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RAUCHSCHATTEN

Ilir Ferra wurde 1974 in Albanien geboren und kam 1991 nach Österreich. Er studierte Übersetzung für die Sprachen Englisch und Italienisch an der Universität Wien. Für seine literarische Arbeit erhielt er verschiedene Preise und Stipendien, darunter auch den renommierten Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis für sein Roman-Debüt »Rauchschatten«. Ebenfalls im Hollitzer Verlag erschienen ist sein zweiter Roman »Minus«.

ILIR FERRA

RAUCHSCHATTEN

Roman

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PROLOG

Die Plattform ist ein gähnendes Nichts ohne Boden. Und wenn doch einer da ist, dann ist er nicht wirklich. Dem, das hier ist, heißt es, sei nicht zu trauen. Es täusche, heißt es. Genau hier bin ich. Blicke um mich. Unter mir schattenhafte Umrisse einer Bühne, bedeckt von Gras. Die Bühne zur Darstellung von Schicksalen, verpackt in Spiel, alles überwuchert von Leben, in dem sich Schicksal, Spiel und Darstellung vermengen.

Zeitverschwendung, hier auf Echos zu warten. Aber Geld ist doch wirklich. Und das findet sich auch hier. Richtiges Geld. In dem Schutt der Bühne lassen sich tatsächlich alte Münzen aufstöbern, die gegen Eis oder Brausepulver eingetauscht werden. Funde, die sporadisch bleiben. Überhaupt stößt man beinahe zufällig darauf. Ohne zu graben. Ohne zu suchen. Als wären es Erzeugnisse der Erde und als würde es ausreichen, auf der Bühne zu spielen, lange genug in dieser Gegend unterwegs zu sein oder sich auf der Straße herumzutreiben, um an Münzen zu kommen.

Denn die Münzen entdecken immer die, die sich weigern, sich zu Mittag hinzulegen. Die sich vor ihren Eltern verstecken. Jene Kinder, die Hausarrest und Schläge in Kauf nehmen und sich zum Amphitheater begeben, um den ganzen Mittag, umgeben von verstümmelten Steinen, im Gras zu liegen. Sie tauchen in den zirpenden Schatten, der kühl ist und wo festgelegt wird, was Stille ist. Es scheint, so könnte man meinen, dass die Münzen die Belohnung für das Herumlungern sind oder ein Ausgleich, für was auch immer. Jedenfalls ein Etwas, das den Kindern in geordneten Verhältnissen verwehrt bleibt. Denn die werden jeden Mittag nach Hause geholt, ins Bett gesteckt, um keinen Sonnenstich zu bekommen, um nicht zu ausgeglühten Holzscheiten zu werden, wie das mit allem geschieht, das in der Hitze des Mittags auf der Straße ist, während im blassgrauen Hintergrund die kühnen Abenteurer bergauf schreiten, von der Küste zu den Stadtmauern, die das Amphitheater beschatten, eine Idylle, die trügt, wie es heißt. Eine Grube, gefüllt mit Echos, die rufen, auf die niemand lauert außer jenen Kindern, die auf den Mittagsschlaf verzichten.

Der Mittagsschlaf ist nämlich wichtig. Für die Straßen ist er die Pause zwischen zwei Atemzügen. Die Blendung in dem Moment, in dem die Sonne angeschaut wird. Ein Versteck vor dringenden Entscheidungen. Die beste Möglichkeit, Zeit zu schinden. Ein Riss wie der Mund der Nacht mitten im grellen Gesicht des Tages. Ein Aussetzer, der, von außen betrachtet, die Stadt in eine verwüstete Landschaft verschwenderischen Lichts verwandelt.

TEIL I

1

Vater steht auf dem Platz vor dem Hotel »Wolga«. Vor der großen Einfahrt zum Hafen, umringt von einer Zitadelle und dem Denkmal eines Mannes mit einem Gewehr in der Hand, vergräbt er seine Hände in den Taschen und sieht sich um. Der ausgestreckte Arm des aufgebrachten Helden über seinen Schultern deutet hinweg über den Gastgarten des Hotels, der auf der anderen Straßenseite liegt, auf das Meer und die verschwommenen Konturen der Schiffe, die darauf warten, in den Hafen einzulaufen. Der Garten mit seinen leichten Klapptischen und Stühlen aus blauem und rotem Kunststoff und Metallgestellen verschwindet unter einer dichten Laubdecke. In ähnlicher Weise wie die Musiker, die jeden Abend dort spielen und sich lässig den Verboten des Regimes entziehen, um sich mit ihren glatten Rhythmen und Melodien an die Schlager jenseits der Adria und Standards des fernen Jazz anzulehnen, trotzt der Garten der sengenden Hitze, die jetzt die Straßen der Stadt in ihren Fängen hält.

Vater wirft einen schnellen Blick über die Steine entlang der bemoosten Hafenmauer bis hin zu der Bronzemasse, die vor der Hafeneinfahrt emporragt und Enver Hoxha darstellt. Die riesige Statue überwacht mit erhabenem Blick den Platz. Keine Bewegung und kein Detail entgehen ihr, so dass auch Vater sich ertappt fühlt. Es ist bereits zwei Uhr. Später August. Flirrende Luft. Die Sonne sticht ein Loch in den fahlen blauen Tag und trifft Vater mit voller Wucht im Nacken. Kinder eilen in Richtung Meer. Von ihrem Gekreische verfolgt, tritt Vater durch die Drehtür in die Rezeption und nimmt deren Schwung mit.

Bitte?, fragt eine Frau, die aus dem dunklen Hintergrund herbeistürmt.

Sie, beginnt er zögernd. Sie haben mit meinem Freund Nikola Nushi über ein Zimmer gesprochen, sagt er nun schnell und leise und legt die rechte Hand auf die Theke.

Nikola ist für ihn eine Carte blanche. Er ist der Sohn des Ministerpräsidenten, des engsten Vertrauten von Enver Hoxha. Die beiden Staatsmänner scheinen unzertrennlich zu sein. Bei allen Reisen, die der Parteiführer unternimmt, bei all seinen Reden und bei allen aufwendigen Paraden am Ersten Mai ist an Envers Seite Nikolas Vater zu sehen. Diese innige Zweisamkeit findet allerdings ein Ende bei den hohen Bronzebüsten Envers, die überall im Land aufragen, bei den Propagandalosungen, die, mit Kalksteinen an Berghänge geschrieben, sich auf den einen und einzigen Herrscher berufen, und an den Wänden der Amtsstuben, die mit Fotos vom lächelnden weißhaarigen Sohn des Volkes geschmückt sind. Und mancherorts trotzen noch Envers Brustbilder als junger Mann in Offiziersuniform der Zeit.

Sie sind?, fragt die Frau.

Ich heiße Lundrim, entgegnet Vater rasch.

Sie nickt, öffnet eine knarrende Lade unter der Theke, kramt darin herum, Schlüssel klimpern. Sie richtet sich schnaufend auf, wirft ihr Haar zurück und macht Lundrim ein Zeichen, ihr hinauf zu den Zimmern zu folgen.

Ich gehe mit aufs Zimmer, sehen wir nach, ob wir den Schlüssel dort finden, denn hier ist er nicht, sagt die Frau und tritt hinter der Theke hervor. Im Hintergrund bewegt sich eine Männergestalt, um sie vorbeizulassen. Das Gesicht des Mannes wird von einem Lichtstrahl getroffen, nicht länger als einen Augenblick. Es ist einer der Jungen aus dem Viertel.

Kann sein, dass er mich kennt, denkt Lundrim.

Oder er kennt vielleicht meine Frau. Sicherlich aber ihre Eltern, denkt er weiter, während er der Frau die Treppe hinauf folgt.

Sie trägt ein Sommerkleid, hat leicht gelocktes, dunkelbraunes Haar, das bis zu den üppigen Schultern hinabfällt, und schreitet durch den unbeleuchteten Korridor, um am Ende des Ganges stehen zu bleiben und die letzte Tür aufzustoßen.

Wie lange?, fragt sie.

Wie?, stammelt Lundrim.

Bis zum Abend?, fragt die Frau.

Auf keinen Fall länger als bis zum Abend, erwidert er.

Ich wollte dir den Schlüssel nicht vor ihm geben. Man weiß ja nie, erklärt sie, während sie Lundrim den Schlüssel reicht. Ihre Finger berühren seine Hand.

Er betritt das Zimmer und versucht, sie mit hineinzuziehen. Doch sie schlüpft geschickt hinaus und schließt die Tür hinter sich. Er setzt sich auf das schmale, niedrige Bett und blickt um sich. Eine Waschgelegenheit neben dicken Fenstervorhängen, Tisch, Sessel und ein Schrank. Nichts Besonderes, doch passend für seine Verabredung mit Jeta.

2

Schon seit Stunden liegt Erlind seinem Vater Lundrim in den Ohren. Er möchte mit dem alten Kutter, der als Ausflugsschiff verwendet wird, eine Ausfahrt machen. Schließlich macht sich Lundrim auf den Weg zur Seebrücke und zu dem schmalen Kai, wo das Schiff anlegt, um sich nach dem Fahrpreis zu erkundigen. Da entdeckt er unter den Wartenden einige Frauen, für deren Anblick sich jeder Preis lohnen würde. Vor allem angesichts der Vorstellung, sie später auf dem Meer, auf der engen Fläche des Decks gleichsam gefangen zu wissen. In ihrer nur von winzigen Bikinis unterbrochenen Nacktheit wirken die gebräunten Frauenkörper auf den Vater ebenso anziehend wie das große blaue Meer auf den Jungen.

Willst du das wirklich?, fragt er Erlind noch einmal, während sein Blick gemächlich über Hüften, Arme, Venushügel und halbentblößte Pobacken streicht.

Wirklich, stammelt der Junge.

Dann gibt es aber weder Eis noch Limonade, setzt der Vater hinzu.

Erlind willigt mit leuchtenden Augen ein.

Lundrim legt eine Hand auf Erlinds Schulter und führt ihn durch die drängende Menge, die nach den besten Plätzen Ausschau hält, an Deck.

Lass uns vor zum Bug gehen, empfiehlt der Vater.

In nur wenigen Minuten ist das Schiff mit Ausflüglern aus Tirana überfüllt, die mit ihrem gepflegten Albanisch Erlind an die Nachrichtensprecher im Fernsehen erinnern. Er lässt diese Assoziation aber rasch unter der brausenden Bugwelle versinken, er möchte nun auch die Stimme seines Vaters nicht mehr hören. Der ist bald verschwunden und macht einen kleinen Rundgang, bei dem er Jeta entdeckt. Sie erwidert schüchtern seinen forschenden Blick, und um ihre Lippen formt sich so etwas wie ein Lächeln, während er unter dem Sonnensegel an ihr vorbeigeht. Sie stützt sich mit den Ellbogen auf die Reling und betrachtet die weiße Gischt, die hinter dem Heck aufstäubt. Lundrim macht einige Schritte, um schließlich, von etwas in seinem Innern gebremst, einzuhalten. Er lehnt sich an die Eisenwand der Brücke. Das Schiff wird von den Wellen sanft geschaukelt. Der Strand entfernt sich hinter dem glitzernden Blau. Die Menschen dort haben sich aufgelöst, nur die Schirme sind als winzige Punkte auf dem gelben Sand noch sichtbar, eine bunte Ameisenkolonie vor dem hellblauen Hotel »Adriatik«, seinerseits kaum größer als eine Streichholzschachtel. Dort am Strand liegen auch seine Frau Ellen und seine Tochter. Sie können ihn natürlich nicht sehen.

Entschuldigung, sagt Lundrim und tritt langsam an die Unbekannte heran. Ich kenne Ihr Gesicht.

Ja?, erwidert sie etwas verwirrt.

Ich bin mir ganz sicher, beteuert er. Es ist 

Sie sieht ihn ernst an. Sie wirft ihren Kopf in den Nacken. Sein Blick fällt auf ihren Bauch und ihre nackten Beine. So nahe wirken sie nicht mehr so anziehend und doch viel aufregender. Er kann keinen Satz mehr zu Ende denken.

Ich bin Dolmetscherin für Deutsch, sagt sie.

Er mustert sie stumm.

Sie arbeiten doch in der Fernsehfabrik, nicht wahr?, fährt sie fort.

Ja!, ruft Lundrim nun aus. Sie haben die Gruppe aus Deutschland gedolmetscht 

Genau, antwortet sie. Da habe ich gedolmetscht.

Genau, wiederholt er fröhlich, und die Röte, die ihr plötzlich ins Gesicht schießt, beruhigt ihn.

Schön, sagt sie. Aber ich bin nicht allein hier.

Lundrim verneigt sich leicht, lächelt verlegen und entfernt sich in Richtung Heck. Er lehnt sich an die Rückwand der Brücke und atmet tief Meeresluft ein. Sie ist vom Dampf verbrannten Schweröls durchsetzt, riecht süßlich betäubend und mischt sich mit dem Geruch des aufschäumenden Kielwassers. Unter sich spürt er die Zylinder des Schiffmotors pochen. Er legt eine Hand auf seine Stirn, lächelt etwas benommen, wankt erneut auf die Steuerbordseite des Schiffes und bleibt dort stehen. Genauso wie sie auf der anderen Seite, denkt er.

Nach wenigen Minuten erscheint Jeta wieder und lehnt sich neben Lundrim an die Reling.

Jetzt geht es wieder, sagt sie.

Natürlich kenne sie ihn. Sie sei vor ihm sogar gewarnt worden. Lundrim schaut sie verwundert an und hebt die Schultern.

Nichts Schlimmes, erklärt sie. Man habe bloß seine Einstellung zur Arbeit erwähnt. Der albanische Leiter der Delegation, der Kaderchef der Fabrik, habe ihr gesagt, dass Lundrim in seiner Abteilung gleitende Arbeitszeiten eingeführt hätte.

Und Sie erlauben also den Mitarbeitern tatsächlich nach Hause zu gehen, wenn sie ihre Arbeit erledigt haben?, fragt sie.

Ja, erwidert Lundrim, wenn die Arbeit getan ist! Jeder freut sich, wenn er auch nur zehn Minuten früher den Arbeitsplatz verlassen kann.

Ich finde es gut so, meint Jeta. Verstehen Sie mich nicht falsch, nur der Kaderchef schien etwas dagegen zu haben. Doch für mich klingt es vernünftig. Und nach einer kleinen Pause sagt sie: Ist es nicht schade, bei diesem Wetter über solche Sachen zu reden? Außerdem haben wir jetzt nicht so viel Zeit.

Lundrim hat sich Jeta inzwischen genähert, sodass ihre Oberarme ganz nah aneinanderliegen und ihre Schultern einander sanft berühren. Ihr Blick ruht auf der glänzenden Meeresfläche. Lundrim verfällt im Augenblick der Annäherung in einen leichten Rauschzustand. Seine Aufregung wird zur Neugierde. Seine Finger streichen zart über Jetas Arm. Da rückt sie ein wenig nach rechts, er nach links. Nach kurzem Schweigen nehmen sie ihre frühere Position ein und wiederum berühren sich ihre Schultern. Sie richtet sich auf und blickt ihm ernst in die Augen.

Das ist ein Arbeitskollege, sagt Jeta zu jemandem, der hinter Lundrim getreten ist, welcher sich überrascht umdreht. Ein Mann in einer viel zu großen, dunkelblauen, offenbar selbstgenähten Badehose reicht ihm die Hand. Es ist Jetas Bruder. Lundrim zögert, die ihm entgegengestreckte Hand zu drücken, ergreift sie dann doch und blickt mit falschem Lächeln in die tiefschwarzen, funkelnden Augen des Bruders und anschließend auf Jetas wie angewurzelt wirkende Beine.

Er ist Abteilungsleiter, sagt sie und stockt, als ihr Bruder Lundrim feindselig anstarrt.

Tja, meint Lundrim, ich werde wieder nach meinem Sohn sehen. Er steht ganz allein am Bug. Sehr erfreut, flüstert er schnell dem Bruder zu, während er zwischen der Reling und den sehnigen Schultern des Mannes durchschlüpft. Auf dem Weg zu Erlind beschleicht ihn, als wäre er knapp einer Verfolgung entkommen, unbändige Freude. Vergebens wehrt er sich gegen die Erinnerung an Jetas Gesicht, in dem er plötzlich eine Ähnlichkeit mit dem Gesicht seiner Frau entdeckt, wenn sie ihm Glauben schenkt, wohl wissend, dass er übertreibt, lügt oder etwas im Schilde führt. Der Mund der Halbfremden hat sich ihm bereits eingeprägt. Er trägt dessen Abbild mit sich, und während er sich zwischen den Passagieren seinen Weg bahnt, muss er unwillkürlich vor sich hin lächeln.

Am folgenden Morgen, es ist ein Montag, eilt der Portier quer durch das Fabrikgelände in Lundrims Abteilung, um diesem völlig atemlos mitzuteilen, dass der Kaderleiter eine Sondersitzung einberufen habe und dringend nach ihm verlange.

Sondersitzung, wiederholt Lundrim, der unter der Nachwirkung seiner gestrigen Begegnung mit Jeta alles immer noch wie durch einen Filter wahrnimmt.

Ja, ja, sagt der Portier und streckt die Hand aus, als wäre Lundrim ein Fremder, der den Weg zum Tagungssaal nicht kennte.

Verwirrt folgt Lundrim den hastigen Schritten des Portiers. Er starrt auf den Asphalt, vermutet ein Missverständnis und fragt den Portier, ob dieser sicher sei, dass er gemeint ist.

Der Mann nickt heftig, versucht ruhiger zu atmen, packt Lundrim am Ärmel und zerrt ihn weiter. Der ist beinahe dankbar, seine schlotternden Knie nicht steuern zu müssen.

Die Abteilung, die Lundrim leitet, ist in einem Gebäude im hinteren Teil der Fabrik untergebracht, während sich der Tagungssaal am anderen Ende des Geländes in einem Gebäude gleich neben der Einfahrt, die von Palmen und Blumen flankiert wird, befindet. Genau hier bleibt der Portier stehen und wirft einen kurzen Blick auf Lundrim. Seinen Blick erwidernd, findet Lundrim plötzlich, dass der Mann geschrumpft ist.

Jetzt kannst du nichts mehr machen, scheint der Portier zu denken, sagt aber zu ihm: Geh schon hinein, dann erfährst du wenigstens, was sie von dir wollen. Trau dich nur, etwas anderes bleibt dir ohnehin nicht übrig. Dann klopft er Lundrim aufmunternd auf die Schulter, ehe dieser das Gebäude betritt.

Auf dem Weg zum Saal fragt sich Lundrim, was sie von ihm wollen können, immerhin ist seine Abteilung eine der wenigen, die alle Vorgaben des Produktionsplans pünktlich erfüllt. Als er die Tür zum Tagungssaal öffnet, fühlt er mehr, als er sehen kann, wie sämtliche Arbeiter auf ihren Stühlen und die Funktionäre an dem langen Tisch am Podium sich ihm zuwenden. Der Kaderleiter fixiert ihn. Unter dem bohrenden Blick fühlt sich Lundrim plötzlich so, als habe man ihm eine Frage gestellt, die er nicht verstanden hat. Er weicht dem Blick aus und sucht zwischen den im Saal Anwesenden den Fabrikdirektor, einen dünnen Mann, der immer einen auffallend gut geschnittenen, dunkelgrünen Kittel trägt, mit hochgekämmtem Haar und fast schwarzen Lippen von den filterlosen Zigaretten, die er raucht. Normalerweise ist es die Stimme des Direktors, die den Tiraden des Kaderleiters Einhalt gebietet, indem sie neutralisiert, bei Fehltritten vorsichtig die politischen Absichten hinterfragt und Gnade walten lässt, die, wie betont wird, nur durch die »grenzenlose Milde der Partei« zu erklären ist. Dieser Stimme weiß der Kaderleiter in den meisten Fällen nichts entgegenzusetzen.

überrascht entdeckt Lundrim jetzt, dass auch der Direktor auf dem Podium sitzt, sogar zur Linken des Kaderleiters, und mit einem Gesichtsausdruck, der Lundrim noch weiter beunruhigt. Was haben sie nur?, fragt er sich und bleibt mit gesenktem Haupt bei der Eingangstür stehen.

Genosse, beginnt der Kaderleiter in einem erhabenen und zugleich beschwörenden Tonfall. Was höre ich da von der Belegschaft?

Lundrim zuckt mit den Schultern.

Ich spreche hier über die Neuerungen, die du hinsichtlich der Einteilung der Arbeitszeit eingeführt hast, ohne sie vorher mit mir oder irgendeinem anderen Parteimitglied zu besprechen.

An sich müsste Lundrim in so einem Fall nur eines tun: Nach einer Lobrede auf die Partei und die strahlende Gestalt ihres Anführers Enver, die für ihn eine ständige Quelle der Inspiration seien, die Neuerung als einen leichtsinnigen Fehler bezeichnen, ehrliche Selbstkritik üben und dann einige Drohungen des Kaderleiters, verpackt in zweideutige Äußerungen, reumütig über sich ergehen lassen. Und wenn er Glück hat, ist die Sache, nicht zuletzt dank der Hilfe seines Freundes Nikola, für immer erledigt. Stattdessen aber hebt Lundrim zu folgender Antwort an:

Ich möchte die Gelegenheit ergreifen, meinen Genossen einen Vorschlag zu unterbreiten, der die Leistung des gesamten Betriebs noch weiter steigern könnte.

Der Kaderleiter sinkt auf seinem Sitz zusammen. Seine Unterarme liegen matt auf dem Tisch. Er spitzt die Lippen, um die Belegschaft zum Schweigen zu ermahnen.

Die Erfahrung hat gezeigt, dass die Mitarbeiter viel effizienter sind, wenn sie nach Hause gehen können, sobald ihr Tagespensum erfüllt ist, fährt Lundrim fort, nahezu berauscht von der großen Stille, in der sich seine Stimme frei entfalten kann.

Und?, fragt der Kaderleiter. Dürfen sie dann die Arbeitsstätte früher verlassen?

Das ist ja der Punkt, erwidert Lundrim enthusiastisch. Durch die verkürzte Arbeitszeit können wir sogar Energie sparen.

Die Belegschaft reißt die Augen auf. Ein Raunen geht durch den Saal. Der Kaderleiter schüttelt den Kopf und brummt: Ach so! Dann lässt er einen prüfenden Blick über die Gesichter des Kollektivs schweifen und fragt: Hat vielleicht einer von euch dem etwas hinzuzufügen?

Achselzucken, Hüsteln und ein Nein-nein-nein-Singsang schwappen aus den hinteren Reihen podiumwärts.

Also, ruft der Kaderleiter mit scharfer Stimme, auf deinen Vorschlag, Genosse Lundrim, werde ich dir persönlich antworten. Die festgelegte Arbeitszeit von acht Stunden ist keineswegs der Willkür der Partei entsprungen. Sie folgt, langfristig betrachtet, einer der durchdachtesten volkswirtschaftlichen Lehren des Marxismus-Leninismus. Denn Karl Marx hat uns gelehrt, dass die Arbeit das erste und stärkste Lebensbedürfnis des Menschen ist. Abgesehen von der Qualitätsminderung, die die Befolgung deiner Idee verursachen würde – was geschieht denn mit einem Menschen, der, nehmen wir an, nur vier Stunden am Tag arbeitet? Glaubst du, Genosse, vier Stunden reichen aus, um das Bedürfnis nach Arbeit zu stillen?

Lundrim beginnt allmählich zu begreifen, dass er sich in eine gefährliche Situation hineingeritten hat, aus der ihn weder die Verbindungen seines kommunistischen Schwiegervaters noch Nikola herausholen können.

Bitte nicht, denkt er und reibt die Fingerkuppen aneinander. Bemerkt dabei, dass seine Hände feucht werden. Seine Stirn beginnt zu vereisen.

Hauptsache, niemand bemerkt etwas von meiner Angst, denkt er. Jetzt heißt es, einfach nur den Schnabel zu halten, um nicht durch Rechtfertigungsversuche noch tiefer in die Scheiße zu geraten. Er sieht den Kaderleiter reumütig an, und während dieser mit heißem Kopf und wutentbranntem Blick mit dem Zeigefinger wedelt, beschäftigen sich Lundrims Gedanken mit der roten Samtpolsterung der Stühle im Saal. Er vergleicht sie mit den Sofas im Empfangszimmer seiner Schwiegereltern.

Kommunistische Kommodität, sagt er zu sich selbst, und ein kalter Schauer läuft ihm dabei über den Rücken. Diesen Gedanken sollte er gleich wieder vergessen. Noch besser wäre es, ihn nie gedacht zu haben. Die Röntgenaugen der Belegschaft durchleuchten ihn.

Denn mit Erfolg und Weitsicht gewappnet, marschiert der Kommunismus, gebettet auf den stählernen Schultern des Proletariats, geführt von …, ruft der Kaderleiter.

Diese Holzvertäfelung, hinter der die Wand zur Hälfte verschwindet, denkt Lundrim, macht den Raum wohnlicher. Sie verleiht dem Saal eine warme Atmosphäre. Außerdem ist sie eine perfekte Tarnung für Aufnahmegeräte und Sender.

Man darf, und der Leiter erhebt seine Stimme, man darf Intellektuelle nicht mit Streichhölzern spielen lassen! Sie nehmen die Begriffe und stellen sie willkürlich nebeneinander. Im Grunde klingt das, was sie von sich geben, nicht einmal so schlecht und vielleicht sogar überzeugend. Aber wäre unsere Partei so stark geworden und unser Volk so immun gegen jegliche revisionistische Manipulation, wenn wir nicht in der Lage wären, reaktionäre Theorien bereits vor ihrem Aufkeimen entlarven zu können? Menschen wie du, Genosse, die auf gut Glück mit Begriffen und klassenfeindlichen Vorschlägen hantieren, spielen eigentlich mit dem Feuer des Proletariats 

Wie schön das Tageslicht in den Saal fließt, denkt Lundrim und spürt an seinen Handgelenken schon die eisige Umklammerung von Handschellen. Gedämpft von den schweren hellblauen Vorhängen schimmert das Licht auf dem mahagonifarbenen Lack der hölzernen Wandverkleidung, während die empfindlichsten Abhörgeräte der Welt jedes Detail seines Untergangs aufzeichnen. Richtig feierlich alles.

Wozu habe ich mir das eingebrockt?, fragt er sich, während sein Name wie ein zerbeulter Tischtennisball durch die Sitzreihen hin und her geworfen wird. Nur ihm selbst gelingt es nicht, den Ball zu erwischen und weiterzuspielen.

Lundrim vermeint Dankbarkeit in den Gesichtern der Kollegen zu erkennen. Anscheinend rechnen sie es ihm hoch an, der stinklangweiligen Sitzung Leben eingehaucht zu haben. Und plötzlich überkommt ihn unbändige Lust, eben jetzt und hier eine richtig wilde Nummer zu schieben. In jeder Hinsicht unlogisch. Absolut unpassend und trotzdem bei Weitem nicht so leichtfertig, wie seinen Gedanken vor dem Vorsitzenden freien Lauf zu lassen. Wie angenehm befreiend es doch wäre, diesen Saal zu entweihen. Es wäre um einiges verrückter und aufregender, denkt er, als sich in einem stinkenden Klo oder muffigen Bunker mit den Arbeiterinnen zu vergnügen.

Halt das Maul!, ruft sich Lundrim innerlich zu, während die Stimme des Kaderleiters immer verbitterter klingt und seine Gesichtszüge sich vor Abscheu verzerren.

Halt das Maul, wiederholt Lundrim stumm, meint aber nun nicht mehr sich selbst.

Nein!, setzt der Kaderleiter in einem schärferen und endgültigeren Ton an.

Jetzt ist es um dich geschehen, scheint er zu verkünden, und aus seinem Mund bricht eine lange Tirade hervor, die Lundrim nur in Bruchteilen registriert: hohe internationalistische Pflicht  kommunistische Bewegung  nachdrücklicher Kampf  China  Volksintelligenz  die breiten Mas-
sen … Moskau … Staatsmacht … Vereinigung der Massen … Heroismus der werktätigen Menschen … schöpferische Kraft … Opfermut … Liquidierung der Ausbeuterklasse … Kampf um die Hirne und Herzen … reine und tugendhafte Menschen … klassenfeindlicher Opportunismus … revisionistische Entartung 

Die Litanei findet ein jähes Ende. Lundrim bemerkt, dass hinter ihm jemand eingetreten ist. Verwirrt dreht er sich um und sieht Nikola. Dieser stellt sich abwartend neben ihn und lässt den Kaderleiter seine Rede zu Ende führen, die seit Nikolas Auftauchen, das alle im Saal registriert haben, um eine Spur versöhnlicher wirkt und wie ein aufgehobenes Missverständnis ausklingt.

Nach der Sitzung verlassen die Werksarbeiter etwas desorientiert den Saal. Nikola jedoch tritt entschlossen auf den Kaderleiter zu und vereinbart mit diesem und Lundrim ein Treffen noch am selben Abend.

Als die drei Männer das Strandlokal betreten, ist es bereits nach zehn. In dem großen Speisesaal, in dem tagsüber fast nie ein freier Tisch zu finden ist, sind sie nun die einzigen Gäste. Nikola verschwindet in die Küche.

Hör zu, sagt der Kaderleiter zu Lundrim, wir kennen dich besser, als du denkst.

Lundrim stammelt etwas, bekommt aber keinen geraden Satz heraus.

Wir wissen ganz genau, wer du bist. Auch wenn du dich bis jetzt unauffällig verhalten hast und dich nun bei Nikola einschleimst: Glaube nicht, dass du unantastbar bist.

Lundrim versucht erneut etwas zu sagen, doch der Kaderleiter gibt ihm ein Zeichen, den Mund zu halten.