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Helmut Pape

Charles S. Peirce zur Einführung

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Junius Verlag GmbH

© 2004 by Junius Verlag GmbH

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Inhalt

1.Einleitung

2.Kategorien: Ein Rätsel der peirceschen Philosophie

3.Logik und Prozess: Die Entwicklung einer idealistischen Ontologie des Geistes

4.Von der Erkenntnistheorie zur Logik der Relationen

5.Pragmatismus: Die Ordnung von Wissen und Handeln

6.Semiotik: Die Allgegenwart der Zeichen und die Offenheit der Zukunft

7.Rhetorik statt Pragmatik: Gemeinschaften des Gesprächs und der Erfahrung

8.Metaphysik: Die Evolution des Kosmos und die Stellung des Menschen

Anhang

Anmerkungen

Literaturhinweise

Zeittafel

Über den Autor

1. Einleitung

Dieser Band führt anhand eines systematischen Grundgedankens in das peircesche Philosophieren ein.1 Er zeigt, dass Peirce’ Philosophie am besten als logischer Idealismus zu verstehen ist. Der logische Idealismus ist eine Variante des objektiven Idealismus und versteht Geist als einen Prozess, dessen Tiefen- wie Oberflächenstruktur vollständig durch Begriffe, die aus der Mathematik und Logik – insbesondere aus der Relationenlogik – adaptiert sind, beschrieben werden kann. Peirce ist also ein Denker, der in der großen Tradition des Idealismus steht und diese Tradition durch die Verwendung moderner logischer, semiotischer und mathematischer Begriffe entscheidend verändert und erneuert hat.2

Andere einführende systematische Gesichtspunkte wie der Pragmatismus oder die Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie wären natürlich auch möglich gewesen. Doch der logische Idealismus liefert einen ebenso umfassenden wie systematischen Gesichtspunkt, der den Zusammenhang zwischen so unterschiedlichen und auf den ersten Blick fast widersprüchlichen Theorien wie Semiotik, Pragmatismus und evolutionärer Metaphysik herstellt.

Dieses Buch stellt ein unvollendet gebliebenes philosophisches Projekt vor, das Peirce sein ganzes Leben lang in allen Bereichen der Philosophie verfolgt hat. Peirce’ logischer Idealismus ist weitgehend übersehen, ignoriert oder geleugnet worden. Er passte nicht in das analytische, transzendentalpragmatische oder wissenschaftstheoretische Bild, an dem die jeweiligen Interpreten der peirceschen Philosophie vor allem interessiert waren. Das liegt sicher auch daran, dass es Peirce niemals gelungen ist, eine endgültige und ihn definitiv befriedigende Darstellung seiner Philosophie zu verfassen.

Die systematische Ausrichtung dieses Bandes hat Folgen. Ich werde die peircesche Philosophie nicht vollständig anhand weniger Thesen aus jedem ihrer Bereiche beschreiben. Selbst sehr wichtige und gerade heute philosophisch wirksame Theoriestücke wie die graphische Logik der Existential Graphs, die Abduktion als Theorie der erkenntniserweiternden Schlüsse oder auch die Religionsphilosophie mit ihrem ungewöhnlichen Gottesbeweis werde ich nicht darstellen. Peirce’ Philosophieren ist wegen seines immer wieder neu ansetzenden und doch niemals vollständig durchgeführten systematischen Entwerfens radikal unvollständig: Es liegt nur eine Folge von in unterschiedlichem Maß unvollendeten Systementwürfen vor, die in veröffentlichten Aufsätzen, Buchentwürfen, aber auch in mehrere hundert Seiten langen Manuskripten ausgeführt sind. Von Anfang an ziehen sich zentrale Themen und Thesen durch dieses Denken, die auf ganz unterschiedliche Weise artikuliert, neu konzipiert und teilweise wieder verworfen werden. Um in ein Denken einzuführen, das von einem solchen Verhältnis von Einheit, Vielfalt und Entwicklung geprägt ist, ist ein übergeordneter Gesichtspunkt günstig, der bei allem Wandel weitgehend stabil bleibt. So lässt sich der systematische Zusammenhang in der Entwicklung dieses Denkens herausarbeiten.

Doch liefert die Orientierung an der logisch-idealistischen Grundlinie des peirceschen Denkens auch die beste Einführung in sein Denken? Um diese Frage zu beantworten, sollten wir zwei Dinge berücksichtigen: 1. Einführungen in die Philosophie gelingen dann, wenn Leserinnen und Leser in die Lage versetzt werden, ein Philosophieren mit eigener Erfahrung lernend und verstehend zu verknüpfen. 2. Die Logik, die den logischen Idealismus prägt, ist im peirceschen Philosophieren entscheidend, weil sie die Orientierung am Lernen mit der Erfahrung des Lesers verbindet. Mein erstes Ziel ist es deshalb, verständlich zu machen, dass die Kombination von Idealismus und Logik geeignet ist, zum eigenen Denken und zum Lernen an der Erfahrung zu ermutigen. Der Wunsch, an der Erfahrung zu lernen, die eigenen, für selbstverständlich gehaltenen Urteile und Einstellungen für korrigierbar und erweiterbar zu halten, das ist für Peirce »die erste Regel der Logik«:

»Aus dieser ersten und in einer Hinsicht einzigen Regel der Logik, daß man, um zu lernen, den Wunsch haben muß zu lernen, und sich dabei nicht mit dem zufrieden geben darf, was man schon zu denken geneigt ist, ergibt sich ein Folgesatz, der an sich schon verdient, als Inschrift auf jeder Mauer in der Stadt der Philosophie zu stehen: Behindere nicht den Gang der Forschung.« (CP3 1.135, 1898; DLU, 241)

»Behindere nicht den Gang der Forschung« heißt: Es gibt keine von uns explizit festzulegende Grenze für das Erklär- und Lernbare, die wir setzen und die wir für eine Antwort halten könnten. Andererseits: Wenn wir lernen wollen, dann muss ein gewachsenes Vertrauen in unser eigenes Urteil stetig zunehmen können. Ein Zeichen für diesen Mut zum eigenen Urteil ist es, dass wir uns selbst zubilligen können, Fehler zu machen.

Dieses Vertrauen auf die Korrektur unserer Meinungen an der Erfahrung hat die Aufklärung nicht erst seit Kants sapere aude (wage zu wissen)4 gefordert. Mir kommt es hier auf eine Akzentverschiebung an. Die Maxime, die für Peirce’ Philosophieren und für das Verständnis dieses Buchs wichtig ist, lautet: Lernen wollen heißt, dass man riskante, exotische und unplausible Thesen und Behauptungen zu durchdenken wagt; dass man sich zutraut, Behauptungen nach Maßgabe eigener Überlegungen zu korrigieren und zu verändern. Beide Teile der Maxime gehören zusammen und wenn sie zusammen praktiziert werden, so werden sich die Fähigkeit zu urteilen und die inhaltliche Qualität der Urteile verbessern lassen.

Wie Peirce Idealismus und Pragmatismus verbindet

Die peircesche Philosophie verbindet zwei philosophische Positionen, die oftmals für gegensätzlich gehalten werden: Idealismus und Pragmatismus. Diese Positionen stehen nicht nur für einzelne Thesen oder Aussagen, die Peirce irgendwann formuliert hat. Sie markieren vielmehr Vorgehensweisen und Ausrichtungen seines Philosophierens und Argumentierens. Doch wieso sollte es fruchtbar sein, Pragmatismus und Idealismus, die einander nach herrschender Meinung doch ausschließen, miteinander zu verbinden?

Diese Frage stellt sich, weil im heutigen Alltagsverständnis Idealismus und Pragmatismus auf gegensätzliche, ja widersprüchliche Weise beschrieben werden: Idealist wird häufig jemand genannt, der z.B. finanzielle und andere Nachteile für sich in Kauf nimmt, um seine Werte, Ziele oder Ideale unbeirrt zu verwirklichen. Der Idealist des Alltagsverständnisses hält an seinen Idealen also auch gegen äußere Widerstände und widersprechende Erfahrungen fest. Dagegen bezeichnen wir als Pragmatisten eine Person, die bereit ist, ihre Ziele, Werte und Ideale schnell aufzugeben, wenn sie ihrem individuellen Vorteil, z.B. der beruflichen oder politischen Karriere, im Wege stehen. Bei näherem Hinsehen löst sich dieser Gegensatz in Wohlgefallen auf. Denn einerseits ist jemand, der seine Ziele, Werte und Ideale beibehält, obwohl viele Erfahrungen gegen die Möglichkeit ihrer Verwirklichung sprechen, kein Idealist: Er ist schlicht denk- und lernunfähig. Ideale, Ziele und Werte, für die es keinerlei Umsetzungsmöglichkeit gibt, sind meist nur schlechte Ziele und Werte – von Ausnahmefällen wie der Einforderung von Humanität und Demokratie in einer Diktatur einmal abgesehen. Aber eine solche Unfähigkeit zur Umsetzung von Zielen und Idealen muss nicht gemeint sein, wenn man jemanden einen »Idealisten« nennt. Es könnte auch heißen: Da hat jemand neben den normalen Interessen an beruflichem Erfolg, an Lebens- und Liebesgenuss noch andere Ziele und Ideale, die nicht auf den persönlichen Lustgewinn reduziert werden können. Diese überpersönlichen Ziele und Ideale bestimmen gelegentlich sein Handeln und die Art, wie er lebt.

Andererseits bezeichnen wir als Pragmatisten häufig eine Person, die kaum etwas anderes im Sinn hat als ihren eigenen ökonomischen Erfolg, Lustgewinn usw. Das könnte aber heißen, dass wir jemanden einen Pragmatisten nennen, der arm an Zielen ist und z.B. seinen privaten Erfolg und Lustgewinn zu seinem einzigen Ideal erhoben hat. Ein Pragmatist in diesem Sinne ist also, recht verstanden, ein auf individuelle Ziele eingeschränkter Idealist. Wir können nämlich, wenn der philosophische Idealismus Recht hat, gar nicht ohne Ziele, Zwecke und Ideale handeln oder auf menschliche Weise existieren.

Doch in der Philosophie widersprechen sich Pragmatismus und Idealismus keinesfalls, wie man aufgrund der alltagssprachlichen Bedeutung dieser Begriffe meinen könnte. Wenn wir die philosophische Bedeutung dieser Begriffe betrachten, geht es gar nicht um die Einstellung einzelner Personen zu den Zielen, die sie im Leben verfolgen. Dies unterstellt aber der alltägliche Begriff von Idealismus und Pragmatismus. Die philosophische Gegenposition zum Pragmatismus ist vielmehr der Rationalismus – und nicht der Idealismus. Der Pragmatismus ist eine Theorie, die behauptet, dass das philosophische Verstehen der Welt die besondere Position und Fähigkeit des Menschen als Handelnder zum Ausgangspunkt ihrer weiteren Überlegungen machen muss, wenn sie z.B. erklären will, warum wir erfolgreich die Wirklichkeit erkennen oder sagen können, was Wahrheit, Tugend und Schönheit sind.

Der Idealismus ist dagegen eine allgemeinere und ältere Denkweise, deren Ursprung sich in den Anfängen des philosophischen Denkens verliert. Die philosophische Position, die den Idealismus ausschließt, ist der Materialismus.5 Während nämlich der Idealismus behauptet, dass alle Wirklichkeit durch ein geistiges Prinzip (oder Prinzipien) bestimmt und strukturiert wird (werden), behauptet der Materialismus – der heute häufig in der spezielleren Form des Naturalismus auftritt –, dass nur die Materie und materiale Prinzipien elementar und alle geistigen Phänomene auf materiale Prinzipien und Bedingungen zurückführbar seien. Der Idealismus ist wie der Materialismus eine metaphysische Theorie. Er behauptet auf ganz unterschiedliche Weisen, dass Geist und geistige Prozesse die allgemeinste und grundlegendste Ebene der Wirklichkeit ausmachen. Alles Übrige, z.B. alle Materie und alle physikalischen Prozesse, soll dann auf dieser Basis verständlich gemacht werden. Der Idealismus zeichnet eine umfassende, einheitliche und nicht weiter zurückführbare Schicht des Seins aus, die für alle Bereiche des menschlichen Denkens, Erkennens und Handelns grundlegend sein soll.

Der Pragmatismus ist dagegen eine speziellere Theorie, die methodisch, wissenschaftstheoretisch, sprachphilosophisch oder logisch argumentiert. Dabei handelt es sich nicht um eine metaphysische Theorie. Der Pragmatismus kann im Zusammenhang eines materialistischen oder idealistischen Philosophierens entwickelt werden, das weit umfassender ist und einen größeren Bereich von philosophischen Theorien und Disziplinen umfasst und übergreift. Peirce’ Idealismus gewinnt seine besondere Gestalt durch den Pragmatismus: Der Pragmatismus ist eine methodologisch und erkenntnistheoretisch ansetzende Zugangsweise zur Philosophie, die die innere Struktur von Erkenntnis- und Verständigungsprozessen durch besondere Forderungen zu leiten versucht. Die pragmatische Methodologie ist an einem Ziel orientiert: der Gewinnung und Erhaltung wahrer Meinungen. Sie beansprucht nicht, für alle Arten geistiger Prozesse und alle Zwecke und Ziele gültig zu sein. Eine »pragmatische Theorie der Gefühle« z.B. wäre für Peirce schlichter Unsinn, weil sie behaupten würde, den Status und den Sinn von Gefühlen allein über das Handeln angemessen beschreiben zu können.

Peirce’ Pragmatismus bezieht den Idealismus auf die logische Struktur des konkreten Handelns und der Ziele, die mit dem Erkennen von Wahrheit zu tun haben. Für die philosophische Bedeutung der Logik ist nach Peirce eine positive, offene Einstellung zum Lernen an der Erfahrung entscheidend. Dies ist deshalb so, weil wir auch in der Philosophie nach Wahrheit streben. Der peircesche Pragmatismus nimmt an, dass wir das auf Wahrheit ausgerichtete theoretische Denken nur durch den Bezug auf das Handeln klären können. Dies verleiht dem Handeln eine geistige, nämlich logische Rolle: Es hat die Funktion, jene denkunabhängige Wirklichkeit zugänglich zu machen, die allein als faktische Bedingung des Handelns mobilisiert werden kann. Unsere Handlungen haben aber eine Bedeutung nur insofern, als sie zweckvoll sind. Dieses Verhältnis ist nicht einseitig. Es bedarf des Handelns auch, damit wir erkennen können, welche Ziele, Zwecke und Ideale wir wirklich wollen. Peirce’ Pragmatismus behauptet also zum einen, dass er den Anspruch unseres Denkens auf Verstehen und Erkennen durch die Beziehung zum Handeln erklärt. Zum anderen aber gehört das Nachdenken über Zwecke und ihre Umsetzung durch das Handeln zum theoretischen Denken über alle Arten von Fragen – und sei es nur, dass in den Wissenschaften über mögliche Experimente, Veranschaulichungen und Anwendungen nachgedacht wird.

Theorie und Praxis sind im theoretischen Denken niemals zu trennen, weil der Bezug auf die Praxis Teil der theoretischen Darstellung der Welt ist (4. Kapitel). Peirce behauptet, dass es wesentlich zu jedem Zweck gehört, »dass er sich nicht auf sich selbst richten kann, sondern sich selbst im Erschaffen entwickelt« (PLZ 1983, 170). Wir sehen jetzt: Die absurde Konsequenz der Konzeption eines Alltagsidealisten ist, dass man von ihm auch dann behaupten kann, er habe Ideale, wenn er niemals nach ihnen handelt – selbst, wenn er die Gelegenheit dazu hätte. Weil aber zweckgeleitetes Handeln selbst eine Bedingung für das Erfassen von Zwecken ist, ergibt sich ein wechselseitiges Bedingungsverhältnis: Ein die Zwecke abwägender Geist ist Bedingung für das Handeln und das Handeln ist eine Phase geistiger Aktivität und Bedingung für die Selbstkontrolle und die Korrektur des Denkens. Deshalb gehen für Peirce Idealismus und Pragmatismus stets zusammen.

Kurzum: Der Pragmatismus behauptet, dass selbst unser theoretisches Denken darauf angewiesen ist, den Gedanken im Handeln nicht nur zu konkretisieren und zu erproben, sondern dass wir ihn erst in seiner konkreten Gestaltung vollenden können (5. Kapitel). Natürlich kann, je nach Gegenstand, auch das Denken selbst eine erste Form der Erprobung darstellen, nämlich dann, wenn es den öffentlichen Kriterien z.B. einer kommunikativen Verständigung zugänglich ist. Das Prinzip des logisch-pragmatischen Idealismus betrifft nicht die Zwecke, die unbestimmte Ideale bleiben, sondern jene, die sich durch die Wirksamkeit eines Denkens konkretisieren lassen, das sich mit der Wirklichkeit auseinander setzt.

Die These, dass Geist und das Produzieren von Darstellungen für das Erkennen und Verwirklichen von Zwecken erforderlich sind, ist selbstverständlich eine sehr allgemeine These. Der alltägliche Hintergrund dafür ist eine einfache Erfahrung. Wir handeln nach wohlüberlegten Zwecken, die wir im Verlauf ihrer Verwirklichung kontrolliert verändern. Charakteristisch für den Pragmatismus ist die Einsicht, dass alles Geistige notwendig auf das Handeln angewiesen ist. Folglich hängt die pragmatische Beziehung auf das Handeln untrennbar mit der internen Struktur unseres zweckorientierten, darstellenden und damit zeichengebundenen Denkens zusammen: Peirce’ idealistischer Pragmatismus bedarf der Einlösung durch eine Semiotik, die zeigt, wie zweckvolles Handeln und Denken die Formung von Zeichen bestimmen (6. Kapitel). Die Bindung geistiger Prozesse an ihr semiotisches Konkretwerden ist eine Konsequenz von Idealismus und Pragmatismus. Das Prinzip des Geistes, semiotisch verstanden, fasst die Form aller geistigen Prozesse als ein Handeln auf, das die in dieser Welt produzierbaren Zeichen hervorbringt. Das 7. Kapitel »Rhetorik statt Pragmatik« zeigt auf, durch welche Handlungen Gemeinschaften des Gesprächs und der Erfahrung entstehen können.

Ich hatte jede Philosophie »idealistisch« genannt, die annimmt, dass die Gegenstände der Erfahrung, des Wissens und der Darstellung von geistiger Aktivität oder einem geistigen Prinzip abhängen, das elementar und nicht ohne Rest auf etwas anderes reduzierbar ist. Das ist ein sehr allgemeiner und sehr schwacher Begriff des philosophischen Idealismus. Auch kann diese allgemeine Fassung des Idealismus nicht durch den Gegensatz zum Realismus charakterisiert werden. Denn auch wenn einige Eigenschaften – typischerweise diejenigen, welche physische Gegenstände charakterisieren – nicht von uns abhängen, sind andere Aspekte des Wirklichen in der Tat gedankenabhängig, indem sie z.B. davon abhängen, was wir tun, weil wir denken, dass es getan werden sollte.

Es gibt vielerlei einander überschneidende Varianten und unterschiedliche Formen des Idealismus. Alle peirceschen Charakterisierungen seines Idealismus laufen auf eine semiotische oder logische Form des objektiven Idealismus hinaus, der in seiner Metaphysik explizit zum Ausdruck kommt (8. Kapitel). Peirce selbst hat seine Philosophie aber am häufigsten als »konditionalen Idealismus« beschrieben. Diese Bezeichnung steht der Konzeption des logischen Idealismus nahe, weil es dabei um eine logische Beziehung zu einer offenen Zukunft geht. Seinen »konditionalen Idealismus« erläutert er 1907 so:

»[…] was wir unter der Objektivität der Wahrheit verstehen, besteht in Wirklichkeit in der Tatsache, dass schließlich jeder Forschende dazu gebracht wird, sie zu akzeptieren – und wenn er nicht aufrichtig ist, so wird die unwiderstehliche Wirkung des Forschens im Angesicht der Erfahrung ihn dazu bringen, es zu sein. Diese Anschauung scheint mir […] ein Folgesatz des Pragmatismus zu sein […]. Ich nenne die von mir vertretene Form ›konditionalen Idealismus‹. Damit ist gemeint, dass die Unabhängigkeit der Wahrheit von individuellen Auffassungen dadurch bedingt ist (soweit es irgendeine ›Wahrheit‹ gibt), dass sie das vorbestimmte Ergebnis ist, zu dem ausreichende Forschung letztlich führen würde.« (CP 5.494; übers. v. Vf.)

Es sind die geistigen, durch ihre logische Struktur beschreibbaren Eigenschaften der Prozesse, die für den Idealismus entscheidend sind und die die Wahrheit zum orientierenden Ziel des menschlichen Erkennens machen. Die Verwendung des Begriffs »Idealismus« wird dadurch begründet, dass allein logische Prozesse des Forschens und Denkens eine stabile Beziehung zur Zukunft ermöglichen. Das letzte Kapitel über die evolutionäre Kosmologie wird zeigen, dass auch im Fall der kosmologischen Prozesse die logische Struktur entscheidend ist. Deshalb kann Peirce am besten als logischer Idealist bezeichnet werden. Denn er war nicht nur überzeugt, dass die logischen Struktureigenschaften der Prozesse unseres Geistes für dessen Fruchtbarkeit entscheidend sind, er war auch der Auffassung, dass sie für die Philosophie die einzige Weise bilden, wie wir zu einem umfassenden und konsistenten Verstehen von Wirklichkeit gelangen können. In den folgenden Kapiteln werde ich zeigen, dass gerade das Zusammengehen von Pragmatismus, Semiotik und Metaphysik in dieser Form des Idealismus für die große Fruchtbarkeit, Dynamik und Reichweite des peirceschen Denkens ausschlaggebend ist.

Die Ordnung der Wissenschaften

Drei Gründe sprechen dafür, dass wir uns mit der peirceschen Wissenschaftsklassifikation vertraut machen: Erstens führt sie uns die logisch-idealistische Verknüpfung von Denken und Handeln in der normativen Ausrichtung der Erkenntnisprozesse aller wissenschaftlichen Disziplinen vor Augen. Zweitens liefert sie uns einen Überblick über die systematische Ordnung des peirceschen Philosophierens. Und drittens erhalten wir hier einen Eindruck von Peirce’ Verständnis der Philosophie im Verhältnis zu den Einzelwissenschaften.

Wozu dient der Entwurf einer Wissenschaftsklassifikation? Peirce meinte, durch ein solches Schema die Beziehungen zwischen Philosophie und den übrigen Wissenschaften und insbesondere den speziellen Ort der einzelnen philosophischen Disziplinen deutlich machen zu können. Philosophie nimmt in diesem Schema die zentrale Stelle ein: Sie umfasst jenes Interpretationsverstehen, das zwischen Mathematik und die Einzelwissenschaften treten muss, um beide aufeinander beziehen zu können. Das Ordnungsprinzip dieses Schemas besteht darin, dass »jede Wissenschaft in ihren allgemeinen Prinzipien ausschließlich auf Wissenschaften rekurrieren sollte, die oberhalb von ihr angeordnet sind, während sie sich in ihren Beispielen und besonderen Tatsachen derjenigen unterhalb von ihr bedient« (SB1, 71). Die folgende Übersicht gibt das peircesche Schema wieder. Außerdem habe ich eingetragen, in welchem Kapitel dieses Buchs die entsprechende philosophische Teildisziplin dargestellt wird:

MATHEMATIK

2./4. Kapitel:
Kategorien/Relationen (Teile)

PHILOSOPHIE

 

Phänomenologie

2. Kapitel: Kategorien (Teile)

Normative Wissenschaft

 

Ästhetik

 

Ethik

 

Logik

 

Spekulative Grammatik

6. Kapitel: Semiotik

Kritik

3./4. Kapitel: Logik (Teile)

Methodeutik (Rhetorik)

5.+7. Kapitel: Pragmatismus

Metaphysik

8. Kapitel: Evolutionäre Metaphysik

SPEZIELLE WISSENSCHAFT

Physik

z.B. Chemie, Biologie, Kristallographie,

Geologie, Astronomie usw.

Psychik

z.B. allgemeine Psychologie, Linguistik,

Ethnologie, Geschichte, Literarische Kritik etc.

Nach dieser Klassifikation ist die Philosophie eine empirische Wissenschaft. Sie basiert sogar direkter auf der Erfahrung als die Einzelwissenschaften. Aber sie nimmt auch eine mittlere Stellung zwischen der Mathematik und den Einzelwissenschaften ein: Allein von der Mathematik kann sie allgemeine Ansätze und Theorien – Grundbegriffe und Prinzipien – übernehmen; ihrerseits gibt sie allen Einzelwissenschaften allgemeine Prinzipien vor. Zugleich hat jede Wissenschaft aber auch eine Bereichsautonomie. Ihre Vorgehensweise entscheidet darüber, welche allgemeinen Prinzipien sie verwendet und wie diese zu verstehen sind.

Die Philosophie hat drei große Teildisziplinen: Phänomenologie, normative Wissenschaft und Metaphysik. Die Phänomenologie liefert eine allgemeine Theorie aller möglichen Objekte der Erfahrung, die nur auf mathematischen Prinzipien aufbaut und deshalb z.B. nicht zwischen Fiktion und Existenz unterscheidet. Die normative Wissenschaft liefert Theorien der Unterscheidung zwischen Gut und Schlecht, die unser Fühlen (Ästhetik), Handeln (Ethik) und Denken (Logik) bewerten. Peirce ist der erste Philosoph, der »normativ« in diesem Sinne verwendet. Die normativen Wissenschaften setzen voraus, dass es sich bei den von ihnen betrachteten Aktivitäten um von den handelnden Subjekten – in sehr unterschiedlichem Maße – kontrollierbare Aktivitäten handelt.

Warum aber wird in dieser Einführung in das peircesche Philosophieren zwar jeder der drei Teilbereiche der Logik, nicht jedoch die Ästhetik und Ethik behandelt, die doch nach dem Gliederungsprinzip der Logik die Prinzipien vorgeben? Tatsächlich sind die Theorie der Zeichen (Peirce: »spekulative Grammatik« oder Semiotik), die Kritik als Theorie des schlussfolgernden Denkens und Argumentierens (Peirce: Kritik oder Logik im engeren Sinne) und die Methodenlehre der Wissenschaft (Peirce: Methodeutik) normative Disziplinen. Sie alle untersuchen drei Formen kontrollierten kognitiven Handelns, das darauf abzielt, nicht nur eine ethisch gute, sondern eine ästhetisch befriedigende Qualität in unserer Erfahrung zu produzieren. Alles erkennbar Wahre soll auch eine »gute« ästhetische Qualität aufweisen. Dieser normative Zusammenhang mit der Ästhetik belegt die idealistische Ausrichtung des peirceschen Philosophierens. Allerdings hat Peirce nicht genauer ausgeführt, wie seine Ästhetik dieses normative ästhetisch Gute fassen kann.

Auch die normative Ethik behauptet, dass es eine Selbstkontrolle über die Güte der Zwecke gibt. Bei der Darstellung des Pragmatismus im fünften Kapitel werden wir sehen, dass sich auch genauere normative Anforderungen für ein Erkennen und Denken angeben lassen, das als selbstkontrolliertes, richtiges Erkenntnishandeln gelten kann. Gleichwohl ist Peirce nicht sehr weit über diese prinzipielle Unterordnung der Logik unter die anderen normativen Wissenschaften hinausgegangen: Seine Arbeiten über Ethik und Ästhetik sind weitgehend Programm und Fragment geblieben.

Was ist also der normative Sinn der Dreiteilung der Logik? Die Logik als allgemeine Theorie des kontrollierten Denkens enthält drei Teildisziplinen: die Logik als Semiotik, die Kritik als Theorie des Folgerns und Argumentierens und die Methodeutik (Rhetorik) als Theorie der Regeln gemeinschaftlicher Interpretation. In dieser Einteilung kommt die Einsicht zum Ausdruck, dass wir nicht nur für die logische Güte unseres argumentativen Denkens, nämlich ihre Wahrheit und Folgerichtigkeit Verantwortung tragen. Wir sind auch für den Gebrauch von Sprache und anderen Ausdrucksmitteln verantwortlich (Semiotik). Peirce hat deshalb eine Ethik der Terminologie entwickelt. Die höchste und schwierigste Form normativer Verpflichtung übernehmen wir, wenn wir die Methoden und Regeln unseres Vorgehens in der Erfahrungsaneignung und im Theoretisieren wählen (Methodeutik). Die Methodenlehre ist der systematische Ort, an den der Pragmatismus gehört: Deshalb hat sie so große Bedeutung für das peircesche Philosophieren.

Man kann sagen, dass Peirce die Wissenschaftsklassifikation nur entwickelt hat, um der Logik in diesem weiten Verständnis den ihr angemessenen Platz zuweisen zu können. Sie ist Voraussetzung jeder Metaphysik und umfassende Theorie des auf Erkenntnis gerichteten Denkens und Handelns. Der Logik kommt der Rang einer allgemeinen Theorie selbstkontrollierten Denkens, Sprechens, Argumentierens und des methodischen Vorgehens zu. Sie wird zum zentralen Baustein jeder voll entwickelten Philosophie.

Der Beginn des Philosophierens: Alltägliche Erfahrung

Peirce’ pragmatischer und logischer Idealismus macht den Alltag des Austausches von Zeichen zum Ausgangspunkt jedes Philosophierens. Dieser ist für eine Einleitung in seine Philosophie wichtig. Philosophieren wird dadurch an die Erfahrung der zwischenmenschlichen Verständigung zurückgebunden. Denn: »Philosophie ist eine Disziplin, die auf alltäglicher Erfahrung basiert […]. Wir sollten niemals damit beginnen, über reine Ideen zu sprechen – gleichsam vagabundierenden Gedanken, welche ohne eine menschliche Behausung über öffentliche Straßen ziehen –, sondern wir sollten mit den Menschen und ihren Gesprächen beginnen.« (CP 8.112, übers. v. Vf.)

Mit dem Primat der Praxis sind weder inhaltliche Voraussetzungen gemeint noch strikte Regeln oder Methodologie. Vielmehr geht es darum, dass wir den internen Zusammenhang theoretischer Begriffe, Aussagen, Annahmen und Voraussetzungen unserer Praxis noch nicht verstanden haben können, wenn wir zu philosophieren beginnen – auch wenn wir bereits erfolgreich über ihn verfügen. Wir befinden uns dann an dem Punkt, wo wir den Übergang zwischen dem normalen, alltäglichen und nicht explizierten Leben der Menschen und einer speziellen Tätigkeit – eben dem philosophischen Sprechen – betrachten. Philosophie ist eine spezielle Aktivität unter vielen, mit der wir aber niemals in einer Situation beginnen, die leer und unbestimmt durch Vormeinungen wäre. Wir beginnen mit allen Überzeugungen, Träumen, Wünschen und Erfahrungen, die wir bereits haben. Wir beginnen mit irgendeinem Wunsch, Interesse oder irgendeiner bewussten Absicht, verstehen zu wollen.

Dies mag z.B. der Wunsch sein, die Dinge umfassender zu verstehen, als dies unsere eigenen Erfahrungen und die aller anderen Menschen bisher geleistet haben. Menschen, die sich darauf einlassen, begegnen einander auf der gleichen Ebene. Wichtig ist nun, was das für den Beginn des Philosophierens bedeutet: dass jeder seine geistigen Fähigkeiten, Überzeugungen und Erfahrungen mitbringt und dass wir nur an diesen gemessen sagen können, was es heißt, im Philosophieren Fortschritte zu machen. Eine Philosophie, die uns auffordert, von der Praxis des Alltags und des eigenen Lebens auszugehen, spricht also eine Einladung und Ermutigung zum Gespräch und eine Aufforderung an uns aus, ein Interesse an einem neuen umfassenderen Verständnis einer lebendigen menschlichen Existenzweise zu entwickeln.

Aufforderungen, Ermutigungen und Einladungen nehmen die Leserin und den Leser als Personen ernst, respektieren und erkennen sie als Menschen an, die in der Lage sind, ihr Geschick selbst in die Hand zu nehmen. Das ist keine Voraussetzung dieses Philosophierens, sondern dient einem offenen Verhältnis für den wechselseitigen Austausch. Wo aber sollen die Fähigkeit zu zweckgerichtetem, planvollen Handeln, Rationalität und Lernfähigkeit herkommen, wenn sie nicht schon in unseren alltäglichen Praktiken angelegt sind? Gegen die Überheblichkeit und Selbstermächtigung einer Philosophie etwa, die beansprucht, eine besondere Art des Wissens zu erzeugen, das weder alltäglichen noch wissenschaftlichen Erfahrungen zugänglich ist, wendet sich in der Philosophie der Moderne und Gegenwart nicht nur der Pragmatismus. Er tut dies aber in besonderer Weise. So wendet sich Peirce z.B. gegen eine Philosophieauffassung, die nur den Zweifel als systematischen Anfangspunkt der Philosophie zulassen will. Zweifeln, argumentiert er 1868 in seinen frühen Schriften gegen Descartes’ methodischen Zweifel, kann man nur von konkreten Anlässen aus:

»Wir können nicht mit völligem Zweifel anfangen. Wir müssen mit all den Vorurteilen beginnen, die wir wirklich haben, wenn wir mit dem Studium der Philosophie anfangen. […] Wir sollten nicht vorgeben, in der Philosophie etwas zu bezweifeln, was wir in unserem Herzen nicht bezweifeln!« (EP1, 28 f.; deutsch in: SPP, 40–41)

Daher können wir späterhin legitimerweise von einer voll entwickelten Philosophie verlangen, dass sie uns explizit vorführt, wie diese Fähigkeiten und Gegebenheiten implizit wirksam sind und wie durch sie das Lernen und eine Veränderung der Praxis möglich wird. Die Aufforderung, die der englische Originaltitel des Buchs des Neopragmatisten Robert Brandom gibt, lautet deshalb ganz in diesem Sinne: Making it explicit – das bisher Unausgedrückte explizit formulieren.

Ich fasse kurz zusammen, wie ich die Rede vom Primat des Alltags, des individuellen Lebens im Anfang des Philosophierens verstehen möchte: Es handelt sich erstens um eine Verabschiedung des Anspruchs auf vollständige und letzte Begründbarkeit in der Philosophie und zweitens um eine Einladung zum Philosophieren ohne Vorurteile gegen alltägliche und normale Erfahrungen und Urteile: Jede Erfahrung zählt auf dieselbe Weise, jeder Ausgangspunkt, jede Meinung sollte zunächst akzeptiert werden. Als Gesprächs-, Dialog- und Denkpartner sind wir gleichberechtigt – gerade am Anfang und bei der Einführung in das Philosophieren.

Charles Sanders Peirce: Leben und Werk

In seiner Philosophie wollte Peirce zeigen, wie man das »Konkretwerden des Vernünftigen« verstehen kann. Was für ein Mensch war er, der sich einerseits für das Geltungsrecht der alltäglichen Erfahrungen und Gespräche aller Menschen als Ausgangspunkt der Philosophie einsetzte und andererseits abstrakten Kategorien und mathematischen Formen eine entscheidende Funktion in aller Erfahrung zusprach? Was besagt schon eine Liste der etwa zwei Dutzend Wissenschaften, zu denen Peirce in achthundert Publikationen, Patentschriften und wissenschaftlichen Berichten, insgesamt ungefähr 12000 Seiten, beigetragen hat? Und was können uns heute seine Monographie Photometric Researches (W3, 382–495) über die Helligkeitsverteilung der Fixsterne und die mathematischen Probleme der Fehlertheorie bei Schwerkraftmessungen oder die Patentschriften des chemischen Ingenieurs und des Kartographen Peirce noch über ihn sagen? Will man sein Leben in einem Satz beschreiben, so könnte man sagen: ein genialer Mann, der alle Chancen auf eine erfolgreiche wissenschaftliche Karriere ruinierte – und dem es trotzdem gelungen ist, ein beeindruckendes philosophisches und wissenschaftliches Werk zu hinterlassen.

Versuchen wir dieses Leben von seinem traurigen Ende her zu beschreiben. Schauen wir in einen Brief, den der achtundfünfzig Jahre alte Peirce an seinen erfolgreicheren Freund und Mitpragmatisten, den berühmten Psychologen und Philosophen William James, schrieb, der in Harvard lehrte:

»Ich habe in den letzten Jahren sehr viel über Philosophie gelernt, weil es sehr unglückliche und erfolglose Jahre waren – furchtbare Jahre, jenseits allem, was ein Mensch mit normaler Erfahrung möglicherweise verstehen oder sich vorstellen kann. […] Außerdem hat sich mir eine neue Welt erschlossen, von der ich nichts wußte und über die ich niemanden finden kann, der kenntnisreich über sie geschrieben hat – die Welt des Unglücks. […] Ich würde gern ihre Physiologie beschreiben.«6

Mit solchen brieflichen Hilferufen aus Milford, das in der Wildnis der Wälder Pennsylvanias liegt, wandte sich Peirce in den letzten zwanzig Jahren seines Lebens nicht nur an William James, sondern an viele seiner Freunde. Seit 1907, nachdem zwei Studenten den alten Peirce bewusstlos vor Hunger aufgefunden hatten, organisierte William James mit einigen Freunden einen Hilfsfonds für Peirce und seine Frau Juliette. Das war die schwierige, ja verzweifelte Lebenssituation, in der sich Peirce gegen Ende seines Lebens befand. Wie war es dazu gekommen?

Der Anfang dieses Lebens war äußerst viel versprechend, die Bedingungen überaus günstig für eine glänzende wissenschaftliche Karriere. Charles wurde an einem Dienstag, dem 10. September 1839, als das zweite Kind des Mathematik- und Astronomieprofessors Benjamin Peirce in Cambridge geboren. Drei jüngere Geschwister folgten noch in dieser achten Generation einer neuenglischen Gründerfamilie. In Cambridge wuchs Charles in einer überaus begüterten und gebildeten Umgebung auf. Intellektuell, sozial und politisch gehörte die Familie Peirce zur Führungsschicht der schon damals bedeutenden amerikanischen Universitätsstadt Cambridge. Die Mutter war die Tochter des Senators von Massachussetts, E.H. Mills, der Vater war der erste international bedeutende Mathematiker, den die USA hervorbrachten. Neben seiner Tätigkeit an der Universität nahm er wichtige Regierungsaufgaben wahr und leitete die Vermessungs- und Küstenschutz-Behörde der USA (Coast and Geodetic Survey). Peirce’ jüngerer Bruder Herbert Henry Davis machte im diplomatischen Dienst Karriere, und sein älterer Bruder James Mill wurde wie der Vater Professor für Mathematik in Harvard. Charles war der Liebling und die große Hoffnung seines Vaters, der in ihm das künftige Genie erkannte. Der Vater förderte und unterstützte Charles beruflich bis zu seinem Tode 1879 in jeder Hinsicht. So verhalf seine dominante Protektion dem häufig sehr hochfahrenden und arroganten jungen Mann zu seiner einzigen längerfristigen Anstellung bei der Coast and Geodetic Survey. Für sie war Peirce als Experimentalwissenschaftler (Geodät) ebenso wie als Mathematiker (mit Beiträgen zur mathematischen Fehlertheorie) dreißig Jahre lang tätig.

Peirce war kein herausragender Schüler oder Student. Eher beiläufig schloss er das Studium der Chemie 1863 mit dem »Bachelor of Science« an der Lawrence Scientific School der Harvard University als erster Student in ihrer Geschichte mit summa cum laude ab. An der Lawrence School lernte er auch William James kennen, es begann eine lebenslange intellektuelle und menschliche Freundschaft.

Schuld an den schlechten Noten des Schülers und Studenten hatten seine weit ausgreifenden Interessen, die sich schon früh über ein gutes Dutzend Wissenschaften erstreckten. Peirce wurde vom Vater intensiv in Philosophie und in den unterschiedlichsten Naturwissenschaften ausgebildet. Mit acht Jahren hatte ihn dieser intensive Unterricht so weit in die Mathematik eingeführt, dass er sich für deren Anwendung in Astronomie und Chemie zu interessieren begann. Mit elf Jahren soll Peirce eine Geschichte der Chemie geschrieben haben, mit dreizehn begann seine lebenslange Begeisterung für die Logik, die sich an der Lektüre eines englischen Logikbuchs (Whateleys Logic) entzündete.