DANKSAGUNG


Wie immer möchte ich zuerst meiner Familie danken. Für ihre Liebe und Unterstützung und für ihre unermessliche Geduld. Ohne sie wäre ich heute nicht da, wo ich jetzt stehe. Ein ganz besonderer Dank geht an meine liebsten Einhörner Jenny, Laura und Franzi und an alle Zeilenspringer, die mich tatkräftig unterstützen. Nicht zu vergessen meine Scylla, die mir immer mit Rat und Tat zur Seite steht. Und natürlich meine Mädels: Joana, Elena und Alisa. Für ihre Bereitschaft jedes einzelne Kapitel zu lesen und nach Schwachstellen, Ausschau zu halten. Für eure Begeisterung, ebenso wie für die Kritik, die mal wieder äußerst hilfreich war.

BUCH UND AUTORIN


Um Lara zu beschützen, hat Logan seine große Liebe aufgegeben. Zu ihrer eigenen Sicherheit darf sie sich an nichts mehr erinnern, was mit Logan und den Secutoren zusammenhängt. Ihr Leben verläuft in geordneten Bahnen, so scheint es auf den ersten Blick. Sie ahnt nicht, dass Leo noch immer in der Nähe ist und sie beobachtet. Doch ihr scheinbar normales Leben bekommt immer mehr Risse und schon bald wird Lara misstrauisch. Ohne es zu ahnen, gerät sie zwischen die Fronten eines uralten Kampfes und gibt Leo damit die Chance, seine Rachepläne endlich in die Tat umzusetzen. Erst viel zu spät wird Lara bewusst, dass ihr Leben in allerhöchster Gefahr ist.


Katrin Gindele wurde in Sachsen-Anhalt geboren und liebte schon als Kind Erzählungen aus anderen Welten. Sie ahnte damals, dass sie eines Tages fantastische Geschichten schreiben würde. Vor sechs Jahren hat sie sich dann ganz auf Fantasy spezialisiert, 2015 erschien ihr erster Roman »Cold Fire« bei Der Kleine Buch Verlag. Mit dem Reihenauftakt konnte sie bereits Erfolge beim »The Beauty and the Book«-Award feiern, wo sie es mit »Cold Fire« unter die Top 5 der schönsten Buchcover schaffte. Frozen Fire ist der zweite Teil der beliebten Urban-Fantasy-Trilogie.

Mehr Infos über die Cold Fire-Trilogie finden Sie unter:

facebook.com/coldfiretrilogie


Katrin Gindele

FROZEN FIRE

Wächter der Illusion


Fantasyroman


IMPRESSUM


Die deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.


© 2016 Der Kleine Buch Verlag | Lauinger Verlag, Karlsruhe

Projektmanagement & Lektorat: Anja Winckler

Korrektorat: Julia Barisic

Coverdesign: Sarah Buhr | www.covermanufaktur.de

Bildmaterial: Wolfgang Buhr

Umschlaggestaltung, Satz & Layout: Beatrice Hildebrand


Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes (auch Fotokopien, Mikroverfilmung und Übersetzung) ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt auch ausdrücklich für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen jeder Art und von jedem Betreiber.


ISBN: 978-3-942637-98-5

Dieser Titel ist auch als Printversion erschienen: ISBN 978-3-942637-97-8


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Wenn du dich entscheiden müsstest

zwischen einer Liebe voller Vertrauen

und einer einzigen vertrauten Liebe,

was würdest du wählen?


FÜR ROMY

Eine wunderbare Erinnerung

PROLOG

HILFLOS


Seit Tagen regnete es fast ununterbrochen und der graue Himmel ließ kaum einen Sonnenstrahl durch. Die Hände auf dem Rücken verschränkt, stand er im Wohnzimmer und schaute mit leerem Blick aus dem Fenster.

»Ist alles in Ordnung mit ihr?« Seine Stimme klang angespannt.

Die Frau nickte. »Es geht ihr gut.« Sie durchquerte das Wohnzimmer und blieb neben ihm stehen. »Und du? Was ist mit dir?«

Er runzelte die Stirn und schnaubte abfällig. Sein Gesicht nahm jene versteinerten Züge an, die ihn schon seit Wochen begleiteten, und ein dunkler Schatten legte sich über das Eisblau seiner funkelnden Augen. »Es spielt keine Rolle«, stellte er fest. »In erster Linie ist ihr Wohlbefinden wichtig, nicht das Meine. Solange sie in Sicherheit ist, bin ich zufrieden. Warum erkundigst du dich überhaupt nach mir?«, knurrte er.

Sie hob eine Hand, als wollte sie ihn trösten. Doch dann ließ sie ihren Arm sinken. »Ich dachte, du brauchst vielleicht jemanden zum Reden.«

Seine Augen wanderten über ihr Gesicht und seine Miene verfinsterte sich noch mehr. »Und du denkst, du bist die Richtige für so ein Gespräch?«

»Immerhin stehen wir beide auf der gleichen Seite«, meinte sie.

»Irrtum«, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen. »Du und ich, wir verfolgen das gleiche Ziel, aber das ist auch schon alles. Und jetzt verschwinde. Lass mich in Ruhe, Wachhund!«

Ohne etwas zu erwidern, verließ die Frau das Wohnzimmer. Noch während die Hintertür ins Schloss fiel, sprang er auf und griff unter den Tisch. Dann warf er ihn mit voller Wucht gegen die Wand. Sie zuckte heftig zusammen, als sie das Krachen vernahm, doch sie blieb nicht stehen. Sie konnte ihm nicht helfen. Niemand konnte ihm helfen.

ALLES AUF ANFANG


Der Regen prasselte gegen die Windschutzscheibe, während ich versuchte, mein Lieblingslied ausfindig zu machen. Als der Song endlich durch die Boxen dröhnte, lehnte ich mich zurück und summte leise die Melodie mit.

Im Nachhinein konnte ich mich nicht mehr genau daran erinnern, wann es angefangen hatte. Vor einigen Wochen vielleicht – dieses komische Gefühl, als würde in meinem Leben etwas fehlen. Nichts hatte sich verändert. College, Familie, Freunde. Alles war wie immer. Dennoch blieb der Gedanke stetig in meinem Hinterkopf und ließ mich nicht mehr los.

Als ich bemerkte, wie Jean mich beobachtete, verdrängte ich meinen Argwohn und versuchte zu lächeln. Wie so oft in letzter Zeit erwiderte sie mein Lächeln nur halbherzig, bevor sie ihren Blick wieder nach unten auf ihre Finger richtete. Sobald ich sie auf ihr Verhalten ansprach, wich Jean mir aus.

»Das bildest du dir nur ein«, sagte sie jedes Mal. Am liebsten hätte ich geantwortet: »Ja klar, ich leide unter Paranoia. Soll ja im Moment ganz angesagt sein.« Doch meistens sagte ich gar nichts. Ich lächelte nur, denn lächeln war immer gut, so musste ich mich wenigstens nicht rechtfertigen. Jean ließ mich kaum noch aus den Augen, was mich tierisch nervte. Nicht einmal am Wochenende ließ sie mich allein. Genau genommen verbrachte sie jede freie Minute mit mir. So sehr ich mich auch anstrengte, ich fand keine Erklärung für ihr komisches Verhalten, was mich nur noch mehr verwirrte.

»Was möchtest du dieses Wochenende unternehmen?«

Ich zuckte gleichgültig mit den Schultern, als Jean mich ansprach. »Schlag du was vor«, sagte ich mit wenig Interesse. Wir gingen an den parkenden Autos vorbei, während ich Jean heimlich musterte. Jeden Freitag das gleiche Theater, dachte ich missmutig, ständig wollte Jean mich dazu überreden, irgendwo hinzugehen.

»Möchtest du ins Kino?«, versuchte sie es nach ein paar Minuten erneut. »Oder wie wäre es mit einem Mädelsabend?«

Ich seufzte leise. »Jean. Du bist jedes Wochenende bei mir, sind das nicht genug Mädelsabende?«

Jean war meine beste Freundin und ich liebte sie wie eine Schwester. Doch inzwischen wurde mir das alles zu viel.

Ihre braunen Augen verengten sich ein wenig, als sie mir prüfend ins Gesicht schaute und sagte: »Ich dachte nur, wir könnten mal etwas anderes machen, als immer nur in deinem Zimmer zu hocken. Möchtest du nicht mal wieder ausgehen?«

Nur mit Mühe konnte ich meinen aufsteigenden Ärger unterdrücken. »Und wenn ich gar keine Lust habe, was anderes zu machen? Was ist, wenn ich gerne in meinem Zimmer hocke und die blöde Decke anstarre?« Missmutig ging ich weiter.

»Lara, Vorsicht!« Ein Sportwagen schoss auf mich zu und Jean zog mich hastig zurück. »Du lieber Himmel, hast du denn das Auto nicht gesehen?« Der blaue AMG legte den Rückwärtsgang ein und blieb neben mir stehen, während der Fahrer das Fenster herunterließ. »Verdammt noch mal, Lara! Hast du keine Augen im Kopf?« Doch ehe ich darauf reagieren konnte, lenkte er plötzlich ein. »Geht es dir gut?«

Ich holte tief Luft. »Hab wohl geträumt«, sagte ich kleinlaut. »Tut mir leid.«

Dean hob eine Augenbraue und gab Gas. Einige Meter weiter parkte er seinen Wagen. Gerade als er aussteigen wollte, wurde seine Tür aufgerissen und ein Typ zerrte ihn unsanft aus dem Auto. Eine wütende Stimme hallte über das gesamte Schulgelände. Um was genau es ging, konnte ich aus dieser Entfernung nicht verstehen, aber ich sah, wie der andere Junge Dean am Kragen packte und ihn mit voller Wucht gegen seinen Sportwagen drückte, während er ihn anbrüllte.

»Hast du mitgekriegt, was da los ist?«, fragte Kim, die die Auseinandersetzung mit regem Interesse verfolgte. »Weiß einer von euch, um was es geht?«

Meine Haare wurden von einer unangenehmen kühlen Briese erfasst und ich fröstelte. »Lass uns reingehen«, schlug ich vor. »Ganz egal, was da los ist, es geht uns definitiv nichts an.«

Kim folgte nur wiederstrebend. »Ich wette, es geht um ein Mädchen«, spekulierte sie. »Womöglich sogar um die aufgetakelte Barbiepuppe.« Sie kicherte leise. »Vielleicht hatte sie was mit beiden Typen und nun ist es rausgekommen. Bei so einer würde mich das nicht wundern.«

Jean wirbelte herum. »Jetzt halt aber mal die Luft an!« Ihre Augen funkelten vor Empörung. »Kannst du nicht endlich mal dein loses Mundwerk halten?« Dann stapfte sie aufgebracht weiter und Kim starrte ihr verständnislos hinterher.

»Was hab ich denn gesagt?«, fragte sie mich unschuldig. »Deine Freundin ist heute aber empfindlich.«

Ich wusste nicht genau, was ich von Jeans Ausbruch halten sollte, denn so etwas kam bei Jean nur sehr selten vor. Normalerweise blieb sie immer ruhig und gelassen. Schweigend betraten wir das Schulgebäude und ich folgte Kim ins Klassenzimmer.

»Ausgezeichnet Miss Anderson, wirklich sehr gut.« Mr. Conners nickte mir freundlich zu und legte den Französischtest vor mir auf den Tisch. Flüchtig schielte ich auf das rote A am Blattrand, dann schob ich den Zettel in mein Heft. Keine Ahnung, wann ich das letzte Mal so eine Note gehabt hatte – auf der High School eventuell.

»Du hast schon wieder ein A?« Jean war begeistert. »Das ist ja wunderbar!« Sie schenkte mir ein stolzes Lächeln, als ich zu ihr hinübersah. »Wenn du so weitermachst, dann steht deinem Traum, Grundschullehrerin zu werden, nichts mehr im Weg.«

Seit meinem Praktikum im letzten Jahr an einer Grundschule in Bloomfield war ich von dieser Idee hellauf begeistert. Ich liebte Kinder und konnte mir sehr gut vorstellen eines Tages selbst zu unterrichten. In Mathematik war ich zwar nicht besonders gut, aber den Anforderungen einer Grundschullehrerin sollte sogar ich gerecht werden können.

»Siehst du, was es bringt, wenn du ein wenig Zeit zum Lernen opferst?«

Ich zog eine Grimasse. »Ein steifes Genick und Rückenschmerzen?«

»Das ist nicht witzig, Lara.«

Schulterzuckend sagte ich: »Klar ist das witzig. Und wenn man Humor hat, kann man auch darüber lachen.«

Einen Moment lang war Jean sprachlos. »Du glaubst also, ich hätte keinen Humor?«

Sie wirkte gekränkt, also versuchte ich einzulenken. »So war das nicht gemeint. Natürlich hast du Humor, nur eben einen anderen als ich. Dein Humor ist irgendwie … na ja, manchmal ist er … schwerhörig?«

Ihre finstere Miene löste sich abrupt auf. »Dann sollte ich mir in Zukunft wohl etwas mehr Mühe geben, oder?«

Ich nickte zustimmend. Etwas mehr Mühe konnte wirklich nicht schaden.

Mein Sandwich schmeckte heute irgendwie komisch. Angewidert schob ich den Rest zur Seite und trank einen großen Schluck aus meiner Flasche. »Lara, guck mal!« Angela deutete vielsagend über den Tisch. »Markus schaut dich schon wieder so komisch an.« Möglichst unauffällig drehte ich mich zum Nachbartisch. Er hob sofort die Hand und winkte mir zu. Ich stöhnte innerlich, winkte zurück und drehte mich wieder um. Markus hatte mich schon mehrmals um ein Date gebeten. Bis jetzt war mir immer eine gute Ausrede eingefallen – ich muss noch Hausaufgaben machen, auf meinen kleinen Bruder aufpassen, Mom dringend in der Küche helfen. Doch so langsam gingen mir die Argumente aus. Es lag nicht an Markus, eigentlich gab es überhaupt keinen plausiblen Grund für mein Verhalten. Ich hatte einfach keine Lust auszugehen. Das war alles. Gedankenverloren schob ich mein Tablett in die Ablage und machte mich auf den Weg zum nächsten Kurs. Erst als ich in meinem Rucksack vergeblich nach meinem Heft kramte, fiel mir wieder ein, wo es lag. So ein Mist!

»Jean, ich muss nochmal zum Auto. Ich hab was vergessen.«

»Soll ich dich begleiten?«, fragte sie, wie aus der Pistole geschossen.

Ich winkte ab. »Quatsch, das ist doch nur Zeitverschwendung.«

Das kommt davon, wenn man sich zum Streber mausert, dachte ich zerknirscht, während ich über den Parkplatz eilte. Mom sollte den Test unterschreiben, deshalb hatte ich mein Heft noch einmal aus dem Rucksack geholt. Und es dann achtlos auf den Rücksitz meines Autos geworfen, weil ich spät dran war.

Kurz vor meinem Auto bremste ich ab. »Na toll«, murmelte ich genervt. Schon wieder ein Fan. Der Typ schlich in gebückter Haltung um meinen Jeep herum. Ich hörte, wie er beeindruckt durch die Zähne pfiff.

»Wow, das Auto ist ja krass. Echt stark die Kiste.« Beinahe ehrfürchtig strich er über den roten Lack, bevor er mich erneut ansah. »Ist das deiner?«

Ich nickte. In letzter Zeit tauchten ständig irgendwelche Typen auf, die mich nach meinem Auto fragten.

»Hast du den selbst bezahlt?«, wollte der Junge von mir wissen. Innerlich fluchend, öffnete ich die Beifahrertür und griff nach meinem Geschichtsheft, dabei wanderten meine Gedanken zurück. Kurz nach meinem letzten Geburtstag war der Brief einer ausländischen Bank ins Haus geflattert. Grandma hatte mir anscheinend eine größere Summe Geld hinterlassen. Noch am gleichen Tag hatte ich dort angerufen und eine Woche später waren zwei Männer in dunklen Anzügen vor unserer Tür gestanden. Ich musste einen Haufen Papierkram unterschreiben und dann hatte mir der Ältere von beiden die schwarze Kreditkarte überreicht. Dad war ein paar Tage später mit mir zu Mr. Jenkins gefahren und ich hatte mir dieses Schmuckstück ausgesucht. Heute konnte ich diesen Schritt nicht mehr nachvollziehen, denn normalerweise war es nicht meine Art, Geld auszugeben, wofür ich nicht gearbeitet hatte. Seitdem hatte ich das Geld nicht mehr angerührt.

»Entschuldigung?« Der Junge tippte mir auf die Schulter. »Hat deine Familie im Lotto gewonnen oder so was in der Art? Ich meine, die Karre kostet doch ein halbes Vermögen.«

Wütend knallte ich die Autotür zu und wirbelte herum. »Nein, wir haben nicht im Lotto gewonnen und geklaut habe ich das Auto auch nicht. War’ s das jetzt?«

Er schüttelte den Kopf und zog beleidigt ab. Während ich mein Heft zusammenrollte, fragte ich mich, wie viele Jungs an unserem College wohl noch übrig waren und wann das Theater ein Ende finden würde.

»Hallo.«

Erschrocken blickte ich nach oben. Ein Junge mit hübschen braunen Augen stand vor mir. Ich wartete, aber er sagte nichts weiter.

»Tut mir leid, die Besichtigungstour ist schon vorbei«, murrte ich. Ohne auf eine Antwort zu warten, wirbelte ich herum und ging los. Während ich über den menschenleeren Parkplatz hastete, drückte ich schützend meine Arme gegen den Brustkorb. Für diese Jahreszeit war es eindeutig zu kalt.

Nur durch Zufall bemerkte ich, dass der Junge mir folgte. Kurz vor dem Eingang blieb ich stehen und drehte mich um.

»Sag mal, kennen wir uns?«, fragte ich. »Und was machst du überhaupt noch hier draußen, musst du nicht ins College?«

Er musterte mich eingehend. »Heute nicht«, antwortete er mit tiefer Stimme. »Mir ist nicht nach College«, fügte er hinzu und wandte den Blick ab.

Ich starrte ihn entgeistert an. »Dir ist nicht nach College?«, wiederholte ich ungläubig. »Wenn ich das bei meiner Mom versuche, bin ich geliefert.«

Er lächelte mich an. »Logan. Mein Name ist Logan.« Im nächsten Augenblick drehte er sich um und ging davon. Wenig später raste ein tiefschwarzer Jeep mit verspiegelten Scheiben vom Parkplatz. Verblüfft sah ich ihm hinterher. Sein Wagen war eine Nummer größer als meiner, viel schneller und mit besserer Ausstattung. Doch zweifellos das gleiche Modell. Ein funkelnagelneuer Mercedes Brabus GL 63 Biturbo.

Während der Heimfahrt griff ich das Gesprächsthema vom Vormittag wieder auf. Ich wollte Jean milde stimmen, weil ich ein schlechtes Gewissen hatte. »Wenn du immer noch aus meinem Zimmer raus willst, könnten wir morgen Abend etwas trinken gehen.«

Jean betrachtete mich kritisch. »Morgen? Also soll ich heute nicht zu dir kommen?«

Ich grinste ertappt. »Ein paar Stunden mit Mom und Dad würden unserer Familie ganz gut tun, weißt du. Der letzte gemeinsame Fernsehabend ist schon eine Weile her.«

Jean lächelte schwach. »Dann hast du nicht vor, das Haus zu verlassen?«

Was waren das denn für komische Fragen? »Nein, ich habe nicht vor, das Haus nochmal zu verlassen«, gab ich gekränkt zurück. »Aber falls ich meine Meinung ändere, werde ich dich natürlich sofort anrufen.«

Jean seufzte leise und stieg aus meinem Auto. »Dann bis morgen, Lara.«

Ich winkte zum Abschied und fuhr rückwärts aus der Einfahrt. Manchmal war meine Freundin echt komisch.

Nach dem Abendessen hockte ich mich auf die Anrichte und schaute Mom dabei zu, wie sie das Loch in Dannys Hose stopfte. Ihre sorgenvolle Miene traf mich unvorbereitet.

»Du machst mir wirklich langsam Angst, Lara.«

Ich folgte ihrem Blick und schaute auf die Flasche in meiner Hand. »Seit wann trinkst du denn Wasser?«, fragte sie skeptisch.

»Was weiß ich«, gab ich zu. »Du sagst doch immer, ich würde zu viel Cola trinken.«

Ich drehte den Deckel auf den Schraubverschluss und stellte die Flasche zurück in den Kühlschrank. Mom legte das Nähzeug weg und schaute mich belustigt an.

»Dein Dad und ich haben die letzten zehn Jahre versucht, dich von deiner geliebten Cola abzubringen. Genützt hat es allerdings sehr wenig. Ich bin nur etwas erstaunt über den plötzlichen Wandel.« Ihre Miene wurde wieder ernst. »Und wenn ich so darüber nachdenke, dann ist das nicht die einzige Veränderung, die mir an dir auffällt.«

»Soll heißen?«, fragte ich schnippisch.

Sie lächelte milde. »Wo ist deine Vorliebe für Burger geblieben? Seit einer Ewigkeit habe ich dich keinen Burger mehr essen sehen.«

Missgelaunt verschränkte ich meine Arme vor der Brust. »Seit wann stört es dich, dass ich kein Fastfood mehr esse?« Ihre Feststellung war völlig aus der Luft gegriffen, wie ich fand.

Sie erhob sich und kam auf mich zu. Dann legte sie beide Hände an mein Gesicht und drückte mein Kinn nach oben. »Ich erkenne die Veränderungen an meiner Tochter sehr deutlich. Nicht unbedingt zum Schlechten, allerdings geht es so schnell, dass ich mir wirklich Sorgen um dich mache. Sei ehrlich zu mir, nimmst du irgendwelche Drogen?«

»Mir fehlt nichts«, nuschelte ich gezwungenermaßen. Ihre Hände quetschten meine Wangen zusammen. »Es ist alles okay, Mom. Ich nehme keine Drogen.« Egal was ich tat, irgendwie war es scheinbar immer falsch. »Kannst du mich bitte loslassen? Ich komme mir vor wie ein Karpfen.«

Sie folgte meiner Bitte, jedoch nicht ohne vorher nochmal den Kopf zu schütteln. Spätestens jetzt war mir die Lust auf einen gemeinsamen Fernsehabend endgültig vergangen. Der Film wäre noch keine zehn Minuten gelaufen, dann würde Mom erneut mit dem Thema anfangen. Schnell griff ich nach meiner Jacke. »Ich geh noch ein bisschen an die frische Luft. Und nein, ich bin nicht krank, ich will nur mal vor die Tür.«

Ehe sie etwas erwidern konnte, war ich draußen.

Mein Jeep tuckerte gemütlich über die Straße, während ich mir den Kopf darüber zerbrach, was Mom an mir auszusetzen hatte. Meine Noten gingen stetig nach oben, ich kam jeden Tag pünktlich zum College und meinen Cola-Konsum hatte ich erheblich zurückgeschraubt. Alles Dinge, die Mom eigentlich gefallen müssten. Und dennoch war sie nicht zufrieden. Diese Tatsache ärgerte mich gewaltig.

Der Wind wehte durch meine Haare, als ich die Autotür öffnete. Das Gesicht tief im Kragen meiner Jacke verborgen, schlug ich den schmalen Pfad zum See ein und hockte mich auf den alten Baumstamm, der nahe am Wasser lag. Hier war es einsam und friedlich. Genauso wie ich es mochte. Ich liebte die Stille, die Ruhe und die Abgeschiedenheit. Außer ein paar zwitschernden Vögeln und den Wellen, die bei stärkerem Wind gegen das Ufer klatschten, gab es ringsum keine störenden Geräusche.

Inzwischen war es fast dunkel und hinter den dichten Baumkronen leuchteten schwach die Lichter von Bloomfield Hills. Einige der Villen schimmerten in wahrer Festbeleuchtung, andere Häuser waren stockdunkel. Obwohl die Gegend in einer nicht unbeträchtlichen Entfernung zum See lag, konnte man die Umrisse von hier aus noch gut erkennen. Meistens saß ich auf dem Baumstamm und starrte solange in die Ferne, bis die Häuser vor meinen Augen verschwammen. Der Anblick erfüllte mich regelmäßig mit einer Sehnsucht, die ich mir nicht erklären konnte. Ich wusste nicht, warum ich jedes Mal so traurig wurde, sobald ich am Strand saß und meinen Blick über den See schweifen ließ. Es war, als würde ich etwas vermissen, was ich nur dort oben finden konnte.

Als es kühler wurde, machte ich mich auf den Rückweg zu meinem Auto. Eine Weile blieb ich noch in meinem Jeep sitzen und betrachtete das Mondlicht, wie es durch die Windschutzscheibe auf meine Hände fiel, die auf dem Lenkrad ruhten. Ein schmaler Streifen zeichnete sich auf der unteren Hälfte meines Ringfingers ab. Ich beugte mich vor und schaltete die Beleuchtung ein, dann drehte ich irritiert meine Hand zur Lampe. Eindeutig. An dieser Stelle war definitiv der Abdruck eines Ringes zu sehen.

In Gedanken versunken startete ich den Wagen und fuhr auf die Straße zurück. Zu Hause angekommen, führte mein erster Weg schnurstracks nach oben in mein Zimmer. Ich kramte mein altes Schmuckkästchen hervor, kniete mich aufs Bett und leerte den Inhalt aus. Ein Katzenanhänger von Tante Edith und ein paar bunte Perlenarmbänder in Herzform kamen zum Vorschein. Das waren alles Dinge, die ich schon seit vielen Jahren nicht mehr trug. Und dann war da noch der silberne Ring von Mom und Dad. Ein Geschenk zu meinem sechzehnten Geburtstag. Mit gemischten Gefühlen schob ich das Schmuckstück auf meinen Finger und betrachtete den kleinen dunkelgrünen Stein in der Mitte der Fassung. Es fühlte sich nicht richtig an. Ich war mir sicher, das war auf keinen Fall der passende Ring zum Abdruck. Es musste noch einen zweiten Ring geben. Doch wo zum Teufel war dieser Ring abgeblieben?

In der darauffolgenden Nacht konnte ich ewig nicht einschlafen und wälzte mich hin und her. Zu viele Gedanken schwirrten durch meinen Kopf und hinderten mich am Abschalten. Nur sehr schleppend glitt ich dann irgendwann in einen unruhigen Schlaf.

Ich wachte früh auf, wie so oft in letzter Zeit, und hörte, wie jemand die Türklinke herunterdrückte.

»Lara? Bist du schon wach?« Danny steckte den Kopf zur Tür herein und schaute mich forschend an. Grinsend schlug ich meine Decke zurück und er hüpfte freudestrahlend zu mir ins Bett. Seine Wuschelhaare schmiegten sich an meine Schulter, doch ebenso schnell wie er sich hingelegt hatte, fuhr er wieder hoch. »Dein Kissen ist nass«, stellte er mit ernsthafter Miene fest. »Hast du wieder geweint?«

Seine Frage irritierte mich. »Was redest du denn?«, wollte ich wissen. »Ich habe doch nicht geweint.« Danny schob die Augenbrauen zusammen. Er glaubte mir offensichtlich nicht. Ich wollte ihn vom Gegenteil überzeugen, indem ich meine Hand auf den Bezug legte. »Siehst du, das Kissen ist gar nichts nass, es ist …«

Der klamme Stoff berührte meine Haut. Völlig perplex zog ich die Hand weg, dann strich ich ungläubig ein zweites Mal über das nasse Kissen.

Danny setzte sich auf und schaute zu mir nach oben. »Ich kann dich hören, Lara. Du weinst jede Nacht. Warum bist du so traurig? Hat dir jemand wehgetan?«

Völlig überrascht starrte ich meinen kleinen Bruder an. Es stimmte, seit einiger Zeit schlief ich nicht besonders gut, die Ringe unter meinen Augen waren mehr als eindeutig. Aber Tränen? Danny schenkte meinem skeptischen Gesichtsausdruck keine weitere Beachtung. Er schupste das Kissen auf den Boden und kuschelte sich in meine Arme, dann schloss er die Augen. Ich lag regungslos neben ihm und grübelte über seine Behauptung nach.

Leise rappelte ich mich auf und tapste ins Bad hinüber. Im ersten Moment konnte ich an meinem Spiegelbild keine größeren Veränderungen ausmachen. Etwas blass um die Nase, die üblichen dunklen Ringe unter den Augen. Nichts, was ich nicht schon kannte. Bei genauerem Hinsehen allerdings waren meine Augen stark gerötet und die dunklen Ringe lagen in Wirklichkeit bereits als tiefe Schatten unter meinen Wimpern. Danny hatte Recht.

Ich weigerte mich hartnäckig, noch einmal in den Spiegel zu schauen, stattdessen schlüpfte ich in meine Jogginghose und schlich nach unten. Mom und Dad schliefen noch. Auf leisen Sohlen ging ich in den Flur und zog meine Strickjacke über, dann schaltete ich den Wasserkocher ein und begann den Tisch zu decken. Ein Blick auf die Uhr genügte, um mir einen leisen Seufzer zu entlocken. Es war halb fünf. Mit einer warmen Tasse Tee in der Hand setzte ich mich ins Wohnzimmer, wickelte die Decke um meine kalten Füße und schaltete den Fernseher ein. Doch egal in wie viele Decken ich mich einkuschelte, mir wollte einfach nicht warm werden.

Was war der Grund für diese frostige Luft in unserem Haus? Solche Probleme hatte ich früher nicht gehabt. Oder war das alles nur Einbildung?

EIN LEISER VERDACHT


»Wie geht es dir?«, fragte Jean besorgt.

Ich seufzte und senkte den Blick. »Alles in bester Ordnung, Jean. So wie immer.« Wir hockten in einem kleinen Diner und Jean versuchte händeringend ein Gespräch anzuleiern. Doch mir war nicht nach reden zumute. Am liebsten hätte ich mich in meinem Zimmer verkrochen, so wie jedes Wochenende. Nur leider hatte ich ihr diesen Abend versprochen und mein Versprechen wollte ich nicht brechen. Während ich mein Glas hob, fiel mein Blick wieder auf den schmalen Streifen an meinem Ringfinger.

»Sag mal … du weißt nicht zufällig, wo mein Ring abgeblieben ist?«

Jean betrachtete meine Hand, indem sie meine Finger anhob und zum Licht drehte. »Du glaubst, da fehlt ein Ring?« Ihre Frage klang merkwürdig beiläufig, als ob sie die Sache nicht besonders ernst nehmen würde.

»Ich glaube es nicht nur, ich weiß es«, sagte ich überzeugt. »Siehst du den schmalen Streifen? Da war ein Ring, ich bin mir sicher!«

»Nun ja …« Jean ließ meine Hand los und winkte der Kellnerin. »Womöglich hast du ihn nur verlegt«, sagte sie beiläufig. Sie vermied es jedoch, mich anzusehen. Stattdessen bezahlte sie unsere Rechnung und schlüpfte eilig in ihre Jacke. »Wir sollten langsam gehen, es ist schon spät.«

Vor unserer Haustür stellte Jean den Motor aus und schaute mich eindringlich an. »Also dann, wir sehen uns am Montag«, sagte ich beim Aussteigen.

»Lara?«

Zögernd blieb ich stehen. »Was?«

Jean beugte sich über den Sitz. »In einer Woche ist unser Referat fällig. Wenn du möchtest, kann ich dir ein paar Bücher ausleihen.«

»Das schaffe ich auch alleine«, gab ich zurück.

Sie schaute mich aufmerksam an. »Bist du sicher, Lara?« Ich knirschte mit den Zähnen und nickte.

»In Ordnung, dann bis Montag«, sagte sie zögernd. Ohne mich noch einmal umzudrehen, marschierte ich die Treppe hoch und drückte die Haustür auf. Erst nach einigen Minuten konnte ich hören, wie Jean schließlich davonbrauste.

Am Montag nach dem College fuhr ich in die Stadt, um mir ein Buch für mein Referat zu besorgen. Ich wollte es diesmal ohne Jeans Hilfe schaffen.

Im Bookstore war es wie ausgestorben. Weder gab es andere Kunden, noch konnte ich irgendwo eine Verkäuferin ausmachen. Eine Zeitlang wanderte ich schweigend durch die Regalreihen und studierte die Namen und Titel der einzelnen Bücher. Nachdem ich gefunden hatte, wonach ich suchte, klemmte ich mir das Exemplar unter den Arm und stellte mich vor die Ladentheke. Dort verharrte ich zehn Minuten, bis mir die Sache langsam aber sicher zu blöd wurde.

»Ich würde jetzt gerne das Buch bezahlen«, rief ich genervt. »Oder sind die heute alle umsonst?«

Nach weiteren fünf Minuten knallte ich das Buch auf den Tresen und ging entschlossen durch die angelehnte Hintertür. Entweder würde ich die Verkäuferin finden oder ich würde morgen ein zweites Mal in die Stadt fahren müssen und dazu hatte ich wirklich keine Lust!

Hinter dem angrenzenden Zimmer entdeckte ich einen langen Flur, indem es von Türen nur so wimmelte. »Na toll«, murmelte ich und blieb unsicher stehen. Was nun?

Da tauchten in meinem Kopf urplötzlich verschwommene Bilder auf: dritte Tür rechts. Der Gedanke war einfach da und deutete mir den Weg. Der dicke Teppich dämpfte meine Schritte, während ich durch den Flur schlich. Zögernd blieb ich vor besagter Tür stehen und drückte langsam die Klinke hinunter.

Ich stand in einem riesigen Wohnzimmer. Im Kamin brannte ein kleines Feuer und obgleich es noch helllichter Tag war, waren die Vorhänge an den Fenstern allesamt zugezogen. Auf dem Tisch stand ein verwelkter Strauß Margeriten, dessen gelblich graue Blütenblätter überall verstreut herumlagen. Obwohl das Wohnzimmer auf den ersten Blick sehr einladend wirkte, war die Atmosphäre kalt und trostlos.

Ein Schauer lief mir über den Rücken, während ich weiterhin Ausschau nach der Verkäuferin hielt. Trotz des Feuers im Kamin war es hier drinnen kälter als am Nordpol.

»Was willst du?!« Ich zuckte heftig zusammen, als mich die Worte erreichten. »Ihr sollt mich in Ruhe lassen! Ich will keine Gesellschaft!«

Die Stimme kam mir irgendwie bekannt vor. Neugierig geworden, durchquerte ich das Wohnzimmer und fand mich kurz darauf in einer ebenso riesigen Eingangshalle wieder. Dort blieb ich wie angewurzelt stehen, denn auf der gegenüberliegenden Seite, den Rücken zu mir gewandt, saß der Junge, der mich letzte Woche im College angesprochen hatte. Logan.

Ich wusste nicht warum, aber ich hatte ihn sofort erkannt. Er drehte eine leere Coladose auf dem Tresen so schnell zwischen seinen Fingern, dass mir allein vom Zusehen schwindlig wurde.

»Verschwinde endlich und erspare mir dein Mitleid«, murrte er, ohne sich umzudrehen. Das war eindeutig der beste Moment, um schleunigst das Weite zu suchen. Hier hatte ich nichts verloren. Ich beschloss, mir das Buch anderweitig zu besorgen und machte auf dem Absatz kehrt.

»Lara?«

Verdammt! Etwas unschlüssig spähte ich über meine Schulter zu ihm nach hinten. Er stand in der Tür, knapp zehn Meter von mir entfernt, und starrte mich ungläubig an.

Innerlich fluchend, drehte ich mich um.

»Ähm, hey«, stammelte ich verlegen. »Vorne im Bookstore ist keine Verkäuferin. Ich wollte mir eigentlich nur ein Buch kaufen, da hab ich …« Was sollte das Gestammel? »Ich sollte jetzt lieber gehen«, beendete ich meinen Satz.

Der hält dich garantiert für übergeschnappt, schoss es mir durch den Kopf. Doch er sagte nichts. Er stand einfach nur da und schaute mich mit seinen großen Augen überrascht an.

»Cola?«, fragte er unerwartet, als ich im Begriff war zu gehen.

Verblüfft schaute ich ihn an. »Meinst du mich?«

Über seine Lippen huschte ein unsicheres Lächeln. »Du magst doch Cola, oder nicht?« Seine Stimme klang nicht länger kalt und abweisend, sondern warm und freundlich. Und sie bewegte etwas in mir. Ich konnte mir nicht erklären, was es war, doch mein Körper reagierte eindeutig auf seine warme, raue Stimme.

Ich räusperte mich kurz und sagte: »Cola ist immer gut.«

Für einen Augenblick verschwand er in der Küche, dann kehrte er zurück und durchquerte zielstrebig die Eingangshalle. Begleitet von einem hinreißenden Lächeln drückte er mir eine Dose Cola in die Hand. Vorsichtig erwiderte ich sein Lächeln. »Danke.«

»Keine Ursache.« Mit einem Kopfnicken deutete er in die Richtung, aus die er gekommen war. »Möchtest du dich vielleicht setzen?«

Ich konnte mir nicht erklären, warum ich ihm so bereitwillig in die Küche folgte. Das war eigentlich nicht meine Art, schließlich kannten wir uns kaum, und genauso gut hätte er auch ein Serienkiller sein können.

Er nahm auf der gegenüberliegende Seite vom Tresen Platz und beobachtete mich, während ich mich auf den Barhocker setzte.

»Du brauchst ein Buch?«, fragte er interessiert. Ich trank einen Schluck, dann zuckte ich mit den Schultern. »Ja, fürs College.«

Er schien meine Antwort erwartet zu haben. »Für englische Literatur. Dein Referat, richtig?«

Ich ließ meine Cola sinken. »Woher weißt du das?«

Er schmunzelte. »Wir sind im gleichen Kurs, Lara.« Darauf wusste ich nichts zu sagen. Schon möglich, dass dieser Typ in meinem Kurs war. Doch hundertprozentig sicher war ich mir nicht. In den vergangenen Wochen war mir wohl einiges entgangen.

Als mein Handy klingelte, zuckte ich erschrocken zusammen. Mom klang genervt. »Hab ich vergessen«, stammelte ich beschämt. »Bin schon auf dem Weg.«

Eilig kippte ich den Rest meiner Cola hinunter. »Ich habe Mom versprochen, heute Abend auf meinen Bruder aufzupassen«, erklärte ich und wollte vom Hocker rutschen. Im nächsten Augenblick umfassten mich zwei starke Arme, hoben mich sanft hoch und stellten mich sicher auf den Boden.

Erschrocken und verblüfft zugleich, blinzelte ich nach oben. Er wirkte nicht weniger erschrocken als ich. »Tut mir leid«, gestand er leise und ließ seine Arme sinken. »Alte Gewohnheit.«

Ich schluckte benommen. »Alte Gewohnheit? Was meinst du damit?« Seine Augen wanderten unruhig an mir herunter, in der gleichen Sekunde hielt er mir ein Buch entgegen. »Vergiss dein Buch nicht.«

Es war das Buch, das ich auf den Ladentisch gelegt hatte.

»Aber woher …«, wollte ich erwidern. Doch er drückte mir ohne zu antworten das Buch in die Hand und schob mich sanft durch die Eingangshalle. Im Buchladen angekommen, blieb er vor der Tür stehen und lächelte mich zaghaft an. Seine Hand verharrte auf der Türklinke.

Ein wenig eingeschüchtert bemerkte ich: »Wenn du die Tür zuhältst, kann ich nicht raus.«

Schmunzelnd gab er den Weg frei. »Wir sehen uns morgen im College, Lara.«

Ich nickte und verließ so schnell es ging den Bookstore. Was auch immer diese Begegnung zu bedeuten hatte, sie sorgte dafür, dass ich an diesem Abend noch sehr lange wach lag und darüber nachdachte.

Als ich endlich eingeschlafen war, wurde ich von ungewöhnlichen Träumen geplagt.

Ich stand in einem schmalen Flur, umringt von unzähligen Türen und eingehüllt in ein rotes, bodenlanges Abendkleid. Mein Blick wanderte an mir herunter und als ich den Kopf wieder anhob, hatte sich die Szene plötzlich verändert. Ich stand nun in jener großen Eingangshalle, die ich heute zum ersten Mal gesehen hatte. Wenige Schritte von mir entfernt, lehnte der fremde Junge vom College am Türrahmen. Sein Gesicht war schmerzverzerrt und seine schönen Augen waren dieses Mal nicht braun, sondern blau. Eisblau. Während wir uns schweigend gegenüberstanden, begann es in der Eingangshalle zu regnen. Doch bei genauerem Hinsehen entpuppte sich der vermeintliche Regen als ein Meer aus tausend weißen Blüten, die um mich herum zu Boden fielen. Ich öffnete meine Hand und fing ein paar Blüten auf, doch kaum hatten sie meine Haut berührt, verwelkten sie und zerfielen zu Staub. Der Marmorboden verschwand binnen weniger Sekunden unter einem hässlichen grauen Teppich. Erschrocken starrte ich den Jungen an. Er machte einen Schritt auf mich zu und streckte seine Arme aus. Dann blieb er stehen und ließ den Kopf hängen.

»Es tut mir so leid, mein Engel.« Seine Worte zerrissen die beklemmende Stille. »Was tut dir leid?«, fragte ich verwirrt.

Seine Hände ballten sich zu Fäusten. »Bitte verzeih mir«, flüsterte er kaum hörbar. Seine Umrisse begannen zu verschwimmen.

»Geh nicht weg«, rief ich panisch. »Ich verstehe nicht ...« Ein flüchtiger Windhauch streifte meine nackten Schultern. Als ich meinen Blick wieder auf den Jungen richten wollte, war er verschwunden und ich stand allein in der Eingangshalle. Alles um mich herum wurde kalt und dunkel und dicke Schneeflocken wirbelten durch die eisige Luft. Ich drehte mich hilflos im Kreis, auf der Suche nach einem Ausgang, doch es gab keine Türen mehr. Ich war in dieser finsteren Welt gefangen.

Schweißgebadet wachte ich auf.

Zitternd vor Aufregung und Kälte krabbelte ich aus dem Bett und zog mir ein paar warme Sachen über. Es war noch nicht ganz hell, aber ich konnte nicht mehr einschlafen. Hastig kramte ich meine Kursunterlagen zusammen und schlich aus dem Haus.

Während ich den Kragen an meinem Mantel aufstellte, hockte ich mich auf den Baumstamm und atmete die klare Luft ein. Der See lag still und friedlich vor mir. Genau das, was ich jetzt brauchte. Ich verschränkte meine Arme vor der Brust und starrte angestrengt auf den sandigen Boden. Was um alles in der Welt hatte dieser Traum zu bedeuten? Er hatte sich so real, so echt und gleichzeitig so falsch angefühlt. Mach dich deswegen nicht verrückt, mahnte ich mich und legte den Kopf in den Nacken. Träume bedeuten nichts. Gar nichts.

Inzwischen war es hell geworden und so wie der Himmel aussah, würde es an diesem Tag ausnahmsweise mal keinen Regen geben. Als ich meinen Blick wieder nach vorne richtete, wäre ich vor Schreck beinahe vom Baumstupf gerutscht. Seine undurchdringlichen Augen fixierten mich mit einer Intensität, die mir durch Mark und Bein ging. Logans Blick wirkte leicht besorgt.

»Guten Morgen, Lara. Du bist schon unterwegs?«

Ich hob die Schultern, kaum fähig mein Erstaunen zu verbergen. »Und du?«, fragte ich misstrauisch. »Was machst du hier?«

Als er merkte, wie perplex ich war, verdunkelte sich seine Miene. »Ich komme gelegentlich hier vorbei.« Er seufzte und senkte den Kopf. »Eigentlich bin ich jeden Tag hier. Ich genieße die Ruhe und die Einsamkeit in den frühen Morgenstunden.« Seine Antwort machte mich sprachlos. Jeden Tag?

Ein entschuldigendes Lächeln huschte über sein Gesicht, als unsere Blicke sich trafen. »Es sei denn, du beanspruchst diesen Ort für dich alleine. Dann ziehe ich mich selbstverständlich zurück«, lächelte er.

Das hier war mein geheimer Lieblingsplatz, wie konnte er nur davon wissen?

»Schon okay«, presste ich hervor. »Der See ist schließlich nicht mein Privatbesitz. Außerdem komme ich normalerweise erst abends her.« Mein Gesicht begann zu glühen. Wie kann man nur so einen Mist reden, schoss es mir durch den Kopf. Doch entgegen meiner Befürchtung, er würde mich auslachen, schien ihm meine Aussage sogar zu gefallen. Sein Schmunzeln vertiefte sich zu einem wunderschönen Lächeln. Zutiefst beschämt starrte ich nach unten auf meine Schuhe. Ich fühlte mich, als würden ein paar Lampen in meinem Oberstübchen auf Sparflamme laufen.

»Ist dir kalt?«, fragte er plötzlich. Seine sanfte Stimme ließ mich aufhorchen, aber ich wagte es nicht, meinen Blick noch einmal zu heben.

»Mir ist nicht kalt«, murmelte ich befangen. Plötzlich tauchte ein Schatten unmittelbar vor mir auf. Logan ging in die Hocke.

»Aber du zitterst am ganzen Körper.«

Ich nahm meinen Mut zusammen und schaute hoch. »Vielleicht ein bisschen«, gab ich zu. Im nächsten Moment legte er seine Jacke um meine Schultern und ein überwältigender Duft stieg in meine Nase. Süß und herb zugleich, sehr männlich und über alle Maßen anziehend. Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen und rutschte ein Stück zur Seite.

»Du kannst dich setzen, wenn du willst«, sagte ich.

Als er mein Angebot ohne zu zögern annahm, spähte ich verstohlen zu ihm hinüber. Sein eng anliegender schwarzer Pulli betonte auf sehr beeindruckende Weise seinen Oberkörper. Ich musste mich schwer zusammenreißen, um ihn nicht die ganze Zeit anzustarren.

»Ein netter Zufall, findest du nicht?«, sagte er.

Mein Augen lösten sich widerwillig von seinen Muskeln. »Was meinst du?«, fragte ich.

Mit einer anmutigen Handbewegung deutete er auf mich. »Du kommst hierher, wenn sich der Tag dem Ende neigt. Ich hingegen, suche diesen Ort nur in den Morgenstunden auf. Und dennoch sitzen wir beide jetzt hier. Zusammen.«

Als ich kapierte, worauf er hinauswollte, musste ich lachen.

»Mein Fehler. Ich bin in deine einsame Morgenstunde geplatzt. Kommt nicht wieder vor, ich verspreche es.«

Sein Gesicht verfinsterte sich schlagartig.

»Verstehe«, sagte er nachdenklich. »Dann kann ich also nicht darauf hoffen, dass wir uns hier noch einmal begegnen?«

Wieder so eine Frage, die mich eiskalt erwischte. »Eigentlich nicht«, murmelte ich und wunderte mich darüber, dass meine Stimme ein wenig enttäuscht klang.

»Du könntest deine Meinung ändern«, schlug er plötzlich vor. In seinen Worten schwang ein hoffnungsvoller Unterton mit, den ich mir nicht erklären konnte.

»Du kannst deine Meinung genauso gut ändern, du könntest Abends kommen«, sagte ich. Er dachte eine Weile darüber nach, dann legte er den Kopf schräg. Seine Reaktion kam mir seltsam vor. »Oder hast du etwa noch nie deine Meinung geändert?«, fragte ich ungläubig. Als er den Kopf schüttelte, verzog ich das Gesicht. »Und wenn du eine falsche Entscheidung getroffen hast, dann auch nicht?«

»Ich treffe keine ›falschen‹ Entscheidungen«, sagte er bestimmt.

»Wow, dann hast du aber wirklich Glück, denn normalerweise kann man vorher gar nicht wissen, ob die Entscheidung die man trifft, richtig oder falsch ist, und ob man sie im Nachhinein bereut«, sagte ich etwas aufgebracht.

Logan runzelte die Stirn und sagte: »Selbst wenn man genau weiß, die Entscheidung war richtig, kann man sie dennoch eines Tages bereuen.« Er klang verbittert.

»Dann gibt es eine Entscheidung, die du bereust?«, hakte ich nach.

Einen Moment lang herrschte betretenes Schweigen, dann hob er den Kopf und sah mir tief in die Augen. »Wenn ich damals geahnt hätte, was meine Entscheidung auslösen würde …« Er wandte sich ab und ließ seinen Blick über den See gleiten. »Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht mit meinen Sorgen behelligen.«

Ich musterte ihn aus den Augenwinkeln. Er wirkte so hilflos – so traurig, dass ich einfach nicht anders konnte. Ich wollte ihn trösten. Erst als es schon zu spät war, bemerkte ich, was ich getan hatte. Mein Kopf ruhte an seinem Oberarm, meine Finger lagen auf seiner Hand. Ich erstarrte innerlich. Verdammt nochmal, dachte ich, bist du jetzt vollkommen übergeschnappt?

Logan seufzte leise und legte seinen Arm um meine Schulter. Seine unerwartete Berührung ließ meinen Puls augenblicklich nach oben schnellen. Dann konnte ich spüren, wie er sein Kinn sanft auf meine Haare stützte und mich fest an sich drückte. Meine Gedanken überschlugen sich regelrecht vor Überraschung. Was passierte hier?

»Diese eine Entscheidung hat mein Leben zerstört«, hörte ich ihn flüstern.

»Kannst du sie nicht rückgängig machen?«, fragte ich mit belegter Stimme.

»Ich würde ALLES dafür geben, wenn es möglich wäre.« Seine Stimme klang reumütig und flehend. Das Rauschen in meinen Ohren, das vermutlich von meiner eigenen Aufregung kam, verebbte allmählich. Stattdessen überkam mich ein Gefühl von innerer Ruhe und Geborgenheit. Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit fühlte sich in meinem Leben endlich wieder etwas richtig an.