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Thomas Barfuss/Peter Jehle

Antonio Gramsci zur Einführung

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Wissenschaftlicher Beirat
Michael Hagner, Zürich
Ina Kerner, Berlin
Dieter Thomä, St. Gallen

Junius Verlag GmbH

Stresemannstraße 375

22761 Hamburg

www.junius-verlag.de

© 2014 by Junius Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: Florian Zietz

E-Book-Ausgabe September 2018

ISBN 978-3-96060-063-3

Basierend auf Printausgabe

ISBN 978-3-88506-084-0

2., ergänzte Aufl. 2017

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Inhalt

Vorwort

1.»Philosophie der Praxis« – in Gramscis Werkstatt

1.1 Materialien und Werkzeuge

1.2 Von Mäusen und Seeschlangen

1.3 Hegemonie als Königsweg?

1.4 Exkurs: »Hegemony lite«

2.»Erkenne dich selbst« – kritische Erneuerung des Alltagsverstands

2.1 Von der Religion zum Konsumismus

2.2 Konformismus und Kritik

2.3 Der Mensch als »geschichtlicher Block«

2.4 Gesunder Menschenverstand

2.5 Widersprüchliches Denken oder Denken der Widersprüche?

2.6 Philosophie und Alltagsverstand

2.7 An den Alltagsverstand anknüpfen – aber wie?

3.»Alle Menschen sind Intellektuelle« – Heraustreten aus der Subalternität

3.1 Die organisierende Funktion der Intellektuellen

3.2 Exkurs zu Paul Nizan

3.3 Traditionelle und organische Intellektuelle

3.4 Die Intellektuellen als Organisatoren einer neuen Kultur

3.5 Zwischen Kosmopolitismus und popular-nationaler Kultur

3.6 Lorianismus – der Intellektuelle im Supermarkt der Ideen

3.7 Exkurs: Cultural Studies und Subaltern Studies

4.»Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Willens« – Gramscis politische Theorie

4.1 Ein neuer Grundbegriff: die Zivilgesellschaft

4.2 Der geschichtliche Einschnitt von 1789

4.3 Der Funktionszusammenhang der Hegemoniebildung

4.4 Keine Hegemonie ohne Katharsis

4.5 Machiavelli und der popular-nationale Kollektivwille

4.6 Exkurs: Was wird aus dem Partei-Begriff?

5.»Der neue Industrialismus will die Monogamie« – Amerikanismus und Fordismus

5.1 Überschreiten und Übersetzen

5.2 Fordismus und Faschismus

5.3 Sucht, Sex, Moral

5.4 Die Massenproduktion der Träume

5.5 Fordistische ›Kulturindustrie‹

5.6 Aktive und passive Revolution

5.7 Exkurs: Regulationsansatz und Neo-Gramscianismus

Anhang

Anmerkungen

Literatur

Zeittafel

Über die Autoren

Vorwort

Antonio Gramsci, geboren 1891 in Sardinien, kommt zum Studium nach Turin, wird Journalist, Theaterkritiker, Sozialist. Von der Russischen Revolution mitten ins Zeitgeschehen versetzt, wird er zum führenden Kopf der Turiner Rätebewegung, Mitbegründer der Kommunistischen Partei, zu ihrem Vertreter in der Internationale, zum Abgeordneten im Parlament in Rom. Am Abend des 8. November 1926 wird er in seiner Wohnung verhaftet. Lange schon hat er damit rechnen müssen, von faschistischen Schlägertrupps angegriffen oder ermordet zu werden. Gramsci macht sich keine Illusionen: Sein durch einen Buckel auf Rücken und Brust missgebildeter Körper, den er als Kind durch Gewichtheben zu kräftigen suchte, wird nicht lange standhalten.

Ustica, eine Insel für Verbannte bei Sizilien: Dreimal wird Gramsci in Handschellen und zusammengekettet mit drei anderen Häftlingen auf ein Boot gebracht, dreimal müssen sie wegen rauer See umkehren, bevor die Überfahrt gelingt. Die ›Politischen‹ organisieren Schulungskurse. Gramsci kümmert sich um den historisch-literarischen Teil. In einem Brief schildert er die Verhaftung eines Schweins: Man packt es an den Hinterbeinen, und während es höllisch quietscht, wird es wie eine Schubkarre ins Gefängnis geschoben. Das Tier weidete »unerlaubterweise auf der Dorfstraße« (GB II, 74). Gramsci hat einen Sinn für komische und absurde Szenen. In Turin, als Theaterkritiker, ist er zum Entdecker Pirandellos geworden.

Während des drei Wochen dauernden, kräfte- und nervenzehrenden Gefangenentransports zurück in den Norden, wo der Prozess vorbereitet wird, schreibt er: »Ich bin nicht über einen ziemlich engen Kreis hinaus bekannt, daher wird mein Name aufs Unwahrscheinlichste entstellt: Gramasci, Granusci, Gràmisci, Granísci, Gramàsci bis hin zu Garamàscon.« (GB II, 83) Hätte er sich träumen lassen, dass sein Name einst nach demjenigen Dantes zu den weltweit meistzitierten eines Italieners gehören würde, sicher hätte er noch »Gramski« in die Liste aufgenommen, auf dass sich auch unter Deutsch- und Englischsprechenden die italienische Aussprache seines Namens herumsprechen möge: »Gramschi«. – In Palermo werden die Gefangenen auf unbestimmte Zeit in einem Depot untergebracht. Kriminelle, Mafiosi, Politische stellen sich vor. Als Gramsci seinen Namen nennt, erkennt ihn doch einer: »Gramsci, Antonio?« »Ja, Antonio.« Der andere mustert ihn lange. »Kann nicht sein«, erwidert er, »denn Antonio Gramsci muss ein Riese sein und nicht so ein kleiner Mann.« (Ebd.)

20 Jahre, 4 Monate, 5 Tage. Mit dem Terrorurteil folgt der Richter dem Staatsanwalt: »Für die nächsten zwanzig Jahre müssen wir verhindern, dass dieses Gehirn funktioniert.« Nach seiner Ankunft im Gefängnis von Mailand dauert es noch fast zwei Jahre, bis Gramsci in der Zelle schreiben darf. Einige seiner kommunistischen Mitgefangenen halten Distanz, weil er mit seinem bündnispolitischen Konzept der gerade herrschenden Parteilinie in die Quere kommt. Der Kontakt zu seiner Frau, die in Moskau gegen Anfeindungen und Depressionen kämpft, droht abzureißen. »Ich entsinne mich einer kleinen skandinavischen Volkserzählung«, schreibt er ihr. »Drei Riesen leben wie die großen Berge weit voneinander entfernt [...]. Nach ein paar tausend Jahren Schweigen ruft der erste Riese den beiden anderen zu: ›Ich höre eine Kuhherde muhen!‹ Nach dreihundert Jahren meldet sich der zweite Riese: ›Ich habe auch das Muhen vernommen!‹ und nach weiteren dreihundert Jahren gebietet der dritte Riese: ›Wenn ihr weiterhin solchen Lärm macht, geh ich.‹« (GB I, 87)

Heft um Heft füllt der Gefangene mit seiner sorgfältigen Handschrift. Schlaflosigkeit, körperliche Zusammenbrüche, kaum Kontakt zur Außenwelt. Ein Gefangenenaustausch mit der Sowjetunion, der vom Vatikan vermittelt werden soll, schlägt fehl. Gramsci beschleicht der Verdacht, dass er auch für die meisten seiner ›Freunde‹ als Gefangener bessere Dienste leistet als in Freiheit. Dennoch gelingen ihm besonders im Jahr 1932 Durchbrüche bei seiner intellektuellen Arbeit. Für den medizinischen Gutacher sind die sich stapelnden Hefte Aufzeichnungen eines Verrückten.

Gramsci stirbt am 27. April 1937, nachdem man ihm zwei Tage zuvor die bevorstehende Freilassung angekündigt hatte. Es soll so aussehen, als habe das Regime mit seinem Tod nichts zu tun. »Im Krankenhaus Quisisana in Rom, wo er seit langem behandelt wurde, starb der ehemalige kommunistische Abgeordnete Antonio Gramsci«, heißt es in den Zeitungen. Kein Wort darüber, dass dieser Tote schon seit vielen Jahren in den Gefängnissen des italienischen Staates lebendig begraben war. Vom Ministerium kommt die Anweisung, niemand dürfe die Leiche sehen; der Bruder Carlo muss protestieren, um zugelassen zu werden. Nur er und Gramscis Schwägerin Tanja Schucht, die ein Jahrzehnt lang hingebungsvoll den Kontakt gehalten und dem Gefangenen beigestanden hat, sind bei der Einäscherung zugegen, »abgesehen von einer großen Zahl von immer gegenwärtigen Beamten«, wie sie berichtet.

Nachleben eins: Nach dem Krieg erscheinen zuerst die Briefe. Sie sind das bewegende Zeugnis eines Menschen, der standhaft seine Würde gegen den Faschismus verteidigt hat und dessen Menschenkenntnis, Erzählkunst und analytischer Verstand die Leserinnen und Leser berühren. Der Band erhält einen Literaturpreis, und der berühmte Benedetto Croce, der noch nicht wissen kann, dass Gramsci sich in seinen Heften eingehend kritisch mit ihm auseinandergesetzt hat, schreibt eine würdigende Kritik.1 Italien entdeckt, dass es einen neuen Schriftsteller hat.

Nachleben zwei: 33 Schulhefte, die nach Moskau geschmuggelt und dort von der Partei in Gewahrsam genommen werden. Der kommunistische Generalsekretär Palmiro Togliatti lässt sie nach dem Krieg in Italien in rascher Folge erscheinen, thematisch gegliedert, in Teilen ›bearbeitet‹ und gekürzt, weniger aus Gründen politischer Zensur, sondern weil es nicht leicht ist, den Zusammenhang dieser Notizen und die Spezifik dieses Denkens zu erkennen. Der Pionier der westdeutschen Gramsci-Ausgaben, Christian Riechers, legt 1967 einen Auswahlband unter dem Titel Philosophie der Praxis vor. Eine englische Auswahlübersetzung erscheint 1971.

Nachleben drei: Die Hochkonjunktur marxistischen Denkens vom Ende der 1960er Jahre ist bereits abgeflaut, als 1975 die erste vollständige italienische Edition der Gefängnishefte, herausgegeben von Valentino Gerratana, erscheint. Indem sie die chronologische Abfolge der Entstehung der Notizen wahrt, kann sie Gramscis Denkstil und intellektuelle Produktionsweise sichtbar machen – vorausgesetzt, man bringt die Geduld auf und lässt sich auf den langen Weg durch das Material mitnehmen. Eine Zeit lang bleibt Gramsci noch in aller Munde, »Hegemonie« ist ein Lieblingsbegriff im linken Jargon. Aber im Grunde ist er, wie Michel Foucault 1984 feststellt, ein Autor, der öfter zitiert als wirklich gelesen wird. Und die großen Intellektuellen lassen sich von ihm inspirieren, ohne ihn zu zitieren. Gramsci wird zu einer Art musician’s musician: Inspiration für die Musik, die in der Welt spielt, aber von anderen gespielt wird. So könnte man von den Gefängnisheften sagen, was Kurt Tucholsky 1927 zum Ulysses von James Joyce schrieb: »Liebigs Fleischextrakt. Man kann es nicht essen. Aber es werden noch viele Suppen damit zubereitet werden.«

Nachleben vier: Die britischen Cultural Studies erhalten ihr Profil als kritische Analyse des kapitalistischen Medien- und Massenkonsums maßgeblich durch die Auseinandersetzung mit Gramsci. Mit ihnen wird er an die großen Universitäten der Welt exportiert. Gramscis Art, die Geschichte von den Rändern her zu schreiben und die Subalternen dabei ins Zentrum zu rücken, wird zum entscheidenden Impuls für die Subaltern Studies in Asien und Lateinamerika. Auch die innovative Analyse neoliberaler Globalisierung unter dem Namen »Internationale Politische Ökonomie« beginnt mit einer Neulektüre Gramscis. Kein Zweifel: Seit den 1990er Jahren ist aus dem musician’s musician ein globalisierter Klassiker geworden.

Wenige Autoren schreiben so klar wie Gramsci. Es macht Spaß, ihn zu lesen. Auf Schritt und Tritt wird der Leser mit überraschenden Einsichten belohnt. Die vorliegende Einführung arbeitet intensiv mit Gramscis Material. Es wird nicht nacherzählt, sondern zitiert. Man soll seine Stimme hören. Wer dann mehr wissen will, kann leicht zu den Originaltexten wechseln. Wer die Zeit für die zweitausend Seiten der Gesamtausgabe nicht hat, kann sich mit Auswahlbänden behelfen.2 Die Exkurse in jedem Kapitel sind Brücken zu wissenschaftlichen Feldern, auf denen Gramscis Denken Fortsetzungen in der Gegenwart gefunden hat. Man muss sie nicht unbedingt betreten. Der Mitgefangene, der Gramsci damals erkannte, war enttäuscht von dessen kleiner Statur. Den Riesen, den er erwartet hat, haben wir heute vor Augen. Mit den Füßen steht er im 20. Jahrhundert, wo er – aus der europäischen Peripherie stammend – im Zentrum die Revolution mitmachte und im Gefängnis die Grundlagen für ein neues Denken des Politischen und des Kulturellen legte. Sein Gesicht hat er dem 21. Jahrhundert zugewendet.

Juha Koivisto, Jan Rehmann und Oliver Walkenhorst haben das Manuskript sorgfältig gelesen und mit vielfältigen Anregungen zu seiner Verbesserung beigetragen. Ihnen sei herzlich gedankt. Wir widmen diesen Band unseren Töchtern Meret und Tonia.

1. »Philosophie der Praxis« – in Gramscis Werkstatt

Antonio Gramsci ist ein Klassiker, der kein geschlossenes Werk, sondern eine offene Werkstatt hinterlassen hat. Bücher hat er zu Lebzeiten keine veröffentlicht. Die umfangreichen journalistischen Arbeiten der frühen Jahre – politische Aufklärung und Polemik, Theaterkritiken, Kolumnen – waren »für den Tag« geschrieben (GB III, 127). Dazu kommen Reden, politische Analysen und Briefe; schließlich die im Gefängnis geführten Hefte, die zwar ebenfalls in die Politik eingreifen, aber nicht mehr tagesaktuell und direkt – das wäre unter den Bedingungen der Zensur im faschistischen Gefängnis und der Stalinisierung der KPdSU, die Gramsci innerhalb der eigenen Partei in die Isolation bringt, schwer möglich gewesen. Sie loten die Bedingungen und Möglichkeiten emanzipatorischer Politik in grundlegender Weise neu aus. »Ich bin besessen (das ist ein für Häftlinge typisches Phänomen, glaube ich) von dem Gedanken: man müsste etwas tun für ewig.« (GB II, 92) Aber auch dieses theoretische Vermächtnis bleibt vorerst unter Verschluss. Nach Gramscis Tod am 27. April 1937 wird es für kurze Zeit in Rom in einem Tresor verwahrt, dann nach Russland gebracht und erst nach dem Krieg in Italien publiziert – zunächst in ausgewählten Themenbänden, bis Valentino Gerratanas kritische Ausgabe der Quaderni del carcere von 1975 den Blick aufs Ganze öffnet.3

Gramsci hat 33 handbeschriebene Schulhefte hinterlassen (darunter vier, die ausschließlich Übersetzungen enthalten), ein immer wieder neu ansetzendes gedankliches Experimentieren, begriffliches Zuspitzen, Kritisieren. Die Vorläufigkeit des so entstehenden Geflechts von Materialien und Reflexionen wird vom Autor nicht überspielt. Alle diese »Notizen«, schreibt er am Anfang von Heft 11, seien »genauestens durchzusehen und zu überprüfen, weil sie bestimmt Ungenauigkeiten, falsche Annäherungen, Anachronismen enthalten«; ja, es sei möglich, dass sich gerade »das Gegenteil des Geschriebenen als wahr herausstellen könnte« (Gef, 6/1367). Was der medizinische Gefängnisgutachter als pathologisches Dokument einstufte, ist in Wahrheit ein vielschichtiges work in progress, dem allein der durch das Gefängnisregime provozierte vorzeitige Tod ein Ende setzte; ein unabgeschlossenes und unabschließbares Werk, das verlangt, fortgesetzt zu werden. Das legt sowohl der Gegenstand nahe, nämlich »die Geschichte selbst in ihrer unendlichen Varietät und Vielfalt« (6/1423), als auch die Herangehensweise des Verfassers, dessen »Gewohnheit der strengen philologischen Disziplin, die ich während meines Universitätsstudiums erlernt habe, mir vielleicht ein Übermaß an methodischen Zweifeln mitgegeben hat« (GB III, 107).

1.1 Materialien und Werkzeuge

Betreten wir diese Werkstatt zum ersten Mal, so fällt es schwer, uns darin zurechtzufinden. Anstelle einer von blendender Aktualität erhellten Gegenwart sehen wir uns im Halbdunkel der Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts einer überwältigenden Fülle geschichtlicher Materialien gegenüber, auf die Gramsci eine Reihe eigenartiger begrifflicher Werkzeuge anwendet. Sehen wir uns zunächst die Materialblöcke an, die viel Platz in dieser Werkstatt beanspruchen. Betrachtet man sie etwas genauer, so lassen sich die größten von ihnen, die Gramsci immer wieder bearbeitet hat, unterscheiden und benennen: erstens das Projekt einer »Geschichte der italienischen Intellektuellen« (Gef, 5/941) – ihrer Entwicklung, ihres Selbstverständnisses und ihrer Denkweisen einschließlich ihrer Illusionen und Beschränktheiten. Das Feld ist weit gesteckt, vom Ende des römischen Imperiums über Renaissance und Reformation und das Risorgimento – so nennt man den Prozess der nationalen Einigung Italiens im 19. Jahrhundert – bis zum italienischen Faschismus. Neben klingenden Namen wie Dante oder Machiavelli sowie bekannten Zeitgenossen – der Philosoph und Literat Benedetto Croce taucht immer wieder auf ebenso wie der Dramatiker Luigi Pirandello, dessen Stücke Gramsci schon in seinen Turiner Jahren ausführlich besprochen hatte – haben auch allerlei längst vergessene Figuren ihren Auftritt; zweitens die Oktoberrevolution in Russland, die Gramsci in seinen journalistischen Arbeiten sozusagen ›live‹ kommentiert und unterstützt hatte – in den Gefängnisheften wird sie zusammen mit dem Scheitern der revolutionären Linken im Westen und allen Gründen dafür neu in den Blick gebracht; schließlich, als dritter großer Materialblock, Amerikanismus und Fordismus. Hier richtet Gramsci den Blick auf die industrielle Entwicklung in den USA und damit auf eine sich erst am Horizont abzeichnende Neuformierung kapitalistischer Vergesellschaftung, was es ihm zugleich erlaubt, die Instrumente der Gegenwartsanalyse des Faschismus in Europa zu schärfen.

Schauen wir uns als nächstes die Werkzeuge an, mit denen Gramsci diese Materialblöcke bearbeitet. Auf Anhieb fällt vielleicht ein knappes Dutzend ins Auge. Da gibt es einen »geschichtlichen Block« und den aus zwei ineinandergreifenden Teilen gefertigten »Bewegungs- und Stellungskrieg«, »Kohärenz« und »Katharsis« gehören dazu, ein paradox zusammengesetztes Instrument namens »passive Revolution« und selbstverständlich »Hegemonie« als der heute wohl bekannteste unter Gramscis Begriffen. Was schon bei flüchtigem Hinsehen auffällt: Diese Begriffe sind keine Neuprägungen, sondern allesamt aus vorgefundenem Material entwickelt bzw. umfunktioniert, sei es aus der antiken Dramentheorie (wie Katharsis) oder aus der Militärsprache (wie Bewegungs- und Stellungskrieg – wobei Gramsci hier gleich die Warnung dazusetzt, dass »Vergleiche zwischen militärischer Kunst und der Politik [...] nur als Denkanstöße und ad absurdum vereinfachende Begriffe« aufzufassen seien; 1/176).

Man könnte zunächst versucht sein, eine solche Umnutzung einer Handvoll zusammengewürfelter Begriffe als Verlegenheit des isolierten Gefangenen zu verstehen, dem der Zugang zu einer systematischen wissenschaftlichen Forschung versperrt ist und der wie Robinson mit Findigkeit und Witz aus dem verfügbaren Strandgut seine eigenen Werkzeuge herstellen muss. Allerdings trifft das die Sache nur ganz äußerlich und wird vollends verkehrt, wo aus Gramsci eine tragische Figur gemacht wird, die im Gefängnis »Heft um Heft mit geistlosen Notizen zu zehntrangigen Aufsätzen […] und anderem akribisch zusammengeklaubtem Treibgut vollschrieb« (Dath 2004). Zwar ist Gramscis Lage im Gefängnis tatsächlich prekär. Er muss aus dem Gedächtnis zitieren, weil ihm die Quellen nicht erreichbar sind, und beim Durchackern »fromme Schriften und drittrangige Romane« aus der Gefängnisbibliothek fruchtbar machen, denn ein politischer Gefangener sollte »selbst aus einer Rübe Blut gewinnen« (GB II, 234). Aus diesem Dialog über die Zeiten mit Marx, Machiavelli u.a. und dem mit zähem Willen verfolgten alltäglichen Durcharbeiten eines Wusts von mittelmäßigen Ideologen, Publizisten und Literaten in Zeitungen und Zeitschriften gehen schon die Umrisse eines eigenen Projekts hervor. Gramsci gibt ihm den von Antonio Labriola4 stammenden Namen einer »Philosophie der Praxis«, die stets die kritische Auseinandersetzung mit dem herrschenden Denken sucht und dabei den Alltagsverstand, in den sie sich verändernd einmischen will, genau studiert und seziert. Er wühlt sich ins konkrete Material hinein und beginnt dort seine subversive Tätigkeit, er hinterfragt und verändert Begriffe, überprüft sie an neuem Material. Der Historiker Eric Hobsbawm spricht anerkennend von Gramscis »Weigerung, das Terrain konkreter historischer, sozialer und kultureller Realitäten zugunsten von Abstraktion und reduktionistischen theoretischen Modellen zu verlassen« (2012, 309).

Der Ausdruck ›Philosophie der Praxis‹, der in den Gefängnisheften zunächst nur »sporadisch« auftaucht, begegnet »im Sinne eines sich entfaltenden Selbstverständnisses« (Haug, Einleitung, 6/1195) zum ersten Mal in Heft 7 (1930-31), nicht zufällig also in dem Heft, dessen ersten Teil Gramsci für Übersetzungen u.a. der marxschen Feuerbachthesen verwendet hat. Der Ausdruck ist mithin kein bloßer Tarnname für den vom Faschismus auf den Index gesetzten »Marxismus«, wie oft vermutet wurde, sondern markiert eine bestimmte Marx-Interpretation. Diese richtet sich gegen den im zeitgenössischen Marxismus vorherrschenden Objektivismus, der den Fortschritt zum Besseren und damit den Zusammenbruch der bürgerlichen Ordnung und den Übergang zum Sozialismus als eine unumstößlich feststehende Tatsache konzipierte. Der mechanische Objektivismus versetzte die Subjekte in eine trügerische Passivität. Warum sollte man lernen und sich anstrengen, wenn unabhängig von allem Tun ›objektive‹ Gesetzmäßigkeiten den Lauf der Dinge bestimmen?

Anders die ›Philosophie der Praxis‹, die zum »Namen für das gramscianische Projekt« selbst wurde (Haug; Gef, 6/1196) und die Frage, wie »aus den Strukturen die historische Bewegung« entsteht (Gramsci, 4/876), wieder ernst nimmt. Entscheidend ist hier der Bezug auf Marx’ Feuerbachthesen, nach denen das »Ändern der Umstände« und die »Selbstveränderung« nicht voneinander zu trennen sind (MEW 3, 6). Das ›Wesen‹ kann sich nur von den gesellschaftlichen Verhältnissen her, unter denen die Menschen ihr Leben produzieren, erschließen. Daher der ebenso berühmte wie oft falsch verstandene Satz, dass das Wesen des Menschen in seiner Wirklichkeit »kein dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstraktum« ist, sondern »das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse« (ebd.).

Auf den ersten Blick könnte man glauben, hier werde dem Menschen seine Freiheit, ja seine Individualität bestritten und man mache ihn zum passiven Produkt der Gesellschaft, zu einem willenlosen Automaten, der die von außen an ihn herangetragenen Zwecke exekutiert. Doch in Wirklichkeit ist der Gedanke ein befreiender: Keinem ist in die Wiege gelegt, was für ein Mensch er ›ist‹. Weil das Wesen nicht angeboren, sondern hinausverlagert ist in die Gesellschaft, muss es in einem langwierigen und unabschließbaren Prozess der Selbsttätigkeit angeeignet werden. Der individuelle, unverwechselbare Mensch ist das Resultat dieses Prozesses, kein schon vorweg Bestimmtes. Wie weit die Einzelnen hier vorankommen, welche der vom geschichtlichen Moment gebotenen Möglichkeiten sie realisieren können – das hängt weniger von der Großhirnrinde oder der genetischen Ausstattung ab und mehr von dem, was Marx eben als »das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse« bezeichnet. Für Gramsci ist diese Auffassung des menschlichen Wesens die »befriedigendste […], weil sie die Idee des Werdens einschließt: der Mensch wird, er verändert sich fortwährend mit dem Sich-Verändern der gesellschaftlichen Verhältnisse« (4/891). In diesem Zusammenhang gebraucht er den Ausdruck »Philosophie der Praxis« und fährt fort: »Alles ist Politik, auch die Philosophie oder die Philosophien […], und die einzige ›Philosophie‹ ist die Geschichte in Aktion, das heißt das Leben selbst.« (892) Werden da alle Katzen grau? Schlägt die »Idee des Werdens«, kaum ausgesprochen, um in die Identität von Politik, Philosophie, Geschichte? Nein, keineswegs. Es sind tastende Übersetzungsversuche zwischen Bereichen, die in der Regel in wechselseitiger Abschottung voneinander existieren und die in Wirklichkeit doch zusammenhängen. Sehen wir zu, wie Gramsci weiter damit umgeht.

1.2 Von Mäusen und Seeschlangen

In der Isolation des Gefängnisses entwickelt Gramsci einen »ungeheuren Hunger nach Realität« (Kammerer 1993, 11). »Ich muss es machen wie die Naturforscher, die aus einem in einer prähistorischen Höhle gefundenen Zahn oder Schwanzknöchelchen ein ausgestorbenes Tier, das womöglich groß war wie ein Wal, zu rekonstruieren versuchen.« Das schreibt er am 30. Dezember 1929 an seine Mutter, um ihr seine Bitte um die Schilderung konkreter Einzelheiten nahezubringen, aus denen er sich ein realistisches Bild ihres Lebens machen kann. Die Gefahren dieser Methode sind ihm bewusst, hat man doch gelegentlich schon »aus einem Mäuseknöchelchen […] eine Seeschlange rekonstruiert« (1/83; vgl. auch 7/1654). Um ihnen zu entgehen, greift Gramsci auf die strenge Disziplin zurück, die er sich in seinem Studium der Sprachwissenschaften angeeignet hat: Da die Philosophie der Praxis sich in der »unendlichen Varietät und Vielfalt« der Geschichte bewegt, kann deren Erfahrung nicht »schematisiert«, auf kein »mechanisches Formelwerk« reduziert werden (6/1423). Sie hat, nach dem Vorbild der Philologie, »die Einzeltatsachen in ihrer unverwechselbaren ›Individualität‹« festzustellen, um nicht der Seeschlange der vorschnellen Verallgemeinerung zur Beute zu fallen. Doch kann sie dabei nicht stehen bleiben, denn sie will ja zugleich die Zusammenhänge zwischen diesen Tatsachen ans Licht bringen, um ein ›Bild‹ von der Lage zu geben, das die Handlungsfähigkeit fördert. Wenn in den Naturwissenschaften »Fehlurteile […] leicht durch neue Forschung berichtigt werden und jedenfalls nur den einzelnen Wissenschaftler lächerlich machen können«, so liegt der Fall in Geschichte und Politik anders, wo es darum geht, »Handlungsperspektiven und -programme zu konstruieren« und »die großen Massen aus ihrer Passivität hervortreten zu lassen«; »Denkfaulheit« und »Oberflächlichkeit« zeitigen hier »›knallharte‹ Schäden«, die »niemals wiedergutgemacht werden können« (1423f.).

Der Sprachwissenschaftler Gramsci hat seine Erfahrungen als Intellektueller nicht auf dem akademischen Feld gesammelt, sondern als »organischer Intellektueller« der Arbeiterbewegung – als politischer Journalist, beim Aufbau der Fabrikrätebewegung in Turin und als Parteiführer (zunächst regional) und italienischer Vertreter in der Kommunistischen Internationale. Die Relevanz von Theoriearbeit, wie er sie versteht, entscheidet sich an der Frage, ob sie zur Erweiterung der Handlungsfähigkeit der Subalternen beiträgt. Diese brauchen ›ihre‹ Intellektuellen und werden handlungsfähig doch nur, wenn sie selber denken und handeln. Politik kann deshalb nicht mehr das Werk »individueller […] Anführer« sein, sondern nur »kollektiver Organismen«, d.h. der Parteien (6/1424). Für den Kommunisten Gramsci ist die Partei noch selbstverständlich. ›Kollektiv‹ ist bei ihm ernst gemeint als etwas, das als »aktive und bewusste Mitbeteiligung« und »Mit-Leidenschaftlichkeit« aus der Tätigkeit vieler resultiert und sich aus der »Erfahrung der unmittelbaren Einzelheiten« speist (ebd.). Für diese gelingende Kooperation jenseits von Stellvertreterpolitik und Zwangshierarchie prägt Gramsci den ungewöhnlichen Namen einer »lebendigen Philologie« (ebd.). Darunter versteht er, dass Menschen und Ereignisse in ihrer Individualität wahrgenommen werden und sich in lebendiger Weise zu kollektiver Handlungsfähigkeit verknüpfen. Der Zwangsapparat stalinistischen Zuschnitts war damit nicht vereinbar. Selbst wer heute Parteien für überholt hält und sie als Form der Entwicklung politischer Handlungsfähigkeit überhaupt ablehnt, kommt für ein Projekt der Befreiung aus Abhängigkeit und Sprachlosigkeit um die zwei Dimensionen gramscianischer Philologie nicht herum: ›Philologie der Geschichte‹, weil eine Politik, die in der Gegenwart die Keime der Zukunft aufnehmen will, nur realistisch ist, wenn ihre Akteure alle Einzelheiten und Wahrheiten kennen, »auch die unerfreulichen« (6/1325); ›lebendige Philologie‹, weil aus der Subalternität nur heraustreten kann, wer aus der Vereinzelung, Ausgrenzung oder Blockierung zur Handlungsfähigkeit eines lebendig-lernbereiten Ensembles gelangt.

Ausgerechnet dieser revolutionäre Philologe, der sich alle intellektuelle Schaumschlägerei strikt verbietet, ist nach dem Urteil Eric Hobsbawms »der originellste Denker, den der Westen seit 1917 hervorgebracht hat« (2012, 286). Wie ist das möglich, wo er sich doch stets geweigert hat, originell im landläufigen Sinn zu sein? Bewusst hat er es abgelehnt, seiner individuellen Brillanz die Zügel schießen zu lassen: »Dass eine Masse von Menschen dahin gebracht wird, die reale Gegenwart kohärent und auf einheitliche Weise zu denken«, ist für ihn »eine ›philosophische‹ Tatsache, die viel wichtiger und ›origineller‹ ist, als wenn ein philosophisches ›Genie‹ eine neue Wahrheit entdeckt, die Erbhof kleiner Intellektuellengruppen bleibt« (6/1377).

Originell ist Gramsci also nicht trotz, sondern gerade wegen seiner philologisch disziplinierten Arbeit mit dem Material; seine Begriffe sind erstens dialektisch angelegt und laufen in einem unabschließbaren Prozess wechselseitiger Korrektur zwischen Theorie und Praxis hin und her; zweitens genügen sie wissenschaftlichen Ansprüchen, d.h., sie werden transparent entwickelt und setzen sich nachvollziehbarer Überprüfung am Material aus, auch wenn in den Gefängisheften vieles experimentell bleibt und die Begriffe nicht immer einheitlich gebraucht werden; drittens orientieren sie auf eine Anordnung, die im Material herrschaftskritisches Potenzial freisetzt, d.h., die Begriffe, die wir in Gramscis Werkstatt vorfinden, sind stets so angelegt, dass sie – wie Brecht das genannt hat – zugleich die »Griffe« sind, »mit denen man die Dinge bewegen kann« (Flüchtlingsgespräche, GA 18, 263).

1.3 Hegemonie als Königsweg?

Sigmund Freud hat als »Via regia zur Kenntnis des Unbewussten« und einfachsten Zugang zu den »Neuheiten, welche die Psychoanalyse Ihrem Denken zumutet«, die Traumdeutung empfohlen (1909/1969, 39). Sollte bei Gramsci ›Hegemonie‹ auch ein solcher Königsweg sein, der die Spezifik seines Denkens am direktesten zu erschließen vermag? Könnte eine Definition dieses ›Schlüsselbegriffs‹ uns vielleicht sogar lange Umwege durchs historische Material ersparen? Probieren wir es aus.

Im politischen Jargon bedeutet Hegemonie »Vorherrschaft (eines Staates), Vormachtstellung (die nicht rechtlich begründet zu sein braucht«; Duden, Großes Wörterbuch). In den Debatten der russischen Arbeiterbewegung vor der Oktoberrevolution war der Begriff »einer der meistbenutzten und vertrautesten«; er diente dazu, »die Rolle der Arbeiterklasse in einer bürgerlichen Revolution theoretisch zu untermauern« (Anderson 1979, 24). Gramsci gebraucht den Begriff schon vor seiner Inhaftierung, z.B. in seiner Rede vom Mai 1925 vor dem Zentralkomitee der KPI, der Kommunistischen Partei Italiens. Darin empfiehlt er, »die Hauptprobleme des Lebens in Italien« so zu stellen, dass als Lösung »das revolutionäre Bündnis zwischen Proletariat und Bauern« ins Bild komme und die »Hegemonie des Proletariats verwirklicht« werden könne (Z, 136). Er folgt hier noch Lenins Verwendung von Hegemonie in der Bedeutung von Vorrangstellung innerhalb eines Klassenbündnisses.

In dem Aufsatz Einige Gesichtspunkte der Frage des Südens, über dem Gramsci zur Zeit seiner Verhaftung im November 1926 sitzt, heißt es: »Das Proletariat kann in dem Maße zur führenden und herrschenden Klasse werden, wie es ihm gelingt, ein System von Klassenbündnissen zu schaffen, das ihm gestattet, die Mehrheit der werktätigen Bevölkerung gegen den Kapitalismus und den bürgerlichen Staat zu mobilisieren.« (Z, 191) Auffällig ist hier die Differenzierung von »führen« und »herrschen«. Gramsci wird im Gefängnis darauf zurückkommen. Aber zunächst wird sie nicht ausgearbeitet. So etwas wie die terminologische Fassung des Hegemoniebegriffs sucht man in Gramscis Arbeitsplänen und Themen für die Gefängnishefte