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Lena Kuhlmann, geboren 1985, ist approbierte Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin mit tiefenpsychologischem Schwerpunkt. Sie arbeitet in einer psychiatrischen Ambulanz. Um gegen die Stigmatisierung psychisch Kranker anzukämpfen, veröffentlicht sie seit 2016 Artikel rund um Psyche und Psychotherapie und erreicht als Bloggerin und engagierte Expertin tagtäglich mehr als 15.000 Menschen über ihre Social-Media-Kanäle. Bei Eden Books veröffentlichte sie mit »Psyche? Hat doch jeder!« ihr erstes Buch, welches wochenlang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste stand.

inhalt

Garantien nur für Elektrogeräte

teil i
psyche hat jeder, auch wenn man sie nicht sehen kann

Eine gemeinsame Krankheitslehre: Worüber sich Psychoanalytiker und Tiefenpsychologen einig sind

Der Vater der Psychoanalyse hat die Kindheit fest im Blick

Fortsetzung folgt: Wie es nach Freud weiterging

Konflikte, die man mit sich selbst ausmachen muss

Bindungstheorie – Warum sich Muster aus der Kindheit in Partnerschaften wiederholen

Wie sich Verhaltenstherapeuten die Psyche vorstellen

Körper und Seele: Was sagt die Medizin dazu?

teil ii
die kranke psyche

Wann zum Arzt?

Das kleine Who’s Who – Psychiater, Psychologe und Co.

Vom Suchen und Finden eines Psychotherapeuten: Die erste Therapie

Alternativen: Von Coachings, Dr. Google und Heilpraktikern

Happy Pills

Der Patient im Fokus: Therapie als Stempel, den man nicht mehr loswird

Die Psychiatrie hat ein Imageproblem, doch was sagt der Realitätscheck?

Was Angehörige tun können – und was nicht

Verkaufsschlager unter den psychischen Erkrankungen

Nichts, was es nicht gibt

SOS! Notfälle der Seelenrettung

teil iii
psychotherapeuten können keine gedanken lesen, manchmal aber zaubern?

Wie das so ist, wenn man eine Psychotherapeutin ist

A wie Ausbildung und B wie Bongos – Wie man zur Psychotherapeutin wird

Hinter den Kulissen – So arbeiten Psychotherapeuten wirklich

teil iv
die gesunde psyche

Feierabend und ab aufs Sofa

Zum Weiterlesen

Danke

Literatur

Impressum

 

 

 

 

 

 

»Aber ich geh nicht gern zu verrückten Leuten«, meinte Alice.

»Ach, das bleibt nicht aus«, sagte die Katze. »Hier sind alle verrückt. Ich bin verrückt. Du bist verrückt.«

»Woher weißt du, dass ich verrückt bin?«, wollte Alice wissen.

»Wenn nicht, wärst du gar nicht hier«, erwiderte die Katze.

Lewis Carroll: Alice im Wunderland

garantien nur für elektrogeräte

Ich falle lieber gleich mit der Tür ins Haus, dann könnt ihr später nicht sagen, niemand hätte euch gewarnt. Psychische Gesundheit ist nämlich keine Selbstverständlichkeit, selbst wenn viele Menschen davon ausgehen – wie sie auch davon ausgehen, dass für sie im Sommerurlaub natürlich jeden Tag die Sonne scheint. Depressionen, Angsterkrankungen oder Essstörungen gehen nur die anderen etwas an? Wenn ihr euch da mal nicht täuscht, sage ich. Ein Reklamationsrecht gibt es vielleicht für Elektrogeräte, aber für alles andere gibt es eben keine Garantie.

Eine Erkrankung der Seele kann jeden treffen. Von Klitzeklein bis Steinalt. Alle, die viel über die Psyche wissen, und die, die von ihr noch nie etwas gehört haben. Man schätzt, dass jeder dritte Deutsche im Laufe seines Lebens mindestens einmal an einer psychischen Störung erkranken wird: eins, zwei, drei.1

Aber kein Grund zur Panik. Andersherum betrachtet wird sich auch jeder Mensch irgendwann einmal eine körperliche Krankheit einfangen. Eine Blasenentzündung, Halsweh, Fieber oder Fußpilz. Vermutlich verschreibt der Hausarzt dann ein Medikament oder hat Tipps zur Genesung parat.

Bei der Psyche ist das im Grunde gar nicht so viel anders, denn auch psychische Erkrankungen kann man behandeln. Während das Umfeld bei einem Schnupfen allerdings freundlich »Gesundheit« ruft, müssen Depressive aufpassen, nicht als komplett durchgeknallt und unzurechnungsfähig abgestempelt zu werden.

»Tom hat doch nicht mehr alle Tassen im Schrank! Aber ihr wisst ja, der tickt schon lange nicht mehr richtig. Ich habe mir schon letztes Jahr gedacht, dass der eine Macke hat, und einen Sprung hat er auch in der Schüssel. Er war ja immer schon ein bisschen gaga, meschugge und plemplem. Dem ist wohl nach der Scheidung von seiner Frau die Sicherung durchgebrannt.« Das ist nur eine kleine Ansammlung von Wörtern, die umgangssprachlich bezeichnen sollen, dass ein Mensch psychisch erkrankt ist. Nicht allzu charmant und wahrscheinlich einer der nachvollziehbaren Gründe, warum Betroffene ihre Erkrankung nicht gern öffentlich machen. Und wenn sie es tun, dann ziehen sie die Bleikugel der Stigmatisierung oft jahrelang hinter sich her.

Muss es denn immer erst zu einer Katastrophe kommen, bevor wir anfangen, über unsere Psyche zu sprechen? Ein Amoklauf in der Schule, der Freitod des Frontsängers einer beliebten Band, ein Todesschütze, der in Las Vegas ein Blutbad anrichtet? Ich hoffe nicht. Die Psyche braucht mehr Beachtung, auch ohne Breaking News. Das ist längst überfällig, denn es ist noch ziemlich viel Aufklärungsarbeit zu leisten.

Das merke ich in meiner Freizeit ganz deutlich, wenn ich von Freunden und Verwandten zu meiner Arbeit befragt werde. Psychotherapeuten, sind das nicht die mit dem Sofa? Die mit den hundert verschiedenen Versionen von »Aha« und »Mhm«? Stimmt es, dass sich viele im Grunde nur selbst therapieren wollen? Und welche Leute gehen da eigentlich hin?

Eine besonders erheiternde Anekdote hat mit einer Bekannten meiner Familie zu tun. Sie fragte mich auf einer Geburtstagsfeier, ob ich in der Folgewoche noch freie Termine zu vergeben hätte. Die Schmerzen in ihrem Rücken wären wieder einmal unerträglich und ausgerechnet jetzt sei ihre Therapeutin im Urlaub. »Psycho, nicht Physio!«, entgegnete ich leicht genervt und überdeutlich. Da hatte sie wohl etwas falsch verstanden, aber zumindest für einen Lacher bei den anwesenden Gästen gesorgt.

Psychotherapeutin bin ich irgendwie rund um die Uhr, zumindest in den Augen der anderen. Die Psyche macht schließlich auch nie Feierabend. Letztens zum Beispiel wurde ich nach zwei Gläsern Wein und während ich auf einer Einweihungsfeier singend das Tanzbein schwang, von einer fast fremden Person nach Tipps im Umgang mit Liebeskummer gefragt. Zuvor waren wir einander kurz vorgestellt worden und hatten dabei, wie beim Small-Talk-Quartett üblich, die wichtigsten Eckdaten abgefragt: Alter, Beruf, Wohnort und woher kennst du die Gastgeber? In diesem Gespräch hatte ich nur beiläufig von meinem Job berichtet. Wenig später suchte die Fremde erneut das Gespräch, um mir ohne Hemmungen von Jonas, ihrem Verflossenen, ihrer Kindheit mit zwei älteren, durchsetzungsstarken Brüdern, der fürchterlichen Auslandserfahrung und dem Druck, dem sie auf der Arbeit ausgesetzt sei, zu erzählen. Schlussendlich wollte sie von mir ein paar Tipps zur Behandlung ihrer traurigen Phasen und gleichzeitig wissen, ob sie mit ihrer selbst gestellten Diagnose einer depressiven Episode (die Informationen dazu hatte sie aus dem Internet) wirklich richtig lag. Ich dagegen wollte, dass der DJ noch einmal mein Lieblingslied spielte. Und bitte noch einen Drink.

Von solchen Vorfällen abgesehen, ist der Psychotherapeutenjob super. Er ist spannend wie ein Krimi, privater als Big Brother, ein bisschen wie Detektivarbeit und oft genug rührend, lustig, inspirierend oder aufregend. Kein Tag ist wie der andere und langweilig wird es bestimmt nicht. Einen (persönlichen) Einblick in die Arbeit einer Psychotherapeutin bekommt ihr auf den folgenden Seiten.

Und dann will dieses Buch aufräumen. Nämlich mit ollen, filmreifen Vorurteilen rund um Psychiatrie, Psychopharmaka und einige Störungsbilder. Es will auf die Missstände in der Versorgung psychisch Kranker hinweisen, weil es nicht hinzunehmen ist, dass Hilfesuchende monatelang auf einen Therapieplatz warten müssen. Ich hoffe, ihr erfahrt mehr über eure Psyche, wie sie funktioniert, wann es zu einem Ungleichgewicht kommen kann, was dann zu tun ist und wie man verhindert, dass es überhaupt so weit kommt. Ein bisschen Klatsch und Tratsch, praktische Tipps und eine Prise Insiderwissen dürfen natürlich auch nicht fehlen.

Vieles von dem, was jetzt folgt, stammt aus der Welt meines Therapeutinnendaseins, anderes hat sich in meinem privaten Leben so oder so ähnlich abgespielt und einiges habe ich von Kollegen oder Bekannten gehört. Das alles ist miteinander vermischt worden wie beim Kartenspielen, damit meine Freunde und Patienten auch nach diesem Buch weiterhin mit mir zu tun haben wollen. Und natürlich auch aus berufsethischen Gründen, denn Psychotherapeuten haben Schweigepflicht.

Teil 1

psyche hat jeder, auch wenn man sie nicht sehen kann

Ich glaube, es war Weihnachten 2014, als ich innerhalb kürzester Zeit von unterschiedlichen Personen eine Grußkarte, eine Teetasse und einen Kalender mit jeweils demselben Spruch darauf erhalten habe: »Es sind die Begegnungen mit Menschen, die das Leben lebenswert machen« (das weit verbreitete Zitat stammt von Guy de Maupassant, wie ich später herausgefunden habe). Dreimal dieselbe Lebensweisheit, dreimal derselbe Wink mit dem Zaunpfahl? Bis heute bin ich mir unsicher, was ich über diesen vermeintlichen Zufall denken soll. Ein anderer Spruch, den ich erst herzergreifend fand und der mittlerweile ziemlich abgedroschen für mich klingt, ist der des Kleinen Prinzen (des Autors Antoine de Saint-Exupéry). In keinem Hochzeitsgästebuch darf er fehlen, ich schätze, dass ihn 99,9 Prozent der erwachsenen Deutschen schon einmal irgendwo gehört haben. In diesem Fall spielt er mir aber ganz gut in die Karten: »Das Wesentliche kann das Auge nicht erkennen«, sagt der oft zitierte Autor. Es hat demnach auch ganz und gar nichts zu heißen, dass man die Psyche, im Gegensatz zu Herz und Nieren, nicht sehen kann. Unsichtbar hin oder her, eine Psyche hat jeder Mensch – ob er will oder nicht. Nur wo?

Vieles deutet darauf hin, dass sich die Psyche irgendwo in unserem Gehirn befindet. Das zumindest behaupten Neurowissenschaftler. Im Hirn ist die Schaltzentrale für unsere Emotionen und Impulse und hier setzen auch Psychopharmaka an. »Psyche« ist übrigens griechisch und heißt übersetzt »Seele«. Und damit sind wir eigentlich auch schon bei der Hauptperson dieser Geschichte angelangt.

In meiner Therapeutenausbildung habe ich mich fast ausschließlich mit den Störungen der Psyche beschäftigt. Der Fokus lag also eher auf Krankheiten, Defiziten und dem Ausnahmezustand. Als ich dann mit den Recherchen für dieses Buch anfing, ist mir aufgefallen, dass sich viele Forschungsarbeiten und Fachbücher ebenso darauf konzentrierten. Die Psyche an sich, also im Normalzustand, findet dagegen eher wenig Beachtung. Das fand ich erst einmal erschreckend, obwohl es gleichzeitig ziemlich einleuchtend ist. Erst wenn der Schuh irgendwo drückt, schaut man dort genauer hin. Neuere Forschungsarbeiten richten den Blick nun auf andere Aspekte, zum Beispiel auf die seelische Widerstandskraft (Resilienz).

Info

Die Resilienzforschung

Die Resilienzforschung erfreute sich Mitte der Achtzigerjahre zunehmend an Beliebtheit und wer die Bestsellerlisten dieses Landes verfolgt, der weiß, dass das Thema Resilienz in den letzten Jahren zu einem ziemlichen Trend geworden ist. Kein Wunder, denn Grundlage der Resilienzforschung ist die Untersuchung derjenigen Faktoren, die unsere Seele vor Erkrankung schützen und uns helfen können, auch in widrigen Umständen standhaft zu bleiben. Dieser Schutzschild ist veränderbar. Mit gezielten Übungen kann man die eigene Resilienz weiter ausbauen.2

Eine bekannte Studie in diesem Zusammenhang ist die Kauai-Studie von Emmy Werner. Die Entwicklungspsychologin begleitete über sechshundert Kinder, die unter ähnlichen Bedingungen groß geworden sind, von ihrer Geburt bis zur Volljährigkeit und darüber hinaus. Einige von ihnen wurden zu erfolgreichen, optimistischen Männern und Frauen, andere wiederum nicht. Faktoren, die Werner als schützend und somit auch für die psychische Entwicklung als förderlich erachtete, waren unter anderem eine sichere Bindung, gute Kontakte zu Gleichaltrigen, ein mindestens durchschnittlicher IQ oder gesicherte Lebensumstände.3

Was wir über die Psyche wissen und was nicht

Wir wissen also noch nicht allzu viel über die Psyche. Was wir heute haben, sind verschiedene Theorien aus Medizin und Psychologie, die sich vor allem um die Entwicklung psychischer Krankheiten drehen. Viele davon werden noch immer wild diskutiert. Der kleinste gemeinsame Nenner ist vielleicht die Annahme, dass eine psychische Störung meist multifaktorielle oder einfacher gesagt: mehrere Ursachen hat. Das biopsychosoziale Modell beispielsweise sieht in der Entstehung von psychischen Störungen ein Zusammenspiel zwischen biologischen, sozialen und psychischen Faktoren.4 Aber die eine Wahrheit gibt es nicht und das wiederum macht die Sache auch so spannend. Es ist eine Wissenschaft, die stets in Bewegung ist, in der morgen schon alles ganz anders sein kann. Wo man selbst steht, ist, wenn ihr mich fragt, auch eine Glaubens- und Ausbildungsfrage. Vollkommen logisch, dass Neurologen den Grund für psychische Störungen eher im medizinischen Bereich suchen, im Gegensatz zu beispielsweise den Tiefenpsychologen, die die Ursache in (unbewussten) Konflikten vermuten. Aber selbst unter den Psychotherapeuten gibt es, wie wir später noch erfahren werden, unterschiedliche Erklärungsansätze. Wenn sich also nicht einmal die Fachleute einig sind, verwundert die allgemeine Unsicherheit zu diesem weit gefassten Thema erst recht nicht.

Im Folgenden wollen wir uns einige der Hypothesen über den Aufbau der Psyche einmal genauer anschauen, wobei der Fokus auf den therapeutischen Erklärungsmodellen liegen wird. In Deutschland gibt es aktuell drei psychotherapeutische Verfahren, deren Wirksamkeiten vom wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie nachgewiesen wurden und die vom gemeinsamen Bundesausschuss als sogenannte Richtlinienverfahren anerkannt sind. Dazu zählen die psychodynamischen Ansätze (Psychoanalyse und Tiefenpsychologie) und die Verhaltenstherapie (künftig wird es für Erwachsene noch ein weiteres Verfahren, die Systemische Therapie, geben). In der Praxis gibt es heutzutage aber immer wieder Überschneidungen und eine strikte Trennung der einzelnen Therapierichtungen oder gar eine Konkurrenzsituation gehören mehr oder weniger der Vergangenheit an. Schlussendlich wollen wir doch alle das Beste für den Patienten, da kann es meiner Meinung nach nicht schaden, über den Tellerrand der eigenen Therapieschule hinauszublicken. Jeder Mensch ist einzigartig und muss eben auch so behandelt werden.

Für Deutschland gilt: Bei den drei genannten Verfahren werden die Behandlungskosten für alle Versicherten von ihrer Krankenkasse vollständig übernommen. Deswegen konzentriere ich mich in diesem Buch überwiegend darauf. Wir starten mit den psychodynamischen Verfahren. Einmal, weil ich selbst Tiefenpsychologin bin (und es bekanntlich immer leichter ist, von etwas zu erzählen, was einem ganz gut liegt), aber vor allem, weil alles mit der Psychoanalyse begann.