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Das Buch

Henriettes und Konrads Vögeles fünfzigster Hochzeitstag steht ins Haus. Ein Fokus- und Reflexionspunkt, der sich anbietet das Leben, das sie verbindet, zu reflektieren und neu zu gewichten.

Aber bevor es dazu kommt, ist die Familie unterwegs zu dem seit Jahrzehnten obligatorischen Inselurlaub. Unter der spanischen Sonne und vor der Weite des Meeres hängt jeder für sich seinen Gedanken nach. Henriette und Konrad denken an die Jahre vor ihrer Ehe, an den Zufall, der sie hierher verschlagen hat, an ihre drei Söhne, deren Wege unterschiedlicher nicht hätten sein können, trotz der Versuche sie gemeinsam auf eine Welt vorzubereiten, deren Werte dem tiefgreifenden Wandel der Zeit unterliegen. Einem Wandel, dem in ihrem Dreitausendseelendorf nicht selten ein Verharren in Tradition entgegengehalten wird, das zwei der Söhne zum Widerstand anstachelt und aus dem Dorf treibt.

Die Eckpunkte des Lebens von Henriette und Konrad, sein Verlust von Vater, Mutter und Ehefrau, ihr Aufwachsen bei der Tante Lisbeth, nachdem der Vater im Krieg verschollen bleibt und die Mutter stirbt, werden auf der spanischen Insel aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet und erzählt.

Die Autorin

Sigrid Kleinsorge wurde 1940 in Halle/Saale geboren. 1960 Wechsel in die BRD. Studium der Psychologie und Soziologie in Köln. Stipendien des Schriftstellerverbandes Baden-Württemberg. Erste Veröffentlichungen in Anthologien, in Almende, im Karlsruher Lesebuch. Romane: Die Abuela, Das achte Zimmer, Das Trio, Das Freitagsinterview, Und vergib uns…, eine Reise. Die Autorin lebt in Karlsruhe und Lanzarote.

Sigrid Kleinsorge

Schwarz
&
Weiß

ROMAN

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Die deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.

© Originalausgabe 2019 Lauinger | Der Kleine Buch Verlag, Karlsruhe Projektmanagement, Umschlaggestaltung, Satz & Layout: Sonia Lauinger

Lektorat: Leonie Lang, Miriam Bengert

Korrektorat: Eva Hogrefe

Umschlagabbildung: pixaby soapbubble2802476

Druck in der EU

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes (auch Fotokopien, Mikroverfilmung und Übersetzung) ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt auch ausdrücklich für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen jeder Art und von jedem Betreiber.

ISBN: 97837650-9124-7

Dieser Titel erscheint auch als EBook:

ISBN: 97837650-2150-3

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Jedes Kind ist ein Zeichen der Hoffnung für diese Welt.
Kamerunisches Sprichwort

Inhalt

Schwarz und Weiß

Totgeküsst

Die Insel

Hochzeitsreise

Markus

Sharifa

Verlust

Lisbeth

Das Missverständnis

Daressalam 1992

Besuch

Strandtag

Konrad 1983

Abschied von Daressalam

Das Gummiboot

Die Söhne

London

Der Brief

Auftakt

Der Anruf

Nele

Gregor

Neue Wege

Die Brüder

Besuch in Brandenburg

Sharifas neue Welt

VMW-Traburg

Regen

Das Fest

Danksagung

Schwarz und Weiß

Ich schlafe nicht.

Es sind nicht die Worte, es ist der helle, klare Ton, der langsam in Henriettes Bewusstsein sickert, sich dort Gehör verschafft und ausbreitet, wie die Wolken noch am Tag zuvor, bis sie den Himmel vollständig bedeckten. Sie ist gerade dabei wegzudämmern, nach diesem Tag voller Verrichtungen. Den ganzen Tag treppauf, treppab, ein ums andere Mal, die Beine angeschwollen, nach Stunden auch der Atem knapper. Aber alles muss zusammengetragen werden für die nächsten vier Wochen, für den seit ungezählten Jahren obligatorischen Herbsturlaub auf den Kanaren. Raus aus dem beginnenden Herbst, hinein in den Sommer mit seinen fünfundzwanzig Grad, oft auch fünfunddreißig, wenn aus Afrika Hitze und Sand den Aufenthalt beinahe unerträglich machen. Dann wird die Luft immer dünner und die Sonne brennt unerbittlich. Dabei vertragen sie beide die Hitze immer weniger. Aber so ist es entschieden, auch in diesem Jahr, trotz des großen Festes, den dafür nötigen Vorbereitungen. Sicher dauern sie Monate, alles muss gut überlegt sein. Der Ort, die Gästeliste, das Buffet, die Musik und das ganze Drumherum.

Sie hat die Sommersachen vor vier Wochen in die Schränke auf dem Speicher einsortiert, einen Schrank für sie, einen für ihn. Nun kramt sie alles wieder vor und trägt es in ihr Zimmer. Wieder treppauf, treppab mit irgendetwas auf den Armen. Das hat sie nun davon, dass sie vor Jahren darauf bestanden hat, nicht mehr mit Konrad das Schlafzimmer zu teilen. Seitdem schläft sie eine Etage tiefer. Die Herbstsonne leuchtet im Raum, überzieht alles mit einem goldener Schimmer. Auch den Schiele über dem Bett, ein Geschenk ihres Sohnes Markus zum Siebzigsten. Wie immer hatte er nicht gespart. Während sie die T-Shirts begutachtet, fragt sie sich, ob nicht ein ähnliches bereits auf den Kanaren wartet. Alle gut verpackt, um sie vor Motten zu schützen. Aber wie soll sie sich nach Monaten an jedes einzelne Stück erinnern, an seine und an ihre Sachen, denn außer den Herbstwochen gibt es auch vier Frühlingswochen dort.

Henriette liebt den Herbst, die Färbung und das beinahe lautlose Niedersinken des Laubs, den Wein, der das Nachbarhaus mit seinen roten Ranken einhüllt. Auch den Nebel, er lichtet sich erst im Laufe des Tages, der die Dinge zum Erwachen bringt. Immer wieder neu erscheinen sie ihr. Wenn sie zurückkommen, wird es keine Blätter mehr an den Bäumen geben, sicher auch schon den ersten Frost, die kahlen Äste mit Raureif überzogen, die Luft feucht. Die schweren Blumenkübel mit dem Oleander und die Zitronenbäume hat sie vor zwei Wochen auf die Veranda wuchten lassen. Zitronen in Deutschland, das hatte sie nicht glauben wollen, doch sie wuchsen und wuchsen, trugen mit jedem Jahr mehr Früchte, prall, von einem intensivem Gelb, duftend und so aromatisch, wie man sie hier nicht zu kaufen bekam.

Das Bett, ihre kleine Insel in diesem großen Haus, das sie seit Jahrzehnten bewohnt, ist übersät mit Kleidung. Oben ihre, unten seine. Den Sonnenhut für ihn kann sie nirgends entdecken. Dabei, das weiß sie genau, hat sie ihn zu seinen Sachen gelegt, wie immer darauf bedacht, dass alles an Ort und Stelle ist. Er vergisst immer öfter, rechtzeitig aus der Sonne zu gehen. Und nicht nur das vergisst er. Im Arztkoffer vom Flohmarkt haben die Medikamente Platz. Schachteln voller Kapseln und Pillen, Blutverdünner, das Messgerät für den Blutdruck, das Fieberthermometer, Blasenpflaster, das Zeug gegen Mückenstiche. Von Jahr zu Jahr mehr. Ein Zeichen der Anfälligkeit, um nicht zu sagen des Verfalls, mit den fortschreitenden Jahren zur Notwendigkeit geworden. Unvorstellbar, wenn man jung ist. Wenn Konrad einen seiner Anfälle bekommt, sind so die Tropfen schnell zur Hand. In den beiden weißen Rollkoffern wäre außerdem kein Platz dafür. Markus hatte sie ihnen zu Weihnachten geschenkt, nicht ohne die Marke zu erwähnen. Nie hätte Konrad sie wegen des Preises gekauft, hätte es mit seinem »Zum Kuckuck nochmal, was sollen die Leute von uns denken!« kategorisch abgelehnt.

Bei den Dingen, die Henriette für ihn zusammengetragen hat, zwischen den dunkelblauen Unterhosen und Unterhemden, entdeckt sie den Zirkelkasten, die Briefwaage und verschiedene Präzisionswerkzeuge. Es sind Dinge, die seit langem unbeachtet in der Werkstatt liegen, von Konrad jedenfalls unberührt. Dafür ist kein Platz mehr im Koffer, und wer weiß, ob er sich daran erinnert. Sie verschwinden in der unteren Schublade der Kommode, einer echten Bauernkommode aus Eichenholz. Sie steht hier seit Tante Lisbeths Tod.

Henriette hatte gedacht, sie würden in diesem Jahr wegen der großen Feier, die bevorstand, keinen Urlaub machen. Aber nein, als Vorbereitung sozusagen, um noch einmal Ruhe zu tanken, hatte ihr Mann gesagt. Eigentlich hatte er nur »Zum Kuckuck nochmal, Ruhe!«, gesagt. Auch ihr Sohn Markus hatte dazu geraten wegen der Anstrengung, die im Frühjahr auf sie zukommen werde. Vor allem wegen Konrad, seinem Vater. Einer der wenigen Momente, in denen sich die beiden Männer einig waren, einig gegen sie. Sie hatte es kaum glauben wollen. Dabei wusste sie, der ganze Urlaub war nur dazu da, um nicht aus der Routine zu fallen. Seit sie diese Wohnung in der Ferne besaßen, es war beinahe so lange, wie sie verheiratet waren, hatten sie nie an einem anderen Ort Urlaub gemacht. Immer Kofferpacken, die T-Shirts, die Badesachen, die Hosen und Kleider, immer mit dem Auto zum Bahnhof, immer mit dem Zug zum Flughafen, dann mit dem Taxi bis dahin, wo sie sich erholen sollten. Aber an irgendetwas musste man festhalten und sich orientieren, solange es ging. Das hatte auch der Arzt nach der letzten Untersuchung gesagt. Und davon hatte Konrad nicht mehr allzu viel.

Henriette weiß nicht genau, ob sie träumt, oder ob der Tag einfach noch mal hinter ihren geschlossenen Augen abläuft. Ob es nicht eine Blaupause ist, damit sie die Anstrengung auf keinen Fall vergisst und beim nächsten Mal etwas dagegen vorbringen kann. Alles ist so, als wäre sie in dem Haus, in das sie gehört. Das Haus in dem kleinen Dorf mit dreitausend Einwohnern, mit der kleinen Kirche, in die sie jeden Sonntag gehen. Auch diese Stimme, die hell und klar ist, eine nimmer müde Kinderstimme, gehört dorthin, das weiß sie, aber sie einzuordnen, gelingt ihr nicht. Doch beim zweiten Mal »Ich schlafe nicht« weiß sie, dass sie zu ihrer Enkelin gehört. Und kurz darauf ertönt auch die leicht verwaschene Stimme ihres Mannes Konrad, Konrad Vögeles, mit dem sie demnächst fünfzig Jahre verheiratet sein wird. Ein ebenso unvorstellbarer Fakt wie die intensivgelben Früchte an den Zitronenbäumen, die sie vor Jahren gepflanzt hat. Mit dieser Stimme sagt er zu dem Kind: »Es ist spät, schon dunkel draußen.«

Und augenblicklich ist Henriette klar, dass sie nicht auf ihrem Lieblingssessel, dunkelblaues Polster mit ausklappbarem Fußteil, vor dem Fernseher eingeschlafen ist, was ihr in letzter Zeit manchmal passiert. Sie weiß, dass sie nicht in ihrem Wohnzimmer sitzt, mit dem Garten dahinter, den Bäumen, die bald ihre kahlen Äste in den Himmel recken werden, mit den Blumenkästen vor den Fenstern. Am nächsten Morgen wird sie nicht in den Bäckerladen gehen, auch nicht in die kleine Kirche am Sonntag in dem Dorf mit seinen dreitausend Einwohnern, in dem jeder sie und Konrad kennt. Sie sitzt im Zug zum Frankfurter Flughafen und dieses Mal mitten in der Nacht. So ein Wahnsinn!

Sie schüttelt den Kopf, wie sie ihn bereits vor ein paar Wochen geschüttelt hat. Da kam Konrad und teilte ihr mit, dass er für die Familie in der nahegelegenen Stadt Flugtickets erstanden hatte. Er sagte nicht »gekauft«, nein »erstanden«, ein Wort, das sie aufhorchen ließ. Natürlich wieder für die Insel. Dabei war er nur mit dem Bus zum Frisör gefahren, wie jeden zweiten Dienstag im Monat seit Jahren. Noch immer wuchs sein Haar schnell, nun nicht mehr braun, sondern weiß, doch mit der gleichen Geschwindigkeit. Sobald es sich über das Ohr hinauswagte, stand für ihn fest; der Frisör musste ran. Der Termin stand im Küchenkalender und in ihrem, der auf dem Schreibtisch lag. Konrads Kalender war seit einiger Zeit Makulatur.

Henriette öffnet die Augen, sieht Konrad im dunkelblauen Anzug und weißen Hemd, so weiß wie sein noch immer volles Haar. Wie aus dem Ei gepellt sitzt er ihr gegenüber. Nachts um halb drei! Sie denkt darüber nach, wie es kommt, dass er, so wie er da sitzt, aussieht, als sei alles vollkommen in Ordnung mit ihm. Man sieht ihm nicht an, dass er immer mehr aufhört, derjenige zu sein, der er einmal war. Dass sich sein Inneres zu einem Punkt zurückgezogen hat, den sie nur unter Aufwendung aller Kraft vergrößern kann, um den Mann wiederzuerkennen, den sie einmal geheiratet hat.

Konrad hatte ihr die Rechnung der Flugtickets unter die Nase gehalten. Keine fünfhundert Euro für fünf Personen, hin und zurück, sogar die spanischen Worte nannte er. Vielleicht hatte sie ihm jemand aufgeschrieben, denn immer hatte er sich mit den Worten »Ich bin Techniker.« geweigert, mit ihr einen Sprachkurs zu besuchen. Außerdem verschwanden auch die deutschen Begriffe mehr und mehr aus seinem Wortschatz, aus seinem Kopf. Alles Spanische war von Anfang an ihre Aufgabe gewesen, auch die Verhandlungen mit den Handwerkern auf den Kanaren. Deren Pfusch, chapuza sagt man dort, hatte sie oft zur Verzweiflung gebracht. Nicht ein einziges Mal entschuldigten sie sich, sie winkten ab und lachten. Nie wird sie dieses Wort vergessen. Und nun saß sie wegen hundert Euro für einen Flug hin und zurück todmüde im Zug. Dabei gab es keinen einzigen Grund zu sparen. Die Firma lief ausgezeichnet, sie hatten ausgesorgt bis an ihr Ende und noch darüber hinaus. Aber Konrad war böse geworden, als sie verlangte, er solle die Flugtickets umtauschen. Er und böse, das hatte es kaum gegeben in den fünfzig Jahren, wenn jemand böse geworden war, dann sie. Deshalb hatte sie nachgegeben, sitzt nun völlig übermüdet mit wildfremden Menschen und deren Ausdünstungen im Zug.

»Oma schläft«, sagt die Kleine jetzt mit einer Stimme, als begänne gerade der Tag. Und wie immer, wenn sie das Kind sieht, die schmalen Gliedmaßen, den kleinen Körper, alles überzogen wie mit Milchschokolade, das Strahlen der dunkelbraunen Augen unter dem schwarzen Haargewirr, gehen ihre Mundwinkel leicht nach oben. Die Härte entweicht aus Henriettes Augen und sie denkt: Für Jua, unsere Sonne, hat sich alles gelohnt. Wirklich alles. Und sogar Konrad fühlt sie sich in diesem Augenblick näher. Der Zug hält. Konrad sieht fragend zu ihr, sie nickt, steht auf, zieht die Jacken aus der Gepäckablage. Ihre passend zu dem langen Rock, beigebraunes Leinen, Konrads dunkelblaue Windjacke und die rote Steppjacke des Kindes. Jetzt kommen auch Markus und Sharifa aus dem Abteil nebenan, schieben die gleichen weißen Koffer vor sich her. Auf einem davon sitzt bald Jua, dieses Kind, das nicht nur ihre, sondern auch Konrads Welt heller macht. Er sagt nie Jua, er sagt Sonne zu ihr.

Henriette stellt fest, dass sie nicht als einzige so früh auf den Beinen sind. Eine lange Menschenschlange schiebt sich zur Rolltreppe. Sie wartet auf Konrad, der sich suchend nach ihr umsieht und fast seinen Koffer verliert, dabei ist sie nur einen Meter vor ihm. Als er sie entdeckt, drängt er sich durch die Menge. Oben angekommen, werden sie von Sonnes heller Stimme empfangen: »Oma und Opa sind da.« Konrad sucht ein Taschentuch, sein Gesicht ist nass, Aufregung verträgt er nicht mehr. Der Weg zur SkyLine geht über Rolltreppen, Laufbänder, dazwischen Abfertigungshallen voller Menschen, Kaffeebecher in den Händen, Sandwiches kauend. Alle warten darauf, dass es endlich losgeht.

Beim Anflug sieht Henriette die weißen Häuser von Lanzarote, sieht die Vulkane und ihr Ärger ist wie fortgeblasen. Sie denkt an die frisch gefangenen Fische, die der Nachbar ihnen vor die Tür legt, an Delphine, die sie von der Terrasse aus beobachten kann, an den herrlichen Ziegenkäse und das kleine Restaurant über dem Hafen. Auf einmal ist sie nicht mehr müde, sitzt bald danach im Taxi und legt sich Begrüßungsworte zurecht.

An der Rezeption der Anlage steht wie immer Rodrigo, der Jüngere, stämmig, wie viele der Männer hier, braungebrannt, in Jeans und kurzärmeligem Hemd. Er hat seinen Vater vor sechs Jahren abgelöst. Seine noch vollständigen Zähne blitzen auf, er streckt Konrad die Arme entgegen, »Bienvenido, Señor Vöckele«. Dieses »Willkommen«, hier ist es keine Phrase. Noch ein paar Schritte, dann umarmt er ihn. Markus grinst, legt bei dem Wort »Vöckele« die Hand auf Sharifas runden Hintern und Henriette weiß genau, woran er dabei denkt. Auch sie spürt das Kribbeln unter dem langen Rock. Noch immer ist es da, so, als hätte der Satz von Tante Lisbeth für sie bis heute noch Gültigkeit: »Zum Glück hört das Kribbeln nie auf, sonst wäre ich als Hebamme ja brotlos.«

Früher hatte Rodrigo, wie auch der Vater, sie »Vöchele« genannt, doch seit sie ihn korrigiert hatte, waren und blieben sie die Familie Vöckele. Jedenfalls hier, wo Sharifa guapa, Jua chiquita und sie Señora heißt. Rodrigo nimmt nun auch sie in seine muskulösen Arme. Dann drückt und küsst er Markus und Sharifa auf beide Wangen, so wie es hier üblich ist. Das Kind wirbelt hoch über seinem Kopf und kreischt vor Vergnügen.

Die beiden Appartements sind blitzblank. Eine Strelitzie auf der Anrichte aus dunklem Holz, ebenso dunkel der Tisch und die Stühle mit hohen Lehnen. Im Kühlschrank wie immer eine Flasche Cava, die Sorte, die Henriette besonders gern mag und alkoholfreies Bier für Konrad. Die Liegen auf der Terrasse und der neue Tisch mit den Stühlen, alles genau so, als hätten sie es gerade erst verlassen, dabei waren sie vor sechs Monaten zum letzten Mal hier. Es ist heiß. Obwohl es noch nicht Mittag ist, zeigt das Thermometer bereits zweiunddreißig Grad. Sharifa kommt, fragt, ob sie mit zum Hafen kämen. Dort locken Tapas, kleine Tintenfische, Shrimps in Knoblauchöl und frisch gefangene Muscheln. Aber Henriette will erst die Koffer auspacken und dann endlich schlafen.

Totgeküsst

Schon wieder hat Sonne geträumt, sie habe Opa Konrad totgeküsst. Es war ganz einfach. Er saß auf dem Schaukelstuhl, sie auf seinem Schoß, wie immer, wenn er das Nickerchen hielt. Die Dielen auf dem Fußboden knarrten bei jedem Vor und Zurück, und der Opa schnarchte, auch wie immer, wenn er schlief. Chatschbüh, Chatschbüh. Sonne kann schon bis 88 zählen und sie zählt immer voller Stolz, bis der nächste Schnarcher kommt. Aber im Traum passierte etwas Eigenartiges. Schon vor einer Weile war sie bei 88 angekommen, aber es blieb still. Kein neues Chatschbüh folgte, obwohl die Dielen bei jedem Vor und Zurück knarrten. Sie horchte, wartete eine Weile, dann küsste sie ihn auf die Stirn wie damals den Uhrenopa. Kurz darauf erschrak sie, weil ihr im Traum wieder einfiel, dass der Uhrenopa danach nicht mehr aufgewacht war. Sie wusste nicht, was sie tun sollte, Opa Konrad ließ kein weiteres Chatschbüh hören. Schließlich war Oma Henriette ins Zimmer gekommen und hatte geschrien: »Der Konrad ist tot.«

Mit einem Mal ist Sonne hellwach. Sie blinzelt und entdeckt ein Segelboot vor der offenen Tür des Zimmers, dann horcht sie, ob Stimmen zu hören sind. Wenn die Terrassentüren offen stehen, kann sie Opa und Oma nebenan sprechen hören. Aber alles ist still. Sie liegt in ihrem Bett und überlegt, was der Traum bedeuten könnte. Mama sagt, was man träumt, das wird wahr. Der Opa ist zwar alt, das sagt auch Oma oft, manchmal verdreht sie die Augen dabei, aber erstens sieht er aus wie die Opas, die im Kirchenchor singen und zweitens hat sie ihn lieb. Auf keinen Fall will sie ihn tot küssen.

Außerdem ist er ganz anders als der Uhrenopa, vor dem sie sich gefürchtet hat und den alle eine Last nannten. Weil sie nicht genau wusste, was eine Last war, hatte sie Mama gefragt und war mit der Antwort zufrieden gewesen: »Etwas Schweres, das den Rücken krumm werden lässt.« Sie dachte an die alte Bäuerin im Dorf, die Waldhexe, die Holz sammelte, es in einem Bündel auf ihrem krummen Rücken nach Hause trug und damit dort Feuer machte. Aber den Uhrenopa trug niemand, der wohnte auch nicht mehr zuhause. Um ihn zu besuchen, mussten sie in einen anderen Ort fahren, dort das Auto auf dem Parkplatz vor einem Haus mit vielen Zimmern abstellen. Wenn sie aus dem Aufzug ausstiegen, roch es so, wie die Gewürzgurken, die Papa gern aß. »Hier stinkt‘s«, hatte Oma Henriette gesagt und sich die Nase zugehalten. Und sie auch.

In einem der Zimmer in dem großen Haus lag der Uhrenopa ganz allein auf einem Bett mit Rollen. Unter seinem Kopf viele Kissen, weil er ihn nicht mehr heben konnte. Eigentlich hieß er nicht Uhrenopa, sondern Uropa, das jedenfalls behauptete die Oma. Sonne nannte ihn aber wegen der Uhren so, die bei ihnen zuhause hingen. Wunderschöne Uhren mit einem geschnitzten Häuschen, vor dem bunte Vögel saßen. Immer, wenn eine Stunde vorbei war, ging ein Türchen auf und ein kleiner Vogel, der schönste von allen, kam heraus und rief: »Kuckuck, Kuckuck!« Dann wusste man, wie spät es war. Lange hatte sie darauf gewartet, dass er auch sang, aber das konnte er leider nicht. Auch bei dem Uhrenopa im Zimmer mit dem komischen Bett hingen zwei solcher Uhren. Sie waren das Schöne bei den Besuchen, und manchmal vergaß sie darüber das Schlimme. Das war sein Gesicht. Es war gar nicht richtig da. Dort, wo die Nase ist, bei allen, die sie kennt, war nur eine kleine Erhebung mit zwei dunklen Löchern, groß wie die Knöpfe an ihrer Jacke, die sie anstarrten. Darüber zwei Augen, die nichts mehr sehen konnten. Auf dem Kopf hatte er keine Haare wie Opa und Papa, nur einen dicken roten Strich, der quer über den Kopf lief. Er sah aus wie die Schnur, die sie über die Pakete banden. Dazu war er so dünn wie das Gespenst, das in dem Buch vorkam, aus dem die Oma manchmal vorlas. Und weil der Uhrenopa nicht aß, steckten sie ihm ein Röhrchen in den Mund. Daraus sollte er trinken, aber er trank nicht. Er spuckte das Röhrchen mitsamt der Limonade und allem aus, so dass man nass wurde, wenn man auf dem Bettrand saß. Und dann war da noch der Stock, aus dem sie Tierköpfe anguckten. Er hatte ihn geschnitzt, als er noch sehen konnte und zuhause gewohnt hatte. Das wusste sie von Oma Henriette. Der Stock war warm und ganz glatt. Am liebsten hätte sie ihn mitgenommen und in ihrem Zimmer gehabt, aber wenn der Uhrenopa eine Männerstimme hörte, griff er danach, schrie »verfluchter Bastard« und schlug damit um sich.

Eigentlich wollte sie deshalb nicht mehr dorthin, aber Oma Henriette hatte sie wieder einmal mit einem Eis danach überredet. Und weil sie bei Eis nicht nein sagen konnte, am liebsten Schokoladeneis mit bunten Streuseln obendrauf, war sie dann doch mitgegangen. Dieses Mal waren keine Kissen unter dem Kopf vom Uhrenopa, so dass man die rote Schnur nicht sah. Da war auch kein Trinkröhrchen und kein Stock mit den Tierköpfen. Der Uhrenopa lag ganz flach im Bett, die Augen, die nichts mehr sehen konnten, waren zu, sie hörte seinen Atem und dachte, er sei dabei einzuschlafen. Deshalb setzte sie sich zu ihm aufs Bett und sang das Schlaflied, das Mama jeden Abend für sie sang, damit sie endlich zur Ruhe kam. Und als das Lied zu Ende war, konnte der Uhrenopa plötzlich doch den Kopf heben. Er kam ganz nah zu ihr, und obwohl er etwas sagte, das sah sie, weil er die Lippen bewegte, hörte sie nichts. »Vielleicht träumt er«, dachte sie, drückte ihm, so wie das Mama mit ihr macht, damit sie besser schläft, einen Kuss auf die Stirn. Plötzlich machte der Uhrenopa die Augen auf, lächelte und dann lag er glatt und still, so wie vorher auf den vielen Kissen. Er schien zu schlafen, aber seine Augen standen offen. Dass man mit offenen Augen schlafen konnte, das war komisch. Sie wollte später die Mama danach fragen. Doch dazu kam es nicht, denn als sie zu Hause ankamen, sagte Oma Henriette zu Opa: »Das Kind hat ihn tot geküsst, den Alten.« Opa Konrad streichelte sie und sagte: »Gut gemacht, Sonne, er war ja einhundertunddrei, nun hat er endlich seine Ruhe zum Kuckuck nochmal, und wir auch.« Einhundertunddrei, das war mehr als sie zählen konnte, aber sie nahm sich vor, bald soweit zu kommen. Und was tot war, wusste sie, seit die getigerte Katze Fritzi gestorben war, nun im Garten unter dem Rosenstock lag und bis in alle Ewigkeit schlief. Dafür hatten sie gebetet und das Vergissmeinnicht auf das Grab gepflanzt.

Sie hört Schritte, die Tür geht auf und jemand ruft: »Aufwachen, Sonne!« Die Stimme erkennt sie auch mit geschlossenen Augen. Sie ist laut und dunkel, man kann sie gar nicht nicht hören, so wie die Trommel, auf der Mama Musik macht, solche, die sie von früher aus Afrika kennt. Die Stimme gehört Oma Henriette und schon ist die mit ihrem Kopf bei ihr, will wissen was sie geträumt hat. Oma will immer alles wissen, gibt keine Ruhe, bis sie etwas aus einem herausgefragt hat. Sonne weiß, Lügen ist so ziemlich das Schlimmste, was die Oma sich vorstellen kann. Während das braune Haar neben ihr sie kitzelt, überlegt sie, was sie sagen soll. Auf keinen Fall, dass sie nun auch Opa Konrad tot geküsst hat, das kann ja die Oma nicht wollen, also sagt sie: »Ich weiß es nicht mehr.« Dabei sieht sie schräg an ihr vorbei und hofft, dass ihr das nicht auffällt, und dass auch der, der alles sieht, vielleicht gerade nicht zu ihr aufs Bett guckt. Jedenfalls kann sie ihn hinter dem Wolkenbausch vor dem Fenster, und da ist nur ein einziger am blauen Himmel, nicht entdecken.

Man kann sehen, wenn jemand nicht die Wahrheit sagt. Das weiß sie, seit Mamas Augen, die einen immer aufmerksam, ohne zu wackeln ansehen, egal, was passiert, plötzlich anfingen hin und herzuschwimmen. Damals wollte sie wissen, warum ihre schokoladenbraune Oma nicht auch bei ihnen wohnte. »Sie ist tot«, hatte Mama gesagt. Aber sie ist gar nicht tot, das weiß Sonne von Oma Henriette. Vielleicht ist sie fortgezogen wie Onkel Walter und hat vergessen zu schreiben oder der Briefträger hat den Brief verloren, wie damals, als sein Rad bei Glatteis umkippte und die Briefe auf der Straße lagen.

Wenn jemand tot ist, weinen die Leute in der Kirche. Dazu singt der Chor so schöne Lieder. Das hat auch die Oma gemacht, als sie beide wegen der getigerten Katze Fritzi weinen mussten. Sie hat »heile, heile Segen« gesungen, sie ganz fest im Arm gehalten und versprochen, dass es eine neue Katze geben wird. Sonne ist gern in der Kirche, wegen der Lieder und dem Weihrauch, der so gut riecht, und auch ein bisschen wie Nebel aussieht. Der Pfarrer in seinem langen, weißen Mantel gefällt ihr. Oma sagt nicht Herr Pfarrer wie die meisten, sie nennt ihn Benjamin, und wenn er etwas vorliest, dann sind es immer spannende Geschichten. Beim Beten sprechen die Menschen leise, so wie Papa, als er zu Mama gesagt hat: »Wenn der alte Mann erst einmal tot ist, dann sind wir reich.« Das war, nachdem Mama und Papa das Reiterspiel im Bett gespielt hatten, bei dem sie so quietschen und manchmal auch lachen. Sonne hatte sich gewundert, denn der Uhrenopa war ja schon tot. Aber das musste der Papa bei seiner vielen Arbeit vergessen haben.

Die Insel

Konrad sitzt auf der Terrasse, direkt unter ihm der Hafen. Vorn die kleinen Boote der Fischer, dahinter die Ausflugsboote, das Wassertaxi ist viel größer als vor ein paar Jahren. Daneben schaukeln Jachten, manche noch leer, aber die meisten, das weiß er, liegen in der nächsten Bucht. Große Dinger mit hohen Masten und fantasievollen Namen, eines neben dem anderen, das ganze Hafenbecken voll, und davor aufgereiht wie die Perlen des Rosenkranzes, den er manchmal zur Hand nimmt, die Restaurants. Seine Augen bleiben an der hohen Mauer hängen, die jetzt den Hafen vom Meer trennt. Er versucht sich zu erinnern, wie es hier ausgesehen hat, als sie zum ersten Mal auf die Insel kamen, vor fünfzig Jahren – Fünfzig Jahre! Zum Kuckuck nochmal. So schnell können die Jahre doch nicht verflogen sein, und damit der größte Teil seines Lebens. Ein Jahr ums andere, und dann noch eines. Was war denn alles darin vorgekommen? Darüber will er nachdenken, aber erst einmal möchte er wissen, wie sie dazu kamen, etwas zu bauen, hier, wo ihm alles fremd ist, wo er die Leute nicht kennt, nicht versteht, wo es keinen Schnee gibt, keinen Wald, nicht einmal Tannenbäume. Und während er zu keinem Ergebnis kommt, fällt ihm ein, dass er bald Goldene Hochzeit haben wird. Demnächst. Wenn sie zurückfahren. Dann. Natürlich Henriette und er. Er sitzt, weiß selbst nicht, wie lange schon, starrt und denkt, dass er denkt, dabei kommt am Ende nichts raus. Er spürt die Sonne auf dem Gesicht, leckt die trockenen Lippen. Das Schaukeln der Fischerboote beruhigt ihn. Es geht eine leichte Brise, aber der neue Sonnenhut sitzt fest und schützt ihn. Als Henriette mit seinem Tee kommt und sagt: »Das blaue dort vorn ist das vom alten Rodrigo«, da weiß er mit einem Schlag wieder ganz genau, wie sie rausgefahren sind. Immer abends bei Dunkelheit haben sie die Netze ausgelegt, und am anderen Morgen in der Dämmerung den Fang an Land gezogen. Rodrigo und er. Da war er jung, noch bei Kräften, auch das weiß er genau und fühlt sich gut. Da war alles in Ordnung. Auch er. Das könnte er schwören. Fische über Fische waren das. Abends legten sie die auf den Grill, ein Genuss, und dazu noch selbst gefangen. Wie sie heißen, das fällt ihm nicht ein. Die Namen sind weg. Aber ab und zu bringt sie nun der junge Rodrigo, und noch immer schmecken sie so gut wie früher. Henriette will er nicht nach den Namen fragen. »Du schrumpfst ja«, hatte Henriette erst vor kurzem gesagt und auf den Strich am Türrahmen in der Diele gezeigt. Da waren eine ganze Menge solcher Striche von ihr, von ihm, von den Kindern, gelbe, grüne, rote und blaue. Seine waren schwarz.

Henriette ist einen halben Kopf größer als er, er muss zu ihr aufschauen. Ein Grund, warum er nie gern neben ihr steht. Immer hält er Abstand und hofft, dass man dann den Unterschied nicht bemerkt. Dass sie keine Pumps mehr trägt, seit er gesagt hat: »Kannst du nicht flache Schuhe tragen, ich komme mir wie ein Zwerg neben dir vor«, das hat er nicht vergessen. Auch ohne diese Absätze ist sie noch immer eine hübsche Frau, noch immer machen die Männer Späße mit ihr und sie mit ihnen. Manchmal weiß er das. Wie er zum ersten Mal mit ihr durch sein Dorf gegangen ist, das fällt ihm jetzt ein, gerade als das Wassertaxi zur Abfahrt seine Hupe ertönen lässt. Als hätte die Bewegung des Bootes auch in ihm etwas in Bewegung gebracht, spürt er wie damals die Blicke der Nachbarn, die hinter den zur Seite gerafften Gardinen glotzen. Der Konrad mit der Neuen. Wie damals sieht er die Frau des Bürgermeisters zwei Häuser weiter stehen und mit ihrem dauergewellten Haar und der Kittelschürze starren. Er erinnert sich an die Alte von gegenüber, die die Arme auf das Fensterbrett gestützt hat wie eine Keramik. Auch an den erstaunten Blick des Doktors, der gerade aus der Praxis kommt und »Guten Morgen, Herr Vögele« sagt, Henriette zunickt und lächelt. Er war es, der ein Jahr davor den Totenschein seiner Frau ausgestellt. Herzversagen stand da. Mit dreißig. Unfassbar! Er konnte es nicht glauben.

Seit Markus mit seiner jungen Frau und Sonne, diesem Kind, das sein Leben aufhellt, im selben Haus wie sie lebt, trägt Henriette nur noch Sachen, die man im Dorf und in der Umgebung nicht kaufen kann. Das liegt an der Schwiegertochter, dieser wunderschönen Person, deren Namen er immer vergisst. Dabei ist sie so freundlich zu ihm, wie selten jemand sonst, fragt, wie es ihm geht, legt ihm die Decke über die Beine und ihre dunkle, glatte Hand, die immer warm ist, auf den Arm. Sie riecht gut, ist viel jünger als Henriette, auch schöner, aber Konrad findet auch seine Frau noch immer hübsch. Er kann kaum glauben, dass sie bald achtzig sein soll, aber das hat sie vor kurzem gesagt.

Zum ersten Mal hat er sie im Uhrenmuseum in der Stadt gesehen. Dahin fuhr er von Zeit zu Zeit. Einige der Kuckucksuhren seiner Familie waren dort ausgestellt und er wollte wissen, ob damit alles seine Ordnung hatte. Da stand sie, groß und kerzengerade, mit dickem, braunem Haar, und lachte, als die Kuckucksuhr, die sein Großvater gebaut hatte, fünf Mal schlug. Lachte genauso, wie sie noch heute lachen kann. Das war bei ihm eingeschlagen wie der Blitz in die große Eiche neben der Kirche und hatte in der Enge seines Körpers Platz geschaffen. Platz für eine neue Frau. Er, ein Mann, allein mit einem Kind und einem Familienbetrieb. Ein einziges Wirrwarr! Bloß daran zu denken braucht er jetzt, schon kommt alles in seinem Kopf durcheinander. Er will eine Weile nichts damit zu tun haben und isst die Apfelspalten, die Henriette für ihn auf den Tisch gestellt hat.

»Ein Jahr Trauer ist genug«, das hatte der Pfarrer gesagt, wenn er in die kleine Kirche des Dorfes zur Sonntagsandacht kam. Und der war für Konrad eine Autorität wie der Doktor und der CDUVorsitzende. Dass auch Henriette einen Sohn hatte, das störte ihn nicht. Damals jedenfalls nicht. Er war froh, dass sein Sohn Anton nun einen Bruder bekam. Erst später, als der Kerl vollkommen aus der Art schlug, und ein Geschrei bei jeder Kleinigkeit anfing, begann er zu zweifeln. Konrad spürt wie die Hitze in ihm aufsteigt, als ihm das wieder einfällt. Sogar die Worte, die dieser Sohn voller Verachtung ausgespuckt hatte, sind da: »Aus der Einöde ins Leben.« Dabei hatte er den Kopf, mit Haaren, so lang wie eine Frau, in den Nacken geworfen und war in eine große Stadt gezogen. Weit weg und das war gut. Bloß kein Streit! Keine lauten Worte! In Konrad ist eine große Aufregung, er greift nach dem Tee in der Flasche mit dem Trinkverschluss. »Nuckelflasche«, denkt er und stellt sie beiseite, ohne zu trinken.

Und dann war Markus auf die Welt gekommen. Wenn er genau nachdenkt, dann weiß er, dass es früher auch mit ihm Schwierigkeiten gegeben hat, aber das musste lange her sein, war irgendwie vergessen. Jetzt lebte er mit ihnen im Haus, auch die junge Frau, deren Namen er immer wieder vergisst, die so schön ist, dass viele stehenbleiben und sich nach ihr umsehen. Und Jua, dieses Kind, sein Sonnenschein. Am liebsten möchte er sie immer um sich haben, alles an ihr ist warm und hell. Bei dem Gedanken, dass er sie einmal nicht mehr sehen kann, laufen ihm Tränen über die Wangen. Erst als sie von der leichten Brise getrocknet sind, spürt er, wie es in seiner Brust eng wird bei dem Gedanken, es könne ihr jemand wehtun. Nur wenig später denkt er an den Stock seines Vaters, den Stock mit den Tierköpfen.

Eine Weile kreisen seine Gedanken um diesen Stock, er sieht die geschnitzten Tierköpfe, sieht sich und den Vater mit dem Schnitzmesser in der kräftigen Hand im Hof, beide auf einem Holzschemel nebeneinander. Er hört das Rauschen des Windes, das Kläffen des Köters vom Nebenhaus, sieht die Späne fliegen. Der Vater, ein großer, stattlicher Mann, der mit dem Schnitzmesser umgehen kann wie niemand sonst und auch weiß, wie man Uhren baut. Er sagt: »Schau genau hin, dann kannst du das später.«

Und dann sieht er eine Szene. »Vielleicht ein Film«, denkt Konrad. Es läutet. Eine Frau und ein Junge gehen zur Tür. Dort steht eine Gestalt in einem vor Schmutz starrenden, langen Mantel, darunter klobige, halb zerfetzte Schuhe. Er stützt sich auf eine dieser altmodischen Krücken. Das Bild verursacht ihm Gänsehaut, die durch die Brise auf der Terrasse noch stärker wird. Er schließt die Augen. Nach einer Weile erscheint hinter seinen geschlossenen Augen der Kopf des Mannes, glattrasiert mit einer Narbe, die sich wie eine rote Kordel quer von links nach rechts über den Schädel zieht. Er blickt in ein Gesicht mit tiefliegenden Augen, einem Nasenstummel, einem von dunklen Barthaaren umrahmten Mund, der fest verschlossen ist. Niemand sagt etwas, darauf wartet der Mann wohl, aber der Junge starrt nur auf diese Gestalt. Die Frau neben ihm schreit auf, dann streckt sie die Arme aus und sagt: »Willkommen zu Hause.«

Was danach passiert, weiß Konrad nicht mehr, ein Filmriss. Später stehen die drei in der Küche, auf dem Herd brodelt etwas, vielleicht Hühnersuppe. Die Frau hat den Mantel des Mannes über dem Arm und die Gestalt, die nur aus Haut und Knochen besteht, guckt sich um, als suche sie etwas, und sinkt dann auf einen Stuhl. Die anderen beiden bleiben am Küchentisch stehen, auf dem zwei tiefe Teller stehen. Auch zwei Löffel liegen da. Sogar an die Gravur am unteren Rand erinnert sich Konrad jetzt. Ein F und ein V. Die Frau sagt: »Gib deinem Vater die Hand.« Und bevor er sich an die Worte des Jungen erinnern kann, erinnert sich Konrad an das Erstaunen des Jungen und dann an dessen Abscheu, die knochige Hand mit dem Dreck unter den Fingernägeln anzufassen. Doch dann sagt der: »Das ist nicht mein Vater. Mein Vater hatte schwarze Locken und keinen Bart, er hatte freundliche Augen und geschickte Hände, er war sauber und stank nicht. Stark war er und brauchte keine Krücke. Zu dem da,« der Junge zeigt mit dem Finger auf den Mann am Tisch, »werde ich nicht Vater sagen.« Der Fremde rührt sich nicht bei den Worten des Jungen, aber die Frau gibt ihm eine kräftige Ohrfeige. Konrad greift sich an die Wange und spürt, dass sie heiß ist, sieht eines der großen Segelboote, die seit einigen Jahren zu den einsamen Stränden im Süden der Insel Ausflugsfahrten machen. Darauf Frauen im Bikini und mit großen Strohhüten, Männer in diesen halblangen Hosen. Es läuft gerade aus und bald guckt nur noch das Segel über die Hafenmauer. Als sich die Wellen gelegt haben und die kleinen Fischerboote nicht mehr hin- und herschaukeln, denkt er wieder an den Film. Da taucht ein Zimmer auf, in dem Kuckucksuhren, wie bei ihnen zuhause, hängen. Auf einem Sessel sitzt der Mann, der jetzt keinen Bart mehr hat, auch keine Krücke. Er trägt eine Cordhose und ein kariertes Hemd, alles sauber. Aber der Kopf sieht noch immer zum Fürchten aus mit der roten Narbe und dem Nasenstummel. Auch der Stock mit den Tierköpfen ist da. Der Junge kommt ins Zimmer, er trägt etwas, Konrad kann es nicht erkennen, aber er sieht, wie der Mann, zu dem der Junge nicht Vater sagen will, aufsteht, mit dem Stock auf ihn zugeht und schreit: »Du Bastard, verschwinde oder ich schlage dich tot!«

Es gibt keine weitere Szene. Konrad zittert. Er versucht die Hände stillzuhalten. Sie wollen nicht. Dafür erscheint nach einer Weile ein Bildschirm, wie er bei ihnen im Haus hängt. Darauf etwas aus einem der Krimis, die Henriette gern zur Ablenkung guckt. Zwei hohe Türme stürzen ein, Flammen und Rauch. Dann fällt ihm ein, zum Kuckuck nochmal, das war gar kein Krimi wie sie geglaubt hatten, sondern eine Übertragung aus Amerika. Es war tatsächlich passiert, das mit den Türmen, in New York. Und alles hin, alles tot. Und ehe er den Gedanken greifen kann, ob das, was er vorher gesehen hat, ebenfalls kein Film war, sondern auch wirklich geschehen ist, wird das Zittern stärker und läuft über den ganzen Körper. Er kann gar nicht aufhören damit und wünscht sich nichts sehnlicher, als dass jemand käme, um ihn zu trösten. Und tatsächlich kommt Henriette auf die Terrasse, sieht ihn sitzen und zittern, die Arme über dem Kopf, als wolle er sich schützen. Und als sie bei ihm ist und fragt, was denn los sei, da umklammert er sie und schluchzt, drückt seinen Kopf in ihren Bauch, sagt, als das Zittern nachlässt: »Geh nicht fort, Jette, bitte, geh' nicht!« Obwohl sie niemandem mehr erlaubt hat, seit sie mit ihm lebt, den Namen ihrer Kindheit und Jugend zu benutzen, weil es manchmal besser ist, die Dinge am Ort des Geschehens zurückzulassen, verbessert Henriette ihn nicht. Seine Verzweiflung rührt etwas in ihr an. Sie wiegt ihn wie ein Kind und fühlt sich ihm so nah wie seit Jahren nicht mehr. Das tut sie noch, als Markus und Sonne vom Schwimmen zurückkommen. Als das Kind seinen Opa weinen und zittern sieht, fällt ihr der Traum ein. Sie drängt sich zwischen die beiden Alten, krabbelt auf seinen Schoß, küsst ihn auf Stirn und Wangen, auch die Tränen küsst sie fort und sagt: »Es war doch nur ein Traum, Opa, dich werde ich niemals tot küssen wie den Uhrenopa. Versprochen!«