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»Wo muss ich die Leiter hinstellen, um dich zurückzuholen?«

Der Moment des Abschieds ist gekommen. Ein beklommener Moment. Andrea hasst Abschiede. Und diesmal ist es ein Abschied für immer. Wir stehen uns am Valentinstag 2017 im schmalen Flur ihrer Wohnung in Röcken gegenüber. Nur spärlich dringen Sonnenstrahlen von draußen in den dunklen, ziegelrot gestrichenen Flur, in dem verstreut die Schuhe von Andreas kleinen Töchtern Nele und Mia liegen. Neben der Garderobe mit den Anoraks stehen der Schulranzen von Nele und die Kindergartentasche von Mia.

Ein vertrautes Gespräch geht nach zwei Stunden zu Ende. Und zu Ende gehen damit vierzehn Monate, die wir uns nun persönlich kennen. Der Journalist und die Totkranke. Wir schauen uns in die Augen. Eigentlich würde man jetzt »Auf Wiedersehen!« sagen oder »Tschüss!« oder auch »Bis zum nächsten Mal! Bleib gesund.« Doch jetzt und hier ist alles anders. Die Zeit friert für Sekunden ein. Nie mehr werde ich diese schlanke junge Mama, die lässig an der Flurwand lehnt, wiedersehen. Wie so häufig trägt sie ihr Halstuch mit den Schmetterlingen. Ausgerechnet der Schmetterling, habe ich einmal philosophiert, der frei sein kann und so unschuldig ist wie schön. Nie mehr, schießt es mir durch den Kopf, werde ich mit ihr in der gemütlichen Küche sitzen und beobachten, wie sie ihre Hände um die wärmende Tasse Tee schließt, während wir stundenlang reden – über sie, über ihre Krankheit, über ihre Ideen, über ihre Töchter, über Gott und die Welt.

An der Wand im Flur hängt ein liebevoll gemaltes Bild. Andrea hat es sich ausgedacht. Es zeigt die farbigen Fußabdrücke von ihr und Nele und Mia, es gleicht einer glücklichen und friedlichen Hasenfamilie, die immer zusammensteht, was auch kommen mag. »Die übergroße Hasenmama mit angeborenem Beschützerinstinkt, daneben die unschuldigen Hasenkinder, ganz eng an ihre Beschützerin gekuschelt. Welches Bild beschreibt uns besser?«, hat Andrea es einmal kommentiert.

Die Farben glitzern, so bunt wie das Leben in all seinen Facetten. Ein Regenbogen. Auf dem Bild steht: »Endless Love«. Andrea und Nele und Mia: eine endlose Liebe, die nie vergehen wird, was immer auch passiert.

»Weißt du, was Nele vorhin zu mir gesagt hat? Sie bat mich: ›Mami, nimm bitte ganz viele T-Shirts mit hinauf in den Himmel und wirf sie mir dann herunter. Denn dann weiß ich, dass du gut angekommen bist. Und ich weiß, wo ich die Leiter hinstellen muss, um dich zurückzuholen.‹«

Ein Satz, wie gemacht für eine Schlagzeile. Emphatisch und emotional. Andrea spricht viele solcher Sätze. Sie weiß: Ich bin Reporter. Einer, der beobachtet und fragt und aufschreibt. Doch längst spielt der Beruf keine Rolle mehr. Egal, ob Reporter oder Heilerziehungspflegerin – wenn die letzten Tage angebrochen sind, wird all das zur Nebensache. Andrea redet frei von der Leber weg, ohne Vorbehalte, ohne Schere im Kopf. Ohne sich zu fragen: Um Gotteswillen, was habe ich jetzt bloß gesagt? Und ich behalte mehr im Hinterkopf, als in mein rotes, quadratisches Büchlein passt. Da ist auch dieses gewachsene Vertrauen, das uns seit über einem Jahr verbindet. Ich bin nicht mehr nur der neugierige Journalist, sondern inzwischen ein guter Freund, ein Vertrauter, der zum »Schnattern« kommt, wie sie es immer salopp nennt, wenn wir uns treffen und reden.

»Ich werde mich umhören«, verspreche ich und breche das Schweigen. Sie hat mich zuvor noch einmal eindringlich gebeten, öffentlich nach weiteren Krebs-Spezialisten zu fahnden. Kliniken zu finden, die ihr noch eine Chance auf Weiterleben, auf ein bisschen Zeit geben können. Es geht ihr um Aufschub. Als sie mich darum bat, blitzten ihre Augen hellwach auf. Ein Aufflackern ihrer letzten Lebensenergie, die längst auf Sparflamme läuft. Damit es noch reicht für das Allernötigste.

Ich gebe ein Versprechen, das ich aber nicht werde halten können.

»Klasse, darüber freue ich mich! Abgemacht!«, sagt Andrea zufrieden. Als ginge es um eine Alltagsfrage, die wir besprochen und gemeinsam abgehakt hätten. Als könnten wir etwas ändern, was längst nicht mehr zu ändern ist.

»Es ist wieder lang geworden heute«, sage ich. »Jetzt kannst du dich ausruhen!«

»Ausruhen?«, erwidert sie und verzieht das Gesicht. »Ausruhen kann ich noch lang genug! Meine Uhr ist eingeschlafen.«

Wir umarmen uns zum Abschied. Sie gibt mir ihre Hand, ein zarter Händedruck. Ihr fehlt einfach die Kraft.

Ich schlucke und will schnell die Situation beenden, ehe mir die Tränen kommen. Ich drehe mich weg, eile die dreizehn steilen Stufen hinunter. Andrea folgt mir zwei Schritte und bleibt dann stehen. An der Haustür hebe ich kurz die rechte Hand zu einem letzten Gruß. Andrea winkt zurück. Sie ruft leise: »Bis bald!« Und: »Mach’s gut!«

Ich antworte knapp und verlegen: »Tschüss!« Und füge noch hinzu: »Du hörst von mir! Auf jeden Fall! Bis bald!«

Dann atme ich die kalte Februarluft ein und genieße kurz die Wintersonne, die schon beginnt zu wärmen. An der Hofeinfahrt blühen Schneeglöckchen. Der Frühling, merke ich, kann nicht mehr weit sein.

In meiner Fototasche ertaste ich die selbstge­brannte DVD. Mit Andreas Abschiedsvideo, vorgesehen für ihre Trauerfeier. Andrea hatte sie mir vorhin in der Küche noch zugesteckt.

»Alles muss fertig sein, ehe ich nicht mehr da bin.«

Ein ruhiger Morgen im März 2016. Meine journalistische Routinearbeit beginnt wie jeden Tag mit der Suche nach Geschichten, die anders sind: kurios, tragisch, aufregend, mit oder ohne Happy End. Die für eine bundesweite Leserschaft taugen. Und die aus meiner Region kommen – aus Thüringen, Sachsen oder Sachsen-Anhalt.

Jahrzehntelang als Boulevardreporter unterwegs zu sein hinterlässt jedoch seltsame Spuren. Nach Berichten über langweilige Vereinsfeste, Jubelkommentaren zu endlich schlaglochbefreiten Straßen und einem Porträt über einen ehemaligen, fünfundsechzigjährigen Kommunalpolitiker greife ich schließlich zu einem Trick auf Facebook, der mir in letzter Not schon oft weiterhalf. In die Suchleiste gebe ich ein: »Hilfe für …«. Und siehe da: »Hilfe für Familie Bendrick« erscheint. Betroffen wie angezogen lese ich weiter: Die junge Mutter Andrea aus Röcken in Sachsen-Anhalt ist schwer an Krebs erkrankt. Für sie gibt es keine Heilung mehr, die Schulmedizin ist an ihre Grenzen gestoßen, die Ärzte haben ihre Genesung ausgeschlossen.

»Ich ertappe mich, wie beherrscht ich trotz allem bin«, sagt Andrea, als wir uns später treffen.

Sie wolle ein Haus ausbauen für die ganze Familie und suche dafür Unterstützung. Eine Mammutaufgabe, ein finanzielles und logistisches Fass ohne Boden. Hilfe für die gründliche Sanierung eines ehemaligen Bauernhofes, für das Einrichten von Bad, Wohnzimmer, Schlafzimmer, Küche und zwei Kinderzimmern. Damit alle an einem Ort, unter einem Dach zusammenleben können: die kleinen Töchter Nele und Mia, der Onkel der Kinder, die Großeltern. Planen für den Ernstfall, wenn Andrea ihre Familie für immer verlassen muss. Andreas Töchter sollen sich weiter gut aufgehoben fühlen, in den Armen ihrer Familie.

Mehr als achthundert Unterstützer gehören der Seite inzwischen an – eine stattliche Zahl an Helfern. Ich weiß sofort: Das ist die richtige Geschichte für mich! Schon oft in der Vergangenheit konnte ich dank der Zeitschriften, für die ich als freier Journalist arbeite, tatsächlich helfen.

Ich klicke auf den Button »Nachricht senden« und schreibe ein paar kurze Zeilen, meinen Namen, für wen ich arbeite, meine konkrete Bitte.

Eine Antwort folgt prompt vom Administrator der Hilfe-­Seite. Er ist Andreas Cousin. Von ihm erfahre ich auch ihre Handynummer. Andreas Stimme klingt hocherfreut, hell und aufgeregt. Sie antwortet auf meine Bitte um einen Termin: »Ich freue mich riesig! Wir brauchen ja noch jede Menge Hilfe, jede Hand, jeden Cent, jede Idee, jeden Einfall. Vor einem knappen Monat erst, an Ostern, sind wir hier in Röcken eingezogen, eher notdürftig, auf eine offene Baustelle. Das hat mich für den Moment erst einmal beruhigt. Endlich ein Dach über dem Kopf an dem Ort, wo wir alle harmonisch miteinander auskommen wollen. Was wir uns alle wünschen. Denn diese erste Etappe wollte ich unbedingt schaffen, sie auf jeden Fall noch erleben. Meinen kleinen Prinzessinnen Nele und Mia eine Heimat geben, ein wohliges Nest für ihre Zukunft bauen, indem sie behütet erwachsen werden können, ohne Not. Ich weiß ja nicht, wie lange mein Körper die Strapazen noch erträgt. Alles muss fertig sein, ehe ich nicht mehr da bin.«

Der letzte Satz sitzt. Er frisst sich unter die Haut. Bei diesem Gespräch sagt sie ihn zum ersten Mal. Später wird ihn Andrea häufig wiederholen, in verschiedenen Zusammenhängen. Geradezu vor sich herbeten wie ein Mantra. Vielleicht, um damit genau das Gegenteil zu erreichen. Denn Andrea will bleiben. So aktiv sein, wie es ihr Zustand ermöglicht. Und vor allem darüber hinaus. Über ihren Tod hinaus. Sie wollte noch nicht gehen, so jung, in der Blüte ihres Lebens. Was sind denn dreißig Jahre! Mit der Verantwortung für zwei kleine Töchter, die sie abgöttisch liebt und die wiederum an ihrer Mama hängen, wie zwei Knospen an einer Blüte, und sie nicht gehen lassen wollen. Natürlich nicht.

»Hoffen wir, dass es mir zu unserem Termin gut geht und wir uns länger unterhalten können«, wünscht sie sich. »Du ahnst ja sicherlich, der verdammte Krebs, der ist unberechenbar und macht oft einen Strich durch die Rechnung. Jede Planung wird über den Haufen geworfen, es gibt keine Alltagsroutine mehr. Denn manchmal kann ich nicht aufstehen, kann mich nicht mehr bewegen, muss im Bett bleiben, weil mich die Schmerzen quälen. Mein ganzer Körper brennt, als sei er mit Benzin übergossen und angezündet.« Andrea berichtet das völlig unaufgeregt. Es ist ihr Alltag. Seit Monaten kennt sie es nicht mehr anders.

»Aber jetzt steht ja der Frühling vor der Tür. Wenn draußen die Vögel munter zwitschern und die Knospen knallen, haben wir doch alle bessere Laune. Eine gefühlte Verschnaufpause für trübe Tage.«

Unsere erste Verabredung steht – für den 14. April 2016, um 15.30 Uhr, Kaffeezeit. Ich bin gespannt und neugierig. Und bereits nach dem ersten Telefonat beschleicht mich ein Gefühl sonderbarer Vertrautheit. Ich bin mir sicher, hier steckt mehr dahinter als eine gewöhnliche Schicksalsgeschichte.

Andrea hingegen, die alle Möglichkeiten nutzt, um Hilfe zu erhalten, denkt nach unserem ersten Gespräch: Ich lasse ihn mal kommen. Mal sehen, was er erreichen kann. Mit der Presse muss man vorsichtig sein. Vielleicht gehört er auch zu denen, die mehr versprechen, als sie letztlich halten.

Ihre Gedanken vertraut sie mir aber erst viel später an.

»Es sind oft die kleinen Dinge, die eine große Wirkung in meinen Briefen besitzen.«

Andreas Gesicht ist voller Freude. Sie bemerkt meine ungeteilte Anerkennung, meinen Respekt. Eine Löwenmutter, die ihre Kleinen behütet und beschützt in jeder Situation.

Sie klammert sich fest am Schminktisch ihrer Tochter, die Beine hat sie eingeknickt.

»Jeder Brief ist von Hand geschrieben. Eine ganze Seite lang. Mein Block, gelochtes Karomuster, ist längst voll. Jeden Tag schreibe ich ein bis zwei Stunden. Stunden, in denen ich meine Schmerzen vergesse für kurze Zeit. Ich blende meinen Alltag aus, gehe weit zurück in die Vergangenheit. In die Zeit, als dieser Krebs noch ein Fremdwort für mich war. Mein Gott, nicht der Tod ist traurig, sondern ein Leben, das nicht gelebt wird. Von daher gebe ich meinen Töchtern Tipps und Emotionen mit auf den Weg. Sie erfahren, wenn sie zwölf werden, wie es sich anfühlte, als ich meinen ersten Kuss bekam. Die erste große Liebe, das berühmte Kribbeln im Bauch, vergisst doch keiner, eine einmalige Erfahrung, die meinen Töchtern in diesem Alter bevorsteht. Die ich nicht mit ihnen gemeinsam erleben kann. Ihren ersten Liebeskummer, das Auf und Ab der Gefühle, die Achterbahn der Hormone, schlaflose Nächte, die Tränen auf den Bettkissen. Ich werde sie nicht trösten und in die Arme nehmen können. All das weiß ich, aber wenn sie meine Zeilen lesen, gebe ich ihnen Hoffnung und sie stellen fest: ›Mami hat das auch mal durchgemacht. Und sie hat es gut überstanden. Blessuren hat sie nicht davongetragen.‹«

Andrea verrät mir, wovon sie schreibt, wenn Nele und Mia in die Pubertät kommen. Die Zeit des Drunter und Drüber. Sie will Erfahrungen vermitteln. »Wenn das Leben während dieser Zeit einer Baustelle gleicht, wenn die Eltern in den Augen der Kinder furchtbar peinlich sind, wenn die Schule nervt und alles nur noch anstrengend ist, diesen Zeitabschnitt will ich meinen Töchtern als Mama erklären. Dieses Gefühlschaos entwirren, das ist doch meine Aufgabe, auch wenn ich ihnen nicht mehr persönlich beistehen kann.«

Andrea will ihren Töchtern diese Zeit der Unsicherheit und des Zweifels nahebringen, will ihnen Zerrissenheit und Zwiespalt nehmen: Mädels, das ist ganz normal. Jetzt reißt euch zusammen! Köpfe hoch, nach vorne schauen, nicht verzagen!

»Als Prinzessin darf man ruhig stolpern und hinfallen. Aber danach aufrappeln, die Krone richten und voller Stolz weitergehen. So steht es in meinen Briefen an meine Töchter«, erläutert Andrea.

»Ich habe ihnen meine Sicht auf die Pubertät geschildert, dass ich mich mit zwölf Jahren nicht mehr als kleines Mädchen fühlte, mir dennoch die Welt der Erwachsenen mysteriös, fremdartig und unverständlich erschien. Ich hatte damals eine Sinnkrise, wie es andere Mädchen in diesem Alter auch haben. Ich reagierte häufig emotional, ängstlich, manchmal impulsiv. Die kleinste Veränderung konnte mich aus der Fassung bringen. Deshalb erkläre ich meinen Mädchen diese Vorgänge, damit sie ihre Veränderungen richtig einordnen können. Eine liebevolle Mami geht in der Pubertät auf ihre Kinder zu und lässt sie nicht allein mit ihren unbeantworteten Fragen.«

Andrea ist nachdenklich geworden. Ich bin tief beeindruckt. Dann sagt sie weiter: »Es sind oft die kleinen Dinge, die eine große Wirkung in meinen Briefen besitzen. Zum Beispiel Musik. Ich bin in den achtziger Jahren geboren. Als ich fünfzehn Jahre alt war, hörte ich begeistert die Songs von den Spice Girls und von Rosenstolz. Einerseits Ohrwurm-Pop mit Melodie, frech und fröhlich, andererseits die fast kitschigen deutschen Texte. ›Liebe ist alles‹ oder ›Gib mir Sonne‹ oder ›Wir sind am Leben‹. Sie trafen mich mitten ins Herz. Meine Töchter hören heute ganz andere Musik. Von Justin Bieber und Rihanna. Eher cool und oberflächlich. Ohne große Emotionen und Melodie. Eine Musik, die nicht für Jahrzehnte gemacht scheint. Deshalb lege ich meinen Briefen CDs mit meiner Lieblingsmusik aus meiner Jugend bei. Dabei hoffe ich, sie mögen sich für diese Oldies begeistern und sie sogar neu entdecken.«

Musik ist mein Stichwort.

»Meine Frau ist Musikerin«, sage ich in diesem Moment. »Sie singt Pop im Stil der achtziger Jahre. Die guten alten Ohrwürmer aus der Diskozeit und auch neue Songs, selbst komponiert und getextet. Auf Englisch und Deutsch.«

Andrea horcht neugierig auf. Aufmerksam registriert sie jedes Wort. Andrea liebt leichte Lieder. Lieder, die gefühlvoll und gefällig sind. Voller Melancholie, die an einem trüben Herbsttag die Gedanken fliegen und die Sonne scheinen lassen.

»Musik beflügelt mich«, sagt sie. »Wenn sie mich mitnimmt, davonträgt, schweben lässt. Wenn ich, getragen von einer Melodie und einem passenden, klugen Text, abhebe. So romantisch bin ich.« Schelmisch fügt sie hinzu: »Klingt das jetzt kitschig?«

»Gar nicht«, verneine ich. Da ich Aphorismen liebe, fällt mir ausgerechnet Novalis ein, Schriftsteller und Philosoph der Frühromantik, der nur wenige Kilometer von Röcken entfernt, in Weißenfels, begraben liegt. »Die Welt muss romantisiert werden. So findet man den ursprünglichen Sinn wieder.«

Andrea nimmt das Thema auf, ihre Wangen glühen. »Wie sagt man immer? Kinderseelen sind so rein und gut wie ihre Herzen. Manchmal wünsche ich mir, unsere Gesellschaft würde sich an ihnen ein Beispiel nehmen. Kinder an die Macht.«

Ich nicke zustimmend.

Ihr Zitat aus unserem Gespräch werde ich am 2. Mai 2016 auf ihrer Facebook-Seite wiederfinden. Ich werde den Gefällt-mir-Button drücken – als bleibende Erinnerung an unsere Plauderei.

Wir sind zurück in der Küche. Andrea lehnt sich lässig an die Stuhllehne ihres angestammten Platzes. Alles wirkt vertrauter als vorher, heimisch fast. »In meinen Briefen öffne ich mich meinen Töchtern sehr weit. Ihre Mama wird gläsern. Sie blättern später im Buch meines Lebens.«

Auf die Idee mit dem Aufschreiben habe sie eine gute Freundin gebracht: »Sie sagte mir, ich solle doch meine Zeit, die mir noch bleibt, in Tagebuchform festhalten. Jeden einzelnen Moment, jeden wichtigen und unwichtigen Augenblick. In regelmäßigen Abständen Notizen machen. Das mache den Kopf frei und wirke wie eine Therapie. Diese Idee habe ich dann weitergedacht: Entstanden sind die persönlichen Aufzeichnungen an meine Töchter. Sie werden erfahren, wie ich in ihrem Alter reagiert habe und mich verhielt. Eine Biografie mit Mehrwert. Ich schreibe über die Welt, wie ich sie sehe. Ich warne meine Töchter vor lauernden Gefahren, vor Drogen und Internetsucht. Ich erzähle ausführlich die Geschichte unserer Familie und berichte vom besten Ratschlag, der mir früher gegeben wurde. Edel solle man sein, hilfreich und gut – ein Spruch von Goethe. Von der peinlichsten Situation, in die ich geriet, und was mir persönlich immer in Erinnerung bleiben wird. Ich lobe meine Töchter und zeige auf, was mir an ihnen besonders wichtig ist. Jeder Mensch besitzt besondere Züge. Das ist bei Nele so und bei Mia auch. Bei Nele ist es ihre Neugier, bei Mia ihr sturer Kopf. Es ist doch die Aufgabe der Eltern, Erfahrungen an die nächste Generation weiterzugeben. Sicherlich, meine Form der Übermittlung fällt aus dem Rahmen. Kaum ein anderer macht sich die Mühe und greift zu Papier und Stift, um das alles festzuhalten. Ich frage mich oft, ob ich das alles getan hätte, wenn ich nicht wüsste, dass ich sterben muss. Aber vielleicht ist es eine gute Idee auch für all die anderen, die weiter leiden müssen.«

Andrea deutet die Themen ihrer Briefe an. »Ich schreibe von meiner Prüfungsangst, den Blackouts, den Vorbereitungen in der Schule, von den dreizehn harten Jahren bis zum Abitur. Lernen, lernen und nochmals lernen. Und dabei richtig lernen. Mit Auswendigpauken ist es nicht getan. Welche Freude es ist, das Reifezeugnis schließlich in den Händen zu halten. Wie ich mich vor Jahren darüber freute – ich habe es meinen Kindern in aller Ausführlichkeit aufgeschrieben. Nie sollen sie tun, was ihnen andere vorschreiben. Sie brauchen sich nicht dafür zu entschuldigen, wer und wie sie sind. Das eigene Ich erkennen, mutig sein, meinetwegen vorlaut und sogar ein bisschen frech. Meine Töchter sollen sie selbst sein! Und, wenn möglich, nicht jene Fehler machen, die ich gemacht habe. Meine Zeilen sollen Ansporn, sie sollen Motivation für meine Töchter sein. Eine festgelegte Schiene sind sie nicht. Sie brauchen nicht in Richtungen zu gehen, die ihnen nicht liegen. Als Mutter darf man seinen Kindern das Leben nicht vorschreiben. Das geht sowieso daneben. Aber ihnen Wege aufzuzeigen, Wegweiser an entscheidenden Kreuzungen zu sein, das halte ich für legitim. Das Leben ist doch wie ein großes Meer. Du segelst über Wellen, durch Sturm und Wind. Meine Briefe sind ein Kompass, der durch dieses stürmische Wasser führt, während Nele und Mia erwachsen werden.«

Welchen Absender sie angeben möchte, will ich wissen. »Keinen«, entgegnet sie. »Sobald der Eindruck aufkommt, ich würde aus dem Jenseits schreiben, bin ich von meinen Töchtern weit entfernt. Ich möchte ihnen jedoch nah bleiben. Das Gefühl, ihre Mama ist nun woanders und damit weit weg und an einem anderen Ort, tut ihnen nicht gut. Ich möchte weiter bei ihnen sein, mitten in ihren Köpfen, und Nähe vermitteln.«

Ich bewundere Andrea. Mit welcher unbändigen Kraft sie ihren Tod vorbereitet. Wie genau sie ist. In meinen zwei Jahrzehnten als Boulevardreporter lernte ich unzählige Menschen und ihre Handicaps kennen. Jeder beschritt seinen eigenen Weg. Mancher kam davon ab, schloss mit seinem Schicksal abrupt ab, nahm es als unabänderlich hin. Verwandte und Freunde hatten es dann unsagbar schwer. Wenn jede Motivation und jedes gut gemeinte Wort versagen, bleibt nicht mehr viel übrig. Bei Andrea ist alles anders: Sie treibt an, stellt sich an die Spitze, organisiert. Behält ihren wachen Verstand. Ihre unendliche Güte. Und ihre schier grenzenlose Liebe zu ihren beiden Töchtern. Trotz der Umstände, die sie binden und knebeln. Trotz allem. Was eine Mama mit Leib und Seele ausmache, will sie von mir erfahren. Meine Antwort wartet sie nicht ab, die hat sie selbst parat und rezitiert sie wie ein Gedicht: »›Sie muss lachen, auch wenn sie traurig ist. Sie muss trösten, auch wenn sie selbst Trost bräuchte. Sie muss stark sein, auch wenn sie keine Kraft mehr hat. Sie muss lachen, auch wenn sie lieber weinen würde. Sie muss funktionieren, auch wenn sie müde ist. Sie muss für ihre Lieben da sein, auch wenn sie krank ist.‹ – Diesen Spruch habe ich irgendwo im Internet gefunden, finde ich toll. Ich möchte all das jeden Tag spüren, trotz meiner Krankheit, sehr gern und so lange, wie es noch geht.«

Ich notiere eifrig mit. Dann versagt mein Kugelschreiber. »Wie peinlich.« Ich schüttele den Kopf.

»Ach was, das passiert!«, lacht Andrea. »Hier ist ein Ersatz!«

Sie dreht sich kurz um, wühlt mit flinken Fingern in einer Box, findet einen Stift und reicht ihn mir.

Sie erzählt weiter. »Kommen Nele und Mia langsam ins Erwachsenenalter, werden sie aus meinen Briefen erfahren, wie ich meinen Führerschein absolvierte. Wie ich mich erst langsam auf die Straße traute, wie ich mich überwinden musste, ehe ich sicherer wurde. Sie sollen alle Ängste überwinden. Denn Angst ist nie ein guter Ratgeber. Kennst du sicher, den alten Film: Angst essen Seele auf?«

Andrea spricht gern in Bildern, bezieht sich auf ­Musik- oder Filmtitel, um besser zu veranschaulichen. Wie mit Angst essen Seele auf, den berühmten Film von Rainer Werner Fassbinder. Er erzählt die von allen abgelehnte Liebe zwischen einer deutschen Putzfrau und einem arabischen Gastarbeiter. Sich nicht unterkriegen lassen, an das Gute glauben, trotz widriger Umstände, will Andrea mir auf diese Weise sagen. Sie ist die geborene Pädagogin. Ihre Worte in Bildern bleiben im Kopf. Wenn sie berichtet, illustriert sie ihr Leben. Andrea heißt Andrea, weil sie wärmt, wenn sie erzählt, weil sie hofft und mitfühlt.

Matthias schaut kurz rein, Andreas Bruder. »Mattu, du musst mir helfen«, dringt es aus Mias Zimmer. Mattu also. Ein Spitzname, den sich Mia für ihn ausgedacht hat. Nele und der Rest der Familie rufen ihn »Mattusch«.

Mia nimmt Anlauf und springt ihrem Onkel mit Schwung in die Arme. Sie weint. Der gibt ihr einen Kuss, setzt sie vorsichtig ab und spricht mit ihr auf Augenhöhe, indem er niederkniet. Die beiden unterhalten sich leise. Matthias trägt einen grünen Overall. Seine Hände sind ölverschmiert. Wenn er Pause macht in seiner Werkstatt, schaut er kurz bei seiner Schwester und den beiden Kindern vorbei. Ein Ritual.

»Nele ist schon weg und Mia spielt in ihrem Zimmer«, erstattet ihm Andrea Bericht. Die beiden brauchen keine großen Worte, keine langen Erklärungen. Sie verstehen sich nahezu wortlos. Das war auch schon in Kindertagen so, wie ich später erfahren werde. Matthias ist nur wenig jünger als seine Schwester. Andrea wurde Ende Mai 1985 geboren, Matthias folgte Ende September 1986.

Er ist blond, bedächtig und ruhig. Ein kreativer Bastler, einer, der irgendwie alles wieder hinbekommt mit geschickten Händen und wachem Verstand. Alte Autos ebenso wie sein Leben. Nur eine eigene Familie, die hat er noch nicht. »Meine künftige Frau soll in meine Firma passen«, wird er ausflüchtig erklären. »Da war die Richtige noch nicht dabei.«

Mia hält ihm ihre Lieblingspuppe hin. Ein Arm fehlt. In aller Ruhe fädelt Onkel Mattu den Arm in die Schulter der Puppe mit den blonden Haaren wieder ein. Mia beobachtet ihn aufmerksam. »Matthias kriegt das wieder hin«, sagt jetzt Andrea und zeigt ihren nach oben gereckten Daumen in Richtung Mia. Sie lächelt. »Es war eigentlich der Wunsch von Nele, dass wir aus dem Nachbardorf wieder hierherziehen, nach Röcken«, berichtet Andrea. »Sobald sie verstanden hatte, wie es um mich steht, wollte sie nur noch zu ihrem Onkel Mattusch, auf diesen Hof, den einst mein Vater gekauft hat. Hier wollte sie leben und erwachsen werden, bei ihm und ihren Großeltern.«

Mia ist wieder in ihrem Zimmer verschwunden. Glücklich mit der reparierten Lieblingspuppe. Sie singt fröhlich ein Kinderlied. Das Handy von Matthias klingelt. Er grüßt uns kurz, lächelt mit seinen freundlichen braunen Augen und verlässt die Wohnung, während er von gerade gelieferten Ersatzteilen für einen gebrauchten Renault redet.