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Über dieses Buch

Diese kurzen Märchen haben es in sich. Das Lesen oder Vorlesen dauert nicht länger als fünf Minuten, viele der Märchen sind sogar in zwei, drei Minuten erzählt. Und doch steckt ganz viel Weisheit und Witz, Wunder und Wandel in ihnen.

In den acht Kapiteln finden wir »Märchen vom Wachsen und Werden«, »Märchen voller Wunder und Wandel«, »Märchen von wunderbaren Begegnungen«, »Märchen von Himmel und Erde«, »Märchen mit Witz«, »Märchen voller Weisheit«, »Märchen vom rechten Weg und rechten Maß« und »Beherzte Märchen«. Für die Jüngsten geeignete Märchen sind mit einem Sternchen gekennzeichnet.

Über die Autorin

Michaela Brinkmeier, Jahrgang 1968, ist promovierte Germanistin, studierte außerdem Kunstgeschichte und Journalistik. Die gebürtige Hamburgerin hat es nach Nordrhein-Westfalen verschlagen, wo sie in einem Dorf bei Gütersloh lebt. Die große weite Welt – und viele Märchen – im Herzen, zieht sie als Erzählerin übers Land. Immer mit dabei: ihre Harfe. Sie arbeitet freiberuflich als Märchenerzählerin und Harfenspielerin, Autorin, Klangtherapeutin, Klangpädagogin und Meditationslehrerin (Infos unter: www.Sterntaler-Harfe.de und www.Klang-und-Meditation.com).

5-Minuten-Märchen

zum Erzählen
und Vorlesen

Kurze Volksmärchen aus aller Welt

Herausgegeben und erzählt
von Michaela Brinkmeier

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Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

E-Book-Ausgabe

Krummwisch bei Kiel 2019

© 2019 by Königsfurt-Urania Verlag GmbH

D-24796 Krummwisch

www.koenigsfurt-urania.com

www.maerchen-schaetze.de

Lektorat: Claudia Lazar, Kiel

Satz: Stefan Hose, Götheby-Holm

Umschlaggestaltung: Jessica Quistorff, Rendsburg,

unter Verwendung des folgenden Motivs von Adobe Stock:

»Magic tree house« © Elena Schweitzer

eISBN 978-3-86826-428-9

Inhalt

Vorwort

Märchen vom Wachsen und Werden

Das Ei, das immer größer wurde *

Die Maus, die sich fledermauste *

Momotaro

Das Dohlenmädchen

Wie die Fische auf die Welt kamen *

Märchen voller Wunder und Wandel

Das Kätzchen und die Sahne *

Wie die Geige auf die Welt kam

Die eitle Ajagaga

Der Prinz mit den Eselsohren *

Der Krötenkaiser

Der Mann mit der hässlichen Frau

Die Wassernixe *

Der Zauberhut

Kemanta

Mani

Märchen von wunderbaren Begegnungen

Die Schlangenkönigin

Kleiner Bär auf Reisen *

Der Hund mit den kleinen Zähnen *

Das Lebenswasser

Die Königstochter in der Flammenburg

Jaakske mit der Flöte *

Der Tschongurispieler

Der Fischer und der Wal *

Die Schlucht

Der König der Antilopen

Die Alte, die auf den lieben Gott wartete

Märchen von Himmel und Erde

Die Sterntaler *

Die drei goldenen Haare

Der treueste Freund

Das Adlermädchen

Die Prinzessin unter der Erde

Der Griff der Erde

Märchen mit Witz

Das kluge Mädchen wird Zarin

Der Bauer und der Teufel

Dieb und König

Der einäugige Esel

Der Fuchs und die Gänse

Der Heiltrank

Der verhexte Ring

Die Heckentür *

Die Steinsuppe *

Stompe Pilt *

Auf Reisen geh’n

Die kluge Frau und der Malla

Nasreddin und der Kessel

Wer den Duft des Essens verkauft

Die Wette mit dem Hasen *

Der hungrige Schüler

Der Mann, der die Hausarbeit tun sollte

Der Lügner

Märchen voller Weisheit

Das Hirtenbüblein

Der Gesang der Nachtigall

Arm und Reich

Das Glück des Tagelöhners

Der alte Großvater und der Enkel *

Der goldene Schlüssel *

Die Alte mit den Bohnen

Zwei Wölfe

Im Tempel der tausend Spiegel *

Prinzessin Mäusehaut

Der arme Schuster

Zweimal Glück

Die Schuhe

Die silberne Laute

Der tanzende Rabbi

Anansi und die Weisheit der Welt *

Märchen vom rechten Weg und rechten Maß

Der süße Brei *

Die Scholle

Der Weber und sein Glück *

Die Wichtelmänner *

Die drei kleinen Hühnchen *

Die Bienenkönigin *

Lohn der Ehrlichkeit

Die Brüder Wang *

Der Kranich *

Kännchenvoll *

Die Käsprobe

Die Muschel des Überflusses

Drei Kostbarkeiten

Beherzte Märchen

Der Kobold und die Ameise *

Das Kätzchen und die Stricknadeln *

Das Hirschlein mit den Tupfen *

Großmütterchen Immergrün *

Der Krämer

Der Fuchs und das Pferd

Der Löwe und die Maus *

Vom Mannl Spannelang *

Die weiße Taube *

Das große Wasser *

Vom Licht der Welt

Die Menschenfresserin mit den langen Ohren

Oschoo

Die drei Böcke Brausewind *

Die Regenblume

Quellenangaben

* Märchen für die Jüngsten

Vorwort

Ein Märchen abends auf der Bettkante erzählt oder vorgelesen: ein schönes Ritual, das der Seele Nahrung schenkt und ein Band zwischen Eltern und Kindern knüpft. Aber dann sitzen Sie da mit einem Buch auf dem Schoß und fangen an zu blättern, und alle Märchen scheinen mindestens fünf Seiten lang zu sein. Aus dieser Erfahrung heraus und aus meiner Arbeit als Märchenerzählerin in Kindergärten und Seniorenheimen ist dieses Buch entstanden.

Kurz sind sie, diese Märchen, aber schön und gehaltvoll wie längere Märchen und in einer Bildsprache erzählt, die die Phantasie anregt. Die ausgesuchten Volksmärchen aus aller Welt sind nicht nur für Kinder; sie sprechen auch Erwachsene an. Denn sie erzählen Geschichten, die Jung und Alt angehen: von dem, was zählt im Leben, von der Suche nach dem Glück, von unseren Wünschen, Träumen und Sehnsüchten.

Weil sich im Kindergarten die Zuhörer noch nicht und im Altenheim nicht mehr so gut und lange konzentrieren können, wartet das Buch auch hier auf seinen Einsatz. Und Erwachsenen bieten diese Märchen kurze Auszeiten, die Möglichkeit, aus dem Alltag abzutauchen und sich etwas Gutes zu tun; als Bettlektüre können sie ins Reich der Träume geleiten. Als Anregung sind die Märchen mit einem Sternchen gekennzeichnet, die sich besonders für die Jüngsten eignen (ab ca. 4 Jahre). Welches Märchen für welches Kind passt, hängt natürlich von der Entwicklung und Persönlichkeit des Kindes ab, von der Situation und den Lebensumständen, und dies einzuschätzen bleibt in der Verantwortung von Ihnen, liebe Erzähler und (Vor-)Leser.

Und nun wünsche ich Ihnen eine gute Reise in die Welt der Märchen …

Michaela Brinkmeier

Märchen vom Wachsen und Werden

Das Ei, das immer größer wurde *

Ein Mann hatte elf Söhne. Der Jüngste aber war der Sohn der zweiten Frau. Wie nun der Mann alt war und sein Ende nahen sah, da rief er seine Söhne zu sich. Und er vermachte jedem der zehn älteren Söhne drei Rinder.

Dem Jüngsten aber übergab er ein kleines Ei. Und er trug ihm auf, es draußen, weit weg vom Kraal**, aufzubewahren. Und jeden Tag sollte er dem Ei vorsingen. »Oh-oh, Venda, Venda …«

Der jüngste Sohn ging nun jeden Tag zu seinem Ei und sang ihm vor: »Oh-oh, Venda, Venda …« Und das Ei wuchs und wuchs. Bald war es größer als eine Hütte. Aber es wuchs immer noch. Da bekam der jüngste Sohn Angst vor dem Ei und kletterte auf einen Baum, wenn er ihm vorsang. Aber er sang weiter: »Oh-oh, Venda, Venda …«

Endlich, als er eines Tages wieder sang, da platzte das Ei und heraus kamen Tiere jeglicher Art: Rinder, Schafe und Ziegen. Da baute sich der jüngste Sohn seinen eigenen Kraal. Und er lebte glücklich darin.

Märchen der Venda aus Südafrika

Die Maus, die sich fledermauste *

Es war einmal eine Maus, die war ihr altes Leben müde. Sie dachte: »Ich bin zu alt für dieses Mauseleben; meine Beine sind schwer und wollen mich nicht mehr tragen.« Und sie beschloss: »Es ist an der Zeit, dass ich mich verwandele.«

Die Maus überlegte: »Was soll ich werden? Ich möchte meine Wege im Dunkeln finden, ohne dass man mich sehen kann. Soll ich vielleicht eine Schabe werden? Ach nein, man würde mich verachten und zertreten. Soll ich eine Schlange werden? Ach nein, man würde mich fürchten und hassen. Ich weiß: Ich will eine Fledermaus werden! Dann fliege ich durch die Nacht und fresse reife Bananen!«

Da begann die alte Maus, sich zu fledermausen: Sie klammerte sich mit dem Schwanz und den Füßen an einen Zweig, und so hing sie mit dem Kopf nach unten, wie es die Fledermäuse tun. Doch da bekam sie einen Schluckauf. Das hörte eine Fledermaus, die daherflog: »Was machst du denn da? Du willst dich wohl über mich lustig machen?« »Nein«, sprach die Maus, »ich will mich fledermausen.«

Die Fledermaus betrachtete sie und sagte: »Aber wir Fledermäuse haben keinen Schwanz.« Da warf die Maus ihren Schwanz ab und hielt sich nur noch mit den Füßen fest. Die Fledermaus betrachtete sie und sagte: »Aber wir Fledermäuse haben Flügel!« Da reckte und streckte sich die Maus und dehnte und dehnte ihre alte Haut – bis ihr Flügel wuchsen.

Da flog die Fledermaus zu ihrem Volk und sagte: »Stellt euch vor, was ich gesehen habe: Dort hinten im Baum, da hängt eine Maus, dich sich fledermaust. Lasst sie in Ruhe, damit sie sich verwandeln kann!« Die Fledermäuse riefen: »Eine Maus, die sich fledermaust! Das müssen wir sehen!«, und flugs waren sie hingeflogen. »Und, Maus?«, fragte die Fledermaus, »ist deine Verwandlung schon gelungen?« »Ich habe mich verwandelt, und ich möcht’ für mein Leben gern fliegen«, sagte die Maus, »aber ich trau mich nicht.« Da sprach die Fledermaus: »Fürchte dich nicht, los, fliege! Es ist wunderschön!« Die alte Maus aber zitterte, hielt sich fest und blieb hängen. »Ich werde dich das Fliegen lehren«, sagte die Fledermaus, »hab Vertrauen! Breite deine Arme aus, schwinge deine Flügel, und dann lass dich fallen. Und du wirst sehen: Du kannst fliegen!«

Da spannt die Maus ihre Flügel aus, schwingt sie, lässt los – und fliegt! Die Maus fliegt! Sie ruft: »Es ist wunderschön!« und fliegt davon durch die Nacht.

Ob sie Bananen findet? Viele Bananen! Und die reifen, die frisst sie. Wenn du einmal in den Nachthimmel schaust und alles ganz still wird, kannst du sie vielleicht sehen, die Maus, die sich fledermauste. Doch die Augen der Menschen können sie nur schwer finden. Sie aber sieht dich, auch im Dunkeln.

Märchen der Caxinauá-Indianer aus Brasilien

Momotaro

Vor langer Zeit lebte einmal ein armes Ehepaar, das war alt geworden und hatte keine Kinder. Eines Tages wusch die Frau Wäsche am Fluss. Da trieb auf dem Wasser ein schöner großer Pfirsich daher, rund und rosig. Freudig griff sie danach und hob ihn auf für daheim, denn sie dachte an ihren Mann, der sollte auch davon bekommen. Vorsichtig schnitt der Mann den Pfirsich in zwei Hälften. Da sprang daraus ein kleiner Knabe hervor. Die beiden freuten sich, denn nun hatten sie endlich einen Sohn. Sie nannten ihn Momotaro, Pfirsichjunge.

Momotaro wuchs zu einem schönen Jüngling heran. Nun wollte er den Eltern ihre Liebe danken und sie aus ihrer Armut befreien. Da hatte er einen Traum: Er fuhr übers Meer nach Onigaschima, der Insel der bösen Geister. Der Sage nach lag dort, verborgen in einer Höhle, ein gewaltiger Schatz. Doch kein Mensch traute sich auf die Insel, denn dort hausten die Oni, und ihr Oberhaupt bewachte den Schatz. Im Traum aber besiegte Momotaro die bösen Geister und fand den Schatz.

Als er erwachte, übte er sich in den Kampfkünsten, denn er wollte sich für die Reise rüsten. Dann ging er zu den Eltern und sagte, dass er nach Onigaschima wolle. Die beiden waren bestürzt, dass sie ihren Jungen verlieren sollten. Sie weinten und baten, er möge sein Vorhaben aufgeben. Doch Momotaro sagte: »Im Traum kamen mir die Götter zu Hilfe!« Da dachten sie daran, dass sie dank der Götter den Pfirsich fanden und Momotaro bekamen, und sie vertrauten darauf, dass die Götter ihm gnädig blieben. Momotaro rüstete sich zum Abschied, und die Eltern bereiteten eine Menge köstlicher Klöße, die gaben sie ihm mit auf die Reise.

Nach einer Weile kam ihm ein Hund entgegen, der sprach: »Lass mich mit dir ziehen, ich will dir treu dienen, wenn du mir von deinen köstlichen Klößen gibst.« Momotaro erfüllte ihm den Wunsch, und so zogen sie gemeinsam weiter. Da begegnete ihnen ein Affe, der sprach: »Ich will dir helfen, wenn du mir von den köstlichen Klößen gibst.« Momotaro gewährte es, und dem Affen schmeckten sie so gut, dass er seinen Freund, den Fasan, herbeirief, damit er davon koste. Da bat auch der Fasan: »Nimm mich mit, ich will dir beistehen.« Und so zogen sie dem Meer entgegen. Dort fanden sie ein Boot, doch es lag weit im Wasser, an einen Pfahl gebunden. Der Affe wusste Rat: »Hund, trage du mich auf deinem Rücken zum Boot, dann kann ich das Tau lösen, und wir können es gemeinsam holen.« Und so gelangten sie zur Insel.

Der Fasan fand den Eingang der Höhle. Momotaro zerschlug die eiserne Pforte, trat ein und staunte. Er hatte einen finstern, grausigen Ort erwartet, und nun fand er sich in einem hell glitzernden Palast wieder. Hier sollte das Oberhaupt der bösen Geister hausen? Gemeinsam mit den Gefährten fand er das Gemach. Doch als er darauf zuschritt, erschienen unzählige Kobolde, die wollten ihn daran hindern. Momotaro aber schlug um sich, bis sie die Flucht ergriffen, und er gelangte hinein. Als der Oni ihn sah, wurde er zornig und rief nach seiner Dienerschar, doch niemand ließ sich blicken. Momotaro schlug kräftig auf ihn ein. Der Affe aber sah, dass der Oni stärker war, da sprang er ihm flugs auf den Rücken und hielt ihm die Augen zu, sodass er Momotaro nicht sehen konnte; der Hund biss den Oni in die Beine, und der Fasan hielt draußen die Dienerschar fern und pickte jedem, der sich in die Nähe wagte, die Augen aus. Schließlich bat der Oni um sein Leben. Momotaro sprach: »Es sei dir gewährt, wenn du mir den Schatz gibst.« Da befahl der Oni seiner Dienerschar, sie solle alles ins Boot schleppen. Und so kehrten Momotaro und seine Gefährten mit dem Schatz heim.

Die Eltern freuten sich, als sie ihren Sohn glücklich und gesund wiedersahen. Nun hatten sie Gold, Silber und Edelsteine in Hülle und Fülle, und so konnten sie ohne Sorge leben. Momotaros Ruhm verbreitete sich im ganzen Land. Das hörte auch eine wunderschöne Prinzessin, die in einem großen, schönen Garten wohnte, und sie wünschte ihn sehnlichst zum Gemahl. Der Fasan erzählte es Momotaro. Und so heiratete er die Prinzessin, und sie lebten lange und glücklich miteinander. Auch den alten Eltern waren noch viele Jahre in Glück und Frieden vergönnt. Und die drei Gefährten, der Hund, der Affe und der Fasan, hielten Momotaro bis an sein Ende die Treue.

Märchen aus Japan

Das Dohlenmädchen

Es war einmal eine Frau, die wünschte sich ein Kind, doch was sie auch versuchte, sie bekam keins. Sie fragte alte Frauen um Rat, sie ging zu Hexen, es nützte alles nichts. Da betete sie zu Gott, er möge ihr doch ein Kind schenken, und sei es eine Dohle! Und da gebar sie eine Dohle.

Die Frau aber war glücklich. Sie dachte: »Gott hat mir diese Dohle geschenkt, damit ich etwas habe, was mir lieb ist.«

Die Dohle wuchs heran. Als die Mädchen ihres Alters begannen, die Wäsche am Fluss zu waschen, sprach sie zur Mutter: »Ich will auch Wäsche waschen, lass mich gehen!« Da belud die Mutter den Esel mit der Wäsche und setzte die Dohle obenauf, und sie ritt den Fluss hinunter, an eine verborgene Stelle. Dort aber streifte sie ihr Dohlengefieder ab, und da war sie ein wunderschönes Mädchen. Sie begann, die Wäsche zu waschen, und da hatte sie ein Kleid an, das war von reiner Seide. Als sie die Wäsche zur Hälfte gewaschen hatte, trug sie ein Kleid von Silber. Und als sie fertig war, da trug sie ein Kleid, das war ganz aus Gold. Dann aber zog sie wieder ihr Dohlenkleid an.

Der Sohn des Zaren saß am Flussufer und sah das alles. Da ging er zum Zaren und sagte: »Vater, ich will mich verheiraten, ich will eine Dohle zur Frau nehmen.« Der Zar verwunderte sich: »Warum willst du eine Dohle zur Frau, wo du so viele Zarentöchter haben kannst?« Doch der Zarensohn bestand darauf: »Ich will nur sie, die Dohle, und keine andere.« Der Zar redete vergeblich und gab schließlich nach. Da hielten der Zarensohn und die Dohle Hochzeit. Im Brautgemach aber legte sie das Dohlenkleid ab, und da war sie das schönste Mädchen im ganzen Reich. Doch am Morgen streifte sie ihr Dohlenkleid über, und da war sie wieder eine Dohle. Der Zarensohn erzählte der Zarin davon. Die wollte es mit eigenen Augen sehen, und sie sagte, er solle in der andern Nacht die Türe offen lassen, damit sie hineinschlüpfen könne. Das tat der Sohn, und so sah die Zarin ihre schöne Schwiegertochter. Da nahm sie rasch das Dohlenkleid und verbrannte es. Nun war das Dohlenmädchen auch am Tag eine Frau.

Nach einer Weile kam ihre Mutter an den Zarenhof. Sie lief ihr entgegen und rief: »Mutter! Liebe Mutter!«, und umarmte und küsste sie. Die Mutter aber verwunderte sich über die Frau in Samt und Seide, die schöner war als die Sonne, und sagte: »Meine Tochter ist eine Dohle. Wo ist sie?« »Ich bin es, ich bin deine Tochter! Ich war eine Dohle, doch nun bin ich es nicht mehr.« »Gut, meine Tochter!«, sprach die Mutter und umarmte sie, »aber warum hast du mir nichts gesagt? Und warum hast du das Dohlengefieder bei mir nicht abgelegt?« Da sprach die Tochter: »Dir hat Gott eine Dohle geschenkt – wie du es dir gewünscht hast. Ich aber gehöre nun einem anderen und bin die Frau des Zarensohns. Und eine andere war es, die mein Dohlenkleid verbrannte. Hättest du es getan, so wäre ich gestorben.«

Mit dem Zarensohn aber teilte sie ein langes Leben in Glück und Freude.

Märchen aus Serbien

Wie die Fische auf die Welt kamen *

In jenen Zeiten, als die Welt noch jung war, gab es noch keine Fische. Tag für Tag saß ein alter Indianer am Fluss und schaute ins Wasser. Und Tag für Tag war er traurig, denn er sehnte sich danach zu fischen. Eines Tages ging er in den Urwald und suchte Blumen, viele Blumen: blaue, rote, gelbe, weiße, aller Art. Er ging an den Fluss und warf sie ins Wasser. Da wurden die Blumen Fische, viele Fische: blaue, rote, gelbe, weiße, aller Art. Und seitdem fischen die Indianer.

Märchen der Bororo-Indianer aus Brasilien

Märchen voller Wunder und Wandel

Das Kätzchen und die Sahne *

Es war einmal ein junges Kätzchen, das sah in einer Ecke des Bauernhofs einen Bottich mit Sahne stehen. Da dachte es sich: »Wenn ich nur einmal, nur ein ganz klein wenig, daraus schlecke, so wird es schon keinem auffallen«, sprang auf den Rand des Bottichs und beugte sich hinunter. Doch da rutschte es ab und plumpste mitten in die Sahne.

Es strampelte, suchte Halt und wollte wieder herauskommen. Aber so sehr es sich auch bemühte, es wollte nicht gelingen. Das Kätzchen rutschte immer wieder an der Wand des Bottichs ab und konnte keinen Boden unter die Füße bekommen, denn es war viel, viel Sahne in dem Bottich. Es drohte unterzugehen. Aber das Kätzchen gab nicht auf. Es strampelte verzweifelt weiter und redete sich selbst gut zu: »Ich – gebe – nicht – auf, ich – gebe – nicht – auf.«

Und mit einem Mal war da etwas unter seinen Pfoten, etwas Hartes, und es ruderte nicht mehr nur ins Leere. Von diesem Funken Hoffnung angespornt, strampelte die kleine Katze mit neuer Kraft weiter; und dieses Etwas wuchs und wuchs, je mehr sie in der Sahne strampelte, bis es schließlich so groß war, dass sie endlich wieder Halt fand und mit einem großen Satz herausspringen konnte. Und wie das kam? Das Kätzchen hatte aus der Sahne Butter gemacht.

Märchen aus Deutschland

Wie die Geige auf die Welt kam

Es waren einmal ein armer Mann und eine arme Frau, die hatten keine Kinder und grämten sich sehr. Eines Tages ging die Frau in den Wald, da begegnete sie einem alten Weib, das wusste um ihren Kummer und sprach: »Ich kann dir wohl sagen, wie du zu einem Kinde kommst: Geh nach Hause und zerschlage einen Kürbis, gieße Milch hinein und trinke sie. Dann wirst du einen Sohn gebären, und er wird glücklich und reich werden!« Die Frau tat, wie ihr geheißen war, und nach neun Monaten gebar sie einen schönen Knaben. Doch die Frau sollte nicht lange glücklich bleiben: Schon bald wurde sie krank und starb. Und als der Knabe zu einem Jüngling von zwanzig Jahren herangewachsen war, da starb auch der Vater. Da dachte sich der Jüngling: »Was soll ich noch hier? Ich gehe in die weite Welt und suche mein Glück.« Er zog von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt, aber nirgends fand er sein Glück.

Schließlich kam er in eine große Stadt, dort sah er im Fenster des Schlosses die wunderschöne Königstochter stehen und verlor augenblicklich sein Herz an sie. Der König aber hatte verkünden lassen: »Nur der soll meine Tochter zur Frau bekommen, der etwas erschaffen kann, was es vordem noch nicht gegeben hat auf der Welt. Wer aber die Probe nicht besteht, der muss sterben.« Viele Männer hatten bereits ihr Glück versucht, aber sie wurden alle aufgehängt. Denn was sie auch vorzeigten: Immer fand sich jemand, der es schon gesehen hatte. Als der Jüngling von der Aufgabe hörte, ging er zum König und sprach: »Ich will deine Tochter zur Frau haben; sag’, was soll ich machen?« Da ward der König zornig: »Denkst du, ich löse die Aufgabe für dich? Du willst mich wohl hereinlegen? Oder bist du so dumm? Beides verdient den Kerker, also fort mit dir!« Und so landete der Jüngling im Kerker und sollte dort elendig verschmachten.

Kaum aber, dass die Türe hinter ihm ins Schloss fiel, wurde es mit einem Mal hell, und die Feenkönigin Matuya erschien, die sprach: »Verzage nicht. Du sollst die Königstochter heiraten! Hier hast du ein Kästchen und einen Stab. Reiße mir Haare vom Kopf und spanne sie darüber!« Der Jüngling tat dies, und die Matuya sagte: »Dieses Kästchen soll eine Geige werden und soll die Menschen froh oder traurig machen, wie du es willst.« Sie nahm das Kästchen und lachte hinein; dann begann sie zu weinen und ließ ihre Tränen in das Kästchen fallen. Dann reichte sie es dem Jüngling und sprach: »Nun streiche mit dem Stab über die Haare des Kästchens!« Der Jüngling tat es, und da strömten Lieder daraus, die das Herz bald traurig, bald fröhlich stimmten, Lieder, so schön, wie sie noch keiner gehört hatte.

Die Matuya verschwand. Die Wächter aber hörten die wunderbaren Melodien, und das Herz wurde ihnen weich. Sie liefen zum König und berichteten ihm davon. Der König ließ den Gefangenen zu sich führen. Da sprach der Jüngling: »Nun also höre und sieh, was ich gemacht habe!«, und er begann zu spielen, und dabei dachte er an die schöne Königstochter, und all sein Sehnen, Bangen und Hoffen klang aus der Geige. Und wenn die Geige lachte, dann lachte der König. Und wenn sie weinte, dann weinte er. Da war der König ganz außer sich vor Freude, und er gab dem Jüngling seine Tochter zur Frau, und sie lebten in Glück und Freude. Die Geige aber verzaubert noch heute die Menschen.

Märchen der Zigeuner

Die eitle Ajagaga

Es war einmal ein junges Mädchen, das hieß Ajagaga. Sie war das hübscheste Mädchen weit und breit und sehr stolz darauf. Es gab keinen Spiegel, in den sie nicht hineinschaute: Sie bewunderte sich im blanken Kupferkessel, in der Pfanne, im Brunnen, immerzu, und konnte sich gar nicht sattsehen an ihrem Spiegelbild. Dabei wurde sie immer fauler; sie meinte auch, die Arbeit könne ihrer Schönheit schaden, bis sie schließlich nichts anderes mehr tat als sich bespiegeln und bewundern.

Die arme Mutter musste alles allein besorgen. Einmal trug sie ihr auf, Wasser zu holen. Da antwortete Ajagaga: »Nein, ich werde ins Wasser fallen!« Sprach die Mutter: »Dann halt’ dich am Strauch fest!« »Nein, der Strauch könnte abbrechen.« Sprach die Mutter: »Dann nimm einen kräftigen Strauch!« »Nein, er würde mir die Hände zerkratzen.« Sprach die Mutter: »Dann zieh Handschuhe an!« »Nein, die würden zerreißen.« Sprach die Mutter: »Dann flicke die Handschuhe!« »Nein, die Nadel könnte zerbrechen.« Sprach die Mutter: »Dann nimm eine dicke Nadel!« »Nein, sie könnte mich in den Finger stechen.« Sprach die Mutter: »Dann steck einen Fingerhut an den Finger!« »Nein, der Fingerhut könnte zerbrechen.« Da trat die Nachbarstochter hinzu, die alles mit angehört hatte, und sagte zu der Mutter: »Komm, gib mir den Kessel«, und da ging sie das Wasser holen.

Die Mutter stand derweil in der Küche und buk Pfannekuchen. Als Ajagaga die duftenden Pfannekuchen roch, rief sie: »Gib mir einen Pfannekuchen!« Die Mutter aber antwortete: »Nein, der Pfannekuchen ist zu heiß, er wird dich verbrennen.« Sprach Ajagaga: »Dann zieh ich mir Handschuhe an!« »Nein, die Handschuhe sind nass.« Sprach Ajagaga: »Dann trockne ich sie am Herd!« »Nein, davon werden sie hart.« Sprach Ajagaga: »Dann klopfe ich sie wieder weich!« »Nein, da würden deine hübschen Hände leiden«, sagte die Mutter und entschied: »Ich gebe den Pfannekuchen der Nachbarstochter.«