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Volker Spierling

Arthur Schopenhauer zur Einführung

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Junius Verlag GmbH

Stresemannstraße 375

22761 Hamburg

www.junius-verlag.de

© 2002 by Junius Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: Florian Zietz

Titelfoto: Archiv Gerstenberg

E-Book-Ausgabe Januar 2019

ISBN 978-3-96060-086-2

Basierend auf Printausgabe

ISBN 978-3-88506-631-6

4., korrigierte Aufl. 2015

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Inhalt

1.Einleitung

Der Pessimist in Frankfurt

Ein einziger Gedanke

2.Wegbereitende Schriften

Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde

Ueber das Sehn und die Farben

3.Das Hauptwerk

Die Welt als Wille und Vorstellung

Reformulierung des Hauptwerks: Philosophische Vorlesungen (Nachlass)

4.Ergänzende Schriften

Ueber den Willen in der Natur

Die beiden Grundprobleme der Ethik

Parerga und Paralipomena

5.Nachlass

Reisetagebücher

Kritische Auseinandersetzungen und Randschriften zu Büchern

Philosophische Vorlesungen

Manuskripte

Briefe

6.Schlussbetrachtung

Die große Umwertung: Wille und Intellekt

Die Welt als Mensch

Anhang

Anmerkungen

Literaturhinweise

Zeittafel

Über den Autor

Schopenhauers Werke werden nach der Ausgabe von Arthur Hübscher zitiert, worüber die Literaturhinweise im Anhang Rechenschaft geben. Dort werden auch die verwendeten Siglen erklärt. Bei den Zitatangaben folgt der Sigle noch, soweit dies möglich und sinnvoll ist, die Angabe des Kapitels oder Paragraphen, sodass auch andere Schopenhauer-Ausgaben mit relativ geringem Aufwand verwendet werden können. Die Angabe »W II, Kap. 41, 540« z.B. bedeutet: Die Welt als Wille und Vorstellung, Band II, Kapitel 41, S. 540.

1. Einleitung

Der Pessimist in Frankfurt

»Schopenhauer, so erzählt man, ließ sich eines Tages überreden, einen Ausflug in den Taunus mitzumachen. Dabei geschah es, daß ein Vogel sich nicht so benahm, wie sich’s geziemt hätte – und daß ausgerechnet auf der blütenweißen Weste eines Gastes ein garstiger Klecks zu sehen war.

›Sehen Sie‹, spottete Schopenhauer, ›wie recht ich mit meiner Auffassung habe, daß wir in der schlechtesten aller denkbaren Welten leben?‹

›Im Gegenteil‹, sagte der so schmählich Getroffene. ›Ich finde unsere Welt immer noch leidlich. Stellen Sie sich vor, die Kühe flögen in der Luft herum!‹«1

Die Anekdote, die in der Nähe von Frankfurt am Main spielt, wo Schopenhauer von 1833 bis zu seinem Tod 1860 lebt, ist vermutlich frei erfunden. Sie trifft aber etwas Charakteristisches: Schopenhauers Pessimismus, der seit eh und je als maßlos übertrieben empfunden wird und zum Lächerlichmachen – oder einer anderen Art der Abwehr – geradezu herausfordert.

In unserer Anekdote bleibt die gute Laune noch erhalten. Spott und Schmähung bringen die Stimmung nicht zum Kippen. Es fehlt allerdings nicht viel und Schopenhauer selbst stünde als der eigentliche freche Vogel da, der blütenweiße Westen mit trübseligen Reden vollkleckst und den Spaß aller verdirbt.

Schopenhauers Mutter, die Schriftstellerin Johanna Schopenhauer, hat denn auch tatsächlich mit ihrem Sohn wegen dessen übellaunigen Schwarzsehens heftige Auseinandersetzungen. In Weimar 1807 wirft sie ihm vor, er vergraule mit seinen missmutigen und rechthaberischen Reden, die zudem keinen Widerspruch dulden, die illustren Gäste ihres Salons. Nach dem Tod ihres Mannes, des reichen Großkaufmanns Heinrich Floris Schopenhauer, im Jahr 1805 lädt Johanna Schopenhauer große Persönlichkeiten der Stadt zum Tee ein, zu denen zum Beispiel Goethe und Wieland gehören. Diese Gäste müssen es sich gefallen lassen, von dem jungen Erwachsenen über den wirklichen Zustand der Welt ausführlich belehrt zu werden. Schopenhauer, der 1788 in Danzig geboren wurde, ist zu diesem Zeitpunkt neunzehn Jahre alt. Er holt gerade nach einer abgebrochenen Kaufmannslehre das Abitur nach, um die vom Vater verworfene Gelehrtenlaufbahn doch noch einzuschlagen.

Die Mutter wehrt sich gegen die Eingriffe des Sohnes in ihre Belange und zieht ihm in ihren Briefen deutliche Grenzen. Am 13. Dezember 1807 schreibt sie: »An meinen Gesellschaftstagen kannst du abends bei mir essen, wenn du dich dabey des leidigen Disputirens, das mich auch verdrießlich macht, wie auch alles Lamentirens über die dumme Welt und das menschliche Elend enthalten willst, weil mir das immer eine schlechte Nacht und üble Träume macht und ich gern gut schlafe.« (BW I, 145) In einem anderen Brief heißt es: »Genug, Arthur, du bringst die Menschen gegen dich auf ohne Noth, sie mißhandeln dich dafür, das ist in der Regel und geschieht dir gewiß, du magst unter Philistern oder schönen Geistern leben; niemand wird ein Betragen wie das deinige dulden und du mußt entweder dich ändern oder du gehst zu Grunde. Du wirst zu Grund und Boden getreten werden.« (BW I, 141)2

Schopenhauer eckt mit seinen Provokationen und seinem »barschen Naturell«3 allenthalben an. Ein Beispiel hierfür sind seine Zusammenstöße mit deutschen Künstlern und Gelehrten 1819 im Café Greco in Rom. Der erste Band des Hauptwerks Die Welt als Wille und Vorstellung ist soeben erschienen, und Schopenhauer befindet sich auf einer einjährigen Italienreise. Ein Zeitzeuge erinnert sich: »Nur der ›Philosoph‹ Arthur Schopenhauer […] bildete mit seinen mephistophelischen Witzen eine Zeitlang ein störendes Element unter den Genossen [im Café Greco]; als er sich aber einmal zu der Behauptung verstieg: die deutsche Nation sei von allen die dümmste, habe aber gleichwohl ein Übergewicht über die andern erlangt, weil sie gar keine Religion besitze, da erhob sich unter den Anwesenden ein Sturm der Entrüstung und mehrere Stimmen drangen darauf: ›laßt uns den Kerl hinauswerfen‹. Seitdem hütete sich der ›Philosoph‹ vor dem Café Greco.«4

1833 findet Schopenhauer in Frankfurt einen »guten Ort für eine Eremitage«. Eine schwere Zeit liegt hinter ihm: das Scheitern der Universitätskarriere in Berlin, wo er sich 1820 habilitierte (Desinteresse der Studenten), seine völlige Nichtbeachtung (Einstampfung des Hauptwerks zu Altpapier), Erkrankungen (Ohrenleiden, Depressionen), Misserfolge (verlorener Prozess wegen Körperverletzung der Näherin Caroline Marquet), Absagen von Verlagen (Übersetzungspläne), finanzielle Verluste (Schmälerung des väterlichen Erbes), enttäuschte Hoffnungen (Liebesbeziehung zur Chorsängerin und Schauspielerin Caroline Richter).

Für die Wahl der »cholerafreien« Stadt Frankfurt mit ihren damals etwa 60 000 Einwohnern gibt es mehrere gute Gründe. Für die Stadt, eine der bedeutendsten und wohlhabendsten Deutschlands, sprechen die Bibliotheken, die Museen, die abwechslungsreichen kulturellen Angebote, aber auch die schöne Gegend, die einladenden Kaffeehäuser, das gute Wasser sowie, von Schopenhauer eigens erwähnt, ein »geschickter Zahnarzt«. Hier will er sich ins Privatleben zurückziehen, von seinem väterlichen Erbe leben und sich ausschließlich seiner philosophischen Schriftstellerei widmen. Seiner neun Jahre jüngeren Schwester Adele teilt er mit: »Frkft ist a comfortable place.« Nach einem Gedankenstrich fügt er als Schlusssatz hinzu: »Menschen sind mir nichts, nirgends.« (B, 152)

Mit den Frankfurtern kann Schopenhauer wenig anfangen, ebenso wenig wie sie mit ihm – zunächst. 1838 schreibt er in einem Brief: »Für die Frankfurter [ist] Frankfurt die Welt, was draußen liegt ist aus der Welt. Es ist eine kleine, steife, innerlich rohe, Municipal-aufgeblasene, bauernstolze Abderiten-Nation, der ich mich nicht gern nähere. Ich lebe als Einsiedler und ganz allein meiner Wissenschaft.« (B, 175)

Schopenhauer nennt die Frankfurter gern die »Abderiten dieses Abdera«, also etwa beschränkte Kleinbürger oder Schildbürger, und fühlt sich unter ihnen als herausragender Demokrit. Beim Spaziergang erregt er sich laut hörbar über die »Klötze«, die »nicht rechts ausweichen wollen! Jeder Engländer hält sich stets rechts.« Auch ahmt er den schwerfälligen Gang der »Klötze« virtuos nach und gibt komplizierte gehirnphysiologische Erklärungen ihrer Gliederbewegungen.5 Unterdessen hält Schopenhauer selbst während seiner raschen Spaziergänge lebhafte, laut gestikulierende Selbstunterhaltungen und gibt seinerseits den Frankfurtern genügend Stoff für Klatsch und Parodie.

Er lebt in diesen Jahren abseits von den Zentren der akademischen Wissenschaft als »privatisirender Fremder«, zurückgezogen und inkognito, bisweilen identifiziert als unbekannter Sohn der bekannten Schriftstellerin Johanna Schopenhauer, deren 24 Bände umfassende Sämtliche Schriften gerade erschienen sind.6 Äußerlich erscheint er als wunderlicher Sonderling, gekleidet in altmodischer Tracht, stets begleitet von seinem Pudel; innerlich fühlt er sich als ein Fremder unter Fremden in einem ihm fremden Zeitalter: »Mein Zeitalter und ich passen nicht für einander.« (HN IV 1, 216)

In Frankfurt schreibt Schopenhauer die meisten seiner Werke, die alle dem Gedankenkreis des ersten Bandes der Welt als Wille und Vorstellung (1819) verpflichtet bleiben: Ueber den Willen in der Natur (1836; Naturphilosophie, Metaphysik), Die beiden Grundprobleme der Ethik (1841), den zweiten Band der Welt als Wille und Vorstellung (1844) und Parerga und Paralipomena (1851, 2 Bde.; kleine philosophische Schriften). Nicht zu vergessen die wichtige zweite, sehr verbesserte und erweiterte Auflage seiner Schrift Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde (1847; Erkenntnistheorie), die aus der Dissertation von 1813 hervorgeht.

Im zweiten Band der Welt als Wille und Vorstellung und in den Parerga und Paralipomena treibt Schopenhauer seinen Pessimismus auf die Spitze: »Diese Welt [ist] die schlechteste unter den möglichen […] wäre sie aber noch ein wenig schlechter, so könnte sie schon nicht mehr bestehn.« (W II, Kap. 46, 669) In den »Aphorismen zur Lebensweisheit«, die in den Parerga und Paralipomena enthalten sind und die wesentlich dazu beitragen, dass Schopenhauer nach 1850 berühmt wird, heißt es: »Es ist wirklich die größte Verkehrtheit, diesen Schauplatz des Jammers in einen Lustort verwandeln zu wollen und, statt der möglichsten Schmerzlosigkeit, Genüsse und Freuden sich zum Ziele zu stecken; wie doch so Viele thun. Viel weniger irrt wer, mit zu finsterm Blicke, diese Welt als eine Art Hölle ansieht und demnach nur darauf bedacht ist, sich in derselben eine feuerfeste Stube zu verschaffen. Der Thor läuft den Genüssen des Lebens nach und sieht sich betrogen: der Weise vermeidet die Uebel.« (P I, Kap. V, 433)

In den Frankfurter Werken nimmt Schopenhauer kein Blatt mehr vor den Mund. Mit stärkster Heftigkeit prangert er die größte Sünde des Materialismus, ja der Philosophie überhaupt an, die Kant-Vergessenheit: »Es ist unerträglich, wie heut zu Tage die Schweine in den Tag hinein naturalisiren, ohne alle Ahndung der Kantischen Transscendentalphilosophie.« (B, 382) Und die Hasstiraden gegen seinen Antipoden Hegel, dem er an der Berliner Universität die Schau nicht stehlen konnte, kennen keine Grenzen mehr: »Philosophie des absoluten Unsinns« (N, 7), »Afterphilosophie« (W II, Kap. 38, 505), »Schauplatz des Ballets der Selbstbewegung der Begriffe« (G, §34, 123).

Im letzten Lebensjahrzehnt bis zu seinem Tod 1860 genießt Schopenhauer seine wachsende Bedeutung und internationale Anerkennung. Die Huldigungsschreiben und Huldigungsbesuche kommentiert er mit: »Der Nil ist bei Kairo angelangt.« (B, 374) Richard Wagner schickt ihm beispielsweise 1854 den Ring des Nibelungen, versehen mit der handschriftlichen Widmung »Aus Verehrung und Dankbarkeit«. Im selben Jahr veröffentlicht Julius Frauenstädt seine Briefe über die Schopenhauer’sche Philosophie.7 Die philosophische Fakultät der Universität Leipzig schreibt 1856 eine Darlegung und Kritik der Schopenhauerschen Philosophie als Preisaufgabe aus.8 Francesco de Sanctis veröffentlicht 1858 in Italien seinen Dialog Schopenhauer e Leopardi.9 1859 überredet ihn mit viel Charme die Bildhauerin Elisabeth Ney, »eine schöne junge Dame«, eine Büste von ihm machen zu dürfen, was vier glückliche Wochen dauert: »Sie arbeitet den ganzen Tag bei mir. Wenn ich vom Essen komme, trinken wir zusammen Kaffee, sitzen beieinander auf dem Sopha, da komme ich mir dann vor wie verheiratet.«10 – Schopenhauer lebt jetzt gern und wünscht sich, neunzig Jahre alt zu werden.

Zur Herbstmesse 1856 wird in Frankfurt eine große Seltenheit in Europa gezeigt, ein lebender junger Orang-Utan. Für Schopenhauer geht damit ein lang gehegter Wunsch in Erfüllung. Er besucht das »melancholische Thier« fast täglich und kann sich von dessen Anblick nur schwer losreißen. Schon 1851 hatte er in den Parerga und Paralipomena spekuliert, dass der Mensch biologisch gesehen »in Asien vom Pongo (dessen Junges Orang-Utan heißt)« (P II, §91, 163) abstamme. Seinem Gesprächspartner Carl Georg Bähr berichtet er, das junge Tier habe ihn umarmt, und er führt ihm die Umarmung pantomimisch vor.11

1856 verschönert Schopenhauer seine Wohnung am Mainkai, die eher den Eindruck eines Absteigequartiers macht, indem er eine soeben erworbene tibetanische Buddhastatue im Wohnzimmer aufstellt. Mit Freude und Stolz schreibt er an Frauenstädt: »Da werden die Besucher, die ohnehin meist mit heiligem Schauder und konsiderablen Manschetten eintreten, gleich merken, wo sie sind, in diesen heiligen Hallen. Käme doch der Herr Pastor Kalb aus Sachsenhausen, der von der Kanzel gekeucht hat, ›daß gar der Buddhaismus eingeführt werde in christlichen Landen.‹« (B, 390; vgl. B, 394)

Mittags und abends isst Schopenhauer im Hotel »Englischer Hof«. Stets begleitet ihn sein Pudel, den er in der Öffentlichkeit gern provokativ »Mensch« ruft. Der Hund ist ihm Intelligenz ohne menschliche Verstellung, sein Verhalten erscheint ihm »durchsichtig wie ein Glas«12. Gut beglaubigt ist folgende Anekdote, die zu Schopenhauers Lebzeiten in Frankfurt die Runde macht:

»Einst kam ein Reisender an unsere Tafel und erzählte ein neu vorgefallenes allerliebstes Stücklein von einem Hunde. Schopenhauer hörte mit höchster Spannung die Erzählung an und sagte: Ja, was Sie da mitteilen, ist gewiß wahr. Ich erkenne darin meine Hunde. Sie stehen über den Menschen. Ich habe […] einen Pudel, und wenn der etwas Garstiges thut, so sage ich ihm: pfui, du bist kein Hund, du bist nur ein Mensch. Ein Mensch, ein Mensch! Pfui, schäme dich. Dann schämt er sich und legt sich in seine Ecke. Alles schwieg und Schopenhauer grinste fürchterlich. […] Da sagte ich ihm mit lauter Stimme: Herr Doktor, einem solchen, der seinem Hund, wenn er ihn beschimpfen will, Mensch sagt, einem solchen kann man, wenn man ihn ehren will, sagen: Du Hund […]. Schopenhauer sagte: Ja, ich habe nichts dagegen.«13

Ein einziger Gedanke

Der Philosophie Schopenhauers liegt ein einziger Gedanke zugrunde. Der Titel des Hauptwerks – Die Welt als Wille und Vorstellung – formuliert ihn kurz und bündig. Er besagt, dass »diese Welt, in der wir leben und sind, ihrem ganzen Wesen nach, durch und durch Wille und zugleich durch und durch Vorstellung ist« (W I, §29, 193). Dieser Gedanke wird im Folgenden kurz resümiert und in den späteren Kapiteln, die die einzelnen Werke behandeln, ausgeführt und vertieft.

Mit »Welt als Vorstellung« meint Schopenhauer, dass die unermessliche Außenwelt ihr »Dasein« nur im Bewusstsein erkennender Wesen hat. Die Welt des Menschen ist eine Welt des Bewusstseins. Vorstellungswelt heißt Bewusstseinswelt. Diese Welt ist vordergründig, sie ist Erscheinung, nicht Wesen. Mit »Welt als Wille« ist das gemeint, was die Welt darüber hinaus noch ist, insofern sie nicht Vorstellung ist. Unabhängig von der Vorstellung ist die Welt an sich betrachtet Wille. Der Wille ist das Wesen der Welt. Der eine Gedanke besagt also: Die Welt ist Vorstellung (Erscheinungswelt) und zugleich Wille (Wesen oder Ding an sich). Diesem Gedanken, dessen Entfaltung die Philosophie Schopenhauers ausmacht, ist von Anfang an ein pessimistischer Grundzug eingeschrieben. Die Welt ist voller Übel und nicht in Ordnung. »Alles Leben [ist] Leiden.« (W I, §56, 366)

Je nachdem von welchem Gesichtspunkt aus der eine Gedanke betrachtet wird, zeigt er sich als Erkenntnistheorie, Metaphysik, Ästhetik oder Ethik. Schopenhauers zweibändiges Hauptwerk gliedert sich dieser Einteilung entsprechend je Band in vier Bücher (Teile). Dabei werden die vier Bücher des ersten Bands jeweils durch die vier Bücher des zweiten Bands ergänzt. Auch Schopenhauers übrige Werke lassen sich thematisch einem oder mehreren dieser vier Bücher zuordnen und als zusätzliche Ergänzungen des Hauptwerks lesen.

Methodisch – aber auch inhaltlich – gesehen stellt der eine Gedanke einen »organischen« Zusammenhang, ein »Ganzes« dar. Kein Teil soll herausgebrochen und verabsolutiert werden. Jeder Teil wird durch Standortwechsel von den übrigen vervollständigt und relativiert. Um einen Teil verstehen zu können, muss bereits das Ganze verstanden worden sein, weshalb Schopenhauer ein zweimaliges Lesen seines Hauptwerks fordert.

Die Erkenntnistheorie (1. Buch) thematisiert mit ihrer »idealistischen Grundansicht«, dass uns nur das Bewusstsein unmittelbar gegeben ist. Keiner kann aus seinem Bewusstsein heraus, um zu sehen, was die Dinge unabhängig vom Bewusstsein sind. Diese Urbedingung der Erkenntnis, diese prinzipielle Erkenntnisschranke gilt es erkenntniskritisch – auch in der Metaphysik – in Rechnung zu stellen. Schopenhauer richtet sich mit folgenden Worten an seine ungläubigen Studenten: »Sie meinen, die Dinge der Welt wären doch da, auch wenn sie niemand sähe und vorstellte. Aber suchen Sie nur einmal sich deutlich zu machen was für ein Dasein der Dinge dies wäre. Sobald Sie das versuchen stellen Sie immer die Anschauung der Welt in einem Kopfe vor, nie aber eine Welt außer der Vorstellung. Sie sehn also daß das Seyn der Dinge in ihrem Vorgestelltwerden besteht.« (VN I, Kap. 1, 126)

Aber nicht nur das Dasein der ganzen uns bekannten Welt hängt von dem erkennenden Subjekt ab, sondern auch Raum, Zeit und Kausalität als ihre grundlegendsten Formen. Raum, Zeit und Kausalität sind keine Bestimmungen des Dings an sich, sondern gehören nur seiner Erscheinung an. Sie sind apriorische Formen des Erkennens. Schopenhauer nennt sie Gestalten des »Satzes vom Grunde« oder auch »Gehirnfunktionen«. Die »Vorstellungsmaschine in meinem Hirnkasten«, sagt er, projiziert mit ihrer Hilfe eine räumlich, zeitlich und kausal strukturierte, gegenständlich anschaubare Außenwelt. Diese Projektion ist die Welt als Vorstellung (abhängig vom Satz vom Grund).

Die Welt als Vorstellung ist in einem fundamentalen Sinn ursprünglich Anschauung (wobei diese Anschauung etwas im Intellekt Konstituiertes ist), dann erst – darauf aufbauend und hinzukommend – Begriff. Alle tiefe Erkenntnis wurzelt in der anschaulichen Auffassung der Dinge. Die Anschauung ist die Quelle, die Basis aller begrifflichen Erkenntnis. Oder, wie Schopenhauer auch sagt, sie ist für das System aller unserer Gedanken das, was in der Geologie der Granit ist, der letzte feste Boden, der alles trägt und über den man nicht hinaus kann. »Begriffe und Abstraktionen, die nicht zuletzt auf Anschauungen hinleiten, gleichen Wegen im Walde, die ohne Ausgang endigen.« (W II, Kap. 7, 89; vgl. W II, Kap. 6, 69)

Die pessimistische Weltsicht wurzelt bereits in der idealistischen Grundansicht. In ihr zeigt sich schon die »Nichtigkeit des Daseyns«, seine Relativität und Endlichkeit. Schopenhauer vergleicht die Welt als Vorstellung, auch wenn sie empirisch gesehen real ist, mit dem Traum.

In der Metaphysik (2. Buch) wird die Welt als Vorstellung einer Interpretation unterzogen. »Die ganze Natur ist eine große Hieroglyphe, die einer Deutung bedarf.« (VN II, Kap. 2, 64) Den Schlüssel zu ihrer Entzifferung liefert die Erfahrung des je eigenen Leibs. Im Gegensatz zu allen anderen Objekten der Welt als Vorstellung ist er nicht nur als Vorstellung, sondern zugleich unmittelbar noch als etwas ganz anderes, als Wille, gegeben. Schopenhauer überträgt diese doppelte Leiberfahrung – Willensseite und Vorstellungsseite – auf die gesamte Natur. Er unterlegt in seiner hermeneutischen Metaphysik der Welt als Vorstellung einen Willen, der der eigenen Willenserfahrung (lediglich) ähnlich ist. Schopenhauer sagt auch, das »Selbstbewußtseyn« des eigenen Wollens wird der »Ausleger des Bewußtseyns anderer Dinge«. »Demzufolge müssen wir die Natur verstehn lernen aus uns selbst, nicht umgekehrt uns selbst aus der Natur.« (W II, Kap. 18, 219)

Der Wille ist (mit erkenntniskritischen Einschränkungen) das Ding an sich, das Wesen der Welt. Durch die Ausdehnung der eigenen Willenserfahrung zur im Ganzen nicht mehr erfahrbaren Welt als Wille erhält der Terminus »Wille« eine neuartige Begriffsbestimmung, die die herkömmliche aufhebt. Im Kontext des Systems bedeutet »Wille« blinder Lebensdrang, zielloses Streben, aber z.B. auch Urquelle aller Realität, Materie, Schmerz, Schuld. Der Wille ist Wille zum Leben, das ewig aus sich selbst quellende Leben. Er wird gedeutet als etwas Nicht-Göttliches, Nicht-Rationales, Nicht-Bewusstes.

Aus dem Blickwinkel der metaphysischen Seite der Welt wird die Bewusstseinswelt, die Welt als Vorstellung nur noch als zweitoder gar drittrangig aufgefasst. Schopenhauer setzt in seiner Metaphysik 1. den Willen als Ding an sich als etwas völlig Ursprüngliches, 2. den Leib als bloße sichtbare Objektivation des Willens und 3. die Erkenntnis als bloß organische Werkzeugfunktion eines Teils des Leibes, des Gehirns. Die Welt als Vorstellung – so vorgestellt – ist ein »Gehirnphänomen«.

Schopenhauer revolutioniert die traditionelle Rangordnung von Intellekt und Wille. Die europäische Tradition sieht zwar im Menschen ein widersprüchliches Wesen, das den Konflikt von Vernünftigkeit (Geist) und Triebhaftigkeit (Leib) austragen muss. Doch gilt der Geist oder die Vernunft des »animal rationale« nicht nur dem Rang, sondern auch der Stärke nach als das maßgebende Prinzip. Im Aufstieg zum Göttlichen oder in der Ausrichtung auf die ewigen Werte vermag der Mensch seine Triebe zu beherrschen und im Einklang mit der ontologisch vorgegebenen Seinsordnung zu stehen.

Schopenhauer bricht mit diesem rund 2500 Jahre währenden Menschenbild. Der Intellekt ist nicht der ursprüngliche Ort des Willens. Der Wille als Ding an sich ist die bewusstlose Substanz des Menschen, der Intellekt das bewusste Akzidens. Das Rationale ist von Grund auf von etwas Nicht-Rationalem bedingt und abhängig. Die Welt als Ding an sich ist ein großer Wille, der nicht weiß, was er will. Der Intellekt ist nur ein Werkzeug des Willens, der mit ihm Dasein, Wohlsein, Fortpflanzung, d.h. Leben will. Der Mensch wird durchgängig von diesem »universellen Lebensdrang« angetrieben und determiniert. Der Wille als die Grundkraft des Lebens ist nicht beherrschbar.

Das Wesen der Welt, also der blinde Wille zum Leben, ist mit sich selbst entzweit und schlägt gleichsam die Zähne in sein eigenes Fleisch. Daher der Krieg aller gegen alle, daher der Egoismus aller Lebewesen, daher das Leiden, das dem Leben als Leben innewohnt. »Durch die gesammte Natur läßt sich dieser Streit verfolgen, ja, sie besteht eben wieder nur durch ihn […]: ist doch dieser Streit selbst nur die Offenbarung der dem Willen wesentlichen Entzweiung mit sich selbst.« (W I, §27, 175)

Jeder Glaube, die menschliche Welt im Ganzen und von Grund aus verbessern zu können, beruht auf einer Illusion. »Die unaufhörlichen Bemühungen, das Leiden zu verbannen, leisten nichts weiter, als daß es seine Gestalt verändert.« (W I, §57, 371) Wesentlich für Schopenhauers metaphysisch fundierten Pessimismus ist, dass das unheile Wesen der Welt nicht etwas von uns Verschiedenes ist. Wir selbst sind dieser vorstellungsabgewandte Weltgrund, die Welt als Wille, und verschulden und bejahen das Leben als Leiden mit jedem Atemzug.

Die Ästhetik (3. Buch) handelt von der zeitweiligen Befreiung des Intellekts vom Willen durch die erhebende Erkenntnis des Kunst- und Naturschönen. In der ästhetischen Kontemplation, die ganz im Objekt aufgeht und die eigene Person vergessen lässt, wird die Welt mit anderen Augen angeschaut, wodurch der Wille eine Zeit lang keine Beachtung findet. Kunst entlastet vom leidvollen Leben. Die Aufgabe der Kunst liegt darin, die platonischen Ideen, das Wesentliche und Bleibende aller sichtbaren Erscheinungen der Welt, die Musterbilder der Gattungen – Schopenhauer spricht auch von »Stufen der Objektivation des Willens« – zu erkennen und darzustellen:

»Wie die zerstäubenden Tropfen des tobenden Wasserfalls mit Blitzesschnelle wechseln, während der Regenbogen, dessen Träger sie sind, in unbeweglicher Ruhe fest steht, ganz unberührt von jenem rastlosen Wechsel; so bleibt jede Idee, d.i. jede Gattung lebender Wesen, ganz unberührt vom fortwährenden Wechsel ihrer Individuen. Die Idee aber, oder die Gattung, ist es, darin der Wille zum Leben eigentlich wurzelt und sich manifestirt: daher auch ist an ihrem Bestand allein ihm wahrhaft gelegen. Z.B. die Löwen, welche geboren werden und sterben, sind wie die Tropfen des Wasserfalls; aber die leonitas, die Idee, oder Gestalt, des Löwen, gleicht dem unerschütterten Regenbogen darauf.« (W II, Kap. 41, 552)

Schön ist alles, worin eine Idee erkannt wird. Mit ideal dargestellten Gegenständen aber, mit dem Erschauen des Allgemeinen im Einzelnen kann der besitzergreifende Wille eines Menschen, sein egoistisches Wollen, nichts anfangen. Die im Kunstwerk wiedergegebene Idee ist kein Objekt des persönlichen Begehrens. Ein Stillleben z.B., das die Idee des Apfels anschaulich erkennen lässt, regt gerade den Appetit (Willen) nicht an, sondern vergegenwärtigt den ruhigen, stillen, willensfreien Gemütszustand des Künstlers, der fähig war, einen unbedeutenden Gegenstand so »objektiv« im Hinblick auf seine Allgemeinheit anzuschauen. Die Erkenntnis durch Kunst nimmt den Willen zurück, setzt ihn für eine Weile außer Kraft. Die Welt als Vorstellung schließt sich zu einer für sich bestehenden, interesselosen Ganzheit zusammen (jetzt unabhängig vom Satz vom Grund):

»Wenn man, durch die Kraft des Geistes gehoben, die gewöhnliche Betrachtungsart der Dinge fahren läßt, aufhört, nur ihren Relationen zu einander, deren letztes Ziel immer die Relation zum eigenen Willen ist, am Leitfaden der Gestaltungen des Satzes vom Grunde, nachzugehen, […] sondern, statt alles diesen, die ganze Macht seines Geistes der Anschauung hingiebt, sich ganz in diese versenkt und das ganze Bewußtseyn ausfüllen läßt durch die ruhige Kontemplation des gerade gegenwärtigen natürlichen Gegenstandes, sei es eine Landschaft, ein Baum, ein Fels, ein Gebäude, oder was auch immer; indem man, nach einer sinnvollen Deutschen Redensart, sich gänzlich in diesen Gegenstand verliert, d.h. eben sein Individuum, seinen Willen, vergißt und nur noch als reines Subjekt, als klarer Spiegel des Objekts bestehend bleibt; so daß es ist, als ob der Gegenstand allein dawäre, ohne Jemanden, der ihn wahrnimmt, und man also nicht mehr den Anschauenden von der Anschauung trennen kann […], [dann sind in dieser Ideen-Erkenntnis, in dieser vom Willen befreiten reinen Welt als Vorstellung, Subjekt und Objekt nur sich selbst genügend] Eines geworden.« (W I, §34, 210)