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Heike Delitz

Émile Durkheim zur Einführung

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Wissenschaftlicher Beirat

Michael Hagner, Zürich

Ina Kerner, Berlin

Dieter Thomä, St. Gallen

Junius Verlag GmbH

© 2013 by Junius Verlag GmbH

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Inhalt

IEinleitung. Der französische Klassiker der Soziologie

IILeben, Denken und Weiterdenken: Durkheim und die Durkheim-Schule

Durkheims akademisches Leben

Die Werke

Durkheims Mitarbeiter: die durkheimianischen Werke, das Paradigma

Durkheims Rivalen und Gegner. Der Erfolg und ›Misserfolg‹ seiner Soziologie

Der Pädagoge der Nation: Durkheim im politischen Kontext seiner Zeit

Nach Durkheims Tod: Das Erbe Durkheims, die Verächter und Verfechter

IIIDie neue Disziplin. Die Regeln der soziologischen Methode

Das Handbrevier: Die Regeln für jeden Soziologen und jede Soziologin (Kap. 1)

Regeln zur Betrachtung der soziologischen Tatbestände: Der ›Chosismus‹ (Kap. 2)

Exkurs: Anti-Tarde

Das Normale und das Pathologische – der Nutzen der Soziologie für die Gesellschaft (Kap. 3)

Exkurs: Die Kritik von Georges Canguilhem

Regeln zur Klassifizierung der Gesellschaften (Kap. 4)

Wie man das Soziale erklärt (Kap. 5)

Die eigentlich methodischen Vorschriften: Regeln der Beweisführung (Kap. 6)

Die kopernikanische Revolution im Denken des Menschen: Die Philosophie ohne Subjekt (Kap. 7)

IVTheorie der modernen Gesellschaft I: Gesellschaftliche Typen der Solidarität

Die funktionale Methode: Die Arbeitsteilung, das soziale Band

Das Ergebnis: Die beiden Gesellschaftstypen

Die ›Ursachen‹ und ›Bedingungen‹ der Arbeitsteilung (der funktionalen Differenzierung)

Pathologische Formen der Arbeitsteilung und der Kult des Individuums

VTheorie der modernen Gesellschaft II: Gesellschaftliche Typen des Selbstmords

Die ›recht verstandene‹ soziologische Erklärung des Selbstmords

Der egoistische Selbstmord: zu starke Individualisierung

Der altruistische Selbstmord: zu starke Integration

Der anomische Selbstmord: fehlende Reglementierung

Die Fußnote zum fatalistischen Selbstmord. Fazit

VIDie elementaren Formen des sozialen Lebens und Denkens

Was ist, soziologisch gesehen, eine Religion? (Buch 1)

Die totemistischen Vorstellungen und ihre soziale Funktion (Buch 2)

Die Affekt- und Symboltheorie der Gesellschaft (die ›kollektive Erregung‹)

Die soziologisierte Monadologie – was ist die ›Gesellschaft‹?

Die totemistischen Riten und ihre soziale Funktion (Buch 3)

Das religionssoziologische Ergebnis: Die imaginierte, transfigurierte Gesellschaft

Das wissenssoziologische Ergebnis: Der soziale Ursprung des Denkens

›Neue Stunden schöpferischer Erregung‹: das politische Ziel der Totemismus-Analyse

VIIDie Soziologie als Krisen- und Moralwissenschaft

Die Soziologie der Moral: die ›Physik‹ der moralischen und rechtlichen Phänomene

Die Soziologie der Erziehung und der Pädagogik

Die moderne Solidarität: Der Kult des Individuums

VIIIZum Abschluss: Einige Stimmen zu Durkheims Aktualität

Anhang

Anmerkungen

Literatur

Zeittafel

Über die Autorin

IEinleitung. Der französische Klassiker der Soziologie

»Eine Gesellschaft ist ein mächtiger Herd intellektueller und geistiger Tätigkeit, der weithin ausstrahlt.« (Durkheim 1967 [1906]: 113)

»Eine Gesellschaft ist das mächtige Bündel aus physischen und moralichen Kräften, das uns die Natur bieten kann.« (EF 596)

Émile Durkheim (1858–1917) ist der Schlüsselautor der französischen Soziologie. Er beansprucht, eine ganze neue Wissenschaft zu begründen – und löst diesen Anspruch exemplarisch und organisatorisch ein. Dabei war er und ist er bis heute nie unumstritten, zumal in der französischen Wissenschaftslandschaft wurde er oft angefeindet. Sein Vorhaben war wohl zu herausfordernd. So gilt er nur allzu oft als der merkwürdig umständliche und langweilige Autor der Regeln der soziologischen Methode; als Begründer der empirischen Sozialforschung, der es um ›abhängige‹ und ›unabhängige‹ Variablen in einer richtiggehend rechnerischen Thesenprüfung geht, als Zwangsdenker der Institutionen, als Verfechter der Ordnung und Priorität der Gesellschaft gegenüber den Einzelnen. Seine biologischen und physikalischen Metaphern – er vergleicht etwa Gesellschaften mit ›Ringelwürmern‹ und stellte ihre ›Dichte‹ und ›Druck‹ in Rechnung – klingen antiquiert und scheinen dem Stand einer unreifen Wissenschaft zu entsprechen, die spätestens durch den Strukturalismus auf ganz neue Füße gestellt wurde. Dabei verdankt gerade dieser Durkheim viel, wie insgesamt die französische und internationale Soziologie in gesellschaftstheoretischer und analytischer wie in methodischer, erkenntnistheoretischer und terminologischer Hinsicht gar nicht ohne Durkheim zu denken sind. Durkheim hat (nicht nur) der französischen Soziologie ihre Begriffe gegeben. In ihm, durch ihn und zugleich gegen ihn denkt sie.

Das Durkheim’sche Werk ist bemerkenswert vielschichtig. Und es ist bemerkenswert modern, obwohl es oft totgesagt, angefeindet und kritisiert wurde – und trotz oder vielleicht gerade wegen der Probleme, die seine Begriffe bergen. Durkheim sah sich nämlich immer von Neuem gezwungen, seine begrifflichen und methodologischen Konzepte umzuformulieren, abzusichern, verständlich zu machen. Die diversen und notorischen Missverständnisse also, die dem polemischen Charakter seiner Schriften geschuldet sind, der Auseinandersetzung mit Gegnern, gegen die er um die ›richtige‹ Soziologie ringt, führten ihn dazu, die Kernsätze immer wieder neu zu formulieren: jene Sätze, die sich darauf beziehen, wie die ›Gesellschaft‹, das ›Ganze‹ zu denken ist; wie eine ›Gesellschaft‹ funktioniert, worauf sie basiert, was sie voraussetzt; und wie die Soziologie vorgehen muss, will sie wirklich soziale Tatsachen und nicht deren subjektives Bild erfassen. In Frankreich gibt es ein Vocabulaire zu Durkheim (Keck/Plouviez 2008), das hilft, ihn hier recht und mitunter besser zu verstehen, als er sich selbst verstanden haben mag. Wegweisend war das Durkheim’sche Werk auch in der Diagnose der funktionalen Differenzierung der modernen Gesellschaft, ihres ›Kults des Individuums‹, in der ›soziozentrischen‹ Theorie der unhintergehbar sozialen Konstitution der Wirklichkeit und ihrer Subjekte. Soziozentrismus nennen Durkheim und Marcel Mauss ihren Ansatz, nach dem es die Gesellschaft (und nicht mehr der Mensch) ist, die sich in den kulturellen respektive den religiösen Phänomenen objektiviert. Aber man kann auch die ›soziale Morphologie‹ mit ihrer Berücksichtigung der Dinge im Sozialen für aktuell halten – ebenso wie diejenige theoretische Perspektive, nach der Kollektive zu ihrer Existenz allerlei Symbole brauchen, in denen sie sich veranschaulichen. Dies alles wird in dieser Einführung anhand der Werke zu erklären sein.

In neueren angloamerikanischen und französischen Debatten wird zudem Durkheims Ruf als Zwangsdenker, Holist und Kollektivist revidiert, wo andere hingegen – im Kern seines Werkes – eine ›Praxis-Theorie‹ der Emergenz sozialer Ordnungen oder der Institutionen entdecken. Überhaupt lohnt es sich, das Thema der Institutionen, der ›sozialen Tatsachen‹, wie Durkheim sagt, noch einmal aufzurollen, jenseits des Dualismus von Individuum und Gesellschaft, des Zwangs auf die Einzelnen: in ihrem einrichtenden, produktiven Charakter. Die Institutionen definieren sich, vielleicht schon bei Durkheim, in jedem Fall aber seinen Nachfolgern, »eher über ihren wörtlichen Sinn von Einrichtung als ein kunstvolles Gefüge bzw. Arrangement: es sind Zusammensetzungen heterogener Elemente, die auf diese Weise vorher nicht da waren und deren Aufbau sowie Erhalt einer gewissen Anstrengung bedürfen«. Sie sind erfinderisch, erfinden »Probleme (und deren Lösungen)« (Seyfert 2011: 15). Auch wenn seine Begriffe geradezu das Gegenteil zu beinhalten scheinen, hätte Durkheim die Formulierung geteilt, dass die Institutionen nicht etwa eine spezielle ›soziale‹ Sphäre jenseits des Biologischen, Physischen, Psychischen begründen, sondern deren Elemente auf spezielle Art zusammensetzen.

Durkheim konzeptualisiert diese ›Synthese sui generis‹ immer dort, wo er vom ›Ganzen‹ spricht, das ›mehr‹ sei ›als die Teile‹ – in den emergenztheoretischen Passagen, die zu den zentralen des Werkes gehören. Es ist die bleibende Grundfrage der Soziologie, die er hier aufwarf: Was ist das Kollektiv, was ist eine Gesellschaft jenseits der Einzelnen (und der Dinge, die er aus heutiger Sicht sicher noch nicht wichtig genug nimmt)? Den produktiven Charakter der Institution, die Tatsache, dass diese die Subjekte, deren Verhalten, Gefühle und Gedanken formt, kanalisiert, eben einrichtet, hat Durkheim besonders fulminant im Spätwerk, der kühnen Interpretation der totemistischen Gesellschaften, konzeptualisiert – ebenso wie die Tatsache, dass sich Gesellschaften stets symbolisch repräsentieren müssen, um den Einzelnen gegenwärtig zu sein und über sie hinweg auf Dauer zu existieren. Cornelius Castoriadis hat diese Einsicht 1975 (dt. 1984) kongenial unter dem Titel Gesellschaft als imaginäre Institution formuliert. Im Grunde findet sich dasselbe Konzept bereits in Durkheims frühen Schriften. In ihnen lässt es sich jedenfalls vorausahnen, es gibt hier nur wenige Brüche. Es stimmt also: »Durkheim hat das Konzept der Institution als erster und am radikalsten zur Spezifik und zur Universallösung der Soziologie gemacht.« (Seyfert 2011: ebd.)

Ähnliches gilt für Arnold Gehlen, dem es – in den 1950er Jahren – weniger auf die Disziplin Soziologie ankam, wenn er seine Theorie der Institutionen als ›Philosophie‹ beschreibt. Das kann freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass gerade bei ihm und Durkheim kongeniale soziologische Theorien der Institutionen vorliegen. Zwar wird immer wieder von Neuem darüber gestritten, wie der berühmte Satz aus den Regeln (man müsse die sozialen Tatsachen ›wie Dinge‹ betrachten) recht verstanden ist und ob Durkheim die Individuen damit nicht doch zum Außen der Institutionen macht. In jedem Fall aber teilt er (so wenig wie Gehlen) die beißreflexartige Kritik eines Adorno, nach der Institutionen per definitionem Zwangseinrichtungen sind, ›Entfremdungsmaschinen‹. Und dies gilt gerade gegen Durkheims eigene Begriffswahl, wenn er vom Zwang (contrainte) des Sozialen spricht. So wie Adorno lasen und lesen diesen Satz viele: »Die gesellschaftliche Tatsache schlechterdings ist ihm [...] der übermächtige, jeglicher subjektiv verstehenden Einfühlung entzogene soziale Zwang.« (Adorno 1967: 12) Man kann ihn hier besser verstehen.

Das aktualisierbare Theoriepotenzial des Klassikers Durkheim hat hierzulande Niklas Luhmann gewürdigt (in seiner Einleitung in die Übersetzung der Arbeitsteilung), trotz mancher Kritik an einer in Hinsicht auf die Begriffe der ›Gesellschaft‹ und des ›Kollektivbewusstseins‹ »zu hoch aggregierten« Sozialtheorie. Dabei versucht Luhmann gar nicht erst,

»zu rekonstruieren, wie man Durkheim im Jahre 1893 lesen konnte. Wir lesen ihn als Klassiker. Das heißt gerade nicht: ihn historisch interpretieren. Klassisch ist eine Theorie, wenn sie einen Aussagenzusammenhang herstellt, der in dieser Form später nicht mehr möglich ist, aber als Desiderat oder als Problem fortlebt. Die Bedingungen dieser Form sind historische, sie können als solche ermittelt werden. Was aber der Klassiker selbst den Späteren zu sagen hat, liegt auf der Ebene der Theorie. [...] Der Text bleibt aktuell, solange seine Problemstellung kontinuierbar ist. Er bleibt maßgebend in einem ambivalenten Sinne: Man kann an ihm ablesen, was zu leisten wäre; aber nicht mehr: wie es zu leisten ist.« (Luhmann 1988 [1977]: 19f.)

Interessant ist diese Einleitung auch, weil Luhmann Durkheim nicht unkritisch gegenübersteht, aber Kritik und Polemik auseinanderhält. Ein problematischer Punkt ist für ihn unter anderem die Theorie der modernen Arbeitssphäre, der Ökonomie: Durkheim habe völlig übersehen, dass hier das Thema Geld entscheidend ist – es ist das gesuchte Bindemittel, nicht eine neue Moral. Luhmann weiß natürlich zweitens auch, dass Durkheim Konflikte schlecht denken kann, ein Harmonist ist, ein Denker der ungeteilten Gesellschaft. Auch hier muss man ihn nicht gleich als reaktionär verstehen – die »Lust des Bösen« findet einfach »keinen Platz in der Theorie« (ebd. 21).

Wie dem auch sei – ganz anders liest sich jedenfalls die polemische Schrift Adornos, der, zehn Jahre vorher, in einer sogenannten ›Einleitung‹ in Durkheim (das heißt in die Übersetzung der Aufsatzsammlung Soziologie und Philosophie) vor allem das Ziel verfolgte, den Autor zu erledigen. In einer brieflichen Korrespondenz schrieb er, man könne aus Durkheim keinen »scharfsinnigen Denker« machen; er sei eine »sonderbare Mixtur von bedeutender Einsicht und törichter Pedanterie« (Adorno 2003: 571, 595), seine Soziologie eine einzige »Pedanterie«, und dies zu zeigen sei der ganze Zweck seines Textes. Durkheim sei, als Pedant, ein »Archetyp der bürgerlichen Gesellschaft«, »eingeklemmt zwischen dem Habitus von Freiheit und Ungebundenheit, den der Feudalherr sich erlaubt, und dem expansiven Habitus des Unternehmers«. Pedanterie drücke also den »horror vacui des zur Macht aufsteigenden Bürgertums aus« (Adorno 1967: 33). Durkheims »intellektueller Gestus schließt Daumen und Mittelfinger zu einem Kreis zusammen und vollführt mit diesem hackende Bewegungen«. In ihm zeige sich mustergültig die »Affiliation von wissenschaftlichem Scharfsinn und Borniertheit« (ebd.: 30f.). Auch Durkheims Methode, die vergleichende Gesellschaftstheorie, zieht den Zorn Adornos auf sich: Sie ist keineswegs politisch neutral, wie Durkheim vorgibt, oder »gar kritisch«, wie Adorno verlangt (ebd.: 13). Durkheim ist weit davon entfernt, ein ›richtiger‹ Soziologe zu sein, da er das Bestehende konservieren wolle. Durkheim, der Reaktionär, der Ordnungsdenker, der Befürworter der Institutionen – das ist ein wuchtiger Topos, auf dessen französische Erfinder, die Verächter Durkheims, wir noch zu sprechen kommen.

Adornos ›Einleitung‹ wird an der Situation der deutschen Durkheim-Forschung nicht unbeteiligt gewesen sein: daran, dass Durkheim zwar bekannt ist und Stoff jedes Grundlagenseminars der Soziologie, aber gleichwohl wenig intensiv gelesen wird. Man ruht sich eher bei dem Bild aus, das man einmal von ihm gewonnen hat. Durkheim wurde zudem hierzulande von Beginn an nur wenig rezipiert. 1908 gab es zwar eine erste Übersetzung der Regeln, diese blieb aber folgenlos. In den 1920er Jahren kannte man ihn nur oberflächlich, als »Dürckheim« (Jerusalem 1926: VII), dessen Begriffe in deutschen, an den Sound der Subjektphilosophie gewöhnte Ohren befremdlich klangen. Dürckheim betone stets, dass die Gruppe sich kognitiv »betätigt«. Zudem hatte man den Eindruck, er betrachte die Gesellschaft als etwas von ihren Mitgliedern Verschiedenes. Deutschsprachigen Denkern müsse dies »absurd und widersinnig« erscheinen (ebd.). Erst jüngst ist eine erste deutschsprachige Durkheim-Einführung erschienen, die sich – in der Reihe ›Klassiker der Wissenssoziologie‹ – auf den wissenssoziologischen Aspekt konzentriert (Suber 2011). In ihr werden auch der politische Kontext sowie die verschiedenen Werkphasen nachgezeichnet. Erschienen ist zudem ein erster deutschsprachiger Sammelband, der die aktuellen internationalen Debatten um Durkheims Werk hierzulande sichtbar macht (Bogusz/Delitz 2013).

Natürlich gab es auch hierzulande Autoren, die ihn lasen. Dies allerdings weniger, um diese Soziologie als solche zu aktualisieren, zu betreiben oder zu vertiefen, sondern vielmehr mit der Absicht, sie für eigene Konzepte zu verwenden. So hat Jürgen Habermas den religions- und moralsoziologischen Durkheim als Kritiker der »funktionalistischen Vernunft« in seine Theorie des kommunikativen Handelns eingebaut – als jenen Autor neben Mead, der den Paradigmenwechsel zum »kommunikativen Handeln« eingeleitet habe (Habermas 1981: 9). Allerdings versteht Habermas Durkheims Modellierung der ›kollektiven Erregung‹ in den Elementaren Formen des religiösen Lebens evolutionistisch, als überholte Stufe der Vergesellschaftung. Es handele sich um einen Mechanismus, der eine Lücke im ›phylogenetischen‹, ›stammesgeschichtlichen‹ »Übergang von der symbolisch vermittelten zur normengeleiteten Interaktion« fülle (ebd.: 10). Aus dieser Sicht trifft Durkheims Theorie der Selbstsakralisierung des Kollektivs nur auf ›vorrationale‹ Gesellschaften zu. Einen konträren Gebrauch Durkheims macht dagegen Hans Joas, indem er ihn »am besten verstehen« will als Antwort auf die »Frage nach der Entstehung einer neuen Moral«. Durkheim sei kaum ein Theoretiker der Ordnung und Normativität, auch nicht der »Anomie, des Funktionalismus oder der fortschreitenden Arbeitsteilung«, sondern der sozialen Kreativität, der Entstehung neuer Ordnungen (Joas 1997: 77f.). Richard Münch zog, vermittelt über Pareto, Durkheim und Weber zusammen (1982), Hans-Peter Müller betont den politischen Durkheim gegenüber Parsons, von dem er ihn befreien will (1983, 2009), Wolf Lepenies interessierte sich für die wissenspolitischen Kontexte, in denen Durkheim zu Durkheim wurde, für den Kampf von positiver Wissenschaft versus literarische Intelligenz, Modernismus versus Traditionalismus, Antiklerikalismus versus Klerikalismus, Republikanismus versus Antirepublikanismus (1988 [1985]). Gemessen an der internationalen Rezeption mit ihren gefühlten tausend Sekundärwerken gibt es gleichwohl kaum eigentliche Forschungsliteratur.

Das mag auch am Begründer der deutschen Durkheim-Rezeption, an René König, liegen. Seine Verdienste sind zweifellos groß: Er hat dezidiert dem autoritätsgeladenen »zänkischen Gegeifere« Adornos widersprochen, nicht nur weil dieser ein »totale[s] Unverständnis« für Durkheim habe, sondern auch, weil er alle negativen Klischees reproduziere (König 2013 [1973]: 197, 189). König ist es zu verdanken, dass Durkheim überhaupt gegenwärtig war, mit der von ihm initiierten Neuübersetzung der Regeln 1961 und des Selbstmordes 1973 (die Übersetzung der Arbeitsteilung folgt 1977, die der Elementaren Formen 1981). Sehr informativ ist sein früher Text zur ›Bilanz der französischen Soziologie um 1930‹, der dem deutschen Publikum erstmals die Durkheim-Schule präsentiert. Inhaltlich interessiert sich König einerseits für den empirischen Sozialforscher Durkheim. Genial ist für ihn die Selbstmord-Studie, da sie theoretische und empirische Soziologie untrennbar verbindet und die quantitative, hypothesenprüfende Forschung begründet, die mit ›Variablen‹, ›Koeffizienten‹, ›Raten‹ und statistischen ›Wahrscheinlichkeiten‹ operiert – und dies ausgerechnet beim Thema des Suizids, den allersubjektivsten Motiven und einsamsten Handlungen der Individuen! Genial ist diese Studie für König auch, weil sie eine ›gesunde Skepsis‹ gegenüber den Daten behält. Es sind nur »Zeichen«, die man deuten muss, ohne Theorie fehlt ihnen »jede Aussagekraft« (ebd.: 210). Damit ist Durkheim das »Vorbild aller ernst zu nehmenden Soziologie« (König 2013 [1958]: 96).

Zum anderen machte König Durkheim als ›Moralisten‹, als politisch Interessierten sichtbar, dessen Wissenschaft »existenziell« getragen sei von einem Krisenbewusstsein – anders als es die kanonischen Darstellungen von Raymond Aron und Steven Lukes suggerierten. So habe Durkheim stets nur ein Ziel gehabt: die »Veränderung der Welt, die er als in einer tiefen Krise befindlich interpretiert« (König 1976: 318). Noch weitere Linien des Interesses an Durkheim von König ließen sich ziehen. So ist er einer der wenigen deutschen Soziologen, die sich für die Ethnologie interessierten. Insgesamt aber scheint für ihn die Soziologie erst angekommen zu sein, wenn sie sich ganz von der Philosophie befreit. König teilt jenen Positivismus, für den sich in der Konzentration auf die Empirie die »Reife« einer Wissenschaft ausdrückt, die »es nicht mehr nötig hat, in jedem einzelnen Werke mit der Diskussion allgemeinster Prinzipien zu beginnen, sondern sich unbekümmert darum der Förderung einzelwissenschaftlicher Aufgaben widmen kann« (König 2013 [1931/32]: 24).

Dabei sind doch die grundlegenden Fragen der Soziologie stets neu zu stellen, diejenigen, die Durkheim vielleicht erfand – mit den Begriffen lien sociale, Solidarität, Moral, conscience collective als Konzeptualisierungen der Frage, was die Einzelnen zu einer ›Gesellschaft‹ zusammenhält. Es geht um die Grundprobleme soziologischer Theorie: Was ist eine Gesellschaft, wie stellt sie sich her und auf Dauer? Aus welchen socii, welchen Gefährten besteht das Kollektiv? Ist etwa, wie Durkheim mit dem Religionswissenschaftler Albert Réville sagt, die ›Tierform die Grundform‹ (EF 101f.)? Gehören Tiere zu den Akteuren, oder hat man es mit »anthropistischen« Gesellschaften zu tun, für die nur Menschen Gruppenmitglieder sind (Seyfert 2011: 180-187)? Oder handelt es sich um »animistische« respektive »analogistische« Gesellschaften, deren Kollektive aus ganz eigenen Elementen bestehen, neben den Menschen (Descola 2011)?

Es könnte sich lohnen, Durkheim gerade hierzulande noch einmal neu einzuführen – mit seiner Methodologie, der Bestimmung, was eine ›soziale Tatsache‹ und was die ›Gesellschaft‹ ist; mit der gesellschaftsvergleichenden Methode; mit seinem Wildern in anderen Disziplinen, deren Gegenstände grundlegend soziologisiert werden. Wissen, Moral, Religion, Recht, Ökonomie, Geschichte, Sprache, Subjekt sehen wir seit Durkheim mit anderen Augen – und dies durchaus auch, wenn wir sein Vorgehen nicht kritiklos teilen. Zumindest eine Facette im Werk muss gerade bei uns noch einmal neu gelesen werden: Durkheim hat in seinem Spätwerk auch eine Theorie der nicht planbaren Emergenz des Sozialen im Kult, Situationen kollektiver Erregung (effervescence collective) entfaltet. Hierzulande verbindet sich mit Thesen über den vitalistischen, eigendynamischen Charakter des Sozialen oft der Argwohn gegenüber einer ›irrationalen‹ Denkweise oder ›irrationalen‹ Praxen. Durkheim entfaltet zugleich eine These über die soziale Konstruktion des Wissens (von Welt und Selbst) sowie über die Entstehung religiöser Überzeugungen in der Autodivination, der Selbstvergottung der Gesellschaft. Adorno hatte auch dafür nur Häme übrig. Statt die Religion als »gesellschaftliche Projektion« zu entzaubern, mystifiziere Durkheim, angesteckt vom Denken der »unterentwickelten« Völker, die Gesellschaft (Adorno 1967: 14f.)! Fruchtbarer lesen ›die Franzosen‹ diesen Durkheim. Der Historiker Marcel Gauchet etwa setzt die These unmittelbar fort: Die Gesellschaft gründet sich stets von woanders her, sie scheint sich nur von ihrem Außen her denken zu können (den Ahnen, Gott) – selbst die Moderne. Ihr Außen sei die Verfassung (Gauchet 2005 [1977]).

Auch die Selbstmord-Studie (es gebe ›normale‹ Selbstmordraten der Gesellschaften) sowie die funktionale Betrachtung des Verbrechens in den Regeln (Verbrechen seien gesellschaftlich nützlich) erregten Aufsehen. Durkheim, das ist schließlich auch der große Moralist und Pädagoge Frankreichs, der die Soziologie ebenso zu einer positiven Moralwissenschaft, einer Physik der Sitten und des Rechts machen wollte, wie er mit ihr eine Gesellschaftstherapie verband: die Begründung einer neuen Solidaritätsform der modernen französischen Republik, entsprechend der Diagnose ihres ›Übels‹, ihrer ›Pathologie‹. So kennzeichnet sich diese französische Soziologie auch durch eine eigene Art der Gesellschaftskritik, die von der These geleitet wird, man könne gesellschaftlich ›Normales‹ vom ›Pathologischen‹ trennen, indem man statistische Normalmaße ermittelt, Häufigkeiten misst und zum Sprechen bringt. Für Georges Canguilhem war diese Vorstellung Anlass einer tiefgreifenden Kritik der positivistischen Soziologie: Wer das Normale mit dem Normativen gleichsetzt, verkennt, dass man es beim Sozialen mit einer Suche nach Werten zu tun hat und nicht mit fixen ›Normalwerten‹. So ernst der Einwand zu nehmen ist, so schwach Durkheims Begründung der Kritik ist – gegenüber anderen Klassikern der Sozialwissenschaften hat er zumindest den Vorteil, eine genuine Soziologie geschaffen zu haben, die die Gesellschaft nicht auf einen »Tausch- und Handelsapparat« reduziert, wie Durkheim mit Blick auf alle Rational-Choice-Theoretiker avant la lettre und auf jede ökonomiezentrierte Theorie schrieb (Durkheim 1986 [1898]: 55).

Durkheim war nicht nur der Pionier der kühlen Rechnung im Bereich der sozialen Tatsachen, nicht nur der Erfinder der soziologischen Beobachtung der Moral. Er hat wesentlich auch zur Etablierung der Ethnologie beigetragen. Seine Schule hat ethnografische Forschungen erstmals methodisch ernst genommen und aus ihnen gesellschaftstheoretische Schlüsse gezogen. Die vergleichende Methode, fortgeführt von Marcel Mauss, André Leroi-Gourhan, Claude Lévi-Strauss bis zu Philippe Descola, hat gerade die französische Ethnologie oder Anthropologie zu einer gesellschaftstheoretisch fruchtbaren Disziplin gemacht. Andererseits konnten Kritiker wie A. L. Kroeber den Durkheimiens wirkmächtig vorwerfen, sich nie in die Feldforschung gewagt zu haben (Kroeber 1935: 560). Sie waren armchair anthropologists, Sonntagsethnologen. Aus ethnologischer Sicht hatte Durkheim wohl nicht immer eine glückliche Hand in der Wahl seiner Bezugsautoren, etwa, wenn er Robertson Smith zum Totemismus konsultiert (so Evans-Pritchard 1981: 153f.). Eine weitere Kritik an der Ethnologie-Soziologie Durkheims wurde seitens der Autoren des Collège de Sociologie formuliert: Sie habe sich nur aus der Distanz für den sozialitätsstiftenden Kult interessiert, am Beispiel anderer Gesellschaften – was für eine »feige, bürgerliche« Auffassung soziologischer Forschung. Und überhaupt, wie kann man das Soziale objektiv betrachten wollen, statt in ihm zu leben! (Vgl. Moebius 2012: 782) Nun, abgesehen davon, ob Durkheim seine Informanten klug wählte – inspirierend war er umgekehrt allemal, auch für die Collègiens Georges Bataille, Michel Leiris, Roger Caillois.

Bei aller theoretischen Originalität war er zugleich der Stratege, der die Soziologie zielgerichtet disziplinierte. Und er war ein Streithansel – gerade die Umstrittenheit seiner Konzepte erklärt sich daraus, aus der ständigen Polemik:

»Fortwährend dazu gezwungen, sein Werk in dem objektiven Rahmen zu betrachten, der ihm von seiner universitären Umgebung und dem gesamten intellektuellen Kräftefeld aufgedrängt wurde, wurde Durkheim dazu gebracht, gleichzeitig heftig gegen die Fehlinterpretationen seiner Règles de la méthode sociologique durch die spiritualistischen Philosophen zu protestieren […] und im Gegensatz hierzu in eine Polemik zu verfallen und – als Herausforderung und aus Ärger – derart extravagante und provokative Versionen seiner Ideen vorzutragen […], daß sie in den Augen eines oberflächlichen Lesers dem Werk ein veraltetes Äußeres geben; oder er mußte das, was die Hypothese des Kollektivbewußtseins ehedem an wichtigen Ergebnissen erbracht hatte, in spiritualistische Begriffe rückübersetzen.« (Bourdieu/Passeron 1981 [1967]: 504)

Die polemische Absicht muss man daher immer präsent halten, namentlich im Fall des Selbstmordes und der Regeln. Bei Letzeren sieht sich Durkheim 1901 zu einem neuen Vorwort genötigt, in dem er sich gegen die notorischen Missverständnisse wehrt. Ein zweites Vorwort erhielt auch die Dissertation Über die soziale Arbeitsteilung. Noch deutlicher zeigen die über 800 oft gnadenlos kritischen Besprechungen in der Année sociologique Durkheims kriegerischen Geist gegenüber all jenen soziologisierenden Dilettanten, die es nicht schaffen, etwas ›objektiv‹ zu ›beweisen‹, ›rational‹ zu denken, sich um ›Tatsachen‹ zu kümmern, die zu viel ›Phantasie‹ haben, mit denen die ›Imagination‹ durchgeht.

Im Zusammenhang der strategischen Etablierung einer neuen Disziplin muss man natürlich auch Durkheim, den Initiator und maître einer ›Schule‹, erwähnen (u.a. Clark 1973), der viele Studien seiner Mitstreiter angeregt hat und umgekehrt von ihnen profitierte. Sie sind oft nicht weniger interessant als seine Schriften. Wenn man von Durkheim schreibt, muss man deshalb auch von Marcel Mauss, Maurice Halbwachs, Henri Hubert, Marcel Granet, Paul Fauconnet, François Simiand, Georges Davy, Céléstin Bouglé oder Lucien Lévy-Bruhl schreiben.

Ebenso wenig ist Durkheim ohne seine Gegner zu denken, die ihn zum ›Durkheim-Werden‹ drängten: die ›Psychologisten‹, ›Biologisten‹ und ›Mystiker‹. Daher handelt es sich bei einer Einführung in Durkheim eher um die Einführung in den Durkheim’schen Moment – in den nicht nur die Schüler und Kollegen, sondern ebenso die Gegner und Rivalen Durkheims gehören, die ihn explizit oder implizit in die Richtung der ›objektiven‹ und soziozentrischen (nicht individualistisch ansetzenden) Soziologie trieben. Man muss hier von Gabriel Tarde schreiben, der meinte, dass sich die sozialen Phänomene durch individuelle psychologische Prozesse erklären (vgl. unten). Und man muss über Bergson schreiben, von dem sich Durkheim und die Durkheim-Schule ebenso abstießen, weil sie ihn als Denker des ›inneren Lebens‹ und insgesamt als Irrationalisten verstanden (vgl. dazu Delitz 2013: Kap. I).

Es lohnt sich umgekehrt auch, die Aversionen gegen Durkheim wahrzunehmen, die Ablehnung derjenigen, die sich in der Durkheim-Feindschaft definierten, die Existentialisten und Marxisten, Paul Nizan und auch Sartre, der einmal sagte, die Soziologie Durkheims sei »tot: die sozialen Dinge sind keine Dinge, sie haben Bedeutungen« (Sartre 1947 [1943]: 171f.). Sein Erfolg, der Erfolg des Existentialismus, bedeutete den Niedergang des Durkheimismus. Mit ihm geriet die Soziologie als Fach in eine ›strukturelle Verachtung‹.

Positiv sind ohne Durkheim demgegenüber viele heute berühmte französische Soziologen und Ethnologen nicht zu denken. Ihr Werk ruht auf seinem, auch wenn sie es vielfach kritisieren und mit ihm über es hinausgelangten. Lévi-Strauss widmet Durkheim nicht ohne Grund eine Hommage, während er seine Perspektive durchaus auch als eine gegenteilige darstellt (›Der Totemismus von innen‹ in: Das Ende des Totemismus 1962, dt. 1965). Auch Pierre Bourdieu verdankt Durkheim einiges: die rationalistische Haltung, die empirische Beobachtung, die szientifische Passion; eine strukturale und historische Soziologie; die indirekte, ethnologische Beweisführung (Wacquant 1995). Die französische Wissenssoziologie ist generell ein Erbe von Durkheims und Mauss’ Analyse der Klassifikationen von 1903 (Durkheim/Mauss 1993). Pierre Bourdieu und Luc Boltanski etwa (1974) gaben diesem Durkheim eine »marxistische Drehung«, indem sie ›Klassifikationskämpfe‹ in den Klassifikationen sahen (Thevénot 1995: 1). Auch die aktuelle Anthropologie interessiert sich für diesen Text. Bourdieu und Jean-Claude Passeron, die Durkheim seit den 1960er Jahren für die Soziologie rehabilitierten, sagten gar, es ›lebten‹ »alle Wissenschaften vom Menschen im Hause Durkheims« (Bourdieu/Passeron 1981: 501). Sie meinten damit all jene, die (in der Soziologie, Anthropologie, Psychologie, Linguistik) eine ›Philosophie ohne Subjekt‹ vertraten. Selbst Georges Canguilhem und Michel Foucault teilen daher einige Themen mit Durkheim – bei allen Unterschieden in theoretischer und politischer Hinsicht.

Ähnlich sind seine Einflüsse überall in der französischen Soziologie, Anthropologie, Sozialphilosophie und -psychologie zu finden, etwa bei Bataille, Caillois, Clastres, Castoriadis. Auch gilt dies für viele Soziologen jenseits Frankreichs, die aufzulisten hier gar nicht versucht wird. Wie Daniel Suber in seiner Durkheim-Einführung schreibt, steht jeder Versuch, die Rezeption zu erzählen, nicht nur vor einem quantitativen Problem, sondern auch vor einem inhaltlichen, weil Durkheim für konträre Positionen benutzt wurde und man es stets mit einem anderen Durkheim zu tun hat (Suber 2011: 116). Wirkmächtig war hier Talcott Parsons, der seit 1937 eine kanonische Lektüre entfaltet: Durkheim im Dreigestirn ›Pareto Weber Durkheim‹ als Klassiker der Soziologie; Durkheim neben Weber als Hauptgründer der soziologischen Theorie; Durkheim als derjenige Autor, der das ›hobbessche Problem‹ der sozialen Ordnung theoretisieren will, in der »Frage, was Gesellschaften zusammenhält« (Parsons 1979: 118f.). Fraglich nur, ob Durkheim wie Hobbes anfängt, der den Kampf aller gegen alle fabuliert – eher fürchtet er isolierte Monaden. Noch eine kanonische Lektüre stammt von Parsons: Durkheim als jener Autor, dessen Werk sich in einen frühen Positivisten und einen späten Normativisten spalte. Überhaupt gibt es in der angloamerikanischen Rezeption viele unterschiedliche Durkheims (vgl. dazu Smith/Alexander 2005), den jeweiligen Anschlusspunkt konnte man sich dann wählen. So verstand sich etwa Erving Goffman als ›Schüler‹ Durkheims, da er dessen Tabu- und Ritualtheorie aufgriff (Goffman 1974) und es ihm um das Soziale als Realität »sui generis« ging, »as He (sic!) used to say« (Goffman 1966: 133). Das macht ihn aber kaum zu einem Durkheimianer.

Wirklich inspiriert waren von Durkheim berühmte angloamerikanische Ethnologen und Ethnologinnen, wenn auch nicht kritiklos: Bronislaw Malinowski, Alfred R. Radcliffe-Brown, Victor Turner, Edward Evans-Pritchard. Mary Douglas schloss an Durkheim an, als sie die natural symbols der Gesellschaften zu finden hoffte, Klassifizierungen, die sich stets auf dieselbe Weise vollziehen (Douglas 1986 [1970]). Auch in der Linguistik gibt es ein tiefes Durkheim-Erbe, bei Ferdinand de Saussure und Antoine Meillet, die oft »ihre Übereinstimmung mit und ihre Schuld gegenüber Durkheims Lehre bekannten« (Lévi-Strauss 1954 [1947]: 505). Meillet hatte seinen Klassiker Comment les mots changent de sens in der Année sociologique veröffentlicht. Er beginnt wie folgt: Die Sprache hat als erste Bedingung die »Existenz der Gesellschaften, von denen sie ihrerseits das unentbehrliche […] Instrument ist. […] Die Sprache ist also eine eminent soziale Tatsache«, sie »existiert unabhängig von jedem derjenigen Individuen, die sie sprechen« (Meillet 1905/06: 1). Lévi-Strauss verstand dann die Sprache auch als von den jeweiligen Kollektiven unabhängig – eine Radikalisierung, keine Abkehr von Durkheim. Dasselbe kann man von Jacques Lacans Suche nach dem Unbewussten sagen.

Kurz, das Unternehmen Durkheims war in seinem gesellschaftsvergleichenden Zug wie hinsichtlich seines symbol-, mentalitäts- und kultursoziologischen Ansatzes wegweisend. Es war jene »Zauberwerkstatt«, in der nicht nur die Soziologie und die Ethnologie einen »Teil ihrer Ausrüstung« erhielten (Lévi-Strauss 1967 [1958]: Motto). Durkheim ist – nicht ohne seine Kollegen, seine Schüler, seine Erben und Verfechter, nicht ohne seine Gegner und Verächter und nicht ohne die zahlreichen Klischees – der französische Klassiker der Sozialwissenschaften. Seine Themen, seine methodischen und theoretischen Ideen sind in unseren Blick auf die Gesellschaft, auf uns selbst eingegangen. Als solcher, als veritabler Klassiker der Sozialwissenschaften ist er stets aktuell.

IILeben, Denken und Weiterdenken: Durkheim und die Durkheim-Schule

Durkheims akademisches Leben

Durkheims Leben als ›Soziologe‹ beginnt mit der Inauguralvorlesung in Bordeaux 1887. Hier schlägt der junge Doktorand der Philosophie vor, aus der Soziologie die ›Matrix aller Sozialwissenschaften‹ zu machen: »Ich glaube, mit ziemlicher Genauigkeit eine gewisse Anzahl spezieller Fragen, die untereinander verknüpft sind, auf eine Weise stellen zu können, daß daraus eine Wissenschaft inmitten der anderen echten Wissenschaften wird. Um diese Probleme zu lösen, werde ich Ihnen eine Methode anbieten, die wir zusammen ausprobieren werden.« (Durkheim 1981 [1887]: 26)

Zunächst seien die wichtigsten Eckdaten zu diesem Leben genannt – einem Leben, das sich ganz auf die Universität konzentriert. David Émile Durkheim, Sohn eines Rabbiners, wird am 15.4.1858 in Épinal geboren. Er tritt 1879 gemeinsam mit Jean Jaurès, Maurice Blondel, Pierre Janet in die École Normale Supérieure ein, wo er unter dem Einfluss einiger französischer Philosophen steht, die hierzulande nicht gut bekannt sind – insbesondere von Emil Boutroux und Charles Renouvier. Auch zeigt er sich inspiriert von dem Philologen und Kenner der antiken Gesellschaften Numa Fustel de Coulanges. 1884 hält er als Absolvent der Philosophie von 1882 eine erste überlieferte Lehrveranstaltung an einem Pariser Gymnasium, den Cours de philosophie am Lycée de Sens. Ist dieser Kurs noch ganz klassisch der philosophischen Tradition gewidmet, so wird Durkheim bereits ein Jahr später soziologische Texte besprechen; zunächst, mangels Alternative, noch in einer philosophischen Zeitschrift, der Revue philosophique de la France et de l’étranger. Seit einer Reise im selben Jahr, bei der er einige deutsche Universitäten besucht, konzentriert sich Durkheim dann zunächst auf deutschsprachige sozialwissenschaftliche, genauer: moralwissenschaftliche Texte. Es ist dies – die kritische Besprechung all jener Texte, die sich der (neuen) ›Sozialwissenschaft‹ zurechnen oder zurechnen lassen – eine Tätigkeit, die ihn auch weiterhin fesselt.

1887 erhält Durkheim dann seinen ersten Lehrstuhl in Bordeaux, wo er die erste offizielle Lehrveranstaltung Frankreichs in den ›Sozialwissenschaften‹ abhält – auf einem Lehrstuhl für Pädagogik und Sozialwissenschaft, wo er Alfred Espinas folgt, der 1877 eine Theorie der ›Tiergesellschaften‹ veröffentlicht hatte. Es ist dies eine Theorie der sozialen Solidarität oder ›Sympathie‹. Espinas kommt »nicht umhin, der Sympathie und der wohlwollenden Thätigkeit den ersten Platz« unter den »Ursachen der Geselligkeit der Thiere« einzuräumen. Ohne Sympathie gibt es keine Gesellschaft – anders als jede Theorie meint, die diese auf ein Nützlichkeitskalkül zurückführt, und damit anders, als jede Rational-Choice-Theorie avant la lettre annimmt (Espinas 1879: 534f.).

Es gibt mithin zunächst den Hochschulpädagogen Durkheim. Er wird alsbald ein beachtliches Lehrspektrum entfalten. In der Erziehungswissenschaft lehrt er etwa die Geschichte der Erziehungstheorien, die der moralischen Erziehung, der pädagogischen Psychologie. In der Soziologie lehrt er so unterschiedliche Themen wie Soziologie und Geschichte der Familie, Kriminal-, Rechts-, Religionssoziologie, Geschichte der Soziologie, aber auch die des Sozialismus sowie die ›Physik‹ (die empirische Betrachtung) der Sitten und des Rechts. Die Eröffnungsvorlesungen in Bordeaux heißen La Solidarité sociale und La Famille: origines, types principaux. 1902 wird Durkheim zunächst vertretungsweise und 1906 ordinär auf den Lehrstuhl für Erziehungswissenschaft an die Sorbonne berufen, den er 1913 in einen Lehrstuhl für Erziehungswissenschaft und Soziologie umbenennen lässt. 1902/1903 hält er hier Vorlesungen zur Familie und zur Moralerziehung, die zu öffentlichen Ereignissen werden. 1905/1906 folgt die Vorlesung zu Formation et développement de l’enseignement secondaire en France, die er oft wiederholen wird, 1906/1907 eine über La Religion. Les origines.1 Deutlich ist die Nähe von Forschung und Lehre, der Zusammenhang mit seinen Schriften.