Über das Buch:
»Ich glaube, ich bin Gott ein bisschen böse, weil es nicht so gekommen ist, wie ich es mir immer ausgemalt habe.«
Durststrecken und Dürreperioden kennt jeder Christ, auch die Bestsellerautorin Lynn Austin. Ihr Leben hat innerhalb kürzester Zeit eine andere Richtung eingeschlagen als die geplante. Auf einer Reise durch Israel will sie innehalten und Gott neu begegnen. Dabei besucht sie viele biblische Stätten, beschäftigt sich intensiv mit der Bibel und macht ganz erstaunliche Entdeckungen, die sie mit ihren Lesern in zwölf Kapiteln teilt.

Über die Autorin:
Lynn Austin ist verheiratet, hat drei erwachsene Kinder und lebt am Lake Michigan. Ihre zahlreichen Romane sind allesamt Bestseller und mit unzähligen Preisen ausgezeichnet worden. In Deutschland hat sie inzwischen eine riesige Fangemeinde und gilt als eine der meistgelesenen Autorinnen im christlichen Romanbereich.

8. Die judäische Landschaft

Singt dem Herrn und preist seinen Namen! Verkündet jeden Tag: Gott ist ein Gott, der rettet! Erzählt den Völkern von seiner Hoheit! Macht den Menschen alle seine Wunder bekannt!

Psalm 96,2-3

Wenn ich in der Bibel las, wie Menschen von einer Stadt zur anderen gingen, war mir nie bewusst, wie lang die Strecken waren, die sie zurücklegten, oder wie gebirgig die Landschaft war. Ich habe einen ganz neuen Respekt für die körperliche Fitness dieser Leute entwickelt! Auf unserem Weg von Jerusalem an die Mittelmeerküste reisen wir durch die Region, die zur Zeit Jesu als Judäa bekannt war. Die Hügel sind hier grün von Bäumen und Feldern und dazwischen verstreut sieht man Felsen und Dörfer. Zwischen den Hügeln gedeihen Obstplantagen und Weinberge.

Wir verlassen die Hauptverkehrsstraße, um an der Festung von Latrun haltzumachen, einem echten militärischen Stützpunkt, der noch im Sechstagekrieg 1967 in Gebrauch war. Seine Sandsteinmauern tragen Wunden von Kanonenkugeln, Artillerie- und Maschinengewehrfeuer. Ich müsste inzwischen eigentlich daran gewöhnt sein, die vielen Hügel Israels hinaufzusteigen, aber ich bin trotzdem außer Atem, als ich die Festung vom Parkplatz aus erreicht habe. Doch die Mühe lohnt sich, wenn man die Aussicht bedenkt. Die Hauptstraße von der Küstenebene nach Jerusalem erstreckt sich gut sichtbar unter uns und erlaubt somit, auch die näher kommenden Feinde Israels zu sehen. Die imposante Steinfestung steht bereit, sozusagen die Hände in die Hüften gestemmt, als wollte sie die Angreifer herausfordern, es nur zu wagen.

Das breite grüne Ajalon-Tal liegt unter mir, gesprenkelt mit Feldern und Weinbergen und von den umliegenden Bergen umarmt. Ich staune immer wieder über Israels vielfältige Schönheit – und Geschichte. Dies ist das berühmte Tal, in dem Gott die Sonne mitten am Tag stillstehen ließ, damit Josua seine Feinde besiegen konnte. „Weder vorher noch nachher hat es je einen Tag gegeben, an dem der Herr auf eine so außergewöhnliche Bitte gehört hätte. Damals aber tat er es, denn er kämpfte auf der Seite Israels“ (Josua 10,14).

Heute ist die Festung von Latrun eine Kriegsgedenkstätte für die israelischen Truppen, ein Ort, den Familien und Mitsoldaten besuchen, um ihrer Lieben zu gedenken, die im Kampf gefallen sind. Der große Platz um die Festung herum dient als Freilicht-Panzermuseum mit mehr als einhundert Fahrzeugen verschiedener Marken und Bauweisen. Die Männer in unserer Gruppe sind fasziniert von den Erläuterungen durch unseren Reiseleiter, aber mir wird es langweilig. Ich drehe mich um und lasse den Blick über das Ajalon-Tal schweifen. Die Sonne steht tief am Winterhimmel, aber ich versuche mir vorzustellen, dass sie bis zum Zenith hinaufwandert – und dann einen ganzen Tag lang dort bleibt. Davon berichtet nämlich die Bibel, als sie erzählt, wie Israel hier gegen seine Feinde kämpfte, um das verheißene Land für sich in Anspruch zu nehmen. Aber wenige Wochen vorher hatte Josua, der Heeresführer der Israeliten-Armee, einen verheerenden Fehler gemacht.

Nach ruhmreichen Siegen bei Jericho und Ai traf Josua sich mit einer Delegation von Fremden, die einen Friedensvertrag schließen wollten. Er wusste, dass Gott ihm verboten hatte, irgendwelche Abkommen mit den Bewohnern des Landes zu schließen, aber diese Männer waren hartnäckig. „Wir sind aus einem anderen Land hergekommen“, sagten sie. „Wir sind nicht eure Feinde.“ Sie sahen zerrissen aus und vom Marschieren müde, ihr Brot war trocken und verschimmelt, ihre Sandalen ausgetreten, als hätten sie viele Kilometer zu Fuß zurückgelegt. Josua glaubte ihre traurige Geschichte und unterschrieb ein Friedensabkommen mit ihnen, ohne vorher zu beten oder Gott um Rat zu fragen, und er schwor einen Eid, sich mit ihnen zu verbünden. Überraschung! Es war alles ein Trick – das verdorbene Brot, die ausgelatschten Schuhe. Die Männer waren überhaupt nicht weit gereist, sondern kamen aus Gibeon, einer der kanaanitischen Städte, die Josua zerstören sollte. Josua hatte sich dummerweise mit dem Feind eingelassen, und jetzt hatte er ein Abkommen am Hals, das Gott ihm zu schließen verboten hatte.

Ich liebe diese kleine Episode, die einen biblischen Helden als menschlich und fehlbar zeigt. Josua war in Ägypten geboren und hatte die zehn Plagen mit eigenen Augen gesehen. Er hatte Gottes wundersame Errettung vor dem Engel des Todes miterlebt, war durch das Rote Meer gelaufen, während Wände aus Wasser sich neben ihm auftürmten. Er war der Feuersäule durch die Wüste gefolgt, hatte Manna gegessen und Wasser aus einem Fels geschöpft. Josua war treu geblieben, als beinahe alle anderen seiner Generation aufgegeben hatten, und er war einer der einzigen beiden Kundschafter, die Gott geglaubt und einen positiven Bericht über das Gelobte Land abgeliefert hatten. Bei jeder Gelegenheit, sich von Angst beherrschen zu lassen oder zu klagen oder Götzen anzubeten, hatte Josua sich immer wieder entschieden, Gott zu vertrauen. Er war einer der wenigen, die den ganzen Weg mit Gott von Ägypten zurückgelegt hatten und noch am Leben waren, und Gott hatte ihn auserwählt, um nach Moses Tod dessen Platz einzunehmen.

Und jetzt hatte Josua einen schrecklichen Fehler gemacht. Er hatte sich mit dem Feind eingelassen. Ob er sich wohl am liebsten selbst in den Hintern getreten hätte? Ist er in sein Zelt gegangen und hat vor Frust und Enttäuschung über sein Versagen geweint? Ich glaube, das hat er. Josua ist keine flache Bilderbuchfigur, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut, so wie ich. Und er muss sicher gewesen sein, dass Gott mit ihm fertig war.

Bevor Josua seine Kündigung einreichen konnte, kam ein Bote aus Gibeon – der Stadt, mit der er gerade die unvernünftige Allianz eingegangen war. Die Könige von fünf mächtigen Stadtstaaten hatten sich zu einer Koalition zusammengeschlossen und marschierten jetzt auf Gibeon zu, um es anzugreifen. Die Bewohner von Gibeon baten Josua um Hilfe und flehten ihn an, ihr Abkommen zu ehren und sie zu retten. Josua, dessen Name „Gott rettet“ bedeutet, muss sich gefragt haben, ob er überhaupt noch das Recht hatte, irgendjemanden zu retten. Aber Gott sagte: „Hab keine Angst vor ihnen; ich gebe sie in deine Gewalt. Keiner von ihnen kann dir standhalten“ (Josua 10,8).

Da sind sie wieder: Gottes Gnade, Barmherzigkeit und Vergebung, selbst im Alten Testament. Josua konnte wieder aufstehen und weitergehen, nachdem er gestürzt war – und das können wir auch. Josua trommelte Israels Armee zusammen und kam der Stadt Gibeon zu Hilfe.

Gibeon liegt im zentralen Hochland von Israel, und von Josuas Lager aus war es ein Marsch von mehr als zwanzig Kilometern, immer bergauf. Wenn wir bei einer Sache gescheitert sind, erscheint uns der Weg zurück immer besonders steil, oder nicht? Vielleicht erinnert uns die Mühe daran, unseren Fehler nicht noch einmal zu machen. Josuas Rettung in Gibeon war erfolgreich, und die fünf Armeen der Angreifer flohen das Ajalon-Tal hinunter. Aber Josua wollte einen dauerhaften Sieg. Diesmal würde er es richtig machen und auch den letzten Feind vernichten. Keine Kompromisse mehr. Aber ihm lief die Zeit davon und so betete er.

Die Reaktion war, dass der Himmel seine Schleusen öffnete und ein Arsenal aus Hagel herunterpeitschen ließ wie Gottes Kanonenkugeln, die den Feind auf der Flucht trafen. Und dann geschah ein Wunder: Die Sonne blieb stehen! Sie schien weiter, bis der letzte Feind aufgespürt und vernichtet war.

Als sich während der Schlacht das Blatt wendete, versteckten die fünf feindlichen Könige sich in einer Höhle. „Rollt Steine vor die Öffnung“, wies Josua seine Männer an, „damit sie nicht fliehen können. Wir kümmern uns um sie, wenn die Schlacht zu Ende ist“ (siehe Josua 10,18-19). Als es so weit war, befahl er seinen Feldherren, einen Fuß auf den Nacken der besiegten Könige zu stellen. „Jetzt seht ihr, was der Herr mit allen Feinden machen wird, gegen die ihr kämpft!“ (Josua 10,25) Die Leichen der getöteten Könige wurden an einem Baum aufgehängt, ein Zeichen, das Gott verfügt hatte, um zu zeigen, dass sie unter seinem Fluch standen (5. Mose 21,22-23).

Bevor wir unser Leben Christus übergeben haben, heißt es in der Bibel, waren wir Feinde Gottes wie diese Kanaaniter, weil wir den Götzen unserer Kultur folgten und nach unseren eigenen Regeln lebten. Wegen unserer Sünde war die Todesstrafe über uns verhängt, so wie über sie und wie über alle ungehorsamen Menschen. Aber „von diesem Fluch des Gesetzes hat uns Christus erlöst. Als er am Kreuz starb, hat er diesen Fluch auf sich genommen“ (Galater 3,13). „Christus hat unsere Sünden auf sich genommen und sie selbst zum Kreuz hinaufgetragen. Das bedeutet, dass wir für die Sünde tot sind und jetzt leben können, wie es Gott gefällt“ (1. Petrus 2,24).

Der Tag, an dem Jesus uns von diesem Fluch erlöst hat, war einer der dunkelsten Tage, die jemals registriert wurden. Von zwölf bis drei Uhr mittags schien die Sonne nicht, während Jesus am Kreuz hing. Die Dunkelheit steht für das göttliche Urteil, und während Jesus, „das Licht der Welt“, Gottes Fluch am Kreuz erlitt, drohte die Dunkelheit die Welt zu verschlingen. Einige Stunden lang schien es, als würde die Finsternis siegen. Aber Jesus überwand die Finsternis.

Er hat mehr als seinen Anteil getan an dem Krieg, den wir führen, aber seine Anweisung an uns ist klar: „Wenn ihr aber mit der Kraft des Geistes eure selbstsüchtigen Wünsche tötet, werdet ihr leben“ (Römer 8,13). Das bedeutet, dass ich nicht nachtragend bin. Dass ich nicht die Beherrschung verliere oder lieblose Dinge sage. Dass ich nicht habgierig bin. Dass ich anderen vergebe. Und es bedeutet, dass ich alle Festungen erobere, die noch in der Hand des Feindes sind. Gott kämpft mit mir und für mich, aber Kompromisse mit der Sünde sind keine Option. Habe ich genug Mut, um in den Krieg zu ziehen?

Gott gebot dem jüdischen Volk, jedes Jahr am Versöhnungstag zu fasten und zu beten. Jeder sollte sein Leben bedenken und seine Sünden bekennen. Bevor wir beim Abendmahl am Leib und Blut Christi teilhaben, „soll sich jeder prüfen“ (1. Korinther 11,28). Buße ist viel mehr als ein halbherziges Geständnis. Jeder, der seine ungezogenen Kinder aufgefordert hat, sich zu entschuldigen, weiß, wie ein widerwilliges, mürrisches „Entschuldigung“ klingt. Das griechische Wort für Buße, metanoia, bedeutet eine totale Umkehr, der Sünde den Rücken zu kehren, einen ganz neuen Weg einzuschlagen und in eine komplett andere Richtung zu gehen – so wie Josua es tat, als er den Kompromissen den Rücken kehrte und anfing zu kämpfen. Wenn wir wahrhaft Buße tun, ist Gott gnädig und wird uns vergeben, so wie er Josua vergeben hat. Aber meine jüdischen Freunde sagen mir auch, dass etwas nicht stimmt, wenn man am Versöhnungstag dieselbe Schuld bekennt wie im Vorjahr. Ich werde versuchen, mich an diese Warnung zu erinnern, wenn ich mich auf das Abendmahl vorbereite.

Wir sollen der Sünde gestorben sein, nicht sie künstlich am Leben erhalten oder ein Abkommen mit ihr schließen. Das erfordert Veränderung, ein Wort, das die meisten von uns hassen. Egal, wie wir es sagen: „Achtet darauf, dass euer vergänglicher Leib nicht von der Sünde, von seinen Begierden beherrscht wird“ oder: „Nichts, keinen einzigen Teil eures Körpers sollt ihr der Sünde als Werkzeug für das Böse zur Verfügung stellen“ (Römer 6,12-13) – Gottes Anweisung an uns hat viel Ähnlichkeit mit dem Befehl, den Josua erhielt: „Vernichte den Feind vollkommen.“ Ich habe noch einen langen Weg vor mir.

Gott ließ die Sonne stillstehen, sodass Josua kämpfen konnte, und jetzt will er sein Licht in all die dunklen Ecken meines Herzens leuchten lassen, in denen ich Kompromisse eingegangen bin, und mir die Bollwerke zeigen, die der Feind immer noch unter Kontrolle hat. Wenn ich sein Licht leuchten lasse, immer weiter, dann kann ich kämpfen, bis der Feind endgültig besiegt ist. Jesus ist gestorben, damit ich ein neues Leben haben kann, nicht ein Leben in Gefangenschaft oder Kompromissen.

Das kann ich natürlich nicht alleine bewerkstelligen, genauso wenig, wie Josua den Feind ganz allein vertreiben oder die Sonne über dem Ajalon-Tal stillstehen lassen konnte. Josua und ich können nur dann den Sieg erringen, wenn wir Gott vertrauen. Wenn ich die Motivation mitbringe, gibt er mir die Kraft, mich von allem zu befreien, was ihm missfällt, auch wenn es wehtut. Selbst wenn ich scheitere und es ein harter Kampf ist, es immer wieder zu versuchen.

Das Kreuz ist mehr als ein Schmuckstück oder eine Wanddekoration. Es ist ein Kriegsdenkmal wie dieses hier in Latrun und erinnert uns nicht nur an den Sieg, den Christus errungen hat, sondern auch an den ungeheuren Preis, den dieser Sieg gekostet hat. Ich will nichts von dem Territorium hergeben, das Christus durch seinen Tod erlöst hat, indem ich zu meinen alten, sündigen Wegen zurückkehre. Nicht, wenn das Blut, das auf dem Schlachtfeld vergossen wurde, sein eigenes war.

Wachturm

Etwa eine Stunde außerhalb von Jerusalem verlassen wir die Hauptverbindungsstraße und fahren eine schmale, gewundene Straße hinauf zu einem Aussichtsturm mit einem eindrucksvollen Blick über die judäische Landschaft. Die Israelis nennen diese Gegend Schefela oder Ausläufer und hier streiften einst Samson und König David umher. In Johannes 3,22 steht: „Danach kam Jesus mit seinen Jüngern in die Provinz Judäa. Dort blieb er einige Zeit, um zu taufen.“

Aber als wir oben bei dem Aussichtspunkt ankommen, stellen wir fest, dass wir nicht allein sind. Eine Einheit israelischer Soldaten benutzt diesen Ort für Manöver. Armeefahrzeuge und Ausrüstung sind auf dem Parkplatz reichlich vorhanden. Ihre wasserdichten Stahlcontainer enthalten eine ausgeklügelte technische Ausstattung mit Teleskopen und Abhörgeräten und dem größten Fernglas, das ich jemals gesehen habe. Junge Soldaten in makellosen grünen Uniformen haben diese Instrumente auf dem Bergrücken aufgebaut und blicken schweigend in die Ferne. Sie sind so konzentriert, dass unsere Ankunft sie überhaupt nicht abzulenken scheint.

Wir steigen die Spindeltreppe zur Plattform des Aussichtsturmes hinauf und lassen den Blick über die Landschaft schweifen, die friedlich in der warmen Wintersonne daliegt. Obwohl ich in die gleiche Richtung blicke wie die Soldaten, können sie mit ihrer Militärtechnologie viel weiter sehen als ich. Jemand aus unserer Gruppe fragt den Kommandanten der Truppe, was seine Soldaten machen. Seine knappe Antwort: „Üben.“

Diese Soldaten üben sich in Wachsamkeit, und dafür bin ich dankbar. Ich habe mich nie bedroht oder in Gefahr gefühlt, als ich in Israel war, denn auch wenn das Land im Moment im Frieden lebt, ist die Armee des Landes immer auf der Hut vor Bedrohungen, die diesen Frieden gefährden könnten. Ich sehe die disziplinierten Bewegungen der Soldaten und ihre nüchternen Mienen, und ich weiß, dass Wachsamkeit eine ernste Angelegenheit ist.

„Bleibt wach und betet“, sagte Jesus zu seinen Jüngern, „damit ihr der Versuchung widerstehen könnt“ (Markus 14,38). Er will, dass ich mein eigenes Herz bewache und aufmerksam auf die Feinde meiner Seele achte, vor allem in den Bereichen, wo der Feind mir immer wieder aufzulauern scheint. Anstatt hektisch durch jeden Tag zu rennen, warum nicht stehen bleiben, wie diese Soldaten es tun, und einen genaueren Blick auf die Wochen und Monate werfen, die vor mir liegen, und mich im Gebet auf die Herausforderungen vorbereiten, die mir auf dem Weg begegnen könnten? Als jemand, der sich ständig zu viele Sorgen macht, weiß ich, dass es mich nervös machen kann, wenn ich immer nach Gefahren Ausschau halte. Deshalb muss ich den folgenden Rat ernst nehmen: „Lasst euch durch nichts vom Gebet abbringen, und vergesst dabei nicht, Gott zu danken“ (Kolosser 4,2). Wenn ich Wachsamkeit mit Dankbarkeit verbinde, verändert sich mein Blickwinkel, weil ich mich nicht mehr auf die Bedrohung konzentriere, sondern sie unserem lebendigen Heiland überlasse, der in der Vergangenheit auf mich achtgegeben hat.

Während ich die jungen Soldaten bei diesem Wachturm beobachte, wird mir aber auch bewusst, dass mein Blick viel zu lange nach innen gerichtet war. Gott will, dass wir aufeinander achtgeben, dass wir wachsam beten und Meldung machen, wenn wir sehen, dass jemand in Gefahr ist.

Es ist die Pflicht und Verantwortung des Wachmannes, vor drohenden Gefahren zu warnen. Zur Zeit des Alten Testaments hatten die meisten Städte befestigte Mauern und Türme. Die Bürger postierten Wachleute auf den Mauern und wiesen sie an, Tag und Nacht wachsam zu sein. Die Sicherheit der Gemeinschaft war ihre Aufgabe. Gott ernannte den Propheten Ezechiel zum Wachmann für sein Volk, eine Aufgabe, die er nicht auf die leichte Schulter nehmen durfte. „Wenn ich einem Menschen, der mich verachtet, den Tod androhe, und du warnst ihn nicht, um ihn von seinen falschen Wegen abzubringen und sein Leben zu retten, dann wird er wegen seiner Sünde sterben. Dich aber werde ich für seinen Tod zur Rechenschaft ziehen“ (Ezechiel 3,18). Ebenso würden diese jungen Soldaten zur Rechenschaft gezogen werden, wenn sie durch ihre Ferngläser eine Gefahr in der Ferne erspähen und diese mit einem Schulterzucken abtun würden.

Es klingt ziemlich grausam, den Wachmann zu bestrafen, aber dieser Vers aus Ezechiel zeigt uns Gottes Herz. Er will nicht, „dass auch nur einer von euch verloren geht. Jeder soll Gelegenheit haben, zu Gott umzukehren“ (2. Petrus 3,9). Verstehe ich den Ernst meiner Verantwortung, andere vor der Gefahr zu warnen, in der sie sich befinden, vor dem tödlichen Feind, der ihnen auflauert? Habe ich dasselbe Gefühl der Dringlichkeit, das Ezechiel und diese Soldaten an den Tag legen? Wenn wir Nachfolger Christi sind, müssen uns die Verlorenen ebenso wichtig sein wie ihm. Wir müssen die mächtige Ausrüstung nutzen, die er uns gegeben hat, den Heiligen Geist, um Menschen vor den Folgen zu warnen, wenn sie ihn ablehnen.

Der Apostel Paulus schrieb: „Bleibt wachsam, und steht fest im Glauben! Seid entschlossen und stark! Bei allem, was ihr tut, lasst euch von der Liebe leiten“ (1. Korinther 16,13-14). Und das ist das Wichtigste, glaube ich. Es reicht nicht, andere Menschen vor den Gefahren eines Lebens in Sünde zu warnen, ich muss es auf liebevolle Weise tun. Ich möchte gerne fähig sein, die Sünder zu lieben – ich muss dazu fähig sein, sie zu lieben –, bevor ich ihre Sünde verurteile. Warum sollten sie sonst auf mich hören? Ohne echte Liebe werden sie mich nur für einen stereotypen, heuchlerischen, wertenden Christen halten, der auf andere mit dem Finger zeigt. Und dann wird meine Warnung ungehört verhallen.

Vielleicht sollte ich zuerst darum bitten, eine tiefere Liebe und mehr Mitgefühl für andere zu empfinden, mit einem Herzen wie dem Herzen Gottes, das hinter die äußerliche Sünde schaut und den Einzelnen so sieht, wie er es tut. Bevor ich warnend den Zeigefinger hebe, muss ich mir durch Liebe und Freundlichkeit überhaupt erst einmal das Recht dazu verdienen.

Wenn ich nach Hause komme, liegt einiges an Arbeit vor mir. Diese Soldaten bei dem Wachturm haben mich daran erinnert, dass Gott die Menschen, die in Gefahr sind und niemanden haben, der sie warnt, liebt. Unsere Aufgabe als Leib Christi ist es, wachsam zu sein, so als würde ein unsichtbarer Feind sich anschleichen. Denn genau das ist der Fall.

Joppe

Wir haben den antiken israelischen Hafen Joppe am Mittelmeer erreicht. Früher haben hier Schiffe aus der ganzen Region angedockt und exotische Waren gebracht, und unter den Seeleuten waren viele verschiedene Sprachen zu hören. Wir müssen uns durch ein Labyrinth aus engen Straßen schlängeln, um zum Ufer zu gelangen, aber plötzlich dehnt sich das Meer vor uns aus, so blau und glitzernd wie eine Schale mit Saphiren. Sanfte Wellen lecken am Strand, als wollten sie uns schüchtern einladen, die Segel zu setzen. Ich bin immer hoffnungsvoll, wenn ich am Meer bin, und auch ein wenig rastlos, weil es mich in die Ferne zieht.

Die skurrile Statue eines Wals erinnert uns an Joppes fragwürdigen Ruhm als die Stadt, von der aus der Prophet Jona aufbrach, bevor er von einem großen Fisch verschluckt wurde. Gott beauftragte Jona, den Assyrern in Ninive zu predigen, aber er segelte in die entgegengesetzte Richtung – und ich kann es ihm nicht verdenken. Die Assyrer waren brutale, gewalttätige Leute, die ihre Opfer gerne folterten und deren Tod so lange wie möglich hinauszögerten. Sie waren der Erzfeind der Israeliten und hatten gnadenlos die zehn nördlichen Stämme erobert und in die Sklaverei verschleppt. Gott wollte, dass Jona diesen hinterhältigen, gottlosen Heiden predigte? Da hätte er mich genauso gut in die Berge von Afghanistan schicken können, um dort den Taliban das Evangelium zu verkünden.

Sobald Jona Gottes Befehl erhalten hatte, kam er hierher nach Joppe, um ein Boot zu besteigen und so viele Seemeilen wie nur möglich zwischen sich und Ninive zu bringen. Aber es war nicht die Angst vor den Assyrern, die ihn fliehen ließ. Nachdem der Sturm Jonas Schiff beinahe hatte kentern lassen und die Matrosen ihn über Bord geworfen hatten und nachdem er drei Tage und drei Nächte im Bauch des großen Fisches zugebracht hatte, gestand Jona den wahren Grund. „Ich wusste, dass du barmherzig bist“, sagte er zu Gott, „und nicht schnell wütend wirst, sondern unendlich viel Liebe übst“ (siehe Jona 2,4). Jonas größte Angst war, dass Gott diesen Feinden vergeben könnte – und das wollte Jona nicht.

Gottes Befehl, einem nicht jüdischen Volk zu predigen, hätte Jona eigentlich nicht überraschen dürfen. Israels Berufung als auserwähltes Volk Gottes war es, ein Segen für die nicht jüdische Welt zu sein. Der Grundriss von Gottes Tempel beinhaltete einen riesigen Vorhof, in dem die Nichtjuden Gott anbeten konnten. Die Propheten und Psalmisten des Alten Testaments hatten versprochen, dass eines Tages alle Völker Israels Gott anbeten würden. Aber Jona wollte derjenige sein, der beschloss, für welche Völker diese Verheißung galt und für welche nicht – und die Assyrer gehörten seiner Meinung nach definitiv in die zweite Gruppe! Joppe war der Ort, an dem der Prophet sich weigerte, Gottes Ruf zu folgen.

Das Neue Testament erwähnt den Hafen von Joppe ebenfalls. In Apostelgeschichte 10 lesen wir, dass der Apostel Petrus hier bei Simon dem Gerber unterkam, „der ein Haus am Meer hat“ (V. 6). Wahrscheinlich genoss er die gleiche sonnige Aussicht und sanfte Brise, die ich hier erlebe. Petrus hatte eine gewaltige Mission hier am Meer zu erfüllen, nämlich seinen jüdischen Landsleuten von Jesus zu erzählen. Er weckte sogar eine fromme Frau namens Dorcas von den Toten auf. Aber Petrus – wie Jona – predigte das Evangelium nur Juden, wie er selbst einer war. Es war ein angenehmer, von Erfolg gekrönter Job, in dem er sich häuslich eingerichtet hatte. So ähnlich wie ich in meiner Tätigkeit zu Hause, bevor alle die Veränderungen anfingen.

Das Leben von Petrus wurde auf den Kopf gestellt – so wie das von Jona und von mir. In einer Vision sagte Gott zu Petrus, er sollte aus seiner vertrauten Routine aufbrechen und unreine Tiere töten und essen. Während Petrus noch versuchte, diese Vision zu verstehen, kamen schon Boten von einem nicht jüdischen Zenturio namens Kornelius. Die Männer flehten Petrus an, mit ihnen zu kommen und in der Stadt Cäsarea das Evangelium zu predigen – also in einer römischen Stadt mit all ihren kulturellen Symbolen des Römischen Reiches, zum Beispiel dem Amphitheater, einem Hippodrom und Tempeln, die heidnischen Göttern geweiht waren. Gute jüdische Männer wie Petrus betraten Cäsarea nicht und sie aßen schon gar keine nicht koscheren Speisen im Haus eines Nichtjuden mit einem unbeschnittenen Zenturio. Aber Gottes Auftrag war eindeutig gewesen, und die Vision hatte sich dreimal wiederholt, nur für den Fall, dass Petrus versucht war, sie als Hungerfantasie abzutun: „Wenn Gott etwas für rein erklärt, dann nenne du es nicht unrein“ (Apostelgeschichte 10,15).

Kornelius war nicht nur ein Nichtjude, sondern er war zu allem Überfluss auch noch Römer. Er war ein Feind von Petrus, so wie die Assyrer Jonas Feinde waren. Die Römer waren auch gnadenlose Heiden. Ich bin sicher, dass Petrus nicht vergessen hatte, wie römische Soldaten Jesus gefoltert und ausgepeitscht und gekreuzigt hatten, während ein römischer Zenturio dabeistand und zusah. Es ist Petrus hoch anzurechnen, dass er nicht auf den ersten Frachter sprang und sich aus dem Staub machte. Aber ich glaube, die Ironie seiner Situation war ihm nicht entgangen; Gott hatte ihn dazu berufen, seinen heidnischen Feinden zu predigen, während er in Joppe war. Ich sehe beinahe vor mir, wie er über Gottes Timing lächeln musste. Immerhin hätten die Boten von Kornelius Petrus auch in einer der anderen Städte finden können, in denen er gepredigt hatte. Aber nein, sie waren nach Joppe gekommen. Noch eine Ironie ist, dass der Vater von Petrus Jona hieß. Niemand hatte damals Nachnamen, also war Petrus’ offizieller Name Petrus, Sohn des Jona.

Petrus gehorchte Gott und ging mit diesen Boten zu einem nicht jüdischen Haus in einer römischen Stadt. Als er predigte, wurden die Heiden gläubig. Endlich erfüllte Gottes auserwähltes Volk die Verheißung, die Abraham erhalten hatte, dass durch ihn und seine Nachkommen die Welt gesegnet werden würde.

Jesus hatte den Juden, die ein Wunder sehen wollten, gesagt, dass sie nur „das Zeichen des Jona“ bekommen würden. „Jona war drei Tage und drei Nächte im Bauch des großen Fisches. Ebenso wird der Menschensohn drei Tage und drei Nächte in den Tiefen der Erde sein“ (Matthäus 12,40). Jesus erfüllte dieses Zeichen durch seine Auferstehung nach drei Tagen im Grab. Aber ich glaube, „das Zeichen des Jona“ könnte auch eine Erinnerung für die Juden – und für uns – gewesen sein, dass Gottes Gnade und Güte auf Golgatha allen Menschen gilt, auch unseren Feinden.

Als Jona wieder an Land war und schließlich Gottes Ruf folgte, taten die Assyrer Buße und kamen zum Glauben, und zwar alle, vom König bis zum einfachen Mann. Die Juden zur Zeit Jonas hätten niemals geglaubt, dass das geschehen könnte. Und sie wollten eigentlich auch gar nicht, dass es geschieht. Feinde gehörten in den dunkelsten Winkel der Hölle. Und die Juden zu Petrus’ Zeit hätten nie geglaubt, dass die feindliche Nation der Römer mit ihrem Glauben an eine Vielzahl heidnischer Götter Christus annehmen und sich dem Gott Israels zuwenden könnte. Aber das taten sie. Petrus wurde am Ende der Anführer der Kirche in Rom. Und Rom wurde später das Hauptquartier der christlichen Kirche.

Bis mein Leben anfing, sich auf unwillkommene Weise zu verändern, lebte ich sehr zufrieden in meiner ruhigen, homogenen Gemeinde im friedlichen mittleren Westen der USA. Ich mochte meine alten, vertrauten Tätigkeiten, das Schreiben christlicher Bücher, die Vorträge in Gemeinden und bei Tagungen. Wie Jona und Petrus arbeitete ich unter Menschen, die so waren wie ich selbst.

Aber vor zwei Jahren wurde eine riesige Moschee in meiner Stadt errichtet, keine zwei Kilometer von unserem Haus entfernt. Ich kann ihre goldene Kuppel von meinem Schlafzimmerfenster aus sehen. Jetzt, wo sie einen Gottesdienstraum haben, ziehen viele Moslems in diese Gegend. Alle drei Häuser, die in letzter Zeit in unserer Straße zum Verkauf standen, wurden von muslimischen Familien erworben. Sie sind jetzt meine Nachbarn. Ich habe bislang keine direkte Aufforderung von Gott erhalten, ihnen in irgendeiner anderen Weise zu dienen als mit der üblichen Nächstenliebe – aber als der Wagen der muslimischen Frau gegenüber im letzten Winter nicht ansprang, ist mein Mann mit dem Starterkabel hinübergegangen und hat ihr geholfen. Aber was wäre, wenn ich einen konkreten Auftrag bekäme? Während ich hier in Joppe stehe und auf das Meer hinausblicke, frage ich mich, was ich wohl tun würde. Würde ich sofort gehorchen, so wie Petrus es tat, oder würde ich in die andere Richtung segeln, so wie Jona? Würde ich daran denken, dass es nicht das Predigttalent von Jona oder Petrus war, das bei den Ungläubigen Buße und Glaube hervorrief, sondern das Wirken des Heiligen Geistes?

Ich mache ein Foto vom Mittelmeer, das ich mir zu Hause über den Schreibtisch hängen will, damit es mich daran erinnert, dass Joppe ein Ort der Entscheidung ist, ein Ort, an dem Gott seine große Liebe zu allen Menschen zeigt. Ich sollte mich eigentlich nicht wundern, dass ich jetzt hier stehe. Und ich sollte mich auch nicht darüber wundern, wenn er mich auffordert, meine Ängste und Vorurteile abzulegen und die Menschen anzusehen – auch diejenigen, die ich als meine Feinde betrachte –, und zwar so, wie er sie sieht.

Ich lächele über Gottes Humor – und über meine eigene Naivität, die mich glauben lässt, ich hätte tatsächlich die Wahl. Jonas Flucht war nur vorübergehend. Gott hat ausgesprochen kreative Methoden, um uns wieder in seine ursprünglich geplante Richtung und auf sein Ziel hinzulenken. Hoffentlich sind nicht drei Nächte in dem Bauch eines Wals nötig, um mich davon zu überzeugen, dass ich auf dem falschen Dampfer bin. Mag sein, dass ich mich mit der Evangelisation unter vier Augen schwertue und dass ich keine Störungen in meiner Routine mag, aber ich kann nicht gut schwimmen. Und Wale beobachte ich lieber aus der Entfernung.

Der Aquädukt von Cäsarea

Wir sind von Joppe aus etwa fünfzig Kilometer weiter die Küste hinaufgefahren, zu einem wunderschönen Mittelmeerstrand. Das Wasser schimmert tiefblau unter dem wolkenlosen Himmel, die Wellen haben silberne Spitzen. Ich habe meine Schuhe abgestreift und ziehe meine Socken aus, um in dem warmen Sand zu laufen. Aber der Strand ist hier nicht die Hauptattraktion. Zwischen mir und dem Wasser befinden sich die Überreste eines zweitausend Jahre alten römischen Aquädukts. Die Brücke marschiert in einer langen, geraden Linie am Ufer entlang wie ein Regiment römischer Soldaten. Der Sandstein, aus dem sie gebaut ist, hat die gleiche Farbe wie der Strand – als könnte etwas so Monumentales sich tarnen. Wir stellen uns zum Foto unter einem der robusten Bögen auf, die den Kanal hoch über unseren Köpfen tragen. Zwei junge Leute ignorieren die Warnhinweise und klettern auf die zweigeschossige Konstruktion, um von oben herunterzuwinken.

Wie die Touristen um mich herum mache ich „Oh!“ und „Ah!“ beim Anblick des Aquäduktes und schieße jede Menge Fotos. Dieses Bauwerk ist so alt! Und so anmutig! Ein Wunder der Baukunst. Es erstaunt mich nicht zu hören, dass der Mann, der es hat bauen lassen, kein anderer war als König Herodes. Er brauchte diesen Aquädukt, um frisches Trinkwasser von einer Quelle oben auf dem Berg Karmel bis zu seiner Hafenstadt Cäsarea zu befördern – eine Entfernung von fast zwanzig Kilometern. Der Aquädukt ist nicht mehr vollständig intakt, aber der noch erhaltene Bau beeindruckt uns alle.

Nachdem wir dieses Wunderwerk bestaunt haben, streifen wir den Sand von unseren Füßen und steigen wieder in den Bus, um die kurze Strecke nach Cäsarea zurückzulegen, wo wir schnell entdecken, dass der Aquädukt nur eine von vielen technischen Errungenschaften ist. König Herodes wollte eine durch und durch römische Stadt an der Küste Israels, ein erstklassiges Verwaltungszentrum, das als seine Hauptstadt diente und all die Annehmlichkeiten Roms aufwies. Er wollte problemlosen Zugang zum Mittelmeer für Fracht und Reise, aber dem Standort, den er ausgewählt hatte, fehlte nicht nur Trinkwasser, sondern auch ein natürlicher Hafen. Keines der beiden Hindernisse hielt ihn auf. Neben dem zwanzig Kilometer langen Aquädukt baute er auch einen Hafen. Seine Ingenieure entwarfen riesige Unterwasserstützen für einen Hafendamm aus hydraulischem Beton und verzierten dann die Einfahrt in diesen künstlich angelegten Hafen mit riesigen Statuen. Überbleibsel der Mauer sind in dem klaren Wasser vor der Küste noch zu sehen und schimmern unter der Oberfläche wie eine Fata Morgana. Die Arroganz von Herodes erinnert mich an die Männer im antiken Babel, die sagten: „Auf! Jetzt bauen wir uns eine Stadt mit einem Turm, dessen Spitze bis zum Himmel reicht! … Dadurch werden wir überall berühmt“ (1. Mose 11,4).

Ich könnte stundenlang in den Ruinen von Cäsarea herumlaufen, das einst nach Jerusalem die zweitgrößte Stadt des Landes war. Diese durch und durch römische Vorzeigestadt umfasst ein Hippodrom mit 20.000 Sitzplätzen für Rennbegeisterte, Tempel für die jeweiligen Lieblingsgötter der Bewohner, opulente Badehäuser zur Entspannung und ein Amphitheater mit Blick auf das Mittelmeer, das 4.000 Plätze umfasst. Ich besichtige den königlichen Palast von Herodes, der oberhalb der Küste errichtet wurde, und tauche die Hand in das, was von seinem Schwimmbad übrig ist, einem Überlaufbecken, in dem Schwimmer den Blick über Meer und Hafen genießen konnten. Überall auf dem Boden sind Brocken von weißem Marmor verstreut – Carrara-Marmor, der aus Italien hergeschafft wurde, um die Gebäude zu schmücken. Und als ich auf den Überresten der Garnison stehe, in der höchstwahrscheinlich der Apostel Paulus in Haft saß, frage ich mich unwillkürlich, ob er in seiner Zelle wohl das Seufzen der Wellen und die Schreie der Seevögel hörte oder vielleicht das Brüllen der Menge im Hippodrom und das Donnern von Hufen und Wagenrädern.

Aber die einst so reiche Stadt des Herodes verschwand vom Erdboden und lag jahrhundertelang vergraben und vergessen unter dem Mittelmeersand, bis sie in heutiger Zeit wieder ausgegraben wurde. Als die Archäologen die Zerstörungsmuster analysierten, stellten sie fest, dass Cäsarea von einem Erdbeben und dem anschließenden ungeheuren Tsunami zerstört wurde. Mir fällt der folgende Bibelvers ein: „Wenn der Herr nicht das Haus baut, dann ist alle Mühe der Bauleute umsonst. Wenn der Herr nicht die Stadt bewacht, dann wachen die Wächter vergeblich“ (Psalm 127,1).

Die Einstellung von König Herodes entsprach ziemlich genau unserer heutigen Auffassung: Wenn man es sich vorstellen kann, dann kann man es auch bauen. Du brauchst einen Hafen mitten an einer unfruchtbaren Küste? Kein Problem – bau einfach einen. Du brauchst Trinkwasser für deine neue Stadt? Bau einfach einen Aquädukt. Unser jüdischer Reiseleiter erklärt uns, dass seine Vorfahren keine Aquädukte brauchten, weil sie klug genug waren, ihre Städte in der Nähe von Quellen zu errichten; genauso wie wir unser Leben um Gottes Wort herumbauen und in seiner Nähe bleiben und darauf achtgeben und immer daran denken sollen, dass Gott die wahre Quelle unseres Lebens ist. Wer sich an Gottes Wort freut, wird sein „wie ein Baum, der nah am Wasser steht ... Was er sich vornimmt, das gelingt“ (Psalm 1,3).

Ich darf große Träume haben und fleißig arbeiten, um sie zu erfüllen, solange sie Gottes Träume für mich sind und keine Schöpfungen meiner selbstsüchtigen Fantasie. Ich neige dazu, Pläne zu schmieden und Gott dann um seinen Segen dafür zu bitten – so ähnlich, als würde ich einen Standort für eine Stadt aussuchen und anschließend feststellen, dass es dort kein Trinkwasser gibt. Im vergangenen Jahr habe ich oft über die Orte gemeckert, an die Gott mich gestellt hat – Orte, an denen ich mich in die raue Wildnis am Berg Karmel verbannt fühlte, weit entfernt von der schönen Küste und der glamourösen Stadt. Ich habe versucht, diesen Orten zu entfliehen und nach einem einfacheren, angenehmeren Weg gesucht, wie ich sesshaft werden kann – aber am Ende war ich ausgetrocknet und durstig. Aber vielleicht hat Gott in seiner Barmherzigkeit und Liebe mich aus einem Grund an diesen unfruchtbaren Ort gestellt, den nur er sehen kann. Ich mag vielleicht lieber den Sandstrand oder die Unterhaltung von Cäsarea, aber der Berg Karmel hat frische Quellen – und er blieb von der Flutwelle verschont, die die Stadt zerstörte.

Ich muss an das Gleichnis Jesu vom Haus auf dem Fels denken, das uns so vertraut ist, dass wir es manchmal als Kindergottesdienstgeschichte abtun. Aber während ich meine Blicke über die Ruinen von Cäsarea schweifen lasse, erkenne ich, wie tiefschürfend die Worte Christi waren. „Wer meine Worte hört und danach handelt, der ist klug“, sagte Jesus. „Man kann ihn mit einem Mann vergleichen, der sein Haus auf felsigen Grund baut“ (Matthäus 7,24). Wenn ich dem Wort Gottes gehorsam bin, dann können all die Fluten und Stürme des Lebens, so wie die, welche ich in letzter Zeit erlebt habe, mich nicht erschüttern. Aber wenn ich meine Pläne auf etwas anderes als auf Gottes Wort baue, dann bin ich nicht besser als König Herodes oder der dumme Mann, der sein Haus auf Sand gebaut hat: „Denn wenn ein Wolkenbruch kommt, die Flut das Land überschwemmt und der Sturm um das Haus tobt, wird es aus allen Fugen geraten und krachend einstürzen“ (Matthäus 7,27). Wenn die Stürme wehen und meine eigenen Pläne zunichtemachen, kann ich mir den zerfallenden Aquädukt und die Überreste von Cäsarea ansehen und verstehen, warum.


Amen.

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