Buchinfo

 

Die Macht des Geldes

 

Mia fällt aus allen Wolken: Ihr Vater, ein Bankmanager von Format, fristet als einfacher Sachbearbeiter sein Leben im Kreditarchiv. Aus Scham hat er seiner Familie gegenüber die Wahrheit verschwiegen – und nie nach den Gründen für seinen Absturz gefragt. So nicht, denkt Mia, schleust sich ein in die Glitzerwelt des Finanzgewerbes und nimmt Witterung auf. Schon bald ist ein Verdächtiger ausgemacht – doch bevor sie die Intrige aufklären kann, muss sie nicht nur den attraktiven Carlo in seine Schranken weisen, sondern heimlich Büros durchkämmen und Privaträume filzen. Stütze in dieser turbulenten Zeit ist Schmitti, der etwas verpeilte Bandleader, der keine Lust mehr hat, immer nur die zweite Geige in Mias Leben zu spielen.

Autorenvita

 

Autor

 

© Johannes Ginsberg

 

Henrike Curdt, geboren 1970, wollte schon immer Schriftstellerin werden. Zunächst absolvierte sie jedoch eine Bankausbildung und ein Wirtschaftsstudium und setzte eine betriebswirtschaftliche Promotion obendrauf. Das Schreiben hat sie indessen nie losgelassen, sodass sie heute nicht nur als Leiterin der Kommunikationsabteilung in einer Bank, als selbstständige PR-Beraterin und als Redakteurin in einem Entwicklerstudio für Computerspiele arbeitet, sondern auch als freie Autorin. Ihr Alltag überrascht sie immer wieder und liefert täglich neue Ideen für ihre Geschichten. Sie lebt mit Mann und zwei Söhnen in NRW.

 

IT

 

Jan ist ein Arschloch, stand in schwarzer Schrift auf den grünen Wandfliesen und darunter eine Unterschrift: Viv. Als i-Punkt hatte jemand einen Kaugummi aufgeklebt.

Die ganze Wand war mit krakeligen Schriftzügen beschmiert. Mia machte einen Moment die Augen zu. Es stank erbärmlich. Der erste Tag ihrer Ausbildung. Und sie zog sich im Bahnhofsklo um. Super.

»Besetzt!«, brummte Schmitti im Vorraum.

Mia biss die Zähne zusammen. Verflixt eng war es hier drin. Im Zeitlupentempo schob sie den Arm in ihre neue Bluse. Dabei ließ sie die schmutzigen Wandfliesen keine Sekunde aus den Augen. Flecken am Ärmel waren das Letzte, was sie gebrauchen konnte. Ihr Rock war zum Glück zu kurz, um mit dem angelaufenen Metall der Kloschüssel in Kontakt zu kommen. Ihre teuren Seidenstrümpfe dagegen …

»Was ist mit deinem Vater?«, fragte Schmitti durch die Metalltür.

Mia blinzelte. Jan ist ein Arschloch. Zurückgewiesene Liebe? Mit dieser Viv mochte sie nicht tauschen. Aber an ihren Vater wollte sie auch nicht denken. Sie hatte sich ohne sein Wissen bei der Bank beworben, und nun trat sie ohne sein Wissen ihren ersten Arbeitstag an. Das würde er ihr nie verzeihen. Aber sie konnte nicht anders. Die Bank war ihr Traum. Nicht irgendeine, sondern diese: die Bank ihres Vaters. Seit sie denken konnte, war das ihr Ziel gewesen. Zuerst hatte er sich über ihr Interesse gefreut. Er schien regelrecht stolz darauf gewesen zu sein, dass sie den gleichen Weg einschlagen wollte wie er. Immerhin hatte er einiges erreicht: Vom Geschäftsstellenleiter zum Regionaldirektor – das war ein ansehnlicher Aufstieg.

Aber dann war seine Haltung plötzlich umgeschlagen. Wann war das gewesen? Vor zwei Jahren? Er hatte sie regelrecht von der Bank ferngehalten, ihr schließlich sogar ausdrücklich verboten, das imposante Gebäude noch einmal zu betreten. »Diese Welt ist nichts für ein Mädchen wie dich«, hatte er gesagt. Mia war sicher, dass etwas ganz anderes hinter dem Verbot steckte. Etwas Großes und Geheimnisvolles. Ihr Vater hatte sie mit seinem Verbot von ihrem Ziel abbringen wollen. Erreicht hatte er damit allerdings das genaue Gegenteil.

»Was hast du ihm gesagt?«, hakte Schmitti nach.

»Dass ich mit ein paar Leuten zum See rausfahre«, erwiderte sie.

»Schön wär’s. Wenn du nicht so scharf auf diese dämliche Bank wärst, könntest du jetzt deine letzten Sommerferien vor dem Abi genießen.«

Sie zuckte die Achseln. Ihre Armbanduhr hatte sich im Blusenärmel verhakt. Ärgerlich zupfte sie mit der freien Hand an dem dünnen Seidenstoff. Sinnlos. Ihr blieb nichts anderes übrig, als die Uhr auszuziehen. Sie schlüpfte wieder aus dem Blusenärmel und löste den Verschluss des Armbands. Wohin mit der Uhr? Kein Haken und keine Ablagemöglichkeit. Hier gab es nichts als eine von Schmutz starrende Kloschüssel und einen leeren Toilettenpapierspender.

»Warum hast du’s ihm nicht endlich erzählt?«, bohrte Schmitti weiter.

»Ging nicht.« Vielleicht konnte sie die Uhr auf dem Klopapierspender deponieren.

»Du schiebst das seit Wochen vor dir her. Irgendwann musst du’s ihm sagen. Spätestens wenn du ihn in der Bank triffst. Außerdem brauchst du noch seine Unterschrift auf dem Ausbildungsvertrag.«

»Nerv mich nicht.«

Das mit dem Klopapierspender war keine gute Idee. Die Uhr rutschte von der glatten Oberfläche ab und wäre beinah in die schmutzige Rinne im Fußboden gefallen.

»Hilf mir lieber.«

»Oh, gerne!«

Die Tür knallte gegen Mias Schulter. Sie stieß mit dem Knie an die Klobrille und verlor das Gleichgewicht. Im letzten Augenblick konnte sie den verschmierten Wandfliesen ausweichen, aber ihre Armbanduhr verschwand mit einem leisen Platsch in der Kloschüssel.

»Schmitti, du Idiot!« Stöhnend beugte sie sich über die Toilette.

»Was machst du da?«, fragte er besorgt. »Ist dir schlecht?«

»Meine Uhr!«

»Das haben wir gleich.« Er drängte sie zur Seite, klebte sich seine Selbstgedrehte an die Unterlippe, schob den Ärmel seiner Lederjacke hoch und versenkte die Hand in der Kloschüssel. »Wäre ja nicht das erste Mal, dass ich in die Scheiße packe. Ist das Ding wasserdicht?«

»Ich glaube schon.«

Mit spitzen Fingern hielt er die tropfnasse Uhr hoch und streifte das aufgeweichte Klopapier ab, das daran hängen geblieben war. »Ich trockne sie ab, okay?«

 

Der Behälter für die Papierhandtücher neben dem Waschbecken war genauso leer wie der Klopapierspender. Schmitti zuckte die Achseln und wischte die Uhr an seinem T-Shirt ab. Der Totenschädel unter dem Motörhead-Schriftzug verzog sich angewidert. Mia wich zurück, als Schmitti ihr die Uhr hinhielt.

»Lass mal«, wehrte sie ab. »Die brauche ich jetzt nicht. Nimm sie mit und gib sie mir irgendwann später, ja? Wo sind meine Sachen?«

Er reichte ihr eine zerknautschte Umhängetasche, und sie zerrte die Ledermappe daraus hervor, die sie am Vorabend mit allen wichtigen Dingen für ihren Berufsstart präpariert hatte. In einem Seitenfach war das Etui mit ihrem Not-Makeup verstaut. Ungeduldig kramte sie darin herum und fand endlich ihren Lippenstift. Der Spiegel über dem Metallwaschbecken war so verschmiert, dass sie kaum etwas darin erkennen konnte. Ihre Finger zitterten, und prompt malte sie daneben.

»Mist!« Ärgerlich versuchte sie, den roten Patzer zu verwischen.

»Du siehst super aus«, beruhigte Schmitti sie. »Der kurze Rock ist echt scharf.« Er nahm die Zigarette aus dem Mund und grinste schief. »Nur die Zickenfrisur find ich affig.«

Mia verdrehte die Augen. »In der Bank kann ich nicht rumlaufen wie …« Sie sah ihn vielsagend im Spiegel an.

»Ich hoffe, du mutierst da nicht zur Superzicke.«

Wütend fuhr sie herum. »Warum hilfst du mir eigentlich, wenn dir das alles gegen den Strich geht?«

Er linste zwischen seinen viel zu langen Ponysträhnen hindurch. »Ich zahle damit meine Schulden ab. Wenn ich die Leihgabe von letzter Woche dazurechne, stehe ich jetzt ungefähr mit 250 Euro bei dir in der Kreide.«

»Schwachsinn.«

»Du hast leicht reden. Du musst dir um Kohle keine Gedanken machen.« Er schielte auf ihre neuen Schuhe. »Wenn die Band groß rauskommt, zahl ich dir alles zurück. Versprochen.«

Die Band. Schmittis Traum. Schmittis Spleen. Schmittis »Ich geb’s erst auf wenn ich tot bin«.

»Darauf kann ich wohl lange warten«, gab Mia zurück.

»Wenn du uns ein bisschen helfen würdest …«, begann Schmitti. »Ich meine, du bist ja jetzt bei der Bank, und …«

»Für den Fall, dass du auf das Zeltfestival hinauswillst: Vergiss es. Die Bank ist Sponsor. Spon-sor, verstanden? Bei der Entscheidung, wer da spielt, halten die sich raus.«

»Das glaub ich nicht.«

»Na schön. Vielleicht hast du recht. Aber ich bin bloß Azubine. Außerdem ist es für dieses Jahr sowieso zu spät. Nur noch vier Wochen. Die Bands stehen längst fest.«

»Nicht ganz. Eine Nominierung wird erst kurz vor Schluss bekannt gegeben. Und in den letzten drei Jahren waren die Nachnominierten zufällig genau die, die am Ende gewonnen haben.«

Mia wollte etwas darauf antworten, aber sie behielt ihre Meinung lieber für sich und beschäftigte sich wieder mit ihrem Lippenstift. Schmitti war besessen von diesem Thema. Das Zeltfestival gehörte zu den größten Musikereignissen in der Stadt. Veranstalter war ein gewisser Bleickhorst, ein Großindustrieller, der sich in der Stadt als Kulturmäzen aufspielte. Jedes Jahr im August wurden zwei riesige Veranstaltungszelte aufgebaut: eines in einem Waldstück am südlichen Rand der Stadt und ein zweites auf dem großen Platz vor dem alten Theater. Im ersten Zelt gab es drei Tage lang bis tief in die Nacht Rockmusik der härteren Gangart. Im zweiten fanden zur gleichen Zeit Opernaufführungen statt. Schmitti und seine Band-Kollegen interessierten sich natürlich für Ersteres. Vor allem deshalb, weil der Samstagabend für die Nachwuchsbands reserviert war.

Mia warf Schmitti aus dem Augenwinkel einen Blick zu. Manche Leute kamen nie in der Realität an.

Er trat seine Kippe auf dem Boden aus und gähnte. »Verdammt früh. Schon deshalb wär das kein Job für mich.«

»Morgen kannst du wieder ausschlafen. Dann fahre ich mit dem Bus.«

»Warum nimmst du nicht deine Vespa?«

»Sehr witzig. Mit den Klamotten auf dem Roller!«

»Du hast bloß Angst um deine Zickenfrisur.«

»Genau. Nach einer Viertelstunde mit Helm sähe ich aus wie du.«

Jetzt war ihr Make-up perfekt. Jedenfalls soweit sie das in dem schmutzigen Spiegel erkennen konnte. Sie presste ihre Lippen aufeinander und schraubte den Lippenstift zu.

»Wie spät ist es?«, erkundigte sie sich.

Schmitti sah auf die gerettete Uhr. »Kurz nach acht.«

Mia atmete tief durch. »Okay. Es kann losgehen.«

 

Schmitti trug die Umhängetasche, in der sie ihre Jeans und ihre Sneakers verstaut hatte. Schweigend marschierten sie nebeneinander durch den Park. Unter den hohen Bäumen war es schattig und kühl. Ihre Schritte knirschten auf dem sandbestreuten Weg. Mia stellte sich vor, wie ihre Erscheinung wirken musste: dunkles Kostüm mit kurzem Rock, Pumps, Ledermappe, Hochsteckfrisur. Business Woman. Nur der langhaarige Typ neben ihr passte nicht dazu. Es war zum Verzweifeln. Schmitti wollte sie unbedingt bis zur Bank begleiten. Am liebsten hätte sie ihn mit seinem Nietengürtel an einem Laternenpfahl festgebunden.

»Mann, Schmitti, ich komme allein zurecht«, setzte sie zum x-ten Mal an.

»Den Eindruck hatte ich bis jetzt nicht.« Er ließ die gerettete Armbanduhr vor ihrer Nase hin und her baumeln.

»Wenn du mich nicht fast mit der Tür erschlagen hättest, wäre die Uhr nicht ins Klo gefallen«, beschwerte sich Mia.

Schmitti versenkte die Hände in den Hosentaschen. Seine Augen verschwanden hinter seinen zerzausten Haaren. »Du bist immer noch wild entschlossen, das durchzuziehen?«, brummte er. »Jeden Tag früh aufstehen, arbeiten, Berufsschule … Partys kannst du dir jedenfalls von der Backe putzen!« Er sah einer Joggerin nach, die mit wippendem Pferdeschwanz an ihnen vorbeilief.

»Es gibt auch noch ein Wochenende«, erwiderte Mia.

Schmitti spuckte auf den Weg. »Toll.«

»Das hatten wir doch schon hundertmal«, stöhnte Mia.

Schmitti hatte von Anfang an kein Geheimnis daraus gemacht, was er von ihren Plänen hielt. Bis zum Schluss hatte er offenbar gehofft, dass sie eine Absage bekäme. Dann wäre sie weiter zur Schule gegangen, hätte Abitur gemacht und sich danach wahrscheinlich für BWL eingeschrieben, an der gleichen Hochschule wie er. Schmitti würde im Herbst mit seinem Musikstudium anfangen und im Übrigen von seiner großen Karriere als Schlagzeuger träumen.

»Komm schon«, lenkte sie ein, »darüber reden wir ein anderes Mal.« Sie warf einen verstohlenen Blick zu dem hohen schmiedeeisernen Parktor hinüber. »Das letzte Stück schaffe ich ohne deine Hilfe.«

Er sah plötzlich auf. Seine Augen blitzten. »Ist dir peinlich, vor der Bank mit mir gesehen zu werden, was?«

»Unsinn. Du weißt genau, dass das nicht stimmt.«

Er sah ihr noch immer geradewegs ins Gesicht. Mia schaute weg.

»Wie du willst«, meinte er. »Dann geh ich jetzt. Viel Erfolg an deinem ersten Tag.«

»Danke.«

»Kommst du heute Abend zur Band-Probe?«

»Ich … keine Ahnung, wie es in der Bank läuft.« Sie hob hilflos die Schultern.

»Na dann.«

Sie sah ihm nicht nach. Hastig lief sie weiter, durch das Parktor und dann geradeaus durch eine Ladenstraße. Die Geschäfte, an denen sie vorbeikam, hatten noch geschlossen. Sogar die Schaufenster wirkten verschlafen. Eine Kehrmaschine rauschte im Schritttempo vorbei. Der Fahrer starrte müde durch das Frontfenster. Trotz der frühen Tageszeit waren schon viele Leute unterwegs. Einige von ihnen trugen Anzüge, ein paar Frauen Kostüme oder Hosenanzüge. Sie waren auf dem Weg zur Arbeit: Büroangestellte, Banker. Mia flüsterte das Wort vor sich hin. Banker. Sie straffte ihre Schultern. Jetzt war sie eine von ihnen.

 

Der Kiosk am Ende der Straße hatte schon geöffnet. Mia eilte an den Zeitungsständern vorbei und erhaschte einen Blick auf die Schlagzeilen der Tageszeitungen. »Koalitionsstreit hält an«, titelte die FAZ. Die Süddeutsche meldete: »Amerikas Wirtschaft wächst deutlich«. Auf der ersten Seite des regionalen Tageskuriers stand in fetten Lettern: »Vorverkauf für Zeltfestival hat begonnen.« Mia rümpfte die Nase. Das Lokalblättchen bekam vom Weltgeschehen ungefähr so viel mit wie eine Kuh von den Lottozahlen. Seit einem Jahr etwa gehörte Mia zu den Abonnenten des Handelsblatts, und heute hatte sie die aktuelle Ausgabe schon in aller Herrgottsfrühe aus dem Briefkasten gefischt und in ihre Mappe gesteckt. Es würde einen guten Eindruck machen, wenn ihre neuen Kollegen und Vorgesetzten sähen, dass sie sich für Wirtschaftsthemen interessierte.

Schwungvoll bog sie um die Straßenecke. Da war es: Wie ein gewaltiger Schiffsbug ragte die glasverkleidete Front des Bankgebäudes auf. Es fuhr regelrecht auf sie zu, und sie unterdrückte den Impuls, auszuweichen. Okay, ermahnte sie sich, okayokay. Das hier ist nur ein Gebäude. Aber es war mehr als das. Dies war die Bank – Gegenstand ihrer Träume und ehrgeizigen Ziele. Und zugleich Herrschaftsgebiet ihres Vaters, in das sie jetzt eindringen würde. Sie ging weiter, an der Skulptur vorbei, die vor der Bank auf ihrem Sockel thronte: zwei riesige gebogene Metallklingen, die sich weit oben über ihrem Kopf kreuzten. Entschlossen wischte sie die letzten Bedenken weg. Jetzt gab es kein Zurück mehr.

IT

 

Die automatischen Türen glitten mit einem gedämpften Geräusch zur Seite. Mia presste ihre Ledermappe an sich. Die Schalterhalle war riesig und hoch wie eine Kirche und komplett in Granit, Glas und Edelstahl gehalten. In der Mitte plätscherte ein Springbrunnen. Er schien aus dem Granitstein des Bodens hervorzuwachsen wie eine gewaltige versteinerte Hand, rechts und links von zwei massiven Säulen eingerahmt. Das Licht in der großen Halle wirkte weiß und kühl wie der Geschmack von Pfefferminzbonbons.

Mia wagte kaum zu atmen. Wie musste es sein, hier zu arbeiten? Sich ganz selbstverständlich zwischen den hohen Wänden zu bewegen, zu wissen, dass man hierhergehörte?

Sie war noch ein kleines Mädchen gewesen, als sie zum ersten Mal die Bank betreten hatte. Sie war sich vorgekommen wie in einer anderen Welt, in einer Welt, die sie in ehrfürchtiges Staunen versetzte und die eine magische Anziehungskraft auf sie ausübte. Von diesem Tag an hatte sie sich für alles begeistert, was mit der Bank zusammenhing.

Und jetzt war sie hier, am Ziel ihrer Träume. Genüsslich sog sie die kühle Luft ein. Diesen Moment musste sie auskosten. Sie schloss die Augen und lauschte auf die gedämpften Geräusche: das Plätschern des Springbrunnens, leise Stimmen. Sie hatte die Grenze zu ihrem Traumland überschritten. Na ja, die Wahrheit klang nicht ganz so gut: Sie hatte sich heimlich eingeschlichen. Ernüchtert schlug sie die Augen auf. Schmitti hatte recht: Sie hätte es ihrem Vater sagen sollen. So wurde alles nur noch schlimmer. Aber sie hatte irgendwann einfach keine Lust mehr gehabt, sich die immer gleiche Leier anzuhören. Diese Welt ist nichts für ein Mädchen wie dich. Die Bank ist ein Haifischbecken. Und dann diese Geschichte mit Kehlhardt: Sie haben ihn abgesägt. Abserviert.

Kehlhardt. Immer wieder war dieser Name gefallen: Kehlhardt, der erfolgreiche Abteilungsleiter auf dem Sprung in die nächste Führungsebene, aus heiterem Himmel abgestürzt. Von einem Konkurrenten in die Pfanne gehauen. Jetzt war er angeblich Sachbearbeiter in der gleichen Abteilung, die er zuvor geleitet hatte. Mia hatte Kehlhardt noch nie gesehen. Aber sie hatte seinen Namen schon so oft gehört, dass er ihr vorkam wie ein entfernt lebender Verwandter.

Nein, dachte sie entschieden, daran will ich jetzt nicht denken. Das hier ist mein großer Tag. Ich habe es geschafft, und ich werde es genießen. Sie blickte zum Empfangsschalter hinüber. Ein Banker im dunklen Anzug stand dahinter und sprach mit einer Kundin, einer älteren Dame in einem blumigen Sommer-Ensemble. Mit seinen markanten Gesichtszügen und den leicht grauen Schläfen sah er einfach nur unverschämt gut aus. Um einen Mann wie diesen hätten sich die Mädchen aus Mias Schule gerissen. Sie wartete, bis die Kundin gegangen war, und setzte sich dann in Bewegung.

Ihre Pumps machten bei jedem Schritt ein knallendes Geräusch, das ihr in der Stille der Halle überlaut vorkam. Der Banker schien das nicht zu bemerken. Er blickte ihr mit charmantem Lächeln entgegen. Mia blieb vor ihm stehen und warf einen schnellen Blick auf das silberne Namensschild am Revers seines Anzugs. Valerian Coché, Service.

»Guten Morgen. Was kann ich für Sie tun?« Aus der Nähe sah er fast noch besser aus.

»Ich bin … ich habe heute meinen ersten Arbeitstag«, stammelte Mia.

Verflixt! Sie hatte nicht einmal Guten Morgen gesagt. Aber Coché nahm ihr das offenbar nicht übel.

»Sind Sie Auszubildende?«

Sie nickte stumm und heftete ihren Blick auf die glatte Oberfläche des Schalters.

»Verraten Sie mir Ihren Namen?«, fragte Coché.

»Morgenroth. Maria Morgenroth.«

»Ah.«

Mia wusste, was er dachte: Etwa die Tochter von dem Morgenroth? Regionaldirektor Privat- und Firmenkundengeschäft? Ja, ganz recht, von dem Morgenroth. Coché machte eine elegante Seitwärtsbewegung. Was hatte er vor? Er würde doch nicht etwa ihren Vater anrufen?

»Nein!«, entfuhr es Mia.

Er hob überrascht die Brauen. »Ich wollte Sie zu den Fahrstühlen bringen. Aber wenn Sie allein zurechtkommen … siebter Stock, Raum 702. Sie kennen sich aus?«

»Was? Äh, nein.« Mia war vollkommen verwirrt.

»Dann werde ich Ihnen den Weg zeigen.«

Sie folgte ihm quer durch die Halle, an den Schaltern vorbei. Die Unterseiten seiner Schuhe blitzten bei jedem Schritt hell auf, und sie versuchte, das Label unter der Sohle zu erkennen. Henry Kayes? Ihr Vater trug ausschließlich handgenähte Schuhe. Er kaufte kaum etwas von der Stange. Verflixt! Sie sah sich verstohlen um. Wenn sie ihm hier in der Schalterhalle begegnete … Ein eisiger Schauer kroch über ihren Rücken. Warum hatte sie sich nicht wenigstens bei einer anderen Bank beworben? Blöde Frage. Eine andere als diese wäre für sie niemals infrage gekommen.

Coché führte sie an einer ausladenden Sitzgruppe vorbei. Auf einem riesigen Fernsehbildschirm lief NTV. Der Ton war abgeschaltet. Mit seinen lautlosen Lippenbewegungen wirkte der Nachrichtensprecher wie eine Figur aus einem Traum. Bilder von debattierenden Politikern verdrängten ihn vom Bildschirm. Mia folgte Coché durch einen türlosen Durchgang.

»Guten Morgen!«, schallte es ihr entgegen.

Vor den Aufzügen stand ein unglaublich attraktiver Typ. Groß, dunkle Locken und ein Lächeln, das einen ganzen Schwarm von Kanarienvögeln in ihrem Bauch aufwirbelte.

»Auch in den Siebten?«

Seine Stimme war die passende Ergänzung zu seiner Erscheinung: tief und samtig. Mia nickte und lächelte zurück.

»Carlo Rossi.« Er streckte ihr seine Hand entgegen. »Praktikant. Heute ist mein erster Arbeitstag.«

Die zwei »R« in seinem Namen klangen nach Sonne. Carlo Rossi. Italiener?

»Maria Morgenroth. Azubine. Ist auch mein erster Arbeitstag.«

»Dann haben wir etwas gemeinsam.«

Im Gegensatz zu ihr schien er kein bisschen nervös zu sein. Mia war noch nie einem Mann begegnet, der einen Maßanzug mit derart lässiger Selbstverständlichkeit trug. Er hatte nicht einmal eine Aktentasche dabei. Sie selbst war froh, sich an ihrer Mappe festhalten zu können. In Sekundenschnelle machte sie einen gedanklichen Selbstcheck: Ihre Frisur konnte bei der Menge Haarspray, die sie benutzt hatte, nicht anders aussehen als vor einer Stunde, den Lippenstift hatte sie auf dem Bahnhofsklo erneuert, ihr Rock war kurz genug, und im Futter ihres Kostüms stand der richtige Markenname. Trotzdem spürte sie, wie sie rot wurde. Verlegen wandte sie sich dem großen Acrylglasschild neben den Fahrstühlen zu und überflog die Bezeichnungen der Stockwerke: 8: Casino, 7: Konferenzen und Schulungen, 6: Personalabteilung, 5: IT … Beim vierten Stock blieb ihr Blick hängen. Geschäftsleitung stand dort. Regionaldirektion. Dort musste das Büro ihres Vaters sein. Als Kind hatte sie sich gewundert, dass es nicht im oberen Geschoss lag. Inzwischen wusste sie längst, warum: Das Bankgebäude hatte einen dreistöckigen, nach hinten gelegenen Anbau mit einer riesigen Dachterrasse – eine grüne Oase, unter deren Glasdach die Herren aus der Chefetage besondere Gäste empfangen oder sich von ihren anstrengenden Geschäften erholen konnten.

Die linke der beiden Fahrstuhltüren öffnete sich. Wo war eigentlich Coché? Er musste sich so unauffällig zurückgezogen haben, dass sie gar nichts davon mitbekommen hatte.

Carlo ließ ihr den Vortritt. Die Aufzugtüren schlossen sich, und es ging aufwärts. Mia spürte, wie er sie in der verspiegelten Seitenwand musterte. Mit Mühe konzentrierte sie sich auf die Stockwerkanzeige.

»Sind alle Azubinen so hübsch?«, fragte er unvermittelt.

»Ich weiß nicht«, erwiderte sie. »Vielleicht haben sie außer mir nur Jungs eingestellt.«

Carlo lachte, und sie stimmte mit ein. Na also.

»Schade, dass ich nur drei Monate hier bin«, seufzte er.

Mia hielt dem Blick seiner dunklen Augen stand. »In drei Monaten kann viel passieren.«

Der Aufzug hielt. Vierter Stock. Die flatternden Kanarienvögel in Mias Bauch verwandelten sich mit einem Schlag in zackige Eiskristalle. Wie hypnotisiert starrte sie auf die Fahrstuhltüren, die sich öffneten wie Theatervorhänge. Eine dunkelhaarige Frau stieg ein. Sie schenkte den beiden ein flüchtiges Lächeln und drückte auf den Knopf für den achten Stock. Mia warf an ihr vorbei einen Blick aus dem Aufzug. Niemand zu sehen. Sie unterdrückte einen erleichterten Seufzer.

Die Frau blätterte ein paar Bögen Papier durch und vertiefte sich in eines der Schriftstücke. Auf ihrem Namensschild stand: Stefanie Kessel, Assistentin der Geschäftsleitung PFK. Mia stutzte. PFK: Privat- und Firmenkundengeschäft! Die Frau musste die Assistentin ihres Vaters sein! Sie war höchstens Anfang 30, 20 Jahre jünger als er. Und hübsch. Ihr Haar hatte einen leichten Bronzeton, und ihre Haut war makellos. Unter ihrem Rock, der nur wenig länger war als Mias, waren zwei schlanke Beine zu sehen. Mia dachte an ihre Mutter. Hässlich war sie nicht, aber eben keine 30 mehr. Sie hatte im Laufe der Jahre ein bisschen zugelegt, und ihr Gesicht war das einer ganz normalen Frau Ende 40.

Als Mia aufsah, traf Carlos Blick sie wie ein Stromschlag. Heiß lief es ihren Rücken hinunter. Bleib ruhig, ermahnte sie sich. Er konnte unmöglich ahnen, woran sie gedacht hatte.

Der Aufzug hielt zum zweiten Mal. Siebter Stock. Mit einem hingemurmelten »Auf Wiedersehen« stieg Mia aus.

»Einen schönen Tag noch, Frau Kessel!«, hörte sie Carlo hinter sich sagen.

So schnell wie möglich versuchte sie, sich zu sammeln. Carlo berührte ihren Arm, als er an ihr vorbeiging.

»Entschuldige.«

Er hielt eine verglaste Tür auf und machte eine einladende Geste. Noch ein paar Schritte, und sie war drin, wirklich drin. Sie hatte es plötzlich eilig, zum Konferenzraum zu gelangen, denn dort würde sich ihr Vater bestimmt nicht blicken lassen. Das bedeutete: Vor ihr lagen mindestens vier Stunden ohne Angst. Und für die Mittagspause würde ihr schon etwas einfallen. Vielleicht konnte sie Carlo überzeugen, ins Zaster mitzukommen. Anders als in der Kantine musste sie sich dort jedenfalls nicht hinter einer überdimensionalen Salatschüssel verstecken, um ihrem Vater zu entgehen. Außerdem … Ihr Herz machte ein paar schnelle Schläge. Ja. Das Zaster war eine erstklassige Idee.

IT

 

Granit, Glas, Edelstahl: Auch der Konferenzraum war in kühl-elegantem Stil gehalten. Die Wände wirkten wie aus grauem Stein gehauen. Sie waren mit Kunstwerken aus filigran geschwungenen Metallteilen verziert, die an fliegende Vögel erinnerten. Die Fensterfront, die eine ganze Längsseite des Raums einnahm, bildete dazu eine atemberaubende Entsprechung.

Mia folgte Carlo, der mit sicherem Schritt um den riesigen Konferenztisch herumging. Auf der Rauchglasoberfläche der Tischplatte spiegelte sich das Licht der Halogenleuchten.

Die meisten Plätze waren schon besetzt. Mia kannte keines der Gesichter, die ihr ein wenig angespannt entgegenlächelten. Die Azubis wirkten nervös. Sie hatten die erste große Hürde genommen und das Bewerbungsverfahren erfolgreich hinter sich gebracht. Jetzt mussten sie beweisen, dass sie die Investition der Bank wert waren. Immerhin: Die Tatsache, dass sie hier waren, bewies, dass sie etwas auf dem Kasten hatten. Carlo machte da mit Sicherheit keine Ausnahme. An ein Praktikum war kaum leichter heranzukommen als an einen Ausbildungsplatz. Anders als die Azubis benahm er sich jedoch, als ob er zwischen Konferenztischen groß geworden wäre. Die Blicke der Azubinen hingen an ihm wie Sirup. Mia taxierte ihre Konkurrentinnen: eine Schwarzhaarige mit Porzellan-Teint, eine Blondine im figurbetonten Hosenanzug und zwei Brünette, die nebeneinandersaßen und wie Schwestern oder zumindest wie gute Freundinnen wirkten. Die Mädchen waren allesamt hübsch, aber Mia stellte beruhigt fest, dass sie es mit ihnen aufnehmen konnte. Die Blicke der drei Jungs ließen daran keinen Zweifel.

Carlo steuerte auf das Ende des Tischs zu. Da, unmittelbar neben den beiden letzten freien Plätzen, saß eine strahlende Schönheit mit roter Lockenmähne und Beinen, die – soweit Mia das durch die Rauchglasplatte des Tischs beurteilen konnte – die Ein-Meter-Marke locker überschritten.

»Ist hier noch frei?«

Das Lächeln in Carlos Stimme war unüberhörbar.

»Oh ja!«

Grübchen hatte sie auch noch! Carlo blieb hinter dem Stuhl neben der Rothaarigen stehen. Mia nahm den zweiten Platz. Sie ließ sich auf dem hochlehnigen schwarzen Lederstuhl nieder und sah mit gerunzelten Brauen auf den Kugelschreiber und den Schreibblock, die vor ihr auf dem Tisch lagen. Sie hatte die Fensterfront im Rücken, und ihr wurde schwindelig bei dem Gedanken, dass es direkt hinter ihr mehr als 20 Meter in die Tiefe ging, auf eine vierspurige Hauptverkehrsstraße.

»Guten Morgen!«, dröhnte es von der Tür her.

Ein riesiger kahlköpfiger Mensch schob sich herein: Liebich, der Ausbildungsleiter. Er hatte einen Karton mitgebracht, den er vorsichtig an der Stirnseite des Konferenztischs abstellte. Das Geräusch der Schuhe und der hin und her geschobenen Stühle verebbte allmählich. Liebich breitete die Arme aus und strahlte in die Runde.

»Willkommen, meine Damen und Herren! Heute ist ein besonderer Tag für Sie.« Er klappte seine Arme wieder ein. Sein Doppelkinn wogte. »Darum spare ich mir eine lange Ansprache. Carpe Diem, wie der Franzose sagt!«

Er lachte dröhnend. Die Azubis stimmten höflich mit ein. Wie jemand mit einem solchen Gemüt in die Bank gelangen konnte, hatte sich Mia schon bei ihrer ersten Begegnung gefragt. Ein typischer Banker war er jedenfalls nicht.

Liebich setzte sich. Sein Stuhl sank mit einem leisen Uff ein paar Zentimeter nach unten. Beim Vorstellungsgespräch hatte er erzählt, dass er leidenschaftlich gern Tuba spielte. Tuba! Mia hatte ihn von Anfang an gemocht. Darum hatte sie ihn auch gebeten, ihrem Vater nichts von ihrer Bewerbung zu sagen. Bei jedem anderen wäre ihr diese Bitte nur mühsam über die Lippen gekommen. Liebich aber hatte sie nur mit einem merkwürdigen Blick angesehen, der irgendwo zwischen Verwirrung und Anerkennung lag, und mit seinen wuchtigen Schultern gezuckt.

Das Lachen des Ausbildungsleiters wurde leiser und hörte schließlich ganz auf. Er klopfte mit der Hand auf den Karton. »Hier habe ich ein kleines Willkommensgeschenk für Sie.« In feierlichem Ton fuhr er fort: »Sie gehören jetzt dazu. Seien Sie stolz darauf.«

Er öffnete den Karton und nahm etwas heraus, das aussah wie ein flaches Schmucketui.

»Giulia Alberti!«

»Ja!«, meldete sich die Rothaarige.

Sie stand auf und ging nach vorn. War sie etwa Italienerin? Mia sah Carlo von der Seite an. Er verfolgte die Bewegungen der Rothaarigen, als ob er auf keinen Fall etwas verpassen wollte. Als Giulia das Etui entgegennahm, schob sie mit einer nachlässigen Bewegung ihre Lockenpracht über die Schulter. Mia ärgerte sich, dass sie ihre Haare hochgesteckt hatte. »Zickenfrisur«, hatte Schmitti gesagt. Schmitti. Sie hatte überhaupt keine Lust, jetzt über seine Ansichten nachzudenken.

Die Rothaarige kam zurück und setzte sich. Carlo flüsterte ihr etwas zu. Sie nickte strahlend.

»Si«, verstand Mia. »… Italiana …«

Carlo antwortete mit gedämpfter Stimme. Vergeblich versuchte Mia, aus seinem schnellen Italienisch irgendein Wort zu verstehen, mit dem sie sich den Inhalt seiner Antwort hätte zusammenreimen können. Giulia nickte wieder und kicherte. Wütend bohrte Mia die Spitze ihres Kugelschreibers in die Lochung des Schreibblocks. Das Kichern ging ihr auf die Nerven. Wie konnte sich Carlo von so einem albernen Getue einwickeln lassen? Wenn sie ihn nur irgendwie ablenken könnte! Sie legte den Kugelschreiber dicht an die Tischkante und gab ihm einen Schubs. Mit einem scharfen Geräusch knallte er auf den Steinboden. Carlo drehte sich zu ihr um. Ein einziger Blick von ihm genügte, um die Kanarienvögel in ihrem Bauch aufzuwirbeln. Sie hatte das Gefühl, in rasendem Tempo in ein Achterbahntal zu stürzen. Unwillkürlich hielt sie sich am Tischrand fest. Durchatmen. Okay.

»Mein Kuli«, murmelte sie entschuldigend.

Durch das dunkle Glas der Tischplatte sah sie, wie der Stift ein Stück weiterrollte und dann liegen blieb, direkt neben Carlos schwarzem Schuh. Er lächelte und reichte ihr seinen eigenen Kugelschreiber, bevor er ihren mit dem Absatz zu sich hinschob. Als er sich danach bückte, begegnete ihr Giulias abschätzender Blick. Mia lächelte zuckersüß. Diese Runde ging an sie.

 

Liebich rief alle Auszubildenden nacheinander auf. In den Etuis waren silberne Namensschilder von der gleichen Machart wie die, die Mia schon von Coché und Frau Kessel kannte. Vorsichtig nahm sie ihres aus dem gestanzten Velours. Es war aus echtem Sterling-Silber mit einem eingeprägten Banklogo und ihrem Namen in Schwarz. Maria Morgenroth, Auszubildende. Sie öffnete die Klammer und befestigte das Schild an ihrem Revers.

»Meine Herrschaften«, meldete sich Liebich wieder zu Wort. »Nun, da Sie alle gewissermaßen das Brandzeichen der Bank tragen, möchte ich Sie mit dem bekannt machen, was Sie in den nächsten zwei bis drei Jahren erwartet.«

Carlo drehte sich wieder zu Mia um. »Ich überlege gerade, ob ich nicht länger bleibe als drei Monate«, flüsterte er.

Liebich erhob sich. »Ich habe einen kleinen Rundgang durch die Abteilungen vorbereitet, damit Sie einen Einblick in die Arbeit der Bank bekommen.«

Mia schnappte nach Luft. Was? Ein Rundgang? Und sie hatte geglaubt, hier oben sicher zu sein! Um sie herum erhoben sich alle.

»Wir beginnen im Erdgeschoss und arbeiten uns dann nach oben vor.«

Liebichs Stimme drang wie durch Watte an ihr Ohr. Erdgeschoss, erster Stock, zweiter, dritter, vierter: Geschäftsleitung, Regionaldirektion. Sie war geliefert.

Carlo beugte sich zu ihr herunter. »Gehen wir?«

 

Der Aufzug war für maximal zehn Personen ausgelegt. Mit acht Azubis, einem Praktikanten und einem schwergewichtigen Ausbildungsleiter war es beängstigend eng. Mia wurde abwechselnd heiß und kalt. Sie wollte nicht wissen, wie ihre Gesichtsfarbe aussah. Die Anzeige des Fahrstuhls wechselte von »7« auf »6«. Carlo stand vor ihr, links drückte Giulias Arm gegen ihren, ein wenig fester als notwendig, und rechts war der kalte Stahl der Aufzugtüren. Fünfter Stock. Ihre Gedanken rasten. Sollte sie eine Ohnmacht simulieren? In ihrer augenblicklichen Verfassung war das sogar glaubhaft. Nein. Das würde ein Riesenaufsehen geben. Sanitäter, panische Leute, das ganze Programm. Vier. Sie starrte auf die Zahl in der Fahrstuhlanzeige. Vielleicht konnte sie sich in der Gruppe verstecken? Ihr Vater würde sie niemals unter den Auszubildenden vermuten. Das war ein echter Vorteil. Wenn sie Glück hatte …

Dritter Stock.

Sie sah an Carlos Schulter vorbei. Schräg hinter ihm stand die Schwarzhaarige mit der blassen Haut. Silke Soundso. Der dunkle Kopf hob sich, und ein kajalumrandeter Blick blitzte auf. Mia sah weg. Unmöglich. Die Gruppe war zu klein, und es würde ihr kaum gelingen, sich die ganze Zeit in der Mitte des Trupps zu halten.

Zweiter Stock, erster.

Es gab nur einen einzigen Ausweg: Sie musste unbemerkt verschwinden, wenigstens so lange, wie die Besichtigung dauerte.

Erdgeschoss. Endstation. Jetzt war Improvisationstalent gefragt.

 

In der Schalterhalle drängten sich die Auszubildenden dicht zusammen und bemühten sich, so wenig Lärm wie möglich zu machen. Auch Liebich dämpfte seine Stimme.

»Die Schalterhalle ist die Visitenkarte der Bank. Sie muss nicht nur funktionell sein, sondern auch die Werte des Unternehmens transportieren. Noch wesentlicher als die bauliche Gestaltung prägen unsere Mitarbeiter das Gesicht der Bank. Da sind wir schon beim Thema. Ich möchte Ihnen Valerian Coché vorstellen.«

Coché lächelte den neuen Auszubildenden entgegen.

»Er leitet das Service-Team in unserer Hauptstelle«, erklärte Liebich. »Sie alle werden im Laufe Ihrer Ausbildung für einige Zeit hier eingesetzt sein. Also …«

Mia stand hinten, am Rand der Gruppe. Eine gute Startposition, um sich aus dem Staub zu machen. Neben ihr wippte Carlo auf den Fußballen vor und zurück. Von Giulia war nichts zu sehen. Wahrscheinlich stand sie irgendwo vorn bei Liebich. Mia biss sich auf die Unterlippe. Der Rundgang wäre eine großartige Gelegenheit gewesen, sich bei Carlo in Szene zu setzen. Sie stellte sich vor, wie sie mit ihm in vertraulichem Flüsterton plauderte, während Coché die Funktionsweise eines Geldautomaten erläuterte. Vielleicht würde Carlo dabei wie zufällig ihre Hand streifen, sie würden sich verschwörerisch in die Augen sehen, und – ja, und dann würde ihr Vater in die Romanze hineinplatzen. Es hatte keinen Zweck. Sie musste verschwinden.

»Das wichtigste Stichwort in unserer täglichen Arbeit ist Diskretion«, hörte sie Coché sagen. »Bei uns gibt es keine Warteschlangen am Schalter. So etwas muten wir unseren Kunden nicht zu. Unser Service-Team nimmt sie in Empfang und leitet sie zu unseren Spezialisten über, die …«

»Aber es gibt doch auch Fälle, für die man nicht gleich einen Spezialisten braucht«, unterbrach ihn jemand. »Bargeldauszahlungen, zum Beispiel.«

»Ja, natürlich«, räumte Coché ein. »Für kleinere Beträge haben wir unsere Geldautomaten im Foyer. Größere Auszahlungen werden an den Diskretionskassen abgewickelt. Ein gutes Stichwort. Folgen Sie mir. Ich zeige Ihnen, wie es darin aussieht.«

Er ging mit Liebich voran, und die Auszubildenden folgten ihm. Mitten in der Schalterhalle hielt die Gruppe an, um einen alten Herrn mit einem roten Schal vorbeizulassen, der zielstrebig auf den Empfangsschalter zuhielt. Einer von Cochés Kollegen begrüßte ihn mit professioneller Freundlichkeit.

Der Trupp setzte sich wieder in Bewegung. Coché führte sie an den Schaltern vorbei zu einer metallverkleideten Wand mit zwei darin eingelassenen Milchglastüren. Rechts und links davon standen eckige Pflanzenkübel mit eigenartigen stacheligen Gewächsen. Sie hatten lange, fleischige Blätter, die an Echsenschwänze erinnerten.

»Unsere Diskretionskassen sind nahezu vollständig schallisoliert«, erklärte Coché. »Damit nichts nach außen dringt, was unter das Bankgeheimnis fällt.« Er tippte einen Code in die Tastatur neben einer der beiden Türen. »Sesam, öffne dich!«

An der Tür gab es einen Stau. Stockend drängten sich die Azubis hindurch. Das ist die Gelegenheit, fuhr es Mia durch den Kopf. Vielleicht schaffte sie es, unbemerkt zurückzubleiben.

»Bitte sehr.«

Carlo. Er ließ ihr mal wieder den Vortritt.

»Ich … äh …« Sie nestelte an ihrem Namensschild. »Ich kann da nicht rein.« Ihr wollte partout keine vernünftige Begründung einfallen.

»Platzangst?«, fragte er besorgt.

Mia atmete erleichtert aus. »Genau. Platzangst.« Sie machte eine hilflose Geste. »Ich warte so lange hier draußen.«

Carlo zögerte. Er musterte sie mit schräg gelegtem Kopf. »Ich bleibe auch draußen.«

»Jemand muss mir doch erzählen, was es da drin so Spannendes zu sehen gibt.« Mia verschränkte die Finger und zwang sich zu einem Lächeln.

Jetzt lächelte auch Carlo. »Gut. Dann bis gleich.«

Die Glastür schloss sich hinter ihm. Mias Knie drohten zum zweiten Mal an diesem Tag nachzugeben. Reiß dich zusammen, wies sie sich selbst zurecht. Langsam drehte sie sich um und sondierte die Lage. Der alte Herr mit dem roten Schal stand immer noch am Empfangsschalter. Inzwischen hatte sich noch ein zweiter Banker dazugesellt. Offenbar kannten die beiden den Kunden. Den Gesten und der Mimik der Banker nach zu urteilen, drehte sich die Unterhaltung nicht um fachliche Themen. Ein dritter Bankangestellter, ein junger, drahtiger Typ mit zurückgegelten Haaren, durchquerte die Schalterhalle auf dem Weg zu der Sitzgruppe. In einem der Ledersessel hatte es sich ein Kunde mit einem Wirtschaftsmagazin bequem gemacht. Als er den Banker bemerkte, sah er ihm über den Rand seiner goldenen Brille entgegen. Okay, die waren beschäftigt. Also los.

Mia strich ihr Jackett glatt und setzte eine entschlossene Miene auf. Mit großen Schritten ging sie quer durch die Schalterhalle und versuchte dabei, nicht auf das Klack-Klack ihrer Absätze zu achten.

Jetzt war sie auf Höhe des Empfangsschalters. Der alte Herr mit dem roten Schal lachte glucksend. Einer der beiden Banker hinter dem Schalter beugte sich vertraulich zu ihm vor. Mia hielt die Luft an. Noch zwei Schritte, und sie war an ihnen vorbei.

Ohne sich noch einmal umzudrehen, lief sie weiter, bis zum Ende der Schalterhalle und dort durch den türlosen Durchgang zu den Aufzügen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, während sie auf den Aufzug wartete. Als sich die Türen endlich öffneten und den Blick auf eine leere Fahrstuhlkabine frei machten, war ihr beinah schlecht vor Erleichterung. Sie taumelte in den Aufzug und drückte die Taste für den siebten Stock. Mit quälender Langsamkeit schlossen sich die Türen, und es ging aufwärts. Mia sah sich selbst in der verspiegelten Seitenwand. Ihr Gesicht war blass, und ihre Haltung wirkte wie die eines verschreckten Tiers. Sah so eine selbstbewusste Bank-Azubine aus? Wütend reckte sie den Hals. Ihre Frisur saß noch immer perfekt, und ein wenig Rouge würde im Handumdrehen Farbe auf ihre Wangen zaubern. Sie zupfte am Saum ihres kurzen Rocks. Wenn sie den Bund ein wenig höher zog, dann …

Entsetzt starrte sie auf ihr linkes Schienbein. Eine Laufmasche, in ihren 30-Euro-Tights! Dabei hatte sie die Strümpfe vor dem ersten Tragen extra für 24 Stunden ins Tiefkühlfach gelegt, um die Fasern zu stärken. Mit zusammengezogenen Brauen untersuchte sie das winzige Loch, von dem die Laufmasche ausging. Auch das noch: Durch den zerrissenen Strumpf schimmerte es rot. Es war nur ein kleiner Kratzer, aber an dieser Stelle, genau in der Mitte des Schienbeins, zog er wahrscheinlich schon von Weitem alle Blicke auf sich.

Wie hatte das passieren können? Die Stachelarme der Pflanzen vor der Diskretionskasse kamen ihr in den Sinn. Wunderbar. Dann wusste sie zumindest, wovon sie sich in Zukunft fernhalten musste. Aber jetzt brauchte sie erst einmal ihr Not-Make-up.IT

 

Im Konferenzraum angekommen, verschloss sie die Tür, schlüpfte aus ihren Schuhen und rollte die Strümpfe von ihren Beinen. Ein paar Sekunden lang starrte sie ratlos auf die zusammengeknüllten Strümpfe in ihrer Hand, dann hatte sie eine Idee. Sie riss ein Blatt von ihrem Schreibblock und packte sie darin ein. So würde sich niemand über ein satinglänzendes Stoffknäuel im Papierkorb wundern.

Auf Zehenspitzen ging sie zu ihrem Platz zurück. Jetzt musste sie sich nur noch um die Schramme auf ihrem Schienbein kümmern.

Als sie gerade ihre Mappe öffnen wollte, um das Make-up herauszuholen, wurde die Tür geöffnet, und eine Frau mit kurzen grauen Haaren kam herein, einen Stapel mit schwarzen Mappen unter dem Arm. Mia erkannte Frau Löser, Liebichs Sekretärin. Diese sah Mia, die wie angewurzelt auf der anderen Seite des Konferenztischs stand, und stieß einen kleinen Schreckensschrei aus.

»Ent…schuldigen Sie«, stotterte Mia. »Ich wollte Sie nicht erschrecken.«

»Liebe Güte!« Frau Löser ließ die Mappen auf den Tisch fallen. »Ich dachte, Herr Liebich hätte die Azubis zu einem Rundgang mitgenommen.«

»Ja …« Mia suchte nach einer plausiblen Erklärung. »Ich wollte nur etwas holen.«

Frau Löser hob fragend die Augenbrauen.

»Den Ausbildungsvertrag«, improvisierte Mia. »Ich dachte, ich bringe ihn schnell in der Personalabteilung vorbei.«

Im nächsten Moment hätte sie sich die Zunge abbeißen können. Wie konnte sie nur so dumm sein, dieses Thema anzusprechen? Aber ihr war einfach nichts Besseres eingefallen.

»A…aber ich habe ihn zu Hause vergessen«, fügte sie schnell hinzu. »Es war alles so hektisch heute früh, da muss ich ihn auf dem Küchentisch liegen gelassen haben.«

Liebichs Sekretärin musterte sie streng. »Sie sind Frau Morgenroth, nicht wahr?«