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Inhaltsverzeichnis

Über den Autor
Widmung
VORWORT
TEIL I - Auftritt der Toten
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
TEIL II - Die Jagd nach den Lebenden
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
TEIL III - In Auflösung
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
TEIL IV - Geschäft mit dem Tod
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
Epilog
Copyright

DER AUTOR

Simon Kernick, 1966 geboren, lebt in der Nähe von London und hat zwei Kinder. Die Authentizität seiner Romane ist seiner intensiven Recherche zu verdanken. Im Laufe der Jahre hat er eine außergewöhnlich lange Liste von Kontakten zur Polizei aufgebaut. Sie umfasst erfahrene Beamte der Special Branch, der National Crime Squad (heute SOCA) und der Anti-Terror-Abteilung. Mit Gnadenlos (Relentless) gelang ihm international der Durchbruch, mittlerweile zählt er in Großbritannien zu den erfolgreichsten Thrillerautoren und wurde für mehrere Awards nominiert. Seine Bücher sind in dreizehn Sprachen erschienen. Mehr Infos zum Autor unter www.simonkernick.com.

Epilog

Lächelnd gehe ich auf den Schalter von Philippine Airlines zu und bekomme meinerseits ein Lächeln von der jungen Asiatin. Sie ist älter als ihre Kolleginnen, ungefähr Mitte 30, und ich nehme an, dass sie hier das Sagen hat. Sie begrüßt mich freudig, als wäre es wirklich schön, mich zu sehen, und stellt mir die üblichen Fragen, ob ich mein Gepäck selbst gepackt habe und all so was. Ich beantworte alles korrekt, und wir plaudern ein wenig darüber, wie es um diese Jahreszeit auf den Philippinen ist. »Ich war noch nie dort, wissen Sie«, sage ich, und sie meint, ich würde bestimmt nicht enttäuscht sein. »Nein«, erwidere ich und denke daran, dass es Jahre her ist, dass ich das letzte Mal an einem Palmenstrand gesessen habe. »Bestimmt nicht.« Sie überprüft kurz mein Ticket, sieht, dass alles in Ordnung ist, und schenkt mir ein weiteres Lächeln, während meine Koffer ihre Reise auf dem Förderband antreten.

»Einen angenehmen Flug, Señor Baxter.«

»Werde ich haben, vielen Dank.«

Ich wende mich von dem Schalter ab und mache mich auf den Weg zur Passkontrolle und zu meinem neuen Leben. Ich bin nicht nervös. Es gibt keinen Grund, nervös zu sein. Drei Monate sind seit jenem Abend in Raymonds Haus vergangen, und in einem Land der ständig wechselnden Bilder und der ständig schrumpfenden Aufmerksamkeitsspannen bin ich bereits Schnee von gestern. Außerdem sehe ich anders aus. Ich trage jetzt einen Vollbart und eine Brille, und mein Gesicht wirkt voller. Anderswo habe ich auch zugenommen, besonders um die Taille; das kommt von der ländlichen Küche und davon, dass ich mit dem Rauchen aufgehört habe. Von den Fotos aus der Zeitung würden Sie mich nicht wiedererkennen. Niemand würde mich wiedererkennen.

Und ich fühle mich auch besser, wie ein neuer Mensch, ein Mensch, der die Vergangenheit hinter sich gelassen hat. Natürlich bedaure ich einiges. Dass Carla den Tod gefunden hat, so kurz nachdem ich sie eine Lügnerin genannt habe, wird mir noch lange zu schaffen machen. Aber letztendlich ist die Vergangenheit vergangen, und ich bin froh, das sagen zu können. Ich habe als Individuum mehr erreicht als je als Polizist. Dank des Beweismaterials, das in Raymonds Haus gefunden wurde, und meiner Berichte an Malik und Shelley sitzen Mehmet Illan und mindestens ein halbes Dutzend seiner Spießgesellen hinter Gittern und warten auf ihren Prozess wegen Beteiligung an einem der schwersten Fälle von Menschenschmuggel in der Geschichte Englands. Nigel Grayley, verheiratet und Vater von vier Kindern, wird jedoch nie wegen seiner Verbrechen vor Gericht gestellt werden. Vier Tage nach seiner Verhaftung schnitt er sich mit einer eingeschmuggelten Rasierklinge die Pulsadern auf und verblutete in seiner Zelle. Eine Untersuchung, woher er die Rasierklinge hatte, ist im Gange, doch niemand vergießt Tränen, und die Regenbogenpresse hat die Neuigkeit freudig in alle Himmelsrichtungen hinausposaunt, was auch ganz in Ordnung ist. Ohne ihn ist die Welt ein besserer Ort.

Die sterblichen Überreste von Molly Hagger und den anderen Mädchen wurden nicht gefunden. Die meisten Leute nehmen es hin, dass das Geheimnis ihres Verbleibs mit Raymond gestorben ist, doch es gibt andere, einschließlich mich selbst, die glauben, dass Illan vielleicht ein wenig Licht in dieses Dunkel bringen könnte. Doch er sagt nichts, ebenso wenig wie irgendjemand anders, der es vielleicht weiß. Man kann ihnen deswegen wohl keinen Vorwurf machen. Niemand möchte etwas mit diesem Verbrechen zu tun haben.

Wie nicht anders zu erwarten, hat Danny Jamaika nie erreicht. Eine Woche nach Raymonds Tod wurde seine Leiche, die mehrere Schusswunden aufwies, im Kofferraum eines gestohlenen Wagens im Langzeit-Parkhaus des Flughafens Heathrow gefunden, nachdem ein Wachmann den widerlichen Gestank bemerkt hatte. Ich war traurig, aber nicht überrascht, als ich es in der Zeitung las.

Ein Gutes an der ganzen Sache ist, dass Anne Taylor am Leben ist. Ich hatte in meinem Bericht erwähnt, dass auch sie verschwunden war, obwohl Kover abgestritten hatte, sie entführt zu haben, doch ein paar Tage später tauchte sie unversehrt wieder auf. Sie hatte mit einem anderen, älteren Mädchen einen Abstecher nach Southend unternommen, auf der Suche nach einem neuen Markt für ihre Dienstleistungen. Sie ist noch immer auf einem steinigen Weg, einem Weg, der in ein frühes Grab führen könnte, doch zumindest im Augenblick atmet sie noch dieselbe Luft wie Sie und ich.

Die Mordanklage gegen Mark Wells wurde fallen gelassen; er hat die Londoner Polizei wegen Freiheitsberaubung verklagt und verlangt 200 000 Pfund Schmerzensgeld. Allerdings war es seiner Sache nicht dienlich, dass er nicht einmal einen Monat nach seiner Haftentlassung festgenommen wurde, nachdem er bei dem Versuch gefilmt worden war, einem Polizeibeamten in Zivil Crack und minderjährige Mädchen zu verkaufen. Seither befindet er sich in Polizeigewahrsam.

Und so wurde nur ein einziger Teilnehmer an all dem nicht zur Rechenschaft gezogen. Ein gewisser Dennis Milne, ein mehrfacher Mörder. Zwei Tage nachdem Raymonds Leichnam entdeckt worden war, wurde ich öffentlich als Verdächtiger in dem Traveller’s-Rest-Mordfall genannt. Und obwohl etwas stattgefunden hat, was die Polizei als Großfahndung bezeichnet, konnte ich mich bis jetzt einer Festnahme entziehen. Ich nehme an, jetzt werde ich mich ihr wohl für immer entziehen. Fürs Erste habe ich genug Geld, und ich habe einen Freund auf den Philippinen, für den ich arbeiten kann, wenn es mir schließlich ausgeht. Ich weiß genau, dass ich mich jederzeit auf Tomboy verlassen kann.

Verdiene ich es zu entkommen? In den letzten Monaten habe ich sehr viel darüber nachgedacht. Ich habe sehr schlimme Dinge getan, daran besteht kein Zweifel, und wenn ich noch einmal in dieselbe Lage käme und dabei auch nur die Hälfte von dem wüsste, was ich jetzt weiß, hätte ich an jenem kalten, nassen Abend niemals abgedrückt und drei Unschuldige in den Tod geschickt. Doch man kann an den Sünden der Vergangenheit nichts ändern, man kann sich nur bemühen, die Sünden der Zukunft in Grenzen zu halten und Dinge zu tun, die die Welt ein kleines bisschen besser machen. Was das betrifft, so war ich, glaube ich, zumindest teilweise erfolgreich. Wäre die Welt ohne mich ein besserer Ort? Alles in allem wahrscheinlich nicht. Aber ich muss das wohl sagen, nicht wahr?

Und zu denen, die eines Tages über mich zu Gericht sitzen werden? Was werde ich zu ihnen sagen?

Nur zwei Worte.

Vergebt mir.

1. Kapitel

Es gibt da eine wahre Geschichte; sie geht folgendermaßen: Vor ein paar Jahren entführt ein 32-jähriger Mann eine Zehnjährige auf der Straße in der Nähe des Hauses, wo sie wohnt. Er schleppt sie in seine schmuddelige Ein-Zimmer-Wohnung, fesselt sie ans Bett und unterzieht sie stundenlang brutalen sexuellen Misshandlungen. Wären die Wände nicht dünn wie Papier gewesen, hätte es noch viel schlimmer kommen können. Ein Nachbar hört die Schreie, ruft die Polizei, und die Beamten treten die Tür ein. Das Mädchen wird gerettet, allerdings ist sie anscheinend immer noch von den Spuren dieses Ereignisses gezeichnet. Der Verbrecher wird verhaftet. Sieben Monate später steht er vor Gericht, und seine Anwältin erwirkt auf Grund eines Formfehlers einen Freispruch. Offensichtlich betrachtet sie das Ganze vom juristischen Standpunkt aus: Lieber werden zehn schuldige Verbrecher freigesprochen, als dass ein Unschuldiger hinter Gittern landet. Der Kinderschänder kehrt in das Viertel zurück, wo er das Verbrechen begangen hat, und führt dort ein Leben als freier Mann. Die Anwältin bekommt ihr Honorar, dem Steuerzahler sei Dank, und ein Lob ihrer Partner, weil sie sich so gut geschlagen hat. Wahrscheinlich feiern sie ihren Erfolg sogar mit einem Drink.

Inzwischen lebt jede Mutter und jeder Vater im Umkreis von zwei Meilen von diesem Typen in Angst und Schrecken. Die Polizei versucht, die Situation mit dem Versprechen zu entschärfen, ihn im Auge zu behalten, gibt jedoch zu, dass das alles ist, was sie tun kann. Wie immer bitten sie die Leute, Ruhe zu bewahren.

Drei Monate später wird der Vater des Mädchens dabei erwischt, wie er Benzin durch den Briefschlitz des Kinderschänders gießt. Die Polizei hat ausnahmsweise Wort gehalten und das Haus des Mannes beobachtet. Der Vater wird verhaftet, der Brandstiftung und des versuchten Mordes angeklagt und in Untersuchungshaft genommen. Die Lokalzeitung plädiert dafür, ihn auf freien Fuß zu setzen, und druckt eine Petition, für die an die 20 000 Unterschriften zusammenkommen. Wie nicht anders zu erwarten, ignorieren die Entscheidungsträger dies, das öffentliche Interesse lässt nach, und dann, noch bevor sein Fall zur Verhandlung kommt, erhängt der Vater sich in seiner Zelle. Ist dies die Geschichte einer progressiven, vorwärts blickenden Gesellschaft oder die einer Gesellschaft, die den Bach runtergeht? Sagen Sie mir das.

Die Moral der Geschichte jedoch ist sehr einfach: Wenn Sie jemanden umbringen wollen, planen Sie das Ganze vorher sorgfältig.

 

21 Uhr 01. Wir saßen in einem Wagen auf dem Parkplatz hinter dem Traveller’s Rest Hotel. Es war ein typischer englischer Novemberabend: dunkel, kalt und nass. Nicht gerade die beste Zeit, um draußen zu tun zu haben, aber wer kann sich seine Arbeitszeit heutzutage schon noch aussuchen? Das Traveller’s Rest sah eigentlich gar nicht nach einem geruhsamen Rastplatz aus. Es war eines dieser modernen Ziegelgebäude, mit greller Beleuchtung, Drehtür und jenem Fluch der Moderne, wöchentlichen Karaoke-Abenden. Das Einzige, was sich zu seinen Gunsten sagen ließ, war, dass der vordere Parkplatz gesperrt war, weil er neu asphaltiert wurde. Das bedeutete, dass unsere Zielpersonen auf den hinteren Parkplatz fahren würden, fernab vom Haupteingang und hoffentlich auch von irgendwelchen zufälligen Beobachtern. Würden sie Verdacht schöpfen? Ich bezweifelte es. Jedenfalls nicht, ehe es zu spät war.

Ich hasse diese Warterei. Das ist das Allerschlimmste. Man hat zu viel Zeit zum Nachdenken. Also zündete ich mir eine Zigarette an und inhalierte tief und mit schlechtem Gewissen. Danny rümpfte die Nase, sagte jedoch nichts. Er mag es nicht, wenn man in seiner Gegenwart raucht, aber er gehört nicht zu der Sorte Mensch, die deswegen einen Riesenaufstand macht. Er ist tolerant. Vorhin hatten wir uns über den Fall des »angeblichen« Kinderschänders unterhalten, und Danny hatte den »Lieber-zehn-Schuldige«-Standpunkt der Anwältin vertreten. Das war typisch für ihn. Und außerdem war es Blödsinn. Warum man das Leiden vieler dem Leiden eines Einzelnen vorzieht, ist mir zu hoch. Das ist, als betreibe man einen Fernsehsender, und 20 Millionen Zuschauer wollen Quizsendungen sehen, während zwei Millionen gern Opern hätten, und man zeigt nur Opernaufführungen. Wenn die Leute, die daran glauben, jemals ein Geschäft führen müssten, wären sie schon nach dem ersten Tag pleite.

Aber ich mag Danny. Und ich vertraue ihm. Wir arbeiten schon lange zusammen und kennen jeder die Fähigkeiten des anderen. Und in unserer Branche ist das der Schlüssel zum Erfolg.

Er öffnete das Fenster auf der Fahrerseite, um frische Luft hereinzulassen, und ich schauderte vor Kälte. Es war wirklich ein beschissener Abend.

»Ich persönlich hätte mir die Anwältin vorgeknöpft«, sagte ich.

»Was?«

»Wenn ich der Vater des Mädchens gewesen wäre, hätte ich mir lieber die Anwältin vorgenommen als den Kinderschänder.«

»Wieso? Was hätte das denn bringen sollen?«

»Weil man behaupten könnte, der Kinderschänder hätte nichts dafür gekonnt, dass seine Triebe zu stark gewesen wären, als dass er sich hätte beherrschen können. Ich würde ihm trotzdem die Eier abschneiden, aber darum geht’s gar nicht. Es geht darum, dass die Anwältin die Wahl hatte, ihn nicht zu verteidigen. Sie war eine intelligente, rationale Frau. Sie wusste, was er getan hatte, und trotzdem hat sie alles unternommen, was in ihrer Macht stand, um ihn freizubekommen. Deshalb war ihr Verbrechen das größere.«

»Das kann ich überhaupt nicht nachvollziehen.«

»Das größte Übel in dieser Welt kommt nicht von denen, die Böses tun, sondern von denen, die es entschuldigen.«

Danny schüttelte den Kopf, als könne er nicht glauben, was er gerade gehört hatte. »Mein Gott, Dennis, du hörst dich allmählich an wie so eine Art Todesengel. Reg dich ab. Du bist schließlich auch nicht gerade ein Unschuldslamm.«

Er hatte Recht. Das war ich nicht. Doch ich halte mich für einen Menschen mit Prinzipien – Verhaltenskodexe, die ich strikt befolge –, und das gab mir meiner Ansicht nach das Recht, meine Meinung zu sagen.

Genau das wollte ich Danny gerade wissen lassen, als das Funkgerät knisternd zum Leben erwachte.

»Okay, sie sind hier«, zischte die körperlose Stimme. »Schwarzer Cherokee, drei Insassen. Sie sind es.«

Danny ließ den Motor an, während ich leise aus dem Wagen glitt, die Zigarette wegschnippte und auf die Stelle zuging, wo der Cherokee auftauchen würde. Ich wusste, dass dies die einzige Chance sein würde, die ich bekam.

Ein Scheppern ertönte, als der Jeep über die Geschwindigkeitsschwelle fuhr, dann bog er um die Ecke des Hauptgebäudes und rollte auf der Suche nach einer freien Parkbucht langsam auf den Parkplatz. Ich setzte mich in Trab und fuchtelte mit den Armen, um den Fahrer auf mich aufmerksam zu machen. In meiner Barbour-Windjacke, Hemd und Krawatte war ich ganz der gestresste Geschäftsmann.

Der Cherokee fuhr weiter, hielt jedoch an, als ich die Fahrerseite erreichte und an das Fenster klopfte. »Verzeihung, Entschuldigung.« Meine Stimme klang jetzt anders, höher, weniger selbstsicher.

Das Fenster wurde heruntergelassen, und ein Kerl mit harten Gesichtszügen und einem kantigen Unterkiefer, der aus Gusseisen zu bestehen schien, starrte mich finster an. Ich schätzte ihn auf 35. Mein Gesicht verfiel in nervöse Zuckungen. Sowohl der Typ am Steuer als auch sein Beifahrer, ein kleinerer, älterer Mann mit Pomade im Haar und fettiger Haut, begannen bereits, sich zu entspannen. Sie betrachteten mich nicht als Bedrohung. Nur ein braver Bürger, der seine Steuern zahlt und tut, was man ihm sagt, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Ich hörte, wie der Mann auf dem Rücksitz etwas brummelte. Ich sah ihn nicht einmal an.

»Was wollen Sie?«, herrschte mich der Fahrer ungeduldig an.

»Äh, ich wollte nur fragen …«

Ich zog die Pistole aus der Tasche, verspürte jenen kurzen Anflug paranoider Furcht, dass ich sie nicht entsichert haben könnte, und schoss ihm zweimal ins rechte Auge. Er gab keinen Laut von sich, sondern fiel lediglich in seinen Sitz zurück und hauchte erschauernd sein Leben aus.

Der Beifahrer fluchte laut und riss augenblicklich in dem vergeblichen Versuch, sich zu schützen, die Arme hoch. Ich bückte mich etwas, um ihn besser ins Schussfeld zu bekommen, und feuerte zwei weitere Schüsse ab. Einer traf ihn in den Ellbogen, der andere in den Unterkiefer. Ich hörte den Knochen splittern. Er kreischte vor Schmerz und hustete dann heftig, als sich sein Mund mit Blut füllte. Verzweifelt versuchte er sich in seinem Sitz zu verkriechen und drehte und wand sich wie ein Verrückter, unfähig, zu akzeptieren, dass alles vorbei war. Ich zielte erneut, schoss noch einmal und traf ihn mitten in die Stirn.

Das Fenster hinter ihm färbte sich rot, und seine schmierigen Gesichtszüge entspannten sich augenblicklich. Bis jetzt hatte das Ganze ungefähr drei Sekunden gedauert.

Doch der Mann auf dem Rücksitz war schnell. Er drückte bereits die Tür auf und schickte sich an, auszusteigen. In der Hand hielt er etwas, das aussah wie eine Waffe. Ich hatte keine Zeit, genauer hinzusehen. Stattdessen trat ich drei Schritte zurück und drückte ab, als er in mein Blickfeld kam. Ich erwischte ihn irgendwo am Oberkörper, doch er kam immer weiter auf mich zu. Also feuerte ich weiter, hielt die Pistole mit beiden Händen und biss die Zähne zusammen, während die Explosionen in meinen Ohren dröhnten. Die Wucht der Kugeln trieb ihn zurück, schleuderte ihn gegen die Autotür. Er vollführte einen wahnsinnigen, wirren Tanz zur Melodie der Schüsse; seine Arme und Beine schlugen wild um sich, und rote Flecken erschienen wie Pocken auf seinem gestärkten weißen Hemd.

Und dann war das Magazin leer, und alles endete ebenso plötzlich und dramatisch, wie es begonnen hatte.

Eine Sekunde lang blieb er aufrecht stehen und hielt sich an der Wagentür fest, während die Energie fast sichtbar aus ihm herausströmte. Dann fiel er halb hin, halb setzte er sich, während seine Hand von der Tür abglitt. Er blickte hinunter auf das Blut auf seinem Hemd, schaute dann auf und sah mich an, und ich konnte sein Gesicht sehen, worauf ich überhaupt nicht scharf war, denn er war jung, vielleicht Ende zwanzig, und sein Gesichtsausdruck war irgendwie falsch. Ich meine, das war nicht der Gesichtsausdruck eines Sünders. Kein Trotz, keine Wut. Nur Schock. Schockiert, dass ihm sein Leben gestohlen wurde. Er sah aus wie ein Mann, der fand, dass er das nicht verdient hatte, und das war der Moment, in dem ich hätte begreifen sollen, dass ich einen furchtbaren Fehler gemacht hatte.

Stattdessen wandte ich mich von seinem starren Blick ab und lud meine Waffe neu. Dann trat ich vor und schoss ihm dreimal in den Kopf. Das Handy, das er in der Hand gehalten hatte, fiel laut klappernd zu Boden.

Ich ließ die Pistole in meine Jackentasche gleiten und wandte mich zu Danny um, der mit dem Wagen ankam.

Und dabei erblickte ich das Mädchen. Sie stand vielleicht 15 Meter entfernt in der Tür des Notausgangs, einen vollen Müllsack in jeder Hand. Sie war höchstens 18, und sie starrte mich an, immer noch zu geschockt, um zu begreifen, dass das, was sie da gerade mit angesehen hatte, wirklich passiert war. Was nun? Ein Film-Profikiller hätte sie mit einem einzigen Kopfschuss erledigt, aber es war absolut nicht sicher, ob ich sie von da, wo ich stand, überhaupt hätte treffen können. Und außerdem habe ich kein Interesse daran, Zivilisten etwas anzutun.

Sie schlug die Hand vor den Mund, als sie merkte, dass ich sie gesehen hatte, und ich wusste, dass sie jeden Augenblick losschreien würde, wahrscheinlich laut genug, um die Toten aufzuwecken, was mir, nachdem die Toten gerade erst tot waren, ganz und gar nicht recht gewesen wäre. Also senkte ich den Blick, eilte um das Auto herum zur Beifahrertür und hoffte, dass mein Gesicht in der Düsternis und dem Regen zu undeutlich gewesen war, als dass sie eine brauchbare Beschreibung von mir abgeben könnte.

Ich sprang in den Wagen und hielt den Kopf tief gesenkt. Danny sagte kein Wort. Er trat lediglich aufs Gas, und wir waren weg.

Es war 21 Uhr 04.

 

Die Fahrt zu der Stelle, an der wir das erste Mal das Fahrzeug wechseln würden, dauerte genau vier Minuten; wir legten dabei eine Strecke von etwa zweieinhalb Meilen zurück. Am Nachmittag hatten wir einen Ford Mondeo in einem ruhigen Waldgebiet geparkt. Jetzt hielt Danny dahinter, stellte den Motor ab und stieg aus. Ich griff unter den Beifahrersitz und holte einen vollen Fünf-Liter-Kanister mit Benzin heraus, das ich großzügig über das Innere des Wagens verteilte. Als der Kanister leer war, stieg ich aus, zündete ein Streichholzbriefchen an, trat weit genug zurück und warf es in den Wagen, gefolgt von der Mordwaffe und dem tragbaren Funkgerät, das ich benutzt hatte. Es gab ein äußerst befriedigendes Wuuusch!, als das Benzin Feuer fing, und gleich darauf spürte ich eine Hitzewelle.

Wenn sie den verbogenen Schrotthaufen entdeckten, würde dieser ihnen nicht weiterhelfen. Wir hatten keine Fingerabdrücke hinterlassen, und das Auto selbst konnte fast unmöglich zurückverfolgt werden. Es war vor sechs Monaten in Birmingham gestohlen worden, hatte neue Nummernschilder bekommen, war umgespritzt worden und hatte seither in Cardiff in einem Lagerschuppen gestanden. In dieser Branche kann man nicht vorsichtig genug sein. Allen gegenteiligen Behauptungen zum Trotz könnten die meisten Detectives nicht einmal den Puls eines Kokainsüchtigen finden, aber man weiß ja nie, wann man es mit dem nächsten Ellery Queen zu tun bekommt.

Jetzt folgten wir einer im Voraus geplanten Route über Nebenstraßen und Fahrwege, und es war 21 Uhr 16, als wir auf den Parkplatz des Ye Old Belle fuhren, eines voll besetzten Pubs am Rand eines wohlhabenden Pendlervororts. Danny fuhr bis ans Ende des Parkplatzes und hielt hinter einem burgunderroten Rover 600.

Hier trennten wir uns.

»Hat das Mädchen dein Gesicht gesehen?«, wollte er wissen, als ich die Wagentür öffnete. Es war das Erste, was er seit den Schüssen sagte.

»Nein, alles klar. Es war zu dunkel.«

Er seufzte. »Mir gefällt das nicht. Drei Morde, und jetzt haben wir eine Zeugin.«

Es hörte sich zugegebenermaßen nicht besonders gut an, wenn er es so zusammenfasste, doch zu diesem Zeitpunkt gab es keinen Grund, anzunehmen, dass nicht alles in bester Ordnung war.

»Keine Sorge. Wir haben unsere Spuren gut verwischt.«

»Wegen dieser Geschichte wird’s einen Riesenwirbel geben, Dennis.«

»Das haben wir beide gewusst, als wir den Job angenommen haben. Solange wir ruhig bleiben und den Mund halten, kriegen wir nichts davon ab.«

Ich klopfte ihm freundlich auf die Schulter und sagte, ich würde ihn morgen anrufen.

Die Schlüssel des Rover lagen hinter dem Vorderreifen auf der Fahrerseite. Ich stieg ein, ließ den Motor an und folgte Danny vom Parkplatz. Er bog nach Süden ab, ich nach Norden.

Und damit hätte alles gelaufen sein sollen, aber heute war nicht meine Glücksnacht. Ich hatte kaum drei Meilen zurückgelegt und befand mich kurz vor der Abzweigung nach London, als ich auf eine improvisierte Straßensperre stieß. Zwei Fiat Pandas mit blinkenden Warnlichtern standen am Straßenrand, und Polizisten in fluoreszierenden Sicherheitswesten drängten sich um einen BMW, den sie bereits angehalten hatten. Mein Herz machte unwillkürlich einen Satz, doch ich riss mich schnell wieder zusammen. Kein Anlass zur Sorge. Ich war allein, unbewaffnet und fuhr einen Wagen, der dem Traveller’s Rest Hotel niemals näher gekommen war als fünf Meilen. Außerdem konnten sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal eine vage Beschreibung von mir haben. Die Uhr auf dem Armaturenbrett zeigte 21 Uhr 22.

Einer der Beamten sah mich kommen, trat auf die Straße, blinkte mit seiner Taschenlampe und bedeutete mir, hinter dem anderen Wagen zu halten. Ich tat, was er wollte, und kurbelte das Fenster herunter, als er auf die Fahrertür zukam. Er war jung, nicht älter als 23, mit einem richtigen Kindergesicht. Es heißt, man merkt, dass man alt wird, wenn die Polizisten jung aussehen. Ich hätte fast der Vater des Kleinen hier sein können. Außerdem sah er sehr eifrig aus. Das würde nicht lange anhalten. Ein zweiter Officer stand ein Stück hinter ihm und sah zu, doch die anderen beiden waren mit dem Fahrer des BMW beschäftigt. Keiner von ihnen schien bewaffnet zu sein, was ich unter den gegebenen Umständen für ziemlich blöd hielt. Ich hätte die Straßensperre durchbrechen können, und sie hätten keine Chance gehabt.

»Guten Abend, Sir.« Er beugte sich zum Fenster hinunter und betrachtete mich und das Auto eingehend und höflich.

Höflichkeit zahlt sich immer aus. »’n Abend, Officer. Was kann ich für Sie tun?«

»Bei einem Hotel namens Traveller’s Rest an der A10 hat’s Ärger gegeben. Ungefähr vor einer Viertelstunde. Sie kommen nicht zufällig aus der Richtung, oder?«

»Nein«, antwortete ich. »Ich komme aus Clavering. Bin unterwegs nach London.«

Er nickte verständnisvoll und sah mich dann erneut an. Man konnte erkennen, dass er aus irgendeinem Grund nicht vollständig überzeugt war, obwohl ich nicht weiß, warum. Ich bin kein Mensch, der Verdacht erregt. Ich sehe wirklich aus wie ein netter Kerl. Das Ganze hätte keinen inneren Alarm auslösen sollen.

Doch genau das war passiert. Vielleicht war ich soeben meinem neuen Ellery Queen begegnet. »Können Sie sich ausweisen, Sir? Nur fürs Protokoll.«

Ich seufzte; ich wollte mich nicht ausweisen, weil ich mir damit langfristig alle möglichen Probleme einhandeln konnte, doch mir schien nicht viel anderes übrig zu bleiben.

Für den Bruchteil einer Sekunde zögerte ich.

Dann griff ich in die Tasche und reichte ihm meinen Dienstausweis.

Er nahm ihn, inspizierte ihn sorgfältig, schaute mich wieder an und starrte dann erneut auf den Ausweis, um sich zu vergewissern. Wahrscheinlich fragte er sich, wie sein Instinkt ihn so getäuscht haben konnte. Als er wieder zu mir aufblickte, sah er sehr verlegen aus.

»Detective Sergeant Milne, Sir. Es tut mir Leid. Das wusste ich nicht.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Natürlich nicht. Sie machen nur Ihren Job. Aber wenn es Ihnen nichts ausmacht, ich hab’s ein bisschen eilig.«

»Sicher, Sir, kein Problem.« Er trat von dem Rover zurück. »Einen schönen Abend noch.«

Ich sagte Gute Nacht und legte den Rückwärtsgang ein. Armer Kerl. Ich konnte mich noch gut daran erinnern, was es hieß, an einem solchen Abend draußen zu sein und für einen Hungerlohn stundenlang in der Gegend herumzustehen, während es einem auf den Kopf pisste. Zu wissen, dass diejenigen, die man suchen sollte, wahrscheinlich meilenweit weg waren. Oh, die Freuden des Daseins als Streifenbulle.

Ich winkte, als ich an ihm vorbeifuhr. Er winkte zurück. Wie lange würde es wohl dauern, bis er seinen Enthusiasmus verlor; wie lange, bis auch er begriff, dass er bloß gegen eine Mauer anrannte, wenn er sich an die Regeln hielt?

Ich gab ihm zwei Jahre.

2. Kapitel

Ich kannte mal einen Typen namens Tom Darke. Tomboy, wie er allgemein genannt wurde, kaufte und verkaufte heiße Ware. Wenn man etwas geklaut hatte – egal was –, machte Tomboy einem einen Preis, und man konnte sicher sein, dass er irgendwo einen Kunden sitzen hatte, der ihm das Diebesgut abnehmen würde. Außerdem war er ein Informant, und ein guter noch dazu, wenn man danach ging, für wie viele Verurteilungen seine Informationen sorgten. Das Geheimnis seines Erfolges lag in der Tatsache, dass er ein liebenswerter Kerl war, in dessen Gesellschaft man sich wohl fühlte. Er sagte immer, er höre eher gut zu, als besonders intensiv zu lauschen, und er stellte nie zu viele Fragen. Entsprechend passierte in der kriminellen Szene von North London nicht viel, wovon er nichts wusste, und seine freundliche, leutselige Art war so echt, dass niemand den alten Tomboy verdächtigte, nicht einmal, als die schweren Jungs der Gegend einer nach dem anderen Bauchlandungen hinlegten wie übergewichtige Fallschirmjäger.

Ich hatte ihn einmal gefragt, warum er das tat. Wieso verpfiff er Typen, die eigentlich seine Kumpels sein sollten? Die Sache war die, er kam mir eigentlich gar nicht vor wie ein Spitzel. Er sah aus wie ein anständiger Kerl, der über solch kleinlichen Täuschungen stand. Tomboy hatte zwei Antworten auf diese Frage parat.

Die erste lag klar auf der Hand. Geld. Für Informationen über Kriminelle wurden hohe Belohnungen geboten, und Tomboy brauchte die Kohle. Er wollte sich als freier Mann aus dem Spiel zurückziehen, denn er glaubte, dass die moderne Technologie, die der Polizei neuerdings zur Verfügung stand, um Verbrechen zu bekämpfen, für Mittelklasse-Ganoven wie ihn das Ende bedeutete. Es ging ihm also darum, sein Schäfchen ins Trockene zu bringen, solange er noch konnte, sich ein hübsches Sümmchen zusammenzuscheffeln (die angepeilte Marke lag bei 50 000 Pfund) und dann die Kurve zu kratzen.

Die zweite Antwort lautete, dass, wenn er die Gauner nicht verpfiff, es jemand anders tun würde. Kriminelle sind immer notorische Angeber. Da sie aus Angst vor Strafe nicht der ganzen Welt erzählen können, was sie getan haben, prahlen sie gern untereinander mit ihren Heldentaten. Und da sie per definitionem ein unehrlicher Haufen sind – wie Tomboy einmal sagte: »Wer hat denn je von so etwas wie Diebesehre gehört?« –, wird sie früher oder später jemand verraten, wenn dabei genug Bares herausspringt. Wenn man seiner Erklärung Glauben schenken wollte, petzte er lediglich als Erster.

Das war also Tomboys Philosophie. Es hat keinen Sinn, etwas nicht zu tun, denn auf die eine oder andere Weise passiert es doch, und wenn man dafür bezahlt wird, dass man es tut, umso besser. Ich dachte darüber nach, als ich an jenem Abend durch den Regen nach Hause fuhr. Hätte ich die Männer nicht getötet, dann hätte jemand anders sie erschossen. So oder so wären sie am Ende tot gewesen. Wenn man sich in einer Branche bewegt, in der man sich Menschen zum Feind macht, die dafür bezahlen, dass man getötet wird, muss man bereit sein, die Konsequenzen zu tragen. So rechtfertigte ich mein Tun vor mir selbst, und so hatte auch Tomboy sich immer mir gegenüber gerechtfertigt. Und es hatte ihm nie geschadet. Es schien sich für ihn sogar ausgezahlt zu haben. Das Letzte, was ich von ihm gehört hatte, war, dass er auf den Philippinen lebte. Er hatte seine 50 Riesen zusammenbekommen, wie ich ihn kannte wahrscheinlich sogar noch sehr viel mehr, und das Geld in eine Strandbar und ein Gästehaus auf irgendeiner entlegenen Insel gesteckt. Vor ein paar Jahren hatte er mir eine Postkarte von dort geschickt, auf der er das entspannte Strandleben pries. Am Schluss hatte er geschrieben, falls ich je Lust auf einen Job bei ihm hätte, sollte ich es ihn wissen lassen.

Mehr als einmal war ich versucht gewesen, sein Angebot anzunehmen.

 

Es war fast elf, als ich an diesem Abend daheim ankam. Mein Zuhause war eine Zweizimmerwohnung am südlichen Ende von Islington, nicht weit von der City Road. Das Erste, was ich tat, war, lange und heiß zu duschen, um die Kälte aus meinen Knochen zu vertreiben, ehe ich mir ein großes Glas Rotwein einschenkte und mich auf dem Sofa im Wohnzimmer niederließ.

Ich zündete mir eine Zigarette an, schaltete den Fernseher ein und entspannte mich zum ersten Mal an diesem Tag richtig. Während ich einen langen, geruhsamen Lungenzug nahm, freute ich mich darüber, dass eine potenziell gefährliche Aufgabe erfolgreich zum Abschluss gebracht worden war, und zappte durch die Programme, bis ich einen Bericht über die Morde fand. Ich brauchte nicht lange. Mord ist ein Zahlenspiel. Bringt man jemanden um, schafft man es kaum in den Lokalteil der Zeitung. Bringt man dagegen drei Menschen um, besonders in aller Öffentlichkeit, macht man Schlagzeilen. So etwas bringt ein wenig Aufregung in den ewig gleichen Trott des Alltags, umso mehr, wenn das Verbrechen alle Merkmale einer Bandenschießerei aufweist. Schießereien sind unterhaltsam, weil sie nicht allzu persönlich sind. Sie geben ein gutes Gesprächsthema ab.

Verständlicherweise gab es noch nicht viele Einzelheiten zu berichten. Der Nachrichtensender, den ich eingeschaltet hatte, zeigte eine junge Reporterin am Tatort. Sie sah aus, als fröre sie, schien aber trotzdem ganz aufgekratzt angesichts des Geschehens, das wahrscheinlich eine saftige, karrierefördernde Story abgab. Es regnete immer noch, doch jetzt war es so ein leichter Nieselregen, der einen irgendwie noch gründlicher zu durchnässen scheint. Die Reporterin hatte sich auf dem hinteren Parkplatz aufgebaut, und man konnte den Cherokee im Hintergrund erkennen, etwa 20 Meter entfernt, hinter grellfarbigem Polizei-Absperrband. Eine Horde Polizeibeamte und Leute von der Spurensicherung in weißen Kitteln wimmelten um den Wagen herum.

Der Bericht dauerte nicht lange. Die junge Frau bestätigte, dass drei Männer ermordet worden waren – über die Identität der Opfer war noch nichts bekannt –, und mutmaßte, dass sie wohl erschossen worden waren. Dann holte sie den stellvertretenden Hotelmanager vor die Kamera, einen hoch gewachsenen, pickligen jungen Mann, der aussah, als sei er gerade erst mit der Schule fertig, und bat ihn um einen Kommentar. Dieser war nicht allzu aufschlussreich. Der Junge blinzelte durch seine Brille und erklärte, er hätte gerade am Empfang gearbeitet, als er vom hinteren Parkplatz ein paar schwache Knallgeräusche gehört habe (das sagen sie immer). Er hätte sich nichts weiter dabei gedacht, aber eine der Küchenhilfen sei schreiend hereingestürzt und hätte etwas von Mord gebrüllt. Er, der stellvertretende Manager, sei tapfer hinausgegangen, um nachzusehen, und hätte mein Werk sofort entdeckt, worauf er die Polizei gerufen habe. »Es war ein großer Schock für uns alle«, gestand er der Reporterin. »In einer ruhigen Gegend wie dieser hier rechnet man nicht mit so was.« So etwas Ähnliches sagen sie anscheinend auch immer.

Die Reporterin bedankte sich bei ihm, ehe sie sich wieder der Kamera zuwandte und atemlos weitere Informationen versprach, sobald sie ihr zuteil würden. Dann gab sie zurück ins Studio. Auf jeden Fall sah es so aus, als hätte ich ihr den Abend gerettet.

Ich nahm einen Schluck Wein, behielt ihn einen Moment im Mund und schaltete um. Auf dem Discovery Channel lief eine Sendung über Weiße Haie, und ich schaute sie mir eine Weile an, ohne mich besonders zu konzentrieren. Obgleich ich versuchte, die Ereignisse des Tages aus meinem Kopf zu streichen, fiel es mir schwer, nicht an die Morde zu denken. Wahrscheinlich wurde mir das Ausmaß dessen, was ich getan hatte, erst jetzt richtig bewusst. Drei Leben, und ich hatte sie einfach ausgelöscht. Es war, als hätte ich eine Schwelle überschritten. Ich hatte schon früher getötet, das dürfte wohl mittlerweile klar sein, aber erst zweimal und unter ganz anderen Umständen.

Das erste Mal war vor zwölf Jahren gewesen. Ich hatte zu einer Gruppe bewaffneter Beamter gehört, die zu einem Ehestreit in einem Haus in Haringey gerufen worden war. Ein Mann bedrohte seine Lebensgefährtin und ihre beiden kleinen Kinder mit einer Pistole und einem Fleischmesser. Die Polizei versuchte, per Telefon mit ihm zu verhandeln, doch der Kerl war zugedröhnt bis unter die Schädeldecke, brüllte unverständliches Zeug, und die Verhandlungen kamen nicht vom Fleck.

Geiselnahmen sind das Frustrierendste, womit ein Polizist zu tun haben kann. Man hat die Situation so gut wie überhaupt nicht unter Kontrolle, deshalb darf man nicht einen Moment in seiner Wachsamkeit nachlassen, weil ja gleich etwas passieren könnte. Meistens jedoch passiert gar nichts. Der Belagerte grübelt über seine Chancen nach und begreift endlich, dass er hier nicht rauskommt, es sei denn in Handschellen oder in einem Zinksarg. Schließlich lässt er seine Geiseln laufen und kommt einfach zur Tür raus. Es ist frustrierend, weil man etwas tun, weil man helfen möchte, das Ganze zu beenden, aber im Großen und Ganzen ist man eigentlich ziemlich irrelevant.

Am Tag der Haringey-Geiselnahme war es heiß, das weiß ich noch. Heiß und drückend. Wir waren seit etwa einer Stunde am Schauplatz des Geschehens und hatten das Haus vollkommen umstellt, als unser Geiselnehmer plötzlich ohne Vorwarnung mit nacktem Oberkörper im Fenster erschien, seine Pistole in der Hand. Er war groß, hatte einen Bauchansatz, und quer über seine Brust war ein Adler tätowiert. Er brüllte irgendetwas hinter der Scheibe, öffnete dann den oberen Teil des Fensters und grölte irgendetwas anderes, genauso Unverständliches. Ich hockte zehn Meter entfernt hinter einem Auto. Neben mir kauerte ein zweiter Officer. Er war etwa 15 Jahre älter als ich und hieß Renfrew. Ich erinnere mich noch, dass er ein paar Jahre später in Frührente ging, nachdem er bei dem Versuch, eine Kneipenschlägerei zu beenden, ein Glas ins Gesicht gekriegt hatte. Renfrew fluchte leise auf den Geiselnehmer. Es war ihm anzumerken, dass er ihn gern abgeknallt hätte. Warum auch nicht? Der Typ war nichts als ein überflüssiger Junkie, der der Welt bei weitem mehr Schaden zufügte, als er ihr nützte. Doch Renfrew war ein Profi, und wie viele andere Polizisten schielte auch er mit einem Auge auf seine Pension und hätte deshalb nie etwas getan, was seine Karriere hätte gefährden können. Ich war damals noch ein bisschen idealistisch und dachte nicht an meine Pension. Ich dachte an die Frau und die Kinder, die da drin mit einem unberechenbaren Verrückten festsaßen.

Ich trug einen Knopf im Ohr, aus dem die Stimme des Einsatzleiters drang. Nicht feuern, befahl er. Wir verhandeln noch. Behaltet ihn im Visier, aber feuert nicht.

Und dann, einfach so, hob unser Geiselnehmer die Pistole und zielte hektisch auf uns. Der Einsatzleiter zischte irgendwas in meinen Ohrstöpsel, doch ich hörte es nicht. Es sah aus, als wolle der Kerl abdrücken. Ich wusste, dass er mich von da, wo er stand, nicht treffen konnte. Ich hatte gute Deckung, und er schien viel zu stoned zu sein, um richtig zu zielen, doch ich war trotzdem nervös. Und wütend. Dieser Dreckskerl wollte nur seine Macht demonstrieren; er wusste genau, dass wir wie die Idioten tatenlos dastehen mussten, gelähmt von unseren eigenen Einsatzregeln. Das machte mich wütend, richtig wütend.

Also habe ich abgedrückt. Zwei Schüsse aus der Browning. Durch das Fenster und in seinen Oberkörper. Einer davon traf ihn ins Herz, doch die Autopsie ergab später, dass jede der beiden Kugeln tödlich gewesen wäre. Er war auf der Stelle tot, glaube ich. Jedenfalls war er tot, ehe jemand ihm Erste Hilfe leisten konnte.

Man bot mir psychologische Betreuung an, und ich nahm das Angebot an, weil man mir sagte, wenn ich es nicht täte, sähe das so aus, als wäre es mir egal, dass ich einen Menschen getötet hatte. Es half mir nicht besonders, hauptsächlich deshalb, weil es mir in der Tat ziemlich egal war, dass ich ihn getötet hatte. Um ehrlich zu sein, war ich sogar froh darüber. Er hatte mich töten wollen, und ich hatte ihn zuerst erwischt. Natürlich erwähnte ich das dem Therapeuten gegenüber nicht. Ich erzählte ihm, dass ich es zutiefst bereute, ein Leben beendet zu haben, auch wenn es in Erfüllung meiner Pflicht geschehen war. Ich nahm an, dass er genau das hören wollte.

Es gab eine Untersuchung, und ich musste aussagen. Auch von einer Anklage wurde geredet, besonders nachdem sich herausstellte, dass die Pistole, mit der der Mann herumgefuchtelt hatte, nicht echt war, und ich wurde für fast zwei Monate suspendiert, allerdings wenigstens bei vollem Gehalt. Am zweiten Tag der Untersuchung stieß ich mit der Lebensgefährtin des Toten und ihrem Bruder zusammen, als ich das Revier durch eine Seitentür verließ. Sie spuckte mir ins Gesicht und nannte mich einen Mörder, und ihr Bruder versetzte mir einen Faustschlag gegen die Schläfe. Ein Streifenbeamter ging dazwischen, bevor die Situation weiter eskalierte, doch der Zwischenfall lehrte mich zwei Dinge. Erstens, zähl nie auf die Menschen, denen du helfen willst. Wie Politiker im Laufe der Jahre oft zu ihrem eigenen Schaden herausgefunden hatten, kann die Hand, die einem heute auf den Rücken klopft, einen morgen ohne weiteres an den Eiern packen. Und zweitens, zähl auch sonst auf niemanden. In dieser Welt muss man sich an die Tatsache gewöhnen, dass man letzten Endes allein dasteht.

Ich wurde nie offiziell dafür getadelt, dass ich den 33-jährigen Darren John Reid getötete hatte (dessen Vorstrafenregister, wie sich herausstellte, 29 Verurteilungen aufwies, darunter elf wegen Körperverletzung, vier davon an seiner Freundin), doch sie hätten mich genauso gut abmahnen können. Ich wurde von jeglicher Pflichtausübung entbunden, die den Gebrauch von Schusswaffen einschloss (eine Einschränkung, die noch heute gilt), der Besitz von Feuerwaffen wurde mir untersagt, und mein Aufstieg auf der Karriereleiter verlangsamte sich während der nächsten paar Jahre dramatisch. Verbrechen scheinen sich nur für Verbrecher auszuzahlen.

Ich bin kein schlechter Mensch, was immer die, die gern über andere urteilen, auch denken mögen. Als ich anfing, dachte ich wirklich, ich könnte etwas bewegen. Mein einziger Beweggrund war, die Kriminellen von der Straße zu schaffen und sie für ihre Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen. Nach der Reid-Geschichte wurde es mir allmählich gleichgültig. Wahrscheinlich ging mir auf, was jeder Strafverteidiger weiß: Wie gut auch immer die Absichten seiner Schöpfer gewesen sein mögen, in der alltäglichen Anwendung dient das Gesetz einzig und allein dazu, dem Verbrecher zu helfen, die Polizei zu behindern und das Opfer zu ignorieren.

Nachdem ich erst einmal derart zynisch geworden war, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis ich in die falsche Gesellschaft geriet. In diesem Fall war die falsche Gesellschaft ungefähr so falsch, wie sie nur sein konnte, obgleich ich, als ich anfing, Geschäfte mit Raymond Keen zu machen, einem von North Londons zweifelhafteren Unternehmern, noch nicht wusste, wie weit das Ganze gehen würde.

Ich unterhalte jetzt seit ungefähr sieben Jahren eine Geschäftsbeziehung zu Raymond. Anfangs war es noch nicht allzu ernst; das ist immer so. Nur ein paar Tipps hier und da, eine hilfreiche Warnung vor bevorstehenden Polizeiaktionen, das eine oder andere Beutelchen Stoff aus dem Beweismittellager des Reviers, das ich ihm verkaufte. Kleinigkeiten, doch wie bei Krebsgeschwüren waren es Kleinigkeiten, die unaufhaltsam größer wurden. Ich war nicht einmal sonderlich überrascht, als er mich vor zwei Jahren bat, einen korrupten Geschäftsmann zu töten, der sich rundheraus weigerte, ihm die 22 Riesen zu bezahlen, die er ihm schuldete. Dieser Geschäftsmann war ein Widerling. Ein Ableger seines Gewerbes bestand darin, Kinderpornos zu importieren. Raymond bot mir zehn Riesen dafür, ihn zu beseitigen. »Das wird ein Befreiungsschlag für alle Kreditgeber«, hatte er gesagt, obwohl ich mir nicht ganz sicher war, wie viele Kreditgeber seinem Beispiel folgen und ihre Auslagen derart endgültig abschreiben würden. Doch zehn Riesen sind eine Menge Geld, besonders, wenn man von einem Polizistengehalt lebt, und wie schon gesagt, der Kerl gehörte nicht zu der Sorte Mensch, die man vermissen würde. Also wartete ich eines Nachts vor dem Lagerschuppen, den er benutzte, auf ihn. Sobald er herauskam und zu seinem Wagen ging, trat ich aus dem Schatten und folgte ihm. Als er die Wagentür öffnete, setzte ich den Schalldämpfer an seinen kahlen Hinterkopf und drückte ab. Mehr als ein Schuss war nicht nötig, aber ich schoss zur Sicherheit noch einmal. Pop. Pop. Das war’s. Und ich war um zehn Riesen reicher. Es war ganz einfach.

Aber drei Tote auf einen Schlag? Danny hatte Recht, das würde einen Riesenwirbel geben, obgleich Raymond, der das Ganze angeleiert hatte, sich keine allzu großen Sorgen zu machen schien, dass etwas davon auf ihn zurückfallen könnte. Doch Raymond war auch nicht der Typ, der sich Sorgen machte – was in dieser Branche wohl von Vorteil ist, nehme ich an.

Es wurde spät. Ich leerte mein Weinglas, trank ein Glas Leitungswasser, um den dehydrierenden Effekt des Alkohols zu neutralisieren, und ging ins Bett. Wenn ich jetzt zurückblicke, hatte ich schon damals ein ungutes Gefühl bei der ganzen Geschichte, gab mir jedoch alle Mühe, es mir nicht einzugestehen. Raymond Keen hatte mir 40 Riesen dafür gezahlt, diese Männer zu töten. Das war sehr viel Geld, selbst wenn Danny seine 20 Prozent abkassierte. Genug, um eine Menge zu rechtfertigen.

Aber nicht annähernd genug, um das zu rechtfertigen, was folgen sollte.