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Zum Buch

„Mein Leben bei den Trollen“ ist eine satirische Liebeserklärung an das Land Südtirol und gewährt einen Blick auf eine Zeit, die längst vergangen scheint. Hellmut von Cube beschreibt in seinen kurzweiligen Prosaskizzen sein Leben bei Schnalstaler Bergbauern, die sich ihm in ihrem ursprünglichen Dasein als trollisch enträtseln. Mit all seinen detailgenauen Schilderungen und scharfen, aber liebevollen Anekdoten arbeitet er Grundzüge eines Südtiroler Charakters heraus, die teilweise heute noch zutreffen, und zeigt die Wirklichkeit des Alltags, sodass der Leser vieles erfährt, was ihm Reisebeschreibungen und Romane gewöhnlich vorenthalten. Zudem kommentiert Cube auf seine eigene provokante Art die Geschehnisse im Tal. Kurzum eine amüsante Satire auf die Zivilisation. Genau wegen dieses Bezuges zur heutigen Zeit wurde diese Südtirol-Satire aus den Sechzigerjahren wieder aufgelegt.

Dreimal wurde das Buch bisher aufgelegt: 1961 erschien es erstmals im Münchner Biederstein Verlag, 1969 wurde es dort in zweiter Auflage veröffentlicht und 1981 im Fischer Taschenbuchverlag als Lizenzausgabe herausgegeben. Der Ort der Handlung blieb dabei immer unerwähnt. Nur im Schnalstal wusste man, dass Cube mit seiner Frau am Finailhof den Sommer verbracht hatte und wer also die Trolle Virgil, Agnes, Karoline, Konrad und Walpurga wirklich waren. Die Neuauflage liefert in einem Vorwort von Herbert Rosendorfer und einem Nachwort der Redaktion interessante Informationen.

Zum Autor

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Geboren 1907 als Sohn eines Arztes in Stuttgart. Nach seinem Studium der Germanistik in Berlin und München arbeitete er seit 1932 als freier Autor. Er verfasste zahlreiche Bücher und Kinderbücher, unzählige Beiträge und Feuilletons für Funk und Presse, sowie vierzig eigene Hörspiele beziehungsweise Hörspielbearbeitungen. Cube erhielt 1963 den Literaturpreis der Stadt München und 1976 den Ernst-Hoferichter-Preis. Er starb am 9. September 1979 in München. 1935 debütierte er mit seinem „Tierskizzenbüchlein“ beim S. Fischer Verlag in Berlin, weitere Buchveröffentlichungen folgten: „Bestiarium humanum“ (1948), „Reisen auf dem Atlas“ (1950) und „Pilzsammelsurium“ (1960). Bei Edition Raetia: Neuauflage „Mein Leben bei den Trollen“ (2008) mit einem Vorwort von Herbert Rosendorfer.

Hellmut von Cube

Mein Leben bei den Trollen

Mit einem Vorwort von
Herbert Rosendorfer

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Die Drucklegung erfolgte mit freundlicher Unterstützung der Abteilung deutsche Kultur und Familie in der Südtiroler Landesregierung über die Südtiroler Autorenvereinigung und der Autonomen Region Trentino-Südtirol.

© Edition Raetia, Bozen 2008

Inhalt

Cubes scharfer, aber liebevoller Blick auf Südtirol

Nachwort

Cubes scharfer, aber liebevoller Blick auf Südtirol

Dieses Südtirol, das Hellmut von Cube in seinem „Mein Leben bei den Trollen“ beschreibt, gibt es nicht mehr. Der Leser wird, sollte er suchen, die Welt der „Trolle“ so wenig mehr finden, wie er – etwa – das Irland von Heinrich Bölls „Irisches Tagebuch“ mehr finden wird. Dennoch ist Cubes „Mein Leben bei den Trollen“ kein Märchen, so wenig wie Bölls „Irisches Tagebuch“, mit dem es mehr als nur den Tagebuchcharakter gemeinsam hat. Beide Bücher sind Ergebnisse liebevollen Staunens eines von außen Kommenden, welches Staunen von den Bestaunten nicht immer wohlwollend aufgefasst, sondern als Kritik verstanden und damit vollkommen missverstanden wurde.

Hellmut von Cube (1907–1979), als Sohn eines Arztes in Stuttgart geboren, lebte, wie auch sein Bruder Walter von Cube (1906–1984) seit 1948 in München. Beide prägten sie das Kulturleben in der Nachkriegszeit, Walter von Cube als Redakteur beim Bayerischen Rundfunk und Hellmut von Cube als freier Schriftsteller und Verfasser namentlich von Hörspielen.

Schon in der Zeit vor dem Krieg lernte Hellmut von Cube Südtirol kennen, verlebte etwa zehn Jahre lang – mit Unterbrechungen – als Feriengast viele Wochen auf einem Bergbauernhof hoch oben am Ende eines Tales. Man weiß heute, welches Tal das war, kennt sogar den Hof, beides wurde aber in den bisherigen Ausgaben des Buches nicht genannt, denn es bestanden lange Zeit Irritationen dort, infolge der genannten Missverständnisse. Es handelt sich um das Schnalstal, aber dazu mehr im Nachwort. Als als das Buch 1961 zum ersten Mal erschienen war, zirkulierte es sofort im Tal, obwohl sonst Bücher nicht so schnell dorthin vordringen. Als Cube dennoch das geliebte Ferienquartier auf dem Bergbauernhof beziehen wollte, wurde ihm kühl mitgeteilt, es sei leider anderweitig versprochen. Er sah „seinen“ Hof nie wieder.

Eigentlich wäre es auch nicht notwendig, dass Tal und Hof genannt werden, denn das Buch ist als Schilderung der Lebensumstände, der Gedanken und Charaktere der Bergmenschen gedacht und also von sozusagen allgemeinhistorischer Bedeutung, und es ist, meine ich, eine bessere Quelle dafür als jede soziologische Untersuchung.

Das Missverständnis derer, die, wenngleich ohne Zweifel typisiert, in dem Buch beschrieben werden, beruht darauf, dass alles das, was Cube bewundert, von den Vorbildern als Nachteil, als Schaden empfunden wurde. Cube bewundert, lächelnd mit dem Blick des Ethnologen eben und mit fast kniefälliger Sympathie, dass die „Trolle“– nicht nur die Schnalser, sondern die Südtiroler Bergbauern im Allgemeinen –, immer größer sind als andere, eigentlich vier Meter groß, eben gewaltige Gebirgstrolle, die sich nur verstellen und normale Größe annehmen. Er bewundert ihre förmlich animalische Sauberkeit, die keiner Körperhygiene bedarf, er bewundert ihr kindliches Verhältnis zur Technik – das alles vor dem Hintergrund der Zustände auf einem Bergbauernhof der Fünfziger-, Sechzigerjahre, in denen es dort weder elektrischen Strom noch WC, Telefon und fließendes Wasser gegeben hat. Die Bauern aber wollten nicht Objekte ethnologischer Beobachtung sein, sie wollten so sein wie Städter. Ein uralter Quell der Missverständnisse.

Und letzten Endes ist natürlich dessen Bedürfnis anders, der in der Poesie des einfachen Lebens angesiedelt ist, als dessen, der sie von außen betrachtet, auch wenn der – wie Hellmut von Cube – nicht als bequemer Feriengast die Füße unter den Tisch gestreckt hat, sondern Tag und Mühe und sogar die Arbeit mit den Bauern geteilt hat. Vor allem aber ist dieses Buch der vielleicht schönste poetische Hymnus auf Südtirol, der bis jetzt geschrieben wurde, ein Dokument der Liebe zu diesem Land und seinen Leuten, und eine Fundgrube für den Blick auf eine Zeit in diesem Land, die längst vergangen ist.

Herbert Rosendorfer

Mai 2008

Mein Lieber,

ich habe meine gute alte Schreibmaschine auf den Tisch gestellt, daneben den Krug mit Wein und den Tabaksbeutel und starre durch das Fensterchen hinauf in die schneeüberzuckerten Felsenrinnen, als ob dort geschrieben stünde, was ich Ihnen von den Trollen erzählen will.

Ja, bei den Trollen bin ich gelandet, hoch droben im Reich der Phäaken – das können Sie mir glauben, auch wenn sich Ihnen bei dieser Erklärung sämtliche mythologischen und geographischen Haare sträuben und der Poststempel etwas ganz anderes sagt. Natürlich handelt es sich sowohl bei den Trollen wie bei den Phäaken um ferne Nachkommen, doch haben die paar Jahrtausende im Grunde wenig verändert. Auf welche Weise die pfiffigen Genießer aus ihrem Sagenkreis im Süden, die gutmütigen Waldriesen aus ihrer Nebelwelt im Norden entkommen sind, weiß allerdings niemand. Jedenfalls sind sie erst in geschichtlicher Zeit hier auf dem Dach Europas aufeinandergeprallt und brachten dann Hunderte von Jahren damit zu, sich gegenseitig die gewaltigen Giebelflächen hinunterzustoßen. Am liebsten würden sie auch heute noch dieses unterhaltsame Spiel fortsetzen, zumindest die Trolle, denn sie sind augenblicklich stark ins Hintertreffen geraten, aber sie knurren nur dumpf wie gewaltige Hunde an der Leine – doch darüber in einem anderen Brief.

Übrigens halten sich die Trolle, dies muß ich nachholen, für ein alteingesessenes Bergbauernvolk und würden nie und nimmer an eine so neblige und nördliche Herkunft glauben, ebensowenig wie die Phäaken, welche sich zu den ruhmreichen europäischen Nationen zählen, je damit einverstanden wären, von der seligen Insel der Nichtsnutze zu stammen. Nun, das ist zu begreifen, und ich werde mich hüten, hier oben etwas von meiner Erkenntnis preiszugeben, obwohl sie leicht genug zu gewinnen ist.

Erinnern Sie sich an das Zauberglas in manchen Märchen? Der arme Hirtenbub oder der verirrte Prinz bekommt es von einer guten Fee mit auf den Weg und braucht nur hindurchzuschauen, um beispielsweise ein fremdes Schäflein als gefährlichen Zauberer oder einen marmorgleißenden Palast als Hexenhütte zu entlarven. Mein Zauberglas besteht einfach darin, daß ich nicht eigentlich als Gast bei den Trollen lebe – geschweige denn als Sommergast, sondern etwa so, als wäre ich ein geheimnisumwitterter Verfolgter, der sich in seinem Asyl nützlich macht. Ich arbeite mit den Trollen auf den steilen Wiesenhängen, ich steige mit ihnen zu den verwitterten Graten hinauf, ich esse und trinke mit ihnen in der rußgeschwärzten Küche, ich rede mit ihnen bis tief in die Nacht, und jeden Tag fallen mir wieder einige Schuppen von den Augen. Sie werden das im Laufe meiner Schilderung ohne weiteres verstehen, es ginge Ihnen gewiß nicht anders.

Ich muß für heute schließen. Eben sind zwei kleine Trollmädchen in die Stube gekommen, Traudl und Mariedl, und begehren, wiewohl des Sprechens noch kaum mächtig, diesen Brief ins Tal zu tragen, einen Steig hinunter, der sie insgesamt gute zwei Stunden kostet. Traudl sieht einer herausgeputzten Spitzmaus ähnlich, Mariedl hat ein Gesicht wie ein Fallapfel, und beiden stehen die Zöpfchen zur Seite, als ob sie aus Draht geflochten wären. Puppensteif sitzen sie nun auf der Ofenbank, nur die Augen bewegen sich manchmal, weil oben auf dem Türsims die Bonbontüte liegt. Anfangs dachte ich, solche Winzlinge würden vielleicht gerade vom Hof bis zum Kuhzaun stapfen können, aber siehe da – bei den Trollen lernt man früher zu klettern als zu reden. Die zwei weiden hinunter und wieder hinauf wie Lämmer, unbekümmert um Felsennasen, siebzigprozentige Steigungen und unverbaute Wildbäche. Ob allerdings die Briefe ankommen oder irgendwo zwischen Himbeeren und Thymian bleichen, weiß ich nicht. Von diesem hoffe ich das erstere.

Ihr

H.

Mein Lieber,

im letzten Brief habe ich die Umgebung gerade nur gestreift – hier ein Stückchen Fels, dort ein bißchen Steilwiese oder eine Strähne Wildwasser. Das wird sich für Sie bestenfalls wie eine chinesische Tuschzeichnung ausnehmen, wo der Nebel wallt und höchstens ein grauer Berggipfel und ein dunkler Kiefernzweig herausschaut. Da sitzen Sie nun und sollen sich aus den wenigen Strichen ein richtiges Bild machen, und ich habe die bittere Aufgabe, Ihnen das Milieu zu schildern, ohne Sie zu langweilen. Aber es hilft nichts, Sie müssen wissen, wo die Trolle leben.

Die richtigen Trolle leben in den Bergen zwischen 1500 und 2000 Meter Höhe und dort mehr oder weniger für sich. Freilich ist auch das Tal weit hinunter, Dorf für Dorf, fast ausschließlich von Trollen bewohnt, und auch weiter hinaus, wo das Obst und die Rebe herrscht und die Lüfte mild werden, gibt es Trolle zu Tausenden, aber nicht die richtigen. In talabsteigender Linie entarten sie nämlich oder verblassen doch. Sie verlieren mit jeden hundert Metern an Saft und Kraft; dort wo die Lärche anhält, weil es ihr zu lieblich wird, haben sie vom echten Trollwesen nur noch soviel an sich wie ein gletschergeschliffener Kiesel von seiner einstigen, brockigen Gestalt. Ein richtiger Troll nimmt sie denn auch nicht mehr ganz ernst. Trolle beispielsweise, die 1200 Meter über dem Meeresspiegel wohnen, werden noch freundlich, aber doch mit einem gewissen Mitleid beurteilt, während die Kennziffer 700 bereits genügt, daß etwas geringschätzig von ‚einem da drunten‘ gesprochen wird und ein Ort unter 400 Meter seine Einwohner zu halben Phäaken stempelt.

Nun, ich hause hier in einer Höhe von 2000 Metern, also bei Volltrollen, ja, bei Erztrollen, auf einem schmalen Bergabsatz genau im Lawinenschatten. Dort liegt der Hof und ringsum – vieleckig hineingeschnitten in den steilen Lärchenwald – die Flächen der Wiesen und Felder. Dieser Wald übrigens ist hier oben schon etwas schütter, stellenweise sogar löcherig, denn die Steinmuren stürzen seit urvordenklichen Zeiten in ihn hinein, und auch die Trolle holten sich bedenkenlos das Ihre. 400 Meter höher hört er auf. Nur mehr Vorpostenbäume, kühn und krumm zugleich, stehen noch über der Grenze auf den steinbesäten Matten, wo die Schafe ziehen, wo mittags der Hirtentroll in der Sonne schläft, den Speck und das Brot und das Fernglas zur Seite, und die Brunelle süß und dunkel nach Vanille duftet. Und weitere 400 Meter höher kann auch von Matten nicht mehr die Rede sein, sondern nur noch von Steinen, von Blöcken, die ein einziges sagadüsteres Trümmerfeld bilden, vom Hof aus wie eine graue Streuselschicht anzusehen. Aber die Schafe ziehen auch dort noch, und gleichfalls – einmal am Tag – die Hirtentrolle, scharfäugig auf Inspektion. Und weitere 400 Meter höher ist es auch mit den Streuseln zu Ende, mit Schafen und Hirten. Zwischen schroffen Felswänden liegt die Zuckerglasur des Gletschers über dem Geröll, der Bach quillt unter dem Eis hervor, das Adlerpaar kreist. Und weitere 400 Meter höher steht scharf das gleißende Weiß der Gipfelwächten gegen den blauen Himmel, wenn nicht das Wetter Wolken darüberlegt.

Freilich kann man von hier aus diese Stufen der Trollenwelt nicht zusammen sehen, nur aus einiger Entfernung, und selbst dann nicht alle. Drüben zwar, überm Tal, werden sie vorzüglich durch ein langgestrecktes Dreitausender-Massiv demonstriert, von der geschlängelten Straße mit den schwarzen Menschenpunkten darauf bis zu den hellen Schafpunkten unter den Felswänden, und durch das Ganze ziehen sich wie Gespinste schaumsilbern die Bäche, aber Gletscher gibt es dort keine und auch nicht Schneegipfel. Um ihren Anblick zu genießen, muß ich ums Eck gehen, eine Viertelstunde ins Hochtal hinein. Dort wiederum ist mir die Aussicht nach Osten versperrt, der einzigen Richtung, in der man andere Trollhöfe sehen kann, hoch auf fernen Bergflanken. Von einem Panorama also kann ich leider nicht sprechen, ich muß es mir gewissermaßen zusammendenken aus den vielen verschiedenen Blicken – und das können nur die Trolle richtig.

Im Ernst, wer hier nicht aufgewachsen ist, wer nicht immer wieder die Kirchenfeste, die Tanzunterhaltungen, die fernsten Mädchen aufgesucht hat, wer nicht Jahre hindurch zum Viehhandel auf die Höfe und die Almen, zur Holzarbeit in die Wälder, zur Gemsenjagd auf die Grate, zum Schmuggeln über die Joche und Gletscher gegangen ist, den täuschen die unzähligen Verschiebungen und Überschneidungen. Ein richtiger Troll braucht keine Karte. Er rückt den verwitterten Hut aus der Stirn, schaut einmal scharf und weiß es. Dieser kleine gelbe Fleck? Oh, das ist das Gerstenfeld vom Bruder des Schwagers seiner Schwester. – Dieser Berg, der wie ein weißer Katzenbuckel aussieht, ganz dahinten über der Waldschräge? Oh, dort sind sie schon mit Steigeisen und Eispickel gegangen, zu fünft nach einer durchzechten Nacht. – Und das, was so glitzert, weit drüben, rechts von der krummen Zirbe in dem Steinkar? Oh, das ist ein kleiner Gletschersee mit noch kleineren Fischen darin. Manchen Sonntag nach der Frühmesse hat er als Bub eine ganze Pfanne voll herausgeholt und war trotzdem zu Mittag schon wieder auf dem Hof. Jeder Troll – aber beileibe nicht jede Trollin – kennt die Landschaft in einem Umkreis von rund zwanzig Kilometern blind. Er hat sie, und das ist kaum übertrieben, im Maßstab 1:1 im Kopf. Das aber, was er jenseits dieser Welt erblickt, existiert für ihn im allgemeinen nicht.

Übrigens, der Begriff Landschaft ist den richtigen Trollen fremd. Als ob sie ahnen würden, daß dieses abstrakte und also schon verdächtige Wort auch noch unhörbar von einem Adjektiv begleitet wird. Von ‚schön‘, von ‚häßlich‘, von ‚heiter‘, von ‚traurig‘ – kurzum, von Wertungen, die sie freiwillig niemals auf ihr Land anwenden. Naturschönheit wird ihnen in der gewohnten Umgebung kaum je bewußt. Begeistere ich mich zum Beispiel an einem alten Lärchenwald, wo das Gras so dicht und langwellig zwischen den Säulen der Stämme wächst, als bedecke es ein Geheimnis, nickt der Troll und taxiert anerkennend den Holzwert. Entzückt mich auf der Bergwiese eine Quelle, weil sie so wunderbar glatt und klar aus der Grasnarbe springt, so setzt er mir auseinander, daß die Kühe leicht rotzig werden, wenn sie zu viel Schmelzwasser trinken. Sonnenuntergänge und Wolken werden nur im Hinblick auf das Wetter gewürdigt, Wiesen sind grundsätzlich Heufelder und Gletscher gefährlich oder ungefährlich, Schmetterlinge haben die Eigenschaft, daß man sie nicht bemerkt, und über Berge gibt es nichts zu reden, es sei denn, man habe auf ihnen oder unter ihnen Unvergeßliches erlebt.

Die Natur wird vielleicht in der Fremde bewundert, mit Gewißheit aber nur im Heimatkalender oder auf jenen bunten Postkarten, wo im Vordergrund Alpenrosen, Edelweiß und Enzian durcheinanderblühen, während im Hintergrund eine Gemse stolz vom Felsen äugt und rosa die Firne glühen. „Nein, wie schön das ist!“, sagt dann der Troll, und die Trollin sagt es erst recht, und man hört in ihren Stimmen wahrhaftig Glockengeläute und Zitherklang. Dies, mein Lieber, meine ich ganz ernst, denn natürlich empfinden die Trolle die Schönheit ihres Landes sehr wohl, obgleich sie eine schlechte Reproduktion brauchen, um es auszusprechen. Aber davon in einem anderen Brief!

Ihr

H.

Mein Lieber,

es ist Sonntagnachmittag, die Sonne spiegelt sich in den Tasten der Schreibmaschine, und ab und zu weht eine Wolke von Heuduft oder eine Extraprise Wildbachrauschen zum Fenster herein.

Das klingt so, als säße ich mittendrin in einer Hochgebirgsidylle wie draußen unter der Altane in seiner warmen Staubmulde das Huhn – und wirklich, es fiele mir nicht schwer, diese Vorstellung zu verstärken. Zum Beispiel mit einem steinweißen und einem steingrauen Kalb, die ohrenwedelnd hinter dem Zaun liegen und sich das Vormittagsgras zum zweitenmal schmecken lassen. Oder noch besser mit dem Großvater und der Enkelin, denn die beiden könnten – genau so, wie sie sich eben auf der Hauswiese ihren Freuden hingeben – von Kaulbach gemalt und in der ‚Gartenlaube‘ lithographiert sein. Der Alte hat sich trotz der Wärme in eine Wolldecke gewickelt und den Hut mit den Hahnenfedern bis über die Nase gezogen, so daß man von ihm nur noch die Stiefel sieht und den mächtigen falben Bart, hinter dem die Schliche und Listen wohnen. Die Kleine hingegen, in einem knallroten Kleidchen auf dem Rest der Decke placiert, versucht seit einer halben Stunde das größte Kunststück ihres bisherigen Lebens zu wiederholen, nämlich, den Rand eines Marmeladebecherchens in den Mund zu klemmen und dann in die Hände zu klatschen, was ihr leider immer wieder mißlingt, weil der vorzeitige Freudenschrei das Becherchen freigibt.

Soll ich noch mehr aufzählen? Den Apollofalter auf der altehrwürdigen Käsepresse? Das Läuten der Kühe hinter dem Wald? Das Widdergehörn über der Stalltür mit dem Rotschwänzchennest daneben? Oh, es gibt genug Idyllisches hier und durchaus nicht nur à la Kaulbach. Ebensogut könnte ich an einen Schweizer Kupferstich des Barock oder an das Tagebuch eines englischen Bergsteigers um 1820 denken, aber mir ist es nicht idyllisch zumute. Erstens bin ich schon einige Zeit hier, und die Idylle ist, wie Sie wissen, eine poetische Form der Unkenntnis – und zweitens schlägt in der Welt der Trolle immer und überall das Gewaltige durch wie frisches Fleisch durch das Einwickelpapier – und drittens bin ich heute ganz unausgeschlafen.

Den Schlaf haben mir Virgil und Konrad geraubt, Erztroll und Hirtentroll, Ober und Unter in der Spitzbüberei. Dem Virgil gehört der Hof. Das heißt: 150 Tagwerk Wiesen und Felder und dazu das ganze Hochtal bis zum Joch hinauf, drei Kilometer lang und drei Kilometer breit, mit allem, was darinnen ist. Mit Weide, Wald und Wildbach, mit Lawinentod und Alpenrosenrot und, wenn er will, auch mit Gemsen und Murmeltieren, Steinhühnern und Rehen, denn welcher Jagdaufseher krabbelt in nachtschwarzer Frühe aus den Federn und drei Stunden hinauf, um sich auf die Lauer zu legen? Das heißt ferner: eine wohlgeratene Trollin nebst vier vielversprechenden kleinen Trollen, ein Haus, ein Stall, ein Stadel, allesamt von der Sonne violettschwarz gebrannt in zweihundert Jahren, dreißig Rinder, zwei Pferde, sechs Schweine, einhundertfünfzig Schafe, vierzig Ziegen und zehntausend Flöhe. Welch ein Mann! Aber auch welch ein Troll!

Das sage ich nicht etwa, weil er mit den Schultern fast den Türstock streift oder einen Zentnersack so mühelos vom Tal heraufträgt wie unsereins eine Zuckertüte, sondern weil ihm das Troll-Licht so hell in den Augen steht, als ginge hier oben der Kalender tausend Jahre vor. Nun möchten Sie wohl wissen, wie das Troll-Licht aussieht? Stellen Sie sich einen Bären vor, der hinter einem riesigen Stamm hervorlugt. Mischen Sie das mit einem Splitter von der Wiege der Menschheit und viel Kinderernst. Geben Sie ein saftiges Blatt von dem Kraut der Freiheit dazu, wie es auf eigenem Grund und Boden wächst. Streuen Sie die Verschlagenheit eines Kartenspielers gleichmäßig darüber, lassen Sie dann zwei Lausbuben hinter einem Hauseck lachen und läutern Sie schließlich das Ganze mit einem klaren Bergmorgen!

Auch bei Konrad funkelt, nur ein bißchen anders, dieses Licht. Vielleicht steht da kein Bär hinter einem Stamm, eher ein starker Widder hoch auf einer der letzten Grasnarben, die Füße in den Boden gestemmt und das Gehörn gesenkt. Konrads ganze Liebe gehört den Schafen. Er greift, wenn er träumt, nicht nach den Sternen, vielmehr in die Wolle von ganzen Herden, die die seinen sind. Immerhin gebietet er hier nicht nur über einhundertfünfzig Hausschafe und die eigenen zwanzig, sondern, von Juni bis September, auch über zweihundert fremde, denn im Sommer sind die Matten dichtbevölkert mit wolligen Pensionären aus dem Tal. Im übrigen ist Konrad fast noch ein Jüngling, kräftig gebaut, aber mit Samtaugen und einem kühnen Wellenschlag im Haar, so daß die Mädchen weitumher lächeln und seufzen, wenn sein Name fällt.

Virgil und Konrad also zogen gestern morgen, lange vor Tag, noch zur Taschenlampenzeit, aus, um zwei Ochsen zu kaufen, zwei ganz bestimmte Ochsen, die Virgil – viehsüchtig und viehtüchtig wie er ist – vor einigen Monaten bei einem Almauftrieb gesehen hatte. Da bei ihm Ochsen jeder Größe und Bauart im Stall stehen, fragte ich am Abend vor dem Aufbruch nach dem Sinn des Unternehmens. Oh, mein Lieber, welche Wissenschaft tat sich mir da auf, höchste Trollwissenschaft, gegründet auf die Erfahrungen von Generationen! Gewiß eine Stunde redete Virgil auf mich ein, um mir zu erklären, wer wem was und in welcher Erwartung auf die Bergweide schickt, wie es mit dem Verhältnis von Grasgeld zum Fleischpreis steht, unter welchen Umständen man gleichzeitig eigene Ochsen in Kost gibt und fremde in Kost nimmt, warum man für den heimischen Metzger das Vieh mästet, es für den phäakischen Händler aber mager hält, daß manchmal das bessere Heu das schlechtere ist, und dergleichen mehr. Ich sage Ihnen, es ist leichter, in die Formeln der Kernphysik einzudringen als in die Geheimnisse der Bergviehwirtschaft! Des Rätsels Lösung schien mir schließlich in einer Art circulus jocosus zu liegen, insofern nämlich, als die richtigen Trolle aus purem Vergnügen am Handel und an den Illusionen beständig und in traditioneller Reihenfolge ihr Vieh untereinander tauschen.

Wie auch immer, Virgil maß der Angelegenheit die größte Bedeutung bei, und so wurde der Rucksack unter ernsten Fachgesprächen und subtilen finanziellen Erwägungen mit der Standardverpflegung für solche Exkursionen gefüllt: Mit Ölsardinen, Brot und phäakischer Wurst, Zigaretten, einer kleinen Flasche Schnaps und zwei großen Flaschen Wein. Weniger ernst und weniger subtil ging es bei der Heimkehr zu, gestern gegen Mitternacht. Die beiden drängten, als sie sahen, daß bei mir noch Licht war, wirklich ganz und gar trollisch zu mir herein, dampfend vor Heiterkeit und Ereignis, mit schweren Schuhen und schiefem Hut, und bezichtigten einander sofort der völligen Trunkenheit.

Es wären keine Trolle, hätten sie sich diesem bescheidenen Spaß nicht mit Liebe gewidmet! Ein richtiger Troll, müssen Sie wissen, ist in einem solchen Grade spaßempfänglich und spaßbegierig, daß er dem Teufel für einen Sack voller Späße seine Seele verkaufen würde. So wie ein Hund das kleinste Knöchelchen auf seinem Teller anwedelt, springt der Troll schon auf die geringste Möglichkeit, sich zu erheitern. Ein lustiger Vergleich, ein bißchen Pfeffer im Urteil, eine treffende Gebärde – und er lacht aus Leibeskräften. Setzen Sie den Hut des Hütebuben auf und ergreifen einen Regenschirm, ernten Sie Beifallsstürme. Verlegen Sie dauernd Ihre Brille, sind Sie ein äußerst beliebter Hausgenosse. Hecken Sie einen Streich aus, reden noch die Enkel von Ihnen. Fremde erklären sich diese Eigenschaft mit dem unbestreitbaren Mangel an Unterhaltung. Man habe leicht lachen, so sagen sie, wenn das nächste Kino dreißig Kilometer entfernt ist – aber das ist eine törichte Auslegung. Ein Troll sitzt wie geschnitzt im Kino, er lacht noch eher über einen Gockel, der in den Stimmbruch kommt, als über Marilyn Monroe. Und dieses Lachen tönt, wenn man nur etwas genauer hinhört, tief aus den Wäldern, jahrtausendetief, möchte ich sagen – dorther, wo Riesen sich unbändig am Echo freuen, wo sie einander Eichhörnchen wie Läuse ins Haar setzen oder Ameisenhaufen in die Schnupftabakdose füllen.

Kurzum, Virgil und Konrad trieben es aufs Haar so wie zwei Clowns, die sich in der frostigen Manege einen Streit aus den Fingern saugen, denn so unermüdlich sie auch getrunken hatten auf ihrer Ochsenfahrt, es schwankte keiner von beiden.

Ich mußte schleunigst zwei Liter Wein aus dem Keller holen, nur damit jeder mir und dem anderen seine Nüchternheit beweisen konnte, was sie dann natürlich nicht hinderte, Unglaubliches voneinander zu erzählen. Virgil behauptete, Konrad habe bereits am frühen Morgen – nach Vertilgung seiner alkoholischen Wegzehrung – im nächsten Dorf die Mädchen gejagt wie im September ein Bock die Geißen. Konrad hinwiederum schwor Stein und Bein, Virgil habe überhaupt nicht gemerkt, daß er zur Ladrutscher Alm mitten im Bach aufgestiegen sei, worauf Virgil erwiderte, Konrad habe zu dieser Zeit überhaupt nichts beobachten können, denn er sei, in der festen Überzeugung, ein Murmeltier zu sein, in einer Felsenhöhle verschwunden. Und so ging es fort und fort, immer erfindungsreicher, immer skaldenhafter. Dennoch, an den mit Lust geschleuderten Verdächtigungen hing gerade soviel Wahres, daß ich mir den wirklichen Verlauf der Bergfahrt unschwer rekonstruieren konnte: Die beiden hatten ihre Ochsen weder angesehen noch gekauft. „Diese Ochsen“, sagte Virgil abschätzig, als ich mich nach ihnen erkundigte, „sollen mir gestohlen bleiben. Deswegen braucht der Virgil nicht so weit zu laufen. Jederzeit bekommt er solche gleich drunten im Ort, das sage ich Ihnen, gerade wie es ist!“

In Wirklichkeit aber standen diese noch vorgestern hochgepriesenen Tiere unerreichbar hoch und ferne hinter Orten, Weilern, Höfen und Almhütten, hinter Begrüßungspflichten, Neuigkeiten, Erkundigungen, Spekulationen und Stallbesuchen, hinter Gulaschtellern, Schmarrenpfannen, Speckproben, Ankunftsschnäpsen und Halbliterkrügen. Und das alles um so mehr, als Virgil es sich in den Kopf gesetzt hatte, dem widerstrebenden Konrad eine Frau zu besorgen. So war denn auch nicht von Wammen, hohen Rücken und Flankenfett die Rede, sondern von Brustumfang, Jungfräulichkeit und Blicken in die Unterwäsche, was bei Trollen zwar einen Unterschied in der Perspektive, aber keineswegs im Taxieren ausmacht.

Mein Lieber! Unmöglich kann ich Ihnen heute noch das System von Fallen, das Netz von Versuchungen schildern, welches ein richtiger Troll vorfindet, wenn er mit ernsthaften Absichten über Land geht – es steckt wahrhaftig ein Kapitel Soziologie darin. Jedenfalls blieben Virgil und Konrad überall zu lange hängen und hatten schließlich Mühe und Not, sich zwischen den an der Route liegenden Vergnügungen durch heftige Strapazen wieder kampffähig zu machen.

Nun, den Trollen alle Ehre – sie haben sich wacker gehalten, so wacker, daß wir erst um halb drei ins Bett kamen. Ich habe also nur eineinhalb Stunden geschlafen, denn am Sonntag ist Kirchgang. Punkt vier Uhr beginnt es im Haus zu quietschen, zu knarzen, zu poltern, zu wispern, zu schlürfen, zu schmettern, zu pfeifen, zu ächzen, zu rasseln, zu scheppern, zu rufen – wie in einer verrückt gewordenen Kuckucksuhr. Das ist die erste Schicht, die zur Frühmesse verurteilte. Die zweite Schicht, die zum richtigen Gottesdienst befohlene, setzt dann mit ihrem Spektakel um sechs Uhr ein. Und noch eher stürzen die Berge zusammen, als daß dieser Mechanismus einen einzigen Sonntag versagt. Ich rechne also mit Ihrem Verständnis, wenn ich mich jetzt irgendwo in die Sonne lege, bis mich der Bergschatten weckt!

Ihr

H.

P. S. Virgil und Konrad sind mit der ersten Schicht ins Tal!

Mein Lieber,