Lebe un lebe lasse


Dieser Satz ist die Quintessenz badischer Lebensart und ein Symbol für Toleranz und Großzügigkeit. Badener sagen ihn gerne. Vor allem, wenn jemand wie die Gerda in der Nähe ist …


»Diese Leute sitzen mitten in Karlsruhe auf der Kaiserstraße. Auf Decken. Mit Bierdosen vor sich. Sie arbeiten nicht. Sie haben Hunde dabei, die wahrscheinlich überall hin machen. Glaubst du, dass diese Leute Hundesteuer bezahlen? Oder die Tiere impfen lassen?

Sie betteln. Und zwar auf eine unverschämte Art. Nicht irgendwie demütig. Sie schämen sich nicht mal. Sie stellen sich in den Weg, mit ihren Ohrringen und ihren Tätowierungen, und strecken die Hand aus. Manche haben Löcher in den Ohren, durch die man durchschauen kann!

Gibt man ihnen Geld, so vertrinken sie es. Gesehen? Gesehen habe ich es nicht, aber Goethes Gesamtausgabe werden sie ja wohl kaum davon kaufen. Sie rufen den Frauen manchmal Worte hinterher. Worte und Blicke. Manchmal lachen sie auch provozierend dazu. Und sie sind nicht sauber. Ich habe einen beobachtet. Er hat die ganze Woche die gleiche Hose angehabt.

Irgendwo müssen die ja wohnen. Nachts. Und im Winter. Das zahlen doch wir. Die existieren von unserem Geld. Vom Steuergeld des ehrlichen einfachen Arbeiters. Was sagst du dazu?«

»Gerda, was ich dazu sag?«

Auch Sylvia stört sich manchmal an den Pennern. Sie sind manchmal schmutzig und oft betrunken. Sie haben vielleicht wirklich keine Wohnung und halten Hunde, für die sie keine Steuern zahlen. Aber Sylvia weiß, wie leicht es gehen kann. Job weg, Wohnung weg, Partner weg. Der Hund bleibt. Sie hat es schon manchmal gesehen. Bei Leuten, von denen man es nie gedacht hätte.

»Was ich dazu sag?«

»Ja, sach mal!«

»Ich sag: Lebe und Lebe lasse!«

Buch und Autorin


Für das Nordlicht Gerda ist es gar nicht so einfach, ihre badischen Mädels, die an eine Mischung aus »Sex and the City« und die »Golden Girls« erinnern, zu verstehen. Da könnt ich mich neilege? In die Suppe? Redewendungen wie diese gehören zur badischen Lebensart wie die Pyramide zu Karlsruhe. Die unterhaltsamen Anekdoten um die Mädels-Clique zeigen, wie Alltagskatastrophen im sonnigen Südwesten gelöst werden, und bieten zeitgleich eine Übersicht über landestypische Redensarten, die einem gelegentlich aus der Patsche helfen können.

Und übrigens: Die »Scheusale mit Handtasche« kann man auch live in dem gleichnamigen Kabarettprogramm erleben!


Eva Klingler (*1955) arbeitete als Lehrerin sowie Journalistin (u. a. beim Südwestfunk) und ist seit Langem als Autorin tätig. Die meisten ihrer über 30 Veröffentlichungen beschäftigen sich mit badischer Geschichte, dem Lebensgefühl und der Kultur unseres Landes. So auch die Krimireihe um Maren Mainhardt (z. B. »Erbsünde«, 2013 in der 5. Auflage erschienen) und der Satireband »Beinahe Toskana oder Baden für Nichtschwimmer« (2010). Eva Klingler ist in Mannheim aufgewachsen, lebte lange in Baden-Baden und wohnt nun seit 14 Jahren mit Ehemann, Hund und Katze in Karlsruhe.


www.evaklinglerkrimis.de


Eva Klingler


frauen wie wir


Badische Geschichten


Impressum

Die deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.


© 2016 Der Kleine Buch Verlag | Lauinger Verlag, Karlsruhe

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Umschlaggestaltung: Sonia Lauinger

Satz und Layout: Beatrice Hildebrand

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ISBN 978-3-7650-2139-8

Dieser Titel ist auch als Printausgabe erhältlich: ISBN 978-3-7650-9120-9


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Für meine liebe Freundin Anne Lahres,

die immer ein offenes Ohr für mich hat!

In diesen Geschichten geht’s um uns


Man könnte ja sagen, um badische Frauen, aber Sylvia hat ihren Dauerbesuch Gerda in unseren Kreis eingeschleppt und Gerda kommt aus Norddeutschland. Da wo die deutsche Wetterkarte aufhört.

Zuerst hat Gerda bei Sylvia in Ettlingen gewohnt, denn die schicke Sylvia ist mit sich selbst in einer innigen Liebesbeziehung und legt deshalb Wert auf Äußeres sowie auf gehobene Wohnkultur mit einem Gästezimmer.

Irgendwann ging ihr Gerda aber auf die Nerven, sodass sie ihr eine Ferienwohnung im benachbarten Malsch gesucht hat. Vorübergehend.

Aber wir werden die Gerda irgendwie nicht mehr los. Es gefällt ihr bei uns, obwohl sie nur die Hälfte versteht.

Vielleicht deshalb.

Täglich fährt Sylvia in ihrem milchkaffeefarbenen Cabrio nach Weingarten, wo sie in einem Architekturbüro arbeitet.

Mit Lore, die auch Single ist und mitten in Karlsruhe in Bahnhofsnähe lebt, ist Sylvia schon lange befreundet. Lore arbeitet in Achern. Da sie naturverbunden ist, nimmt sie dorthin nicht das Auto, sondern die Stadtbahn. Außerdem ist in Straßenbahnen bekanntlich mehr als nur eine Beziehung geknüpft worden und Lore hätte nichts gegen eine späte Ehe einzuwenden. Vorhandene Kinder willkommen.

Zu unserer Clique gehört außerdem die Elke. Auch Elke wohnt in Karlsruhe, am Stadtrand in einem Reihenhäuschen mit Garten, das sie sich mit einem Mann, zwei Kindern und einem Hund teilen muss. Elkes Mann Manfred – übrigens ist er Sylvias Cousin, obwohl die darauf beharrt, dass es keine Familienähnlichkeit gibt – trifft man häufig im Garten an. Elke macht sich nämlich nichts aus Gartenarbeit. Sie würde sich aber durchaus was aus bezahlter Büroarbeit machen, doch im Moment hat sie keinen Job.

Dafür hat sie eine sehr muntere neunzigjährige Nachbarin namens Frau Wenzle, die mit dem Rollator im Viertel unterwegs ist und so lange von früher erzählt, bis die Leute selbst glauben, sie lebten in einer anderen Zeit.

Wenn’s an der Tür klingelt, muss Elke immer befürchten, ihre ungeliebte Schwiegermutter Lieselotte steht vor der Tür. Enkel besuchen. Die Teenager-Enkel sitzen aber verdrahtet oben in ihren Zimmern, und Elke muss unten die Lieselotte mit Kaffee bei Laune halten.

Außerdem gehört noch Johanna-Marie zur Gruppe.

Meistens wartet sie auf ihren Freund Torsten, der zwischen zwei Dienstreisen in der eigentlich gemeinsamen Wohnung in einem Zweifamilienhaus in Bühl Station macht.

Wenn der Computer angeschaltet ist, gilt dies als Zeichen, dass er zu Hause weilt.

So wie die Flagge auf dem Buckingham Palast die Anwesenheit der Queen verkündet.

Susanne ist die Erfolgreichste in der Runde, obwohl es zuerst gar nicht danach aussah. Sie schreibt sogenannte Regionalkrimis – und Bücher darüber, wie sie ihren Hund ausführt. Ein ziemlich simples Erfolgsrezept. Sie hat zuerst bei Offenburg gewohnt, dann ist sie nach Kuppenheim gezogen, jetzt kann sie sich eine Wohnung in Gaggenau mit Murgblick leisten.

Schließlich gibt’s noch die Ingrid. Das ist eine ehemalige Klassenkameradin von Lore, die einst eine gefeierte Schönheit war. Anstatt schön zu sein, trauert sie derzeit ihrem Ehemann hinterher und geht allen gehörig auf die Nerven.

Jetzt geht’s los.

Mit den Geschichten von uns …

Mir wern uns scho einig


Badener neigen dazu, Konflikte mit begütigenden Gesten und Worten beizulegen. Was nicht bedeutet, dass der Streit etwa vergessen wäre. »Mir wern uns scho einig« beinhaltet deshalb auch eine kleine gepflegte Kampfansage.


Die Singlefrauen Lore und Sylvia wollen sich für ein gemeinsames Wellnesswochenende verabreden. Sie sind allerdings noch nicht ganz einer Meinung, wo genau sie sich in wohltuender Frauenzweisamkeit erholen wollen. Es sollte allerdings »net weit weg«, also am besten im heimischen Baden sein.

Lore neigt mehr zu einer rustikalen Unterkunft, etwa in Sasbachwalden in einem biologisch-dynamischen Heuhotel, wohingegen Sylvia gekachelte und auf spätrömisch getrimmte Wellnesstempel bevorzugt. Etwa das Dollenberg in St. Peterstal-Griesbach oder das Römerbad in Badenweiler.

In heller Vorfreude hat sie schon mal die Prospekte studiert und dabei die Preisliste wohlweislich in den Papiermüll entsorgt.

Geradezu verinnerlicht hat sie nämlich einen weiteren beliebten badischen Spruch: »Mir gönne uns ja sonscht nix«, der auf sie nicht die Spur zutrifft. Sylvia gönnt sich nämlich andauernd was: Peelings und Frisuren, Sonnenbank, Cocktails und Klamotten. Schuhe und Handtaschen zählen bei ihr nicht zu Klamotten, sondern zu den nicht verschreibungspflichtigen Medikamenten: Hochwirksam gegen Frust, Ärger im Job oder weinerliche Anrufe von ihrer Mutter.

Ein Psychologe, den sie sich ebenfalls mal gegönnt hat, konnte ihre Konsumfreude erklären: »Sie sind Single, und da brauchen Sie eine Kompensation für den fehlenden Partner! Sie decken ein tief sitzendes Minderwertigkeitsgefühl zu.«

Sylvia, die sich keineswegs minderwertig fühlt, sondern froh ist, dass sie daheim keinen schlecht gelaunten Kerl vor dem Fernseher sitzen hat, ist hochzufrieden, eine Entschuldigung zu haben, und shoppt munter weiter auf Mannheims Planken und Karlsruhes Kaiserstraße oder scannt mit Kennerblick die Läden in Heidelberg ab.

Die beiden Mädels wälzen nun heute Mittag in Sylvias schick aufgeräumter Küche in Ettlingen genussvoll Prospekte.

Prosecco steht bereit.

»Des vorher Raussuche macht am meischte Spaß!«, verkündet Sylvia und schenkt nach. Guckt fragend. Lore schüttelt den Kopf und macht mit der Hand ein Häuschen über ihr Glas.

»Net mehr, Ich vertrag so früh nix!«

»Ärmschte!«

Tatendurstig flimmert der Laptop-Bildschirm daneben, um auf Knopfdruck die Bewertungen bereits abgefrühstückter Gäste auszuspucken.

»Also, ich wollt’ halt mehr mal so raus aus’m Alltag!«, befindet Lore. »Grad wenn mer mal auf den Luxus ganz bewusst verzichtet, kann mer ihn mehr genieße! Natur pur. Hier im Großstädtische habe mer des ja ganz selte. Alles zersiedelt. Baustelle. Neubauviertel. Lärm, wo du hinhörsch!«

»Ich kann Luxus immer genieße! Und wie!«, sagt Sylvia. »Heut simmer noch jung, Ich will net in e kratziges Heubett liege. Wer weiß, was ma sich da holt!«

»I denk net. Des isch getestet. Und desinfiziert. Schlimmer isch’s, wenn du in so e Hotelbett steigsch, wo tausend Leut vorher dring’lege habe un so e Zimmermädle bezieht des lieblos, ohne genau hinzugucke.«

Zwei Prospekte werden nebeneinandergelegt. Das Heuhotel in Sasbachwalden am Waldrand und das Römerbad in Badenweiler.

»Guck mal, wie g’mütlich die Gaststub isch. Wie in frühere Zeite!«, schwärmt Lore und sieht sich schon am Kachelofen sitzen und eine ländlich-sittliche Katze streicheln.

»Ich leb aber heut. Hier im Römerbad hasch Luxus in seiner reinschte Form. So’n russische Dichter …«

»Solschenizyn?«

»Nein, en älterer vom vorige Jahrhundert, der isch da g’storbe. Sag mal nix … Tschechow!«

»Ich will net hin, wo einer g’storbe isch. Und des morbide Ding da ist viel teurer als mei Heuunterkunft.«

»Mir könne aber dort im Badekittel direkt runner ins Wellness gehe! Und richtig entspanne!«

»Des kannsch im duftende Heu auch. Und mir könne steil hoch auf die Schwarzwaldstraß fahre. Und wandern. Da entspannt mer viel besser. Aktivurlaub nennt mer des!«

Sylvia verzieht das Gesicht.

Sie hat klare Vorstellungen. Am Pool abliegen, Wellnesstee schlürfen, Leute beobachten, dann Cocktail, mehrgängiges Essen, nochmal Cocktail, tanzen.

Vielleicht jemand kennenlerne, denkt sie.

Lore seufzt. Kräuter, Heuduft, klare Luft und die Berge. Lesen. Dorfleben. Abends in e urige Kneip mit niedrige Decke und Schinkengeruch, der seit Jahrhunderte in de Bretter steckt, denkt sie.

Und: Vielleicht jemand kennenlerne!

Die zwei Frauen sehen sich an. Streite? Nachgebe? Noch e Sektle trinke?, denken jetzt alle beide. Seufzen.

»Mir wern uns scho einig werde!«

Siehsch gut aus!


Süddeutsche sind nicht für schonungslose Offenheit gemacht. Badenerinnen schon gar nicht. Komplimente werden oft und freigiebig ausgeteilt. Man hört sie selbst gerne, glaubt sie oder glaubt sie nicht, auf jeden Fall kosten sie nichts und schaffen eine angenehme Gesprächsatmosphäre – etwas Wesentliches in einem Land, das von Tourismus lebt.


Lore hat ihre Klassenkameradin Ingrid lange nicht gesehen.

Von der einstigen Klassensprecherin Ruth, die manchmal Mails schreibt, ist aber durchgedrungen, die Ingrid sei von ihrem Mann getrennt. An sich nichts Besonderes. Von den einundzwanzig Mädchen, die sie einst waren, sind nur noch vier so verheiratet, wie es der Papst gerne sieht.

Aber jetzt läuft ihr die Ingrid unerwartet in einem der nicht ganz so guten Wohnviertel in Karlsruhe über den Weg. Genau genommen in der Südstadt, wo man sich die Ingrid eigentlich nicht vorstellen kann. Eher im Märchenviertel in Rüppurr oder auf dem Turmberg.

»Ingrid?«

»Bitte?«

»Kennsch mich nimmer? Ich bin die Lore. Aus unserer Klass, Abiklass. 19 … Ich sag’s besser net, wann des war.«

Die Ingrid kneift die Augen zusammen.

»Jetzt wo du’s sagsch. Was machsch du hier in der Gegend?«

»Mein Vater isch da drübe im Seniorenheim.«

»Ach so.«

Lore sieht Ingrid an. Die Ingrid war die Klassenschönheit gewesen. Bisschen albern manchmal, aber doch atemberaubend. Eine badische Liz Taylor. Lange schwarze Haare.

Lore erinnert sich: Tiefblaue Augen wie Kornblumen. Hatte alle Lehrer damit rumgekriegt, ihr noch einen Gnadenvierer zu geben.

Man hat’s damals sowieso net so genau g’nomme, denkt sie. Es gab noch keine Kurse und keine Punkte. Nur Note. Und fescht zugedrückte Auge.

Ingrid hatte dann einen Schönling geheiratet, der auf dem Hochzeitsbild neben ihr eine gute Figur abgegeben hat. Beide sind Lehrer geworden. Man hat ein schickes Haus gebaut. In Weingarten. Am Rand der Weinberge Richtung Kraichgau. Fernreisen sei ihr Hobby, ist erzählt worden. Kinder? Ja, eine Tochter, bestimmt auch schön.

Danach hat sich die Spur verloren.

Und jetzt steht Ingrid vor der Lore, die ja ihrerseits nie was Besonderes war. Und die Ingrid sieht ganz verhärmt aus, blass, zu dünn, Ringe unter den Augen. Zu lang geheult, zu kurz geschlafen, manchmal auch einen Wein zu viel getrunken. So sieht sie aus. Enttäuscht.

Wie eine retuschierte Erinnerung an die Ingrid von früher. Früher sind ihre schiefen Zähne bei all der Schönheit nicht aufgefallen. Jetzt sieht man fast nur noch die Zähne.

Lore könnte jetzt ehrlich sein. Die Ingrid war nicht immer so freundlich zu ihr gewesen. Früher, als sie noch die Klassenschönheit war.

Doch die Lore lebt nicht in Hamburg und nicht in Bielefeld. Sie lebt im Badischen.

»Siehsch aber gut aus!«, sagt sie.