Seite stehen die Konzerne, die zwar von nichts gewusst haben, sich aber freuen, dass ihr unwissendes Tun so lange gutgegangen ist. Sie haben eine Menge Geld gespart, immerhin hat der Marktpreis überflüssiger Zugpferde den des herkömmlichen Rindes um Längen geschlagen. Gewinne, wohin das Auge reicht! Die Konsumenten haben ja auch etwas davon, die unschlagbaren Einzelhandelspreise nämlich. Die finden sie doch uneingeschränkt famos, meist sogar famoser als ihr Wohlbefinden und das der Umwelt.

Ein weiterer Akteur fehlt übrigens noch, der der Vollständigkeit halber erwähnt sei. Die Politik ist im Frühjahr 2013 nur als bloßes Hintergrundrauschen wahrnehmbar. Eigentlich hat der Staat sich ja nicht einzumischen in die innige Beziehung zwischen Hersteller und Esser, schließlich ist die Wirtschaft frei! Wenn überhaupt, dann haben die deutsche und andere europäische Regierungen nur wieder einmal erfolgreich mit der Produzentenseite zusammengearbeitet. Um nur ein Stichwort zu nennen: ohne EU-weiten Freihandel kein rumänisches Pferdefleisch.

Trotz allem sind die deutschen Verbraucher aber doch ein Stellschräubchen im System. Genau hier setzt der vegane Trend an: Wir haben es in der Hand, der mogelnden Nahrungsmittelindustrie das Handwerk zu legen, die eigene Gesundheit zu optimieren und nebenbei auch noch den Welthunger zu besiegen sowie Tieren Leid zu ersparen. Wir müssen lediglich tagtäglich bei jeder Mahlzeit die richtige Entscheidung treffen. Wenn man die Zeit also ein kleines Stück zurückdreht zu dem Punkt, an dem der Hungrige im Supermarkt nach dem vermeintlichen Rindfleisch greift, sieht man mit frappierender Deutlichkeit seinen Fehler. Er hätte einfach aus dem Regal weiter links die Getreideroulade nehmen sollen. Gerste statt Roggen untergejubelt zu bekommen hätte sicher für wesentlich weniger flaue Mägen gesorgt. Alle hätten die pflanzliche Alternative wählen sollen oder sollten dies in Zukunft tun, und schon ist eitel Sonnenschein im Schlemmerland Deutschland – so lassen sich die Verheißungen der Pflanzenkost zusammenfassen. Dann gäbe es keine unappetitlichen Wie-pervers-so-ein-Tier-zu-essen-Skandale mehr. Dann wären alle Fleischmagnate gezwungen, auf leidfreies Pflanzengut umzuschwenken, da höchstens noch ein paar Hinterwäldler mit barbarischen Anwandlungen den Markt für totes Tier ausmachen würden. Dann müssten Kühe nicht mehr in engen, verschmutzten Ställen auf den Tag ihrer Schlachtung warten, ausgemusterte Zugpferde sprängen vergnügt über grüne Wiesen bis ans Ende ihrer Tage. Dann stürbe niemand mehr an Herzinfarkten, Hirnschlägen oder Krebs. Muss womöglich erst der Menschenfleischskandal kommen, um die Deutschen von der einzigen Lösung zu überzeugen?

Nun, wenn’s so einfach wäre, endete dieser Text hier, der Rest wären leere Seiten (auch mal eine lustige Form von Etikettenschwindel; aber wahrscheinlich fänden Sie’s weniger amüsant als ich), und die Wartezeit bis zum letzten aller Fleischskandale geht bestimmt irgendwie rum. Die Serenaden der Tofuproduzenten und anderer Verfechter pflanzlicher Kost sind allerdings bei näherer Betrachtung ähnlich heilbringend wie die ihrer designierten Feinde in der Tierindustrielobby. Fleisch- und Tierprodukte, ja oder nein? Diese Frage durchdringt das durchschnittliche deutsche Leben viel mehr, als so manchem lieb ist, und gerade deshalb lohnt es sich, sie kritisch auseinanderzunehmen.

Aber noch mal zurück zum Pferdehack. Auf seinem Weg vom lebendigen Wesen in den Magen des Verbrauchers hat das Ross etliche Stationen durchlaufen. Der besseren Übersicht halber seien diese nicht chronologisch, sondern thematisch zusammengefasst. Diese Struktur wird das Rückgrat dieses Buches bilden, aus dem Filetstücke, Kamm und Rippchen des Themas gelöst werden (um beim Fleisch zu bleiben).

Die Pferdebulette kann zunächst genussvoll verspeist, mit angeekeltem Gesichtsausdruck wieder ausgespuckt oder von vornherein verschmäht werden. Je nachdem, welchen Lebensstil die Person pflegt, der sie vorgesetzt wird, wo, wann und unter welchen Umständen sie angeboten wird, fällt die Reaktion anders aus. Vor 100 Jahren im herrschaftlichen Schloss oder gestern im Schnellrestaurant – Essgewohnheiten sind so vielfältig wie die Esser. Eine zubereitete Speise kann ein kulturelles Gut sein (Nationalgerichte), Symbolcharakter haben (die Pferdebuletten von Oma) oder – und das nicht erst zur momentanen Hochzeit des Veganismus – einer Lebensphilosophie Ausdruck verleihen. Kapitel 1 beschäftigt sich näher damit.

Doch nicht nur im gegenseitigen Wechselspiel mit unseren Gepflogenheiten steht das Pferdehack, es tut dies auch ganz grundlegend mit dem menschlichen Organismus. Vermutlich herrscht hier die größte Unsicherheit, und Kapitel 3 soll ein bisschen zur Verwirrung beitragen. Wissenschaftliche Studien, Volksweisheiten, Werbekampagnen der Nahrungsmittelindustrie und Richtlinien der DGE stehen nicht selten im Konflikt miteinander und unterliegen stetem Wandel. Mal gehört das Pferd zur »gesunden Ernährung«, mal auf keinen Fall. Essen ist also Mittel zur Aufrechterhaltung und sogar zur (vermeintlichen) Steigerung des Wohlbefindens. Doch wehe, das betreffende Pferd hat Medikamente verabreicht bekommen … !

Der nächste große Themenbereich für Kapitel 2 zeigt sich auch genau hier: Wer hat darauf zu achten, dass verarztete Huftiere nicht verzehrt werden? Die Eigenverantwortung des Verbrauchers reicht nur bedingt, Staat und die Wirtschaftenden selbst müssen nach gängiger Auffassung ebenfalls ihr Scherflein beitragen. Oftmals jedoch gehen die Interessen der Beteiligten auseinander, wenn sie nicht vollends kollidieren. Das kann im besten Fall zu harmlosen Werbekampagnen von Seiten der Industrie führen, die schlanke, gutaussehende Menschen auf Plakaten herzhaft in Salamibrote beißen lässt. Im schlimmeren Fall sorgen Lobbygruppen dafür, dass dem Verbraucher die Salamistullen gewaltsam in den Rachen gestopft werden. Manchmal tut er sich das sogar selbst an, womöglich mit gutem Gewissen, etwas – laut Verpackung – »Gesundes«, »nachweislich Cholesterinsenkendes«, »Knochenstärkendes« zu konsumieren. Hier kommen weitere Akteure ins Spiel, denn mit be(un)ruhigender Häufigkeit decken Tier- und Umweltschutzvereinigungen Misshandlungen, Etikettenschwindel und Missachtungen geltender Gesetze auf. Sie formulieren ihre Pressemitteilungen stets plakativ und wissen Inszenierungen effektvoll zu gestalten – bleibt die Frage, wie viel die Darstellung mit der Realität gemein hat. Und wie sieht die Realität überhaupt aus für Tiere wie auch für Pflanzen, die Massen von nimmersatten Deutschen zu Dienste sein müssen?

Das einstige Pferd ist schließlich nicht allein auf dem Weg zur Schlachtbank gewesen, sondern umringt von hunderten von Artgenossen. Es bleibt zu spekulieren, wie es sich dabei gefühlt hat. Wirbeltieren schreibt man ja allgemein zumindest so viel Empfindungsvermögen zu, dass sie Schmerz wahrnehmen können. Darüber hinaus jedoch scheiden sich die Geister. Und was empfindet der Pferdebulettenesser? Die gängige industrielle Massenproduktion schafft eine Distanz zwischen Nährendem und sich Nährenden und eine Anonymität, die nie dagewesen ist. Kapitel 4 widmet sich den Standpunkten der verfeindeten Lager. Fleisch- und Pflanzenverfechter holen nämlich dennoch gern die Frühgeschichte des Menschen mit ins argumentative Boot. Auf Teufel komm raus wird beispielsweise die physiologische Beschaffenheit der Menschen wie auch die der Tiere herangezogen.

Das alles und noch vieles mehr werden in diesem Buch beleuchtet. Hinter einer Gabel gewöhnlichen Pferdefleischs steckt eine ganze Welt.