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Die Kinderärztin kam ins Sprechzimmer geeilt, nahm Beas Akte aus der Lasche an der Tür und schaute hinein. Bea saß in Unterwäsche auf dem Untersuchungstisch, die Arme vor der Brust verschränkt.

»Sie ist 1,32 Meter groß und wiegt 42 Kilo«, las die Ärztin. Das sagte sie sachlich, geradezu aufgeräumt, so wie sie auch in den vorherigen sieben Jahren über Beas Gesundheit gesprochen hatte. Doch ich wusste schon, was jetzt kam.

»Wegen ihrem Gewicht muss ich was unternehmen«, sagte ich, um der unvermeidlichen Rüge zuvorzukommen.

»Es ist sicherlich Zeit«, stimmte die Ärztin zu.

Vor diesem Augenblick hatte ich mich gefürchtet. Jetzt war er gekommen und mir war mulmig zumute. Schon in den Monaten vor der Vorsorgeuntersuchung war ich wegen Beas Ernährung mit mir ins ­Gericht gegangen. Ihr halbes Leben lang sprachen die Kinderärztin und ich bei den jährlichen Terminen über Beas Gewicht. Vor einem Jahr hatte ich auf Drängen der Ärztin zugegeben, dass es ein Problem war, und Besserung versprochen.

Ich hatte es versucht. Und elendig versagt. In dem verstrichenen Jahr war meine Kleine zwar ganz normal gewachsen, aber sie hatte beachtliche zehn Kilo zugenommen.

Beas Gewicht entsprach jetzt dem einer Person von meiner Größe (1,62 Meter) mit fast achtzig Kilo. Ihr Blutdruck war 124 zu 80, gegenüber 100 zu 68 im Jahr davor.

Diese Zahlen für immer und ewig in Beas Patientenakte zu wissen, löste eine Art Urangst in mir aus. Es war, als hätte ich gerade erfahren, dass Bea eine potenziell tödliche Allergie oder Diabetes hatte. Von jetzt an war ihr Gewicht nicht mehr nur ein Erziehungsproblem, sondern eine Bedrohung für ihre Gesundheit. Beas Wohlergehen war in Gefahr und ich musste sie beschützen. Wie ich das anstellen sollte, wusste ich noch nicht. Ich musste mir etwas einfallen lassen.

Wenn ich rückblickend sagen müsste, wann ich mir einen Ruck gab und die Ärmel hochkrempelte, dann war es in diesem Moment. Meine eigenen Komplexe (dazu später), meine Erziehungsfehler (mehr als ­genug), meine Angst, Bea zu verkorksen, meine Sorge über die Meinung anderer (tief verankert, schwer zu ignorieren) und die Schwierigkeit der Aufgabe durften mich nicht davon abhalten, Bea zu einer glücklichen, gesunden Kindheit zu verhelfen. Ich wollte meine Tochter nicht den Gesundheitsrisiken, den seelischen Qualen, dem gesellschaftlichen Stigma des Übergewichts aussetzen. Ich musste die Sache in die Hand nehmen. Auch wenn Bea erst sieben war.

Auf die Welt gekommen war Bea als aufgewecktes, glückliches, hübsches kleines Mädchen. Sie war gesund und meisterte die Etappen der geistigen und körperlichen Entwicklung in den Babybüchern wie vorgesehen oder etwas früher. Schade fand ich eigentlich nur, dass sie als Baby nicht ein wenig pummliger war. Das erste Enkelkind meiner ­Eltern war meine Nichte, das dickste Baby, das ich je gesehen hatte. Ein Wonneproppen! Riesige Augen mit unendlich langen Wimpern, die sich träge über ihre Pausbäckchen senkten. Stramme Ärmchen und Beinchen – zum Reinbeißen. Alle liebten ihren runden Bauch, über den kein Oberteil passte und auf dem ihre Patschhändchen wie bei einem Buddha ruhten. Dann wurde sie ein normal schlankes Kind und mit ihrem Babyspeck war es vorbei. Ja, ich gebe zu, anfangs war ich ein bisschen enttäuscht, weil Bea keine Speckröllchen an den Armen und Beinen und keinen Kugelbauch hatte.

Bea war gerade ein Jahr alt, als ihr Bruder David geboren wurde. Beide waren pflegeleichte Kinder und mein Mann Jeff und ich hatten den Eindruck, dass wir als Eltern ziemlich gut davongekommen waren. Vor allem Bea war sehr reif und umgänglich. Sie weinte nicht viel. Wenn sie mit anderen Kindern spielte, war sie immer gut drauf. Mit zwei sprach sie in ganzen Sätzen, mit drei las sie Bücher und bei allen Aufnahmetests für den Kindergarten gehörte sie zu den Fortgeschrittenen.

Zu Hause machte sie gern Faxen – oft mit Tanzen und Singen – und brachte ihren kleinen Bruder so zum Lachen, dass ihm manchmal fast die Luft wegblieb. Sie war für alles zu haben und fand sogar Spaß an Alltäglichkeiten wie Einkaufen oder ein Baby im Kinderwagen herumschieben. Im Grunde habe ich sie nicht verdient, woran meine ­Mutter mich im Scherz gern erinnert.

Deshalb wehrte ich immer gleich ab, wenn andere Leute meinten, die Erfolge unserer Kinder hätten etwas mit unserer Erziehung zu tun. Wenn jemand fragte, wie Jeff und ich es geschafft hätten, dass Bea schon mit zwei so brav am Esstisch saß oder David schon mit drei ­E-Mails verschickte, versicherte ich stets, dass wir nichts »gemacht« hätten. »Sie sind eben so«, sagte ich dann.

Davids und Beas Persönlichkeit und Temperament waren so unterschiedlich, dass ich mich schnell von der Idee verabschiedet hatte, wir als Eltern hätten damit etwas zu tun. Schließlich erzogen mein Mann und ich beide auf dieselbe Weise (oder versuchten es zumindest). Beide sind tolle Kinder, aber einfach sehr verschieden.

Zum Beispiel lernte Bea im Musikunterricht immer gleich den Text und die Bewegungen zu einem Lied, während David an der Technik herumspielte, um zu sehen, wie man sie bediente (und aufdrehte). Beas Schwäche war ihre Rechthaberei, Davids sein aufbrausendes Temperament. Beide waren empfindsam und liebevoll, doch was bei ihr eine allgemeine Sympathie für andere Menschen war, zeigte sich bei ihm eher als feurige Leidenschaft für bestimmte Personen. Sie spielte lieber mit Jungen, er war vor allem mit Mädchen befreundet.

Beide aßen gut, doch auch hier gab es Unterschiede. David wusste immer genau, was er wollte. Weniger diplomatisch ausgedrückt: Seine Vorlieben umfassten zum Glück alle Nahrungsgruppen, waren aber doch bedenklich spezifisch (und sind es bis heute). Bea aß alles, was auf den Tisch kam, David mochte genau vier Gemüsesorten (Brokkoli, ­Karotten, Mais oder Rosenkohl) und zwei Fleischsorten (Hähnchen oder Rind). Dazu brauchte er jede Menge Nudeln. Lieber hätte er gehungert, als etwas zu essen, das ihm nicht schmeckte.

Ich vertrete eigentlich schon seit Langem die Theorie, dass die ­wesentlichen Charakterzüge eines Kindes von Geburt an feststehen. ­Sicher, in besonders stolzen Momenten hielt ich mir manchmal doch etwas auf meine Kinder zugute. Dann fragte ich mich selbstgefällig, ob das schlechte Benehmen anderer Kinder – wenn eine Klassenkameradin nicht teilen konnte oder ein Freund einen Wutausbruch hatte – nicht doch etwas mit schlechter Erziehung zu tun hatte. Es ist eben allzu leicht, den Erziehungsstil anderer Leute zu kritisieren.

Insgesamt glaube ich aber, dass die Interessen, geistigen Fähigkeiten, die gesundheitliche Konstitution und die allgemeinen Veranlagungen meiner Kinder von Anfang an da waren und nicht entscheidend zu ­verändern sind. Mein Mann und ich betrachten es als unsere Aufgabe, die Kinder zu unterstützen, indem wir das, was sie von Natur aus sind, konstruktiv formen. Ich konnte von David nicht erwarten, im Musikunterricht nicht aufzustehen und die Anlage aufzudrehen. Aber als er es dann machte, lachte ich und lobte ihn für seinen unabhängigen Geist? Führte ich ihn sanft, aber bestimmt wieder in den Kreis zurück? Griff ich ihn mir und nahm ihn aus dem Kurs? (Ich entschied mich für die mittlere Variante.)

Wenn Bea nachts nicht durchschlief, ließen wir sie dann schreien oder stand ich jedes Mal auf, um sie zu beruhigen und wieder zum Einschlafen zu bringen? (Eine inkonsequente Kombination aus beidem.) Wenn David sich weigerte, die Chinapfanne mit Tofu zu essen, die wir anderen uns schmecken ließen, kochte ich ihm dann seine geliebten Penne oder stellte ich ihn vor die Wahl, entweder das Gleiche zu essen wie wir oder gar nichts? (Asche auf mein Haupt: Meistens knickte ich ein und machte ihm seine Pasta.)

Heute kann ich über meine Sorgen als frisch gebackene Mutter ­lächeln. Unsere Kinder lernten schließlich, durchzuschlafen (obwohl sie, als sie klein waren, manchmal nicht vor elf ins Bett gingen), und ich bin zuversichtlich, dass Davids Geschmacksknospen irgendwann erblühen werden. Auch wenn ich weiß, dass niemals eine Entscheidung allein das Schicksal unserer Kinder zum Guten oder Schlechten wenden wird, nehme ich doch jede neue Entscheidung sehr ernst. Ein Kind großzuziehen, ist schließlich eine enorme Verantwortung.

Zum Glück sind Jeff und ich meistens einer Meinung. Wir sind völlig hin und weg von Bea und David, aber wir versuchen auch, Grenzen zu setzen und ihnen Regeln beizubringen. Nicht immer perfekt – siehe Nudelnkochen um des lieben Friedens willen oder späte Bettzeiten. Aber wir geben uns Mühe.

Sorgenfrei mit zwei

Als Bea und David richtig zu essen anfingen, gab ich ihnen, wie es sich für die moderne New Yorker Mutter gehört, gesunde, ausgewogene Kost nach den aktuellen Erkenntnissen der Ernährungswissenschaft. Die in den Siebzigerjahren empfohlene Ernährungspyramide war lange passé. Zu meiner jugendlichen Freude bestand ihr Sockel damals aus stärkehaltigen Kohlehydraten und unter »Milchprodukte« war ein Eisbecher abgebildet. Heutzutage müssen Kohlehydrate aus Vollkorn sein und alles mit mehr als fünf Zutaten oder einem Inhaltsstoff, den das Kind nicht aussprechen kann, ist verdächtig. Sogar über das Wasser muss man sich Gedanken machen – und es sollte in einer wiederverwendbaren Flasche abgefüllt sein, die aber nicht aus Plastik sein darf!

Das Frühstück war bei uns nicht übermäßig nährstoffreich. Oft aßen wir Bagels und manchmal auch Frühstücksflocken. Aber zum Mittag­essen gab es immer Schinken oder Putenaufschnitt, dazu ein Stück Obst, Karottenstäbchen oder Gurkenscheiben und etwas Kleines, Gesundes, Biomäßiges wie Käsepuffreis oder Vollkornbrezeln. Zu trinken gab es immer nur Wasser.

Zum Abendessen aßen wir wieder Fleisch (Fleischbällchen, Hähnchenschnitzel, gebratene Fischfilets), dazu etwas Pasta oder Reis und fettfrei zubereitetes Gemüse. Als Kleinigkeit danach gab es mal eine Käsestange oder ein paar Kräcker, Fruchteis oder auch eine Banane. Junkfood hatten wir nicht im Haus. Damals hatten mein Mann und ich die Ernährung unserer Kinder noch absolut im Griff und sahen keinen Anlass, ausdrücklich ungesundes Essen einzuführen.

Manche Eltern übertreiben es mit der Ernährung ihrer Kinder. Auch mir war es wichtig, meine Familie gesund und abwechslungsreich zu ernähren, doch über die Bio-Exzesse anderer Mütter machte ich mich insgeheim lustig. Bei der Abschlussfeier für Beas Zweijährigengruppe in der Vorschule bat ein kleines Mädchen seine Mutter um ein Bio-Fruchteis. Die Mutter studierte das Zutatenverzeichnis und sagte Nein. Was an diesem Eis so verwerflich war, kann ich nicht sagen, aber die Latte schien damit ziemlich hoch gehängt. Die Kleine durfte dann eine Clementine essen, mehr nicht. Natürlich hätte ich dieser Frau niemals meine Meinung gesagt. Die Ernährung ihres Kindes war schließlich ihre Angelegenheit. Doch dieses Maß an Kontrolle fand ich absurd.

Andererseits konnte ich Mütter nicht verstehen, die ihren Kindern Softdrinks oder Fast Food gaben. Wenn ich in der U-Bahn eine Mutter sah, die ihrem Baby eine Flasche mit etwas Pinkfarbenem reichte, schüttelte es mich. Und was die Eltern von dicken Kindern anging – die Theorie, dass Kinder von Anfang an sie selbst und »eben so sind«, griff hier nicht. Das war eindeutig die Schuld der Eltern, die es nicht besser wussten oder unfähig waren, Grenzen zu setzen. Entweder ernährten diese Leute ihre Kinder falsch oder sie ließen es zu, dass die Kinder sich falsch ernährten. So oder so, nach meiner Logik fügten diese Eltern ­ihren unschuldigen Kindern Schaden zu.

Da Beas Gewicht im normalen Bereich lag – für ihre Größe vielleicht sogar ein wenig darunter –, war ich mir ziemlich sicher, in Sachen Ernährung und Bewegung alles richtig zu machen. Auf Mütter mit dicken Kindern schaute ich manchmal genauso herab wie auf Mütter mit ungezogenen Kindern. Höchstwahrscheinlich hatte ich mit Bea einfach Glück – aber vielleicht, nur vielleicht, machten ja diese Mütter auch ­etwas falsch und ich machte es richtig.

Noch etwas, das wir ganz sicher richtig machten: Jeff und ich nahmen vor den Kindern nie Wörter wie »Dickmacher« oder »Kalorien« in den Mund und wenn jemand anders darüber sprach, zuckte ich zusammen. In den Siebziger- und Achtzigerjahren hatten Eltern, auch meine, damit nur so um sich geworfen. Jetzt fand ich solche Wörter zu hart. Kinder sollten sich so etwas nicht anhören müssen. Vor allem Bea als Mädchen wollte ich solches Gerede ersparen, denn sie würde noch früh genug mit ihrer Figur unzufrieden sein.

Einmal saßen wir mit meiner Großmutter Bubby in einem Diner in Queens beim Lunch. Bea verschlang mit Begeisterung ein Stück von meinem Hähnchen. Bubby hielt sie sanft am Arm fest.

»Nicht so schnell. Sonst isst du zu viel und wirst dick«, sagte Bubby.

Ich war entsetzt. »Was soll denn das, Grandma?«, platzte es aus mir heraus. »Sie ist doch erst zwei!«

Nimmersatt mit drei

In dem Jahr nach ihrem dritten Geburtstag setzte Bea immer mehr an. Sie kam jetzt auch in der Stadt herum und unter Leute und lernte neues Essen kennen, auch Junkfood.

Als ich zum ersten Mal mit ihr essen war, war ich von ihrem Heißhunger angenehm überrascht. Es gab Hähnchen mit Erbsen und Kartoffeln. Im Zangengriff sammelte sie die Erbsen einzeln auf und steckte sie mit enormer Geduld in ihren kleinen Mund. Auch von dem Hähnchen verdrückte sie mehr, als ich von so einer kleinen Person erwartet hätte.

Auf Geburtstagsfeiern saugte sie die Saftpackungen leer, aß jeden Krümel Pizza und Kuchen auf und knabberte eifrig alle Süßigkeiten, die man ihr schenkte. Es machte mir nichts aus, aber es war schon auffällig, dass die anderen kleinen Gäste nicht so waren.

An jeder Ecke in unserem Viertel schien es einen Cupcakeladen oder eine Smoothie-Bar zu geben, eine Pizzabäckerei oder einen Brezelstand, und wenn wir daran vorbeigingen, bettelte Bea mich an, ihr etwas zu kaufen. Bei ihrem Bruder war das nicht so. Bea aß alles gern, selbst Gerichte, die mir zu scharf waren (Hähnchen mit Peperoni) oder die ich einfach nur merkwürdig fand (gegrillter Tintenfisch). Immerzu klagte sie über Hunger. Sie verputzte ganze Erwachsenenportionen. Andere Kinder taten das nicht.

Auch ihre Wachstumskurve war anders als die ihres Bruders. David nahm im Alter zwischen zwei und sechs Jahren jährlich etwas über zwei Kilo zu, Bea im Schnitt das Doppelte. Bei der Vorsorgeuntersuchung zu ihrem dritten Geburtstag lag ihr Gewicht auf der 99. Perzentile. Ein Jahr zuvor war es noch im Bereich zwischen 75 und 90 Prozent gewesen. Irgendetwas hatte sich verändert.

In dem Jahr sprach mich eine der Lehrerinnen an Beas Vorschule vorsichtig auf ihr Essverhalten an. »Sie kann sich nicht regulieren«, meinte sie. Im Gruppenraum gab es einen Imbisstisch, einen Verkleidungsbereich, Kunst- und Schreibangebote, eine Bibliothek, eine Baukastenstation und eine Musikecke. Und wo hielt Bea sich am meisten auf? Sie fing am Imbisstisch an und blieb dort hängen, während ihre Kameraden schon längst spielten. Irgendwann machte sie auch etwas anderes, aber zwischendurch kehrte sie immer wieder auf einen Happen zum Imbisstisch zurück.

Viereinhalb Kilo pro Jahr im Alter von drei bis sechs Jahren ist eine ordentliche Gewichtszunahme. Zuerst sahen wir das bloß als Übergang vom schlanken Kleinkind zum Pummelchen. Schließlich trugen auch andere Kinder ein bisschen Babyspeck mit sich herum und irgendwie war es auch ganz niedlich. Wirklich nichts Schlimmes.

Außerdem achteten Jeff und ich gar nicht so sehr darauf, weil wir, ehrlich gesagt, viel zu beschäftigt damit waren, uns an Bea und David zu erfreuen. Da sie beide gesund waren, schenkten wir ihrer seelischen Entwicklung mehr Aufmerksamkeit als ihrem Gewicht.

Besorgnis mit vier

Bea wurde immer dicker. Sie übersprang schon mal eine ganze Kleidergröße. Als sie vier war, meinte Jeff, die Sachen in Größe fünf, die ich ihr anzog, seien zu eng. Kaum hatte ich die nächste Größe gekauft, war es zu spät: Sie war schon wieder herausgewachsen. Am Ende des Jahres trug sie Sachen für Achtjährige. Wir kauften jetzt Jeans für viel ältere (und größere) Mädchen und ließen die Beine kürzen, damit sie ihr passten.

In dieser Situation, dessen war ich mir bewusst, kam es weniger auf Beas angeborene Verhaltensweisen als auf unseren Umgang damit an. Doch weil ich ihr nicht irgendwelche Essstörungen oder ein verzerrtes Körperbild einreden wollte, sagte ich nichts. Solange die Möglichkeit bestand, dass Beas Gewicht für sie physisch kein Thema werden würde, wollte ich auch psychisch keins daraus machen.

Abgesehen von den allseits bekannten Gesundheitsrisiken machte ich mir Sorgen, was Übergewicht emotional für Bea bedeuten würde. Sollten wir es zulassen, dass unsere Tochter in der Klasse »die Dicke« war? Würden die Schulkameraden sie deshalb hänseln? Würde sie sich für ihr Aussehen hassen? Würde man sie beim Mittagessen oder in der Pause meiden? Was, wenn sie eine adipöse Erwachsene würde, wie die Hälfte aller übergewichtigen Sechs- bis Elfjährigen? Würde ihr Privatleben darunter leiden? Ihr Selbstwertgefühl? Ihre Jobaussichten? Ihre Lebenserwartung?

Zwar wollte ich, dass Bea sich und ihren Körper annahm, aber konnte ich wirklich Selbstakzeptanz predigen, wenn sie Übergewicht hatte? Sollte ich ihr beibringen, sich in einem Körper wohlzufühlen, wie er gesellschaftlich verpönt ist, vor dem die Ärzte warnen und wie ihn ihre eigenen Eltern für sich selbst ablehnten?

Immer noch hatte ich die Hoffnung, dass es nur eine Phase war und wir nicht weiter eingreifen mussten. Doch bei Beas Appetit fand ich es wichtig, dass sie wenigstens gesund aß. Einfach so zwischendurch warf sie manchmal eine Packung Snacktomaten oder eine kleine Melone ein. Was Cheetos oder Chips-Ahoy-Kekse da anrichten würden, wollte ich mir lieber nicht vorstellen.

Bis zu diesem Zeitpunkt war Bea noch kaum mit Junkfood in Berührung gekommen. Nicht im Traum hätte ich einer Vier- oder Fünfjährigen Softdrinks gegeben. Wir aßen fast nie in Fast-Food-Läden, vielleicht ein- oder zweimal im Jahr. Die Halloween-Beute der Kinder rückte ich nur allmählich heraus. Wenn die Großeltern ihnen im Restaurant eine Extraportion Nachtisch zuschanzen wollten, schritt ich ein. Nicht wegen Beas Gewicht, sondern weil ich fand, dass dies gute und gesunde Essgewohnheiten waren, die meine Kinder von früh an lernen sollten. Kein Schrott-Essen, nicht zu viel, alles in Maßen. Logisch.

Stabil mit fünf

Mit fünf lag Beas Gewicht wieder einmal knapp unter der Obergrenze, was die Ärztin immer noch nicht besorgniserregend fand. Sie hoffte (wie auch ich voller Verzweiflung), dass sich das Problem von selbst ­erledigen würde, am besten auf natürliche Weise, durch einen plötzlichen Wachstumsschub. Bea war noch dazu ziemlich groß, sodass nicht nur ihr Gewicht im oberen Bereich lag. Ihre jährliche Zunahme war beachtlich, aber immerhin konstant. Es wurde zwar nicht besser, aber schlimmer auch nicht.

Damals hielt es die Kinderärztin nicht für nötig, etwas zu unternehmen. Sie ermahnte uns, Nachtisch und zuckrige Getränke zu meiden. Doch daran lag es nicht, das wusste ich. Wir gaben Bea gesunde Kost und sie war auch nicht weniger aktiv als andere Kinder in ihrem Alter. Besonders sportlich war sie nicht, aber sie ging überallhin zu Fuß, spielte wie die anderen auf dem Spielplatz und hatte jede Woche Tanzunterricht. Stoffwechselstörungen und andere medizinische Ursachen hatten wir ausschließen lassen. Sie aß schlicht und einfach zu viel.

Reality Check mit sechs

Bea war eine fröhliche, fleißige Erstklässlerin, als unsere Freunde ­anfingen, Bemerkungen über ihr Gewicht zu machen. »Ihr könnt sie doch nicht einfach so weiteressen lassen«, sagte eine Cousine. »Keine Fertigprodukte«, riet mir eine Kollegin. »Sie sollte mehr Sport treiben«, meinte die Mutter einer Klassenkameradin von Bea. Nicht, dass wir ­gefragt hätten.

Bea bekam natürlich mit, dass sie anders war als andere Kinder. Als wir eines Nachmittags zu einer Familienfeier gehen wollten, stand sie im Badezimmer und malte sich die Lippen mit meinem Lipgloss an. »Damit mir die Leute nicht auf den Bauch gucken«, erklärte sie.

Das versetzte mir einen Stich. Ich mag es auch nicht besonders, wenn man mir auf den Bauch guckt, aber ich bin über vierzig. Als ich mir das erste Mal Gedanken über meinen Bauch machte, war ich um einiges älter gewesen als Bea. Dass sie sich mit sechs schon für ihren Bauch schämte, empfand ich als sehr verfrüht.

Manchmal wenn wir im Bett kuschelten oder sie sich anzog, sagte sie: »Ich bin fett.« Es wäre unehrlich gewesen, ihr zu widersprechen, aber ich konnte ihr auch nicht zustimmen. Undenkbar. Also wich ich aus. »Du bist hübsch und gesund. Und du wächst auch noch. Mach dir keine Gedanken darüber.«

Insgeheim machte ich mir aber immer mehr Sorgen. Oder war das vielleicht oberflächlich und hatte letztendlich vor allem mit meiner ­eigenen Eitelkeit zu tun? Hatte ich Angst, als schlechte Mutter dazustehen? Fürchtete ich, dass man mich für nachlässig hielt, für gleichgültig oder faul?

Andererseits: Wenn ich jetzt versuchte, Beas Essverhalten zu beeinflussen, würden die Leute dann nicht denken, dass ich überreagierte? Schließlich verwächst sich so etwas auch oft. Wann der richtige Zeitpunkt war, dem Gewicht des eigenen Kindes den Kampf anzusagen, wusste ich nicht. Aber sechs fand ich definitiv zu früh. (Offenbar nicht. Eine College-Freundin, die im medizinischen Bereich arbeitet, gestand mir im Nachhinein, dass sie der Anblick meiner Familie in dem Jahr alarmiert hatte: mein Mann so dick wie noch nie und Bea, die in seine Fußstapfen zu treten schien. Ihrer Meinung nach kam unsere Entscheidung keinen Augenblick zu früh.)

Ich machte mir also schon meine Gedanken, was andere Mütter über mich denken und wie sie mein Verhalten bewerten würden. Aber viel mehr Sorgen machte ich mir über die Vorurteile, denen Bea begegnen würde. All die Probleme, die das Dicksein mit sich bringt, wollte ich ihr gern ersparen. Für die anderen war sie das, wie auch nicht – sie war dick. Dicksein ist meist negativ besetzt und der Gedanke, dass andere Menschen Bea nicht perfekt finden könnten, machte mich traurig.

Egal, was sie auf die Waage bringt, ich liebe Bea über alles. Wenn sich ihr Bauch unter dem Badeanzug abzeichnete oder unter dem Schlafanzugoberteil hervorlugte, wollte ich ihn einfach nur küssen. Kein Zu- oder Abnehmen würde daran etwas ändern. Ich wusste, dass Bea dick genauso wunderbar war wie dünn, doch es bekümmerte mich, dass ­andere das nicht so sehen und sie benachteiligen könnten. Ich wollte nicht, dass Bea »die Dicke« war. Weder jetzt noch sonst irgendwann.