Cover

Kate Bornstein

Ein schädlicher Einfluss

Die wahre Geschichte
eines netten jüdischen Knaben,
der bei Scientology landete
und zwölf Jahre später zu der
hinreißenden Lady wurde,
die sie heute ist

Mein mutiges Leben

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EIN SCHÄDLICHER EINFLUSS
VON KATE BORNSTEIN

Dieses Buch widme ich von ganzem Herzen meiner Tochter Jessica
sowie meinen Enkeln Christopher und Celaina.

Und so klein mein Haus auch sein mag: Von innen ist es größer,
als es den Anschein hat, und meine Tür steht immer für euch offen.

Prolog

Der Kuss des Todes

Das letzte Mal, dass ich in einen Spiegel blickte und Daddy sah? Das war, als ich das letzte Mal versuchte, meine Tochter anzurufen. Der Tag, an dem ich mir ein ägyptisches Kreuz auf den Handrücken tätowieren ließ. Eigentlich sind Hand-Tattoos in den meisten Staaten der USA verboten, es sei denn, man kennt die richtigen Leute. Es war das Jahr 1996 und ich lebte zu einer Zeit in Seattle, als die Stadt noch ihren rauen Charme besaß. Ich kannte mich gut genug in der Szene aus, um jemanden zu kennen, der jemanden kannte und – voilà – ­bekam ich für 25 Dollar mein Hand-Tattoo. Der Typ bekam sogar noch fünf Dollar Trinkgeld von mir, weil es nicht wehgetan hatte, ­obwohl Tattoos so dicht am Knochen sehr schmerzen sollen.

Vor Tausenden von Jahren symbolisierte das ägyptische Kreuz für nordafrikanische Priester, Priesterinnen und Heilige, die weder männlich noch weiblich waren, so etwas wie »Ewiges Leben«, »Das göttliche Androgyne« oder »Die Macht des Sex«. Suchen Sie sich eins aus. Für mich stellt es genau die richtige Mischung an Bedeutungen dar, um die Stelle zu kennzeichnen, wo jene Herzdame ­namens Tod mir die Hand geküsst hatte.

Zuvor am gleichen Tag hatte mich das Krankenhaus angerufen und bestätigt, dass ich an chronischer lymphatischer Leukämie erkrankt war. Damals glaubte ich den Ärzten noch nicht, dass es sich bei CLL um ein sehr langsam fortschreitendes Krebsleiden handelte, das mich aller Wahrscheinlichkeit nach nicht umbringen würde. Ich war 48 Jahre alt, der Tod hatte mir die Hand geküsst und ich wollte mich mit meiner Tochter versöhnen, mit der ich seit fast 16 Jahren nicht gesprochen hatte.

Es war nicht etwa so, dass ich all die Jahre nicht mit ihr hätte sprechen wollen, tatsächlich war es aber so, dass sie mir nicht zuhören wollte. Meine Tochter Jessica glaubte damals und glaubt heute noch mit Leib und Seele, dass ich ein hoffnungslos schlechter Mensch bin. Fakt ist, dass ihr einige aus vielerlei Gründen zustimmen würden. Lassen Sie mich ein paar davon aufzählen:

Ich bin 63 Jahre alt und habe das letzte Vierteljahrhundert in queeren Subkulturen am äußersten Rand der amerikanischen Gesellschaft verbracht. Ich schreibe Bücher, die von Papst Benedikt ­verdammt werden – und das sind nur die Werke, die weltweit in den Universitäten gelehrt werden. Ich bezweifle, dass der Papst über meine Pornobücher Bescheid weiß, aber die würde er wahrscheinlich auch verdammen.

Viele Menschen auf dieser Welt, ich würde sogar behaupten, die Mehrheit, halten mich für ein perverses und verkommenes Individuum, weil ich eine Transsexuelle bin. Bei meiner Geburt war ich männlichen Geschlechts, heute weisen medizinische Unterlagen und offizielle Dokumente mich als weiblich aus, obwohl ich mich selbst nicht als Frau bezeichne und mir bewusst ist, dass ich kein Mann bin. Aus genau diesem Grund ist der Papst sauer. Er befürchtet, dass solch ein Gerede – von wegen weder männlich noch weiblich – die natürliche Geschlechterordnung zerschmettern wird. Ich freue mich auf den Tag, an dem es endlich so weit ist.

Ich selbst nenne mich Trans oder Transe, was wiederum eine kleine, aber lautstarke Gruppe transsexueller Frauen aufregt, für die das Wort Transe das Gleiche ist wie der Begriff Itzig für Juden. Ach ja, ich bin übrigens jüdisch und jeder kennt ja irgendjemanden, der irgendwas an Juden auszusetzen hat. Ich bin aber auch eine tätowierte Lady und darf deswegen nicht auf einem jüdischen Friedhof begraben werden. Aber das macht nichts, weil ich ohnehin verbrannt werden will, nachdem die Ärzte alles Brauchbare haben. Meine Freundin weiß, wo die Asche verstreut werden soll. Richtig: Zu allem Überfluss bin ich auch noch eine Lesbe. In meinen Leben als Mann, Frau und Weder-Noch waren es immer die Frauen, bei denen mir die Knie weich wurden, genauer gesagt, das Knie. Mein rechtes Knie besteht aus Titan und Weltraumkunststoff und wird nie weich. Ich bin also eine Art Robo-Transe. Meine Tochter weiß von all dem nichts und selbst wenn sie es wüsste, wäre nichts von dem, was ich Ihnen bisher erzählt habe, der Grund, warum sie mich für einen schlechten ­Menschen hält.

Aber es gibt noch mehr, hier wird nichts verschwiegen. Ich bin ­Sadomasochistin, genieße also die Verbindung von Vergnügen und Schmerz. Ich bin nicht sadistisch, sondern ausschließlich masochistisch, also diejenige, die gepeitscht, geschlagen, geschnitten und ­gepierct wird. Ich mag es, geschnitten zu werden, und ritze mich seit meiner Jugend selbst. Und was die Piercings betrifft: Die befinden sich in Körperteilen, mit denen ich nicht geboren wurde.

Darüber hinaus leide ich an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung; der Performancekünstler und Pornograf in mir schöpft daraus jede Menge Inspiration, womit gleich noch zwei weitere Gründe genannt wären, warum man mich für einen schlechten Menschen hält.

Im Jahr 1970 wurde ich aufgrund einer psychischen Störung vom Militärdienst in Vietnam freigestellt. Damals war es gespielt. Und heute? An guten Tagen bin ich nur depressiv und mehr als ein Therapeut hat die Diagnose manisch-depressive Erkrankung in Betracht gezogen. Letztlich einigten sie sich auf Borderline, ein eigentlich undenkbarer Gemütszustand, irgendwo zwischen Neurose und Psychose und dabei der undenkbaren Geschlechtszuschreibung zwischen männlich und weiblich nicht unähnlich. Der Archetyp meiner ­Borderline-Störung ist die Heimatlosigkeit, genau wie bei Prinzessin Diana. Meine Essstörung ist auch so ähnlich wie ihre: Ich liebe Essen, kann nicht genug davon bekommen, aber gleichzeitig liebe ich es, so lange zu hungern, bis die Knochen durch die Haut zu sehen sind. Womit wir wieder bei Borderline wären …

Aber all diese Dinge sind meiner Tochter egal. Warum ich ein schlechter Mensch bin, hat einen ganz anderen Grund. Ich bin nachweislich das Opfer eines posttraumatischen Stresssyndroms. Aber nein, auch das ist nicht der Grund, warum meine Tochter mich für einen schlechten Menschen hält. Dass ich das Trauma überwunden habe – das macht mich in ihren Augen zu einem schlechten Menschen.

*

Einige Stunden nachdem der Typ das ägyptische Kreuz in meinen Handrücken gestochen hatte, begann es zu puckern. Zum ersten Mal wurde mir bewusst, dass ich wegen der Leukämie nicht mehr ge­nügend weiße Blutkörperchen hatte, um mögliche Infektionen zu ­bekämpfen. Ich musste Jessica anrufen, um ihr zu sagen, dass diese Krankheit auch in ihrem Blut lauerte. Ich wollte ihr sagen … ich wusste nicht, was ich ihr sagen wollte. Vor diesem Moment hatte ich nicht viel darüber nachgedacht. Ich wollte einfach nur »Hallo« sagen. Ich wollte ihr sagen, dass ich sie immer geliebt habe. Ich wollte »Auf Wiedersehen« sagen. Doch ich wusste nicht, wie ich sie erreichen konnte. Ich hatte Briefe, Postkarten und Bargeld an unterschiedliche Adressen geschickt, aber alles kam immer wieder mit dem auf den Umschlag gekritzelten Vermerk »Empfänger unbekannt« zurück. Wie ich zog meine Tochter häufig um und ich wusste nicht, wo sie lebte. Einen Privatdetektiv konnte ich mir nicht leisten und auch meine ausgiebigen Internetrecherchen hatten ihren Aufenthaltsort nicht enthüllen können. Im Jahr 1996 gab es noch keine ausgeklügelten Webseiten zur Personensuche.

Doch mein Handrücken blutete immer noch an der Stelle, wo der Tod ihn geküsst hatte, und ich hätte es keinen Tag länger ohne den Versuch ausgehalten, sie zu erreichen. Einige Stunden später war es mir immerhin gelungen, eine Telefonnummer von Jessicas Mutter, meiner Exfrau Molly, im Internet aufzustöbern. Nach dreimaligem Klingeln ging sie ans Telefon. Ich erkannte ihre Stimme an nur einem Wort:

»Hallo?«

»Hey Molly, hier ist Kate Bornstein.« Ich hörte noch, wie sie tief einatmete, dann ein leises Klicken und die tote Leitung.

Es überraschte mich nicht. Ich wäre überrascht gewesen, wenn sie etwas gesagt hätte wie: »Mensch, Kate, hallo! Das ist aber toll, dass du anrufst. Wie läuft es denn jetzt so als Performance-Künstlerin nach all unseren gemeinsamen Jahren in Uniform? Und wie läuft’s mit deiner Frauennummer?«

Molly hatte aufgelegt, weil Scientologen genau so mit mir umzugehen haben. In ihrer Sprache bin ich eine »unterdrückerische Person«, was einfacher ausgedrückt bedeutet, dass ich ein durch und durch schlechter Mensch bin. Und genau das ist die Art Schlechtigkeit, die meine Tochter im Sinn hat, wenn sie an mich denkt. Die Ärmste wurde nämlich in die Scientology-Organisation hineingeboren und ist dort bis zum heutigen Tag ein vollwertiges Mitglied. Und ich? Ich bin ein exkommunizierter, ausgestoßener, meines Amtes enthobener Scientologe. Mehr als elf Jahre bei Scientology sind das Trauma meines Lebens und die Abkehr von der Organisation macht mich zu einer unterdrückerischen Person.

Scientologen glauben, dass achtzig Prozent der Bevölkerung ­aller Universen gute und anständige Menschen sind. Zwei Prozent aller fühlenden Wesen sind jedoch unterdrückerische und hoffnungslos verdorbene Personen. L. Ron Hubbard, der Gründer von Scientology, ist immer sehr genau, wenn es um Zahlen geht. Zwei Prozent entsprechen ­ungefähr der Anzahl an Menschen, die mit einer Borderline-Persönlichkeit leben.

Unterdrücker wie ich sind so böse, dass schon ein Gespräch ausreicht, um ernsthafte Krankheiten hervorzurufen. Wenn Sie mit der Lektüre dieses Buches fortfahren, könnte Sie das an viel grauenhaftere Orte führen als sämtliche Höllen, die althergebrachte Religionen so hervorgebracht haben. Es ist ein Riesenspaß, mich zu kennen, oder?

Mich gibt es nur mit einem Warnhinweis: Scientologen glauben, dass Sie, wenn Sie weiterlesen, eine »Potential Trouble Source« – eine potenzielle Gefahrenquelle – werden. Sie werden zu einer Gefahr und die Organisation ist nie besonders freundlich mit Unruhestiftern umgegangen. Dieses Buch bedeutet Ärger für die Organisation. Also, nicht allzu viel Ärger. Wer glaubt schon einem Freak wie mir? Die Organisation hat genug mit schwerwiegenderen Unruhestiftern zu tun, um sich wegen mir Sorgen zu machen. Trotzdem wird kein ­Scientologe, meine Tochter und ihre beiden Kinder eingeschlossen, das Buch lesen dürfen, das ich für sie schreibe. Ich möchte, dass sie wissen, was aus ihrem Daddy und Opa geworden ist. Und ja, es tut mir leid. Es tut mir wirklich sehr leid, dass ich meine Tochter und meine Enkel mit diesem Buch in die schwierige Lage bringe, entweder ihre Neugier über mich nicht befriedigen zu können, zu einer ­potenziellen Gefahrenquelle oder sogar zu einer unterdrückerischen Person wie ihr Vater und Großvater zu werden.

*

Molly hatte also aufgelegt und ich stand da wie ein Idiot, den Telefonhörer in der Hand. In diesem Moment wurde mir klar, dass es niemals möglich sein würde, Jessica zu kontaktieren. Niemals. Ihr ganzes Leben lang hatte sie nur ein Leben mit Scientology gekannt. Ich hatte selbst daran geglaubt, habe also keine moralische Grundlage, sie zu kritisieren oder ihren Lebensweg auf der Suche nach Freiheit zu versauen. Aus dem Telefonhörer ertönte ein schreckliches Tuten und ich legte auf.

Ich weinte nicht, heulte nicht den Mond an und verfluchte nicht das vermeintlich ewige Leben L. Ron Hubbards. Ich verfluchte auch nicht irgendwelche anderen Scientologen, die meine Tochter mit ­ihren Grundsätzen gegen mich aufgebracht hatten. Ich ging auch nicht ins Internet, um meine Wut und Trauer mit Tausenden Ex-Scientologen zu teilen, die mich aufgemuntert und unterstützt hätten. Ich tat ­keine dieser gesunden Dinge. Stattdessen stieg ich ganz ruhig die Treppen zum Bad meines kleinen Häuschens in Seattle hinauf und nahm vom Arzneischränkchen die kleine schwarze Ledertasche mit meiner Sammlung von Klingen, Alkoholtupfern und Nadeln. Ich wählte das Skalpell Nr. 10, schon immer mein Favorit. Ich schaute in den Spiegel, sah meine Rippen und musste lächeln. Genau über den Rippen, genau über meinem Herz schnitt ich mir ein Valentinsherz in die Haut.

Wo die Klinge zuerst die Haut schneidet, tut es am meisten weh. Es dauert nur den Bruchteil einer Sekunde. Dann fühlt man Wärme, viel Wärme. Das Blut folgt, aus dem chirurgisch feinen Riss quellend, der Klinge. Dein Blut ist der Lohn. Dein Blut ist der Beweis dafür, dass du offen und am Leben bist. Dein Blut sagt dir, dass du dich umbringen kannst, wenn du es wirklich willst.

Das Schneiden war für mich immer schon orgastisch und ich kam, wie Ritzer kommen: Der Orgasmus als vollkommene Erleichterung. Genitalien haben damit nichts zu tun. Wenn man sich geschnitten hat, fühlt man keine Traurigkeit oder keinen Ärger mehr und der ­Lebenswillen erstarkt wieder. Nach dem Ritzen kann man seinen Herzschmerz zur Seite legen und genau das tat ich. Ich legte Jessica beiseite und wandte mich dem nächsten Punkt auf meiner Bevor-ich-sterbe-Liste zu: Ich wurde eine Blondine.

Seit meiner Geschlechtsumwandlung waren etwa zwölf Jahre vergangen und ich hatte mir die Haare noch nie blond gefärbt. Mein ganzes Leben hatte ich schon den Ruf der Blondheit vernommen, so wie andere den Ruf in den Dienst des Herrn hören. Ich wollte eine scharfe Blondine sein, wie Geena Davis in dem Film Tödliche Weihnachten. Ich wollte Haare haben wie sie, ich wollte ihre Augen, ihren Mund. Allerdings hatte ich den Großteil meines Lebens als Jude ­russischer Abstammung verbracht, der auf eine herbe Art gut aussah. Ich machte mir Sorgen, dass zu viel dieser derben Männlichkeit durch das Blond schimmern und mich aussehen lassen würde wie ein gelbhaariger Typ in einem Kleid. Das hätte mich zu einem flachsblonden Freak gemacht, zu einem platinblonden Clown. Aber irgendein Engel da oben muss meine Gebete erhört und sich meiner erbarmt haben, weil ich nämlich letztendlich eine umwerfend süße Blondine abgab. Und so ging ich zum nächsten Punkt auf meiner Bevor-ich-sterbe-Liste über: ein Star werden.

Seattle ist großartig für Depressive mit suizidalen Tendenzen, aber kein Ort für eine unbekümmerte Blondine, die von Berühmtheit träumt. Drei Wochen nachdem aus mir eine Blondine geworden war, mietete ich mir einen kleinen Laster und fuhr gen Osten nach New York City. Mit dabei waren eine alte, orangefarbene Katze namens Gideon und eine Butch-Lesbe, die keinem Geringeren als dem jungen, charmanten Christopher Walken auf ganz entzückende Weise ähnlich sah.

*

Das ist 14 Jahre her. Die letzten fünf Jahre habe ich an diesem Buch geschrieben, entgegen der Empfehlung von drei sehr angesehenen Psychologen. Meine lahmarschige Leukämie hat mich immer noch nicht umgebracht und ich erwarte auch nicht mehr, dass sie es tut. In diesen 14 Jahren bin ich meinen Zielen abwechselnd nachgejagt oder vor ihnen weggerannt, aber ein Star bin ich nicht geworden. Jedoch könnte ich auf dem besten Weg dorthin sein. Seitdem ich an diesem Buch schreibe, habe ich mir einen Platz als kleine Berühmtheit in der Ruhmeshalle der amerikanischen Homoszene und postmodernen Subkultur gesichert. Das macht mich glücklich. Und dieses Buch habe ich geschrieben, um zwei weitere Herkulesaufgaben auf meiner Bevor-ich-sterbe-Liste abzuhaken: Die Versöhnung mit dem Leben meiner Tochter als Scientologin und die Auseinandersetzung mit dem Geist meines toten Vaters.

Ich war noch ein Mann, als mein Vater starb und ich auf seine Beerdigung ging. Das Einzige, was mich davon abhielt, auf seinen Sarg zu spucken, war mein Respekt vor der tiefen Liebe, die meine Mutter für diesen Mann empfand. Er hat mich zwar nur einmal geschlagen, aber er wusste Zeit seines Lebens, wie er mir Angst machen konnte. Er war mein schlimmster Peiniger und als Sohn war ich eine große Enttäuschung für ihn. Ich war der Träumer, der nie etwas auf die Reihe bekam, und er der Bösewicht: arrogant, distanziert und einschüchternd. So sehr wir beide es auch versuchten, wir waren nie wirklich nett zueinander. Ich habe mein Leben als Mann vor allem aufgegeben, weil ich nie so werden wollte wie er.

Was für eine Zwickmühle: Ich bin heute, was ich damals nicht sein konnte und zwar eine Tochter für meinen Vater. Andererseits war ich später, was jetzt nicht mehr möglich ist, ein Vater für meine Tochter. Ich habe eine Vater-Sohn-Geschichte, von der nur wenige Menschen wahrhaftig und aus eigener Erfahrung berichten können. Diese ­Geschichte wollte ich meiner Tochter seit dem Tag erzählen, an dem ich sie vor über dreißig Jahren verlassen habe. Sie war neun Jahre alt, geboren am 4. Juli. Ich habe bis heute mit dieser Geschichte gewartet, weil ich große Angst vor einer ziemlich wahrscheinlichen Vergeltung seitens Scientology hatte. Als brandneue »Religion« befindet sich die Organisation auf einer grundlegenden Entwicklungsstufe, die in ­jeder Hinsicht von der Unfehlbarkeit ihres Gründers L. Ron ­Hubbard abhängt. Aus dieser Überzeugung heraus folgen Scientologen seinen Schriften so genau und bedingungslos wie wahrscheinlich alle ­Fundamentalisten ihren Schriften folgen: Wort für Wort.

Folgendes also muss – muss! – laut L. Ron Hubbard mit Unterdrückern wie mir passieren: Als Erstes sollen wir offiziell als Feinde der Organisation erklärt werden, was bei mir geschehen ist. In jedem Scientology-Gebäude der Welt müsste ein leuchtend gelber Zettel zu finden sein, auf dem steht: »Al Bornstein ist ein Feind der Organisation.« Seit ich im Jahre 1982 offiziell zum Feind erklärt wurde, habe ich einen Status, den man als Fair Game, also so etwas wie Freiwild, bezeichnet. Scientologen werden leugnen, dass es so etwas gibt. Sie werden behaupten, ich habe diesen Unsinn über Fair Game ­­­­erfunden. Wenn dem so sein sollte, gibt es Tausende anderer, die zufällig das Gleiche erfinden.

Scientologen glauben, dass nichts wahr ist, was nicht auch geschrieben steht. Es ist so, dass L. Ron Hubbard Richtlinien ­geschrieben hat, wie genau man jemanden als Fair Game zu erklären und wie man diese Person zu behandeln hat. Ich würde das an dieser Stelle für Sie zitieren, aber ich habe eigentlich keinen Bock, mich von ­denen wegen Urheberrechtsverletzungen verklagen zu lassen. Davon mal abgesehen ist innerhalb der Organisation auch jede Umschreibung der Worte ihres Gründers ein Schwerverbrechen, was weiterhin ­beweist, dass ich eine unterdrückerische Person bin. Dann soll es wohl so sein. Hier kommt also in groben Zügen, was L. Ron im ­Oktober 1967 über Unterdrücker wie mich geschrieben hat.

Wenn Sie Scientologe sind, erlaubt Ihnen der Gründer der Organisation, er befiehlt Ihnen sogar, mich in jeder Hinsicht schlecht zu behandeln. Das ist Ihre Pflicht als Mitglied. Sie dürfen mich ­bestehlen und mir mit allen Mitteln Schaden zufügen. Kein Scientologe wird deshalb schlecht über Sie denken, ganz im Gegenteil: Wenn Sie es schaffen, mich so zu bearbeiten, dass ich keine Bedrohung mehr für Scientology und die Menschheit darstelle, erhalten Sie einen Orden. Es ist Ihnen erlaubt, mich mit allen Mitteln reinzulegen, Sie dürfen mich verklagen, Sie dürfen mich anlügen. Die Regeln zu Fair Game finden Sie im Internet. L. Ron Hubbard verwendet sogar das Wort »destroy«, also zerstören.

Scientologen werden argumentieren, dass ihr Gründer dieses Dokument zwar verfasst hat, ich aber trotzdem nichts zu befürchten habe. Ein Jahr später, am 21. Oktober 1968, schrieb L. Ron Hubbard nämlich (ich umschreibe wieder), dass Scientology aufhören müsse, Menschen offiziell zu Fair Game zu erklären. Von diesem Tag an tauchten diese Worte nie wieder in einer offiziellen Veröffentlichung der Organisation auf. L. Ron Hubbard erklärte schriftlich, dass die Fair-Game-Maßnahmen schlechte Presse hervorgerufen hätten. ­Allerdings machte er sofort deutlich, dass auch bei einem Verzicht auf die Bezeichnung Fair Game entsprechende Personen weiterhin so behandelt werden dürften. All dies lässt sich einfach im Netz ­recherchieren.

1970 trat ich Scientology bei und 1982 verließ ich die Organisation wieder. L. Ron Hubbard starb 1986, nur wenige Monate nach meiner Geschlechtsumwandlung. Seither wurden Mitarbeiter und mutmaßliche Auftragnehmer von Scientology in Prozessen wegen Erpressung, Diebstahl, Belästigung und sogar wegen physischer Bedrohung verurteilt. Das sind wirklich gruselige Leute und ich bin, wie gesagt, ein leichtes Ziel, wenn es darum geht, schmutzige Details in meinem ­Leben zu finden.

Andererseits könnte alles auch gelogen sein. Im Ernst, ich könnte alles nur erfunden haben, um Scientology zu zerstören oder zumindest zu schwächen. Es gibt nämlich noch eine Sache, die Sie über ­unterdrückerische Personen wissen sollten: Wir lügen immer. Wir lügen immer, weil wir alles wirklich Gute zerstören wollen – und was könnte es Besseres für die Menschheit geben als Scientology?! Soweit zur Logik hinter der Fair-Game-Regelung.

Ich will nicht lügen. Deshalb habe ich mir vor der Niederschrift des ersten Entwurfs dieses Buches fünf Wörter in meinen rechten Handrücken tätowieren lassen. Sie wurden in weißer Farbe mit ­einem Schattenwurf in der Farbe getrockneten Blutes gestochen. Die Worte sehen aus, als wären sie in meinen Handrücken geritzt worden und vernarbt: I must not tell lies.

»Ich soll nicht lügen.« Fragen Sie einen Harry-Potter-Fan, was ­genau diese Worte bedeuten und warum ich wollte, dass es so aussieht, als wären sie in meinen Handrücken geritzt worden. Oder Sie googeln die englischen Worte des Tattoos und meinen Namen, dann finden Sie sogar ein Bild. Ich soll nicht lügen. Das Tätowieren war genauso schmerzlos wie bei dem ägyptischen Kreuz auf meiner linken Hand. Die Tattoos passen gut zueinander. Als eine alte Lady oder was auch immer ich sein mag, habe ich viel gelernt über die Macht von Sex, die Weisheit der Androgynität und sogar über die Logik ewigen Lebens. Ich verspreche, dass ich jeden unterdrückerischen Drang bekämpfen werde, über diese Dinge zu lügen.

Über dreißig Jahre lang hatte ich zu viel Angst vor Scientology, um auch nur zu versuchen, eine Brücke zu meiner Tochter zu schlagen. Jetzt werde ich es wagen. Außerdem haben die letzten Jahre meines Lebens begonnen und ich will nicht mit diesem eindimensionalen Bild von meinem Vater als schlechtem Menschen ins Grab steigen. Und schlussendlich würde ich mich freuen, wenn meine Tochter und ­meine Enkel Lust darauf hätten, ein paar zusätzliche Dimensionen in ihrem Vater und Großvater zu entdecken.

Teil 1

Kapitel 1

Was zuvor geschah

Es wird wohl nie eine Disney-Verfilmung meines Lebens geben, was wirklich schade ist, weil ich eine echt niedliche Zeichentrickfigur abgeben würde. Geboren und erzogen wurde ich für die Rolle des jungen männlichen Helden. Die ersten 14 Jahre meines Lebens verbrachte ich in Interlaken, New Jersey, einer Siedlung der oberen Mittelschicht direkt am See Deal Lake. Sie befindet sich nur eine Stadt weiter landeinwärts vom Badeort Asbury Park am Atlantischen Ozean entfernt. Meine Familie gehörte zu den wenigen Juden, die dort lebten. Ich war viereinhalb Jahre alt, als mir klar wurde, dass ich kein Junge war und daher ein Mädchen sein musste. Trotzdem lebte ich ein Leben als Junge. Die Leute sahen in mir weiterhin den Jungen und später einen Mann und ich hatte nie den Mut, sie zu korrigieren. Stattdessen log ich sie alle an, indem ich behauptete, ich wäre ein Junge. Tag und Nacht log ich. Bis zu meinem zwanzigsten Geburtstag wusste kein Mensch, wer ich wirklich war oder sein wollte. Das ist ziemlich viel Druck für ein kleines Kind.

*

Die Saturday Evening Post lag jede Woche in unserem Briefkasten. Die meisten Titelbilder stammten von dem Maler Norman Rockwell, dem wohl bekanntesten Kunsthandwerker des American Dream. Ich sehnte mich danach, jedes seiner mit Mais gefütterten Mädchen aus dem Mittelwesten zu sein, die die Titelseiten der Saturday Evening Post schmückten. Ich würde bezaubernd sein, meiner misslichen Lage trotzig ins Antlitz lächeln, um den Verlust der Liebe weinen und von den Männern meines Lebens abhängig sein – vor allem von meinem Daddy. Und blond würde ich sein, mit kornblumenblauen Augen und das Haar in der Farbe von frisch geerntetem Mais.

Hier kommt ein Titelbild, das Norman Rockwell nie gemalt hätte: Meine Mutter auf dem Entbindungstisch, nicht nur dank der Schmerzmittel betäubt, sondern auch dank der Karaffe Martini, die sie während meiner sechsstündigen Geburt geleert hatte. Ich wurde betrunken und Drogen liebend geboren. Kein Wunder also, dass ich kein Wort verstand, als Dr. Grimm mich in den Arm nahm und sagte: »Willkommen auf dieser Welt, Schätzchen. Willkommen.« 24 Jahre später sollte er die gerade geborene Jessica in den Armen halten und mit denselben Worten begrüßen.

Griff Grimm und mein Vater waren Ärzte am Fitkin Memorial Hospital in Neptune, New Jersey. Vor allem im Sommer war das ­kleine Krankenhaus für eine ganze Reihe kleiner Küstenorte zuständig. Für uns waren der Atlantik pure Magie und der Strand unser Zauber­teppich. Im Sommer teilten wir diese Welt mit den Touristen und hatten Ferienjobs, die von ihnen abhingen. In Sommerstädtchen wie dem unseren finden Vater-Sohn-Unternehmungen im Herbst, ­Winter und zu Beginn des Frühlings statt.

Mein Dad und ich pflegten unsere Beziehung über das Wrestling, das uns beide begeisterte. Als ehemaliger Ringermeister im Mittelgewicht des Indiana State College nahm mich mein Vater zu den Wrestling-Wettkämpfen in der Kongresshalle von Asbury Park mit.

»Vergiss nicht, Albert«, sagte er, »das ist alles nur gespielt. Aber damit es echt aussieht, braucht man viel Geschick.« Damit kannte ich mich aus. Ich hatte bereits sehr viel Geschick darin entwickelt, wie ein echter Junge auszusehen und mich entsprechend zu verhalten.

Weil mein Vater Arzt war, saßen wir immer in der ersten Reihe. Es hielt ihn kaum auf seinem Platz. Meistens stand er, schüttelte die Faust und brüllte die Bösen an oder auch den Ringrichter wegen ­einer Fehlentscheidung. Seine Wut ließ er uns auch manchmal ­zu Hause spüren, aber im Ring konnte er sich richtig gehen lassen. Mein Vater sah in mir einen Sohn, der sich mit blutrünstiger Lust für diesen Sport begeisterte. Ehrlich gesagt war es für mich tatsächlich die pure Lust. Während der Kämpfe zitterte ich die ganze Zeit vor sexueller Erregung. Vor dem Match umrundeten die Kämpfer einzeln den Ring und die Guten winkten mir zu. Sie winkten allen zu, aber ich fühlte mich immer persönlich angesprochen. Ich ­verwandelte mich in ein wunderschönes junges Mädchen, das sich wünschte, in ihren Armen zu versinken.

*

Dr. med. Paul Kenneth Bornstein

So stand es in handgemalten Buchstaben auf der grünlichen Milchglasscheibe der Sprechzimmertür meines Vaters im zweiten Stock des Ärztehauses in Asbury Park. Als man mich an meinem 13. Geburtstag zum Mann erklärte, wurde verkündet, dass mein Name eines Tages genau unter seinem stehen werde und wir uns die Praxis teilen würden. Ich diskutierte nie mit Dad. Mein großer ­Bruder und ich nannten ihn Dad. Nur Mädchen nennen ihre Väter Daddy. Seine Patienten nannten ihn Doc, so wie die meisten Geschäftsleute und Verkäufer aus unserer Küstenregion. Für sie war ich Docs Sohn, wie zum Beispiel in »Docs Sohn ist hier wegen des Rezeptes« oder »Sind die Roastbeef-Sandwiches für Docs Sohn schon fertig?« oder »Hey, Docs Sohn ist da und bringt die Weihnachtsgeschenke«. Ja, wir waren Juden, aber damals sollten wir damit nicht unbedingt hausieren gehen. Wir feierten Weihnachten, nicht Chanukka. Meine Mannwerdung wurde zwar mit einer Bar Mitzwa gefeiert, aber – wie ich bereits erwähnte und Ihnen vermutlich bereits aufgefallen ist – es hat nicht funktioniert.

In die USA immigrierten die Eltern meines Vaters aus Russland oder Polen oder wie auch immer man jenen Landstrich nennt, der immer wieder hin und her getauscht wurde. Ich weiß nicht, aus welcher Stadt meine Familie kommt, aber in vagen Andeutungen war immer die Rede von Minsk oder Pinsk. Jedes Mal, wenn jemand »Minsk, Pinsk« sagte, rieb sich mein Onkel Davy, ohne es zu merken, die tätowierte Lagernummer auf seinem Unterarm. Er trug immer langärmelige Oberteile. Und sobald »Minsk, Pinsk« erwähnt wurde, erzählte immer irgendjemand die Legende von Max und Anna, die nach Amerika gekommen waren.

Max und Anna, die Eltern meines Vaters, waren 14 und 12 Jahre alt und ein Liebespaar, als sie die radikalen Roten Truppen unterstützten, die den Zaren stürzen wollten. Der junge Max wurde von den Weißen geschnappt, den Anhängern des Zaren, die den Stormtroopers bei Star Wars nicht ganz unähnlich waren. Max wurde in ein sibirisches Gefangenenlager verbannt. Tausende Kilometer westlich von Sibirien in Minsk oder Pinsk machte sich die nur ­zwölfjährige Anna auf die Reise, um ihren geliebten linksradikalen Jungen zu ­befreien. Da sie bettelarm war, musste sie laufen, aber wie eine ­Heldin aus einem Disney-Trickfilm konnte sie singen, was sie auch tat. An jedem Abend ihrer Reise sang sie für Kost und Logis in Dörfern und Bauernhäusern. Die Durchquerung Russlands dauerte fast ein Jahr, dann hatte sie es bis zum Tor des Gulags geschafft, in dem Max ­gefangen war. Mit dem Singen hatte sie auch ein wenig Geld verdient. Damit bestach sie die Wachposten, die wegschauten, als Max sich ­unter dem Stacheldraht hindurchzwängte und seine große Liebe in die Arme nahm. Laut der Erzählung wischte sich der Wärter eine Träne weg und gab ihnen die Hälfte des Bestechungsgeldes zurück.

Anna und Max flüchteten also in die wilden Wälder Sibiriens und rannten den ganzen Weg nach Hause bis nach Minsk oder Pinsk. ­Onkel Davy besteht darauf, dass hungrige Wölfe ihnen auf den Fersen waren. Im deutschen Bremerhaven warteten schließlich zwei Dampfer­tickets nach New Jersey auf sie, wo sie von Annas Verwandtschaft in Empfang genommen wurden. Die beiden ließen sich in Peterson, New Jersey nieder, wo einige ihrer Angehörigen eine gigantische ­Seidenspinnerei aufgebaut hatten, die später in ihren Besitz überging. Großartige Geschichte, oder?

Alles, was ich gerade erzählt habe, ist gelogen. Aber ich schwöre, dass ich diese Geschichte mein ganzes Leben lang geglaubt habe. Bis vor zehn Jahren dachte ich, dass Opa Max und Oma Angie krasse, sozialistische Freiheitskämpfer gewesen waren. Es war mein Bruder, der mich aufklärte, als ich ihn und seine Frau Deb eines Tages an der Küste von Jersey besuchte. Deb hatte die Geschichte von Max’ und Annas Odyssee voller Liebe und radikaler Revolution noch nie gehört, also begann ich zu erzählen. Von Anfang an schüttelte mein Bruder ungläubig den Kopf und als ich beim sibirischen Lager angekommen war, lachte er laut los.

»Wer hat dir denn den Scheiß erzählt?«

»Alle, Alan, alle.«

Hier kommt also die wahre Geschichte von Max und Anna in der Version meines Bruders, dem Sie eher glauben sollten als mir.

Max war kein Roter, sondern der Sohn eines reichen jüdischen Geschäftsmannes, dem Besitzer eines großen Warenhauses in Minsk, Pinsk. Er war ein überzeugter Anhänger des Zaren Nikolaus, dessen Regime extrem antisemitisch war. Mein Opa war also ein Überläufer und Verräter. Max war Mitglied einer Jugendorganisation, einem ­lokalen Schlägertrupp des Zaren. Auch Annas Familie war wohlhabend. Daher konnte sie sich Gesangsunterricht leisten, der ihr später einen Soloauftritt in der Carnegie Hall einbringen sollte. Das Wichtigste kommt aber noch: Max und Anna hassten einander, denn es war eine arrangierte Ehe. Er ging in die USA und ließ Anna zurück. Sie folgte ihm zwei Jahre später, wobei ihre Familie sie buchstäblich auf jenes Schiff schieben musste, das sie in die Arme des Mannes, den sie verachtete, befördern sollte. Es gab kein Sibirien. Die Wölfe ­waren vielleicht Onkel Davy auf den Fersen, nachdem er aus dem Vernichtungslager befreit worden war und keinen Menschen oder Ort hatte, an den er sich hätte wenden können. Monatelang wanderte er umher und vielleicht haben ihn damals die Wölfe als angeschlagene Beute erschnüffelt. Aber Anna und Max sind nie irgendwelche Wölfe zu nahe gekommen, es sei denn Anna trug sie als Pelz. Diese Geschichte ist eine gute Überleitung zum Thema Autobiografien und Wahrheit:

Ich soll nicht lügen. Dennoch werde ich in diesem Buch hin und wieder lügen – kleine Lügen, damit die Geschichte mehr Spaß macht. Ich lüge sehr gern. Ich erzähle gern Geschichten. Doch dieses Buch habe ich für meine Tochter und meine Enkel geschrieben und ich wünsche mir, dass sie die Wahrheit über mein Leben erfahren, falls es sie irgendwann mal interessieren sollte. Also verspreche ich Ihnen, dass ich in keiner wichtigen Angelegenheit lügen werde: So wie bei der Geschichte von Anna und Max werde ich Lügen erzählen, die ich für wahr hielt, und sie anschließend korrigieren. Zweifellos werden auch Lügen dabei sein, die ich heute noch für wahr halte. Da ich fast zwanzig Jahre lang Übung darin hatte, den Menschen vorzulügen, dass ich ein Junge war, habe ich eine große Begabung fürs Lügen entwickelt.

Ich soll nicht lügen.

Es ist mir in die Haut geschrieben. Ich sehe es jedes Mal, wenn ich auf meine Hand blicke.

*

In seiner Jugend arbeitete mein Vater in der Seidenspinnerei. Dann besuchte er als erstes Familienmitglied ein College. Den Großteil der Studiengebühren zahlte seine Zwillingsschwester Frances – solche Dinge taten Frauen damals für ihre Brüder. Frances konnte nie verstehen, warum ich eine Frau sein wollte, und ich konnte es ihr nie ­erklären. Mein Vater hatte aber auch verschiedene Jobs, mit denen er sein Medizinstudium finanzierte. Als Amateurboxer fügte er sich ein Blumenkohlohr und den ersten von drei Nasenbrüchen zu. Beim dritten Bruch war ich dabei. Er war auf Glatteis ausgerutscht und als er wieder aufstand, strömte das Blut nur so über sein Gesicht. Er fluchte und schnauzte mich an, ich solle aufhören zu heulen wie ein kleines Mädchen.

Bei einem anderen Job testete mein Vater die Geschwindigkeit von Rennwagen auf dem Indianapolis Motor Speedway. Während der Prohibitionszeit fuhr er im Sommer Rum über die kanadische Grenze in die USA bis zur Küste New Jerseys. Er arbeitete für Dutch Schultz, den berüchtigten Bierbaron der Bronx. Mein Vater hatte das perfekte Aussehen für diese Aufgabe: ein düsteres, russisches Gesicht mit dreifach gebrochener Nase, viel Gel im Haar und ein schiefes ­Lächeln, bei dem den Mädels die Knie schwach wurden. Mein Dad war ein Bad Boy und gleichzeitig der neue Arzt in der Stadt, also die beste Partie, die man sich vorstellen konnte. Nicht dass meine Mutter auf der Suche nach einer guten Partie gewesen wäre; sie ging damals auf die Universität und trug den Verlobungsring von Leon Goldberg an ihrer Halskette.

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Meine Mutter, geboren als Mildred Lillian Vandam, war das jüngste von drei Kindern im Haus von Albert Herman Vandam und seiner Frau Esther Cohen Vandam, die von allen Essie genannt wurde. Essie war ein aufgedrehtes, jüdisches Stadtpüppchen aus Downtown ­Henry Street und stand auf Gin. Auf jeder Party – ob als Mädchen, als Frau oder als alte Frau – tanzte sie wild mit dem Hintern wackelnd auf den Tischen. Albert Herman war ein orthodoxer Jude, der die Hälfte des Jahres damit verbrachte, in Europa nach Reliquien zu suchen, die er im restlichen halben Jahr an die katholische Kirche verkaufte. Nachdem Al gestorben war, versuchte Essie dreimal sich umzubringen. Die letzten Jahre ihres Lebens verbrachte sie in unserem Haus, damit meine Eltern sie im Auge behalten konnten.

Meine Mutter war an der Upper West Side in New York City aufgewachsen, in einer Wohnung mit Blick auf den Hudson River, nicht weit von General Grants Grab. Sie ging auf die Julia Richmond High School, eine Mädchenschule an der East Side am anderen Ende der Stadt, wo sie in ihrem letzten Jahr den lesbischen Popliteratur-­Klassiker Quell der Einsamkeit las. Mildred folgte ihrem Bruder Leroy an die Brown University. Dort sollte sie nach einem guten Ehemann suchen.

Wenn man es ganz genau nimmt, ging meine Mutter nicht auf die Brown University, sondern auf das dazugehörige Pembroke College für Mädchen. Jungs wie ich und Onkel Roy gingen auf die echte Brown University. Mädchen und Jungs erhielten den gleichen Unterricht, bis auf die Wohnheime war alles gemischt. Weil die Universität damals allerdings zu einem tief im baptistischen New England verwurzelten, rein männlichen Förderverein gehörte, konnte keine Frau einen Abschluss der Brown University erlangen.

Bis zum Jahr 1970 gab es zwei Ausnahmen im Rahmen dieser akademischen Geschlechtertrennung. Zwei Frauen sind im Besitz eines Abschlusses der Brown University von vor 1970: Wendy Carlos, eine avantgardistische Komponistin und Interpretin elektronischer Musik, machte ihren Abschluss, als sie noch Walter war. Die andere bin ich, Albert Herman Bornstein. Wenn ich heute eine Kopie meines Abschlusses anfordern und dafür bezahlen würde, stünde dort der Name Katherine Vandam Bornstein. In ihren eigenen Unterlagen hat die Brown University das bereits geändert.

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Meine Mutter und mein Vater lernten sich während eines Hausbesuchs kennen, als er zur Behandlung ihrer Tuberkulose zu ihr nach Hause kam.

Paul Bornstein hatte seine Praxis in Belmar eröffnet, nur wenige Blocks vom Sommerhaus der Vandams entfernt. Damals gab es noch keine Klimaanlagen. Und da Ventilatoren heute wie damals nichts gegen die New Yorker Sommerhitze ausrichten können, flüchteten die meisten Bewohner aus der Stadt an den Strand, die Uferpromenade oder zum Hochseeangeln an die Küste von New Jersey.

Die 18-jährige Mildred lag krank im Bett. Ihre Mutter war sich ganz sicher, dass es Tuberkulose war. Der Hausarzt der Familie hatte nur über ihre Diagnose gelacht und war mit ihrem Mann Al zum Hochseeangeln gefahren. Essie blieb also allein bei ihrer Tochter zurück, die im obersten Stockwerk des Hauses an Tuberkulose starb.

Sie rief den netten neuen Doktor aus der Nachbarschaft an, einen Juden, was ihn noch netter machte, und schon wenige Minuten ­später stand Paul mit seiner kleinen, schwarzen Arzttasche vor der Tür, die auch aus einem Bild von Norman Rockwell hätte stammen ­können. Essie brachte den jungen Doktor Paul nach oben, in das Zimmer ­ihrer Tochter. Es war die perfekte Film-Noir-Szene: Böser Junge trifft auf reiches, junges It-Girl. Paul war ein herber und gut aussehender Typ. Er war Arzt, redete wie ein Fabrikarbeiter und hatte den Gang eines Wrestlers. Mildred lag in ihrem Bett, den Kopf von zahlreichen Kissen gestützt – ein modernes, zuckersüßes Mädchen der 1920er-Jahre. Es war Liebe auf den ersten Blick und sie liebten sich bis zu ihrem Tod.

Essie bestand darauf, während der Untersuchung im Zimmer zu bleiben. Paul näherte sich Mildred mit dem Stethoskop. Er tippte auf die Halskette mit dem Ring, die gut sichtbar genau über dem Herzen hing.

»Was haben wir denn hier?«

»Absolut gar nichts, Herr Doktor.«

Beiläufig löste Mildred Leon Goldbergs unsterbliche Liebe von ­ihrem Herzen und ließ sie auf den Boden fallen. Paul lachte und ­setzte das Stethoskop an. Man kann sich leicht denken, dass er einen schneller werdenden Atem und Herzschlag hörte.

Sie waren ein reizendes Pärchen, meine Eltern. Mildred war anmutig, elegant und schön. Paul war charmant, raubeinig und gutaussehend. Meine Mutter hielt sich für das glücklichste Mädchen der Welt, mein Vater verstand nie, wie eine Klassefrau wie Mildred sich in einen Trampel wie ihn hatte verlieben können.

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Als meine zukünftige Teenagermutter, die nicht im Geringsten tuberkulös war, meinem zukünftigen Vater schöne Augen machte, war L. Ron Hubbard wie mein Dad in seinen frühen Zwanzigern. Während mein Vater seine Praxis an der Küste von New Jersey aufbaute, trampte Ron Hubbard angeblich durch Asien, wo er östliche Religionen und Bräuche studierte. Jedenfalls glaubten wir das alle bei ­Scientology. Er war ein Entdecker, ein furchtloser Erforscher der düstersten Tiefen und sternenhellen Höhen der menschlichen Seele. Er entwarf und baute die Brücke zur totalen Freiheit.

Lafayette Ronald Hubbard war ein vierschrötiger Kerl, genau wie mein Dad, und wurde am 13. März 1911 in Tilden, Nebraska geboren. Mein Vater kam nur einige Monate später auf die Welt, am 9. Mai. Wenn man der autorisierten Biografie glaubt, war der erst vierjährige Ron bereits mit sämtlichen Überlieferungen der Schwarzfußindianer vertraut, deren Stammesälteste ihn zu einem vollwertigen Bluts­bruder ernannten. Außerdem wurde Ron im Alter von 13 Jahren der jüngste Eagle Scout in der Geschichte der Pfadfinderei. So stand es in der autorisierten Biografie und als Scientologen glaubten wir daran.

Ein Großteil dieser Biografie ist zerpflückt worden. Es gilt als er­wiesen, dass viele der fantastischen Behauptungen über L. Ron Hubbards Leben schlichtweg gelogen sind – Sie können es ja mal googeln. Als Scientologen gingen wir immer davon aus, dass er die Wahrheit nur ein bisschen ausgeschmückt hatte, um eine gute Geschichte noch besser zu machen, glaubten aber, dass die Berichte über sein angeblich eindrucksvolles und heiliges Leben auf Tatsachen basierten.

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Nach einer schicklichen Verlobungszeit heirateten meine Mutter und mein Vater. Nach dem Verstreichen eines ebenso ehrenhaften Zeitraums brachte meine Mutter meinen Bruder Alan Vandam Bornstein zur Welt. Ja, wir waren zwei Als. Er war der große Al, ich der kleine Al. Der Vollständigkeit halber: Ich habe auch noch einen Cousin ­namens Al. Der große Al und Cousin Al waren Vorkriegskinder, ich war ein Nachkriegskind.

Ein Jahr nach der Geburt meines Bruders bombardierten die ­Japaner Pearl Harbor. Am selben Tag meldete sich mein Vater zum Militärdienst. Er diente in MASH-Einheiten, den mobilen Feldlazaretten, in ganz Nordafrika. Im Laufe der Jahre stieg er bis zum Oberstleutnant auf und befehligte gegen Kriegsende seine eigene MASH-Einheit in der Nähe von Paris. Ich habe ein Foto meines ­Vaters, auf dem er in der Wüste Nordafrikas im Freien an einem Feldtisch sitzt. Die Sonne brennt und er hat sein Hemd ausgezogen, ist tief gebräunt und schreibt einen Brief. Es muss ein Brief an Mildred sein, denn sein ganzer Körper scheint »Ich liebe dich« zu sagen – er strotzt nur so vor Sinnlichkeit.

Mein Lieblingsbild der beiden wurde am Tag seiner Rückkehr aus dem Krieg aufgenommen. Sie sind zum Abendessen ausgegangen und sitzen nebeneinander in einem Separee eines Restaurants. Das Foto wurde von der gegenüberliegenden Seite des Tisches aufgenommen. Sie sind mit dem Essen fertig. Meine Mutter hat sich zu ­meinem Vater gedreht und umarmt ihn mit so viel Freude, Ergebenheit und Liebe, dass auch mein Dad von einem schüchternen Glücksgefühl ­ergriffen wird. Ein schönes Bild.

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Sieben Monate nach der Rückkehr meines Vaters verlor meine ­Mutter ein kleines Mädchen. Wenige Monate später wurde ich in diesem wunderlandgleichen Schoß empfangen. Und hier kommt meine ­These: Ich glaube, dass kein Mensch wissen kann, was mir die Vormieterin meines mütterlichen Uterus zur Weiternutzung ­hinterlassen hat. Ich bin mir aber sicher, dass der Mädchenkörper eigentlich für mich bestimmt war und dass ich meinen Dad »Daddy« hätte nennen sollen. Und das ist schlicht und ergreifend kein angemessenes Material für ein Gemälde von Norman Rockwell oder einen Disney-Trickfilm.