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Impressum

Franziska Krafft

mit Katharina Gerhardt

Wendemanöver

Ein Sohn im Drogensumpf. Eine Mutter setzt Segel.

eISBN: 978-3-95910-187-5

Eden Books

Ein Verlag der Edel Germany GmbH

Copyright © 2018 Edel Germany GmbH, Neumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edenbooks.de | www.facebook.com/EdenBooksBerlin | www.edel.com

1. Auflage 2018

Projektkoordination: Kathrin Riechers

Lektorat: Viktoria Hausmann

Covergestaltung: Buchgut, Berlin

Coverfoto: © Dudarev Mikhail/Fotolia

E-Book-Konvertierung: Datagrafix GSP GmbH, Berlin | www.datagrafix.com

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

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KAPITEL 1

Stolz

»Mami, komm schnell, komm sofort!« Jonas’ Stimme vom Schiffsbug aus klingt hell, ganz aufgeregt. Ich bin alarmiert, laufe auf dem Teakdeck, so rasch ich kann, nach vorn, versuche dabei, mich nicht an der Reling oder irgendwelchen Leinen zu stoßen oder gar zu stolpern und rufe noch auf dem Weg: »Was ist los? Was?« Vor meinem inneren Auge sehe ich einen böse abgeklemmten, blutigen Finger oder Schlimmeres. Eine Sekunde später erblicke ich, nicht mehr ganz in Vollpanik, wie Jonas offensichtlich unverletzt am Bug kauert und ins Wasser starrt. Okay, Alarmstufe rot ist es nicht. Ich atme aus. »Mami, da schwimmt so was im Wasser.«

»Eine Leine? Verdammt. Dann müssen wir sofort den Motor ausmachen. Sofort.« Wenn sich eine Leine in unserer Schiffsschraube verhakt, sieht es schlecht aus für die Kaimana und unsere Laien-Crew.

»Nein, nein, was anderes.«

Ja, okay, aber was?, denke ich mir. Ein Sack? Ein Toter? Innerhalb von Nanosekunden schießen mir verschiedene Szenarien durch den Kopf. Das ist eine Art innerer Sicherheitscheck, der bei mir abläuft. Gefahrenabwehr. Kopfkino. Und ich denke mir, okay, gut, egal was es ist, wir handeln das. Also, wenn hier jetzt niemand in zwei Teile zerhackt ist oder eine arterielle Blutung hat, dann kriegen wir das schon hin.

»Nein, da sind so große Bälle im Wasser«, ruft Jonas. Ich gucke nach vorn, checke den Horizont. Ich sehe nichts. »Nein, unter Wasser!«

Uh, denke ich mir, nicht so gut, wir fahren ja gerade durch ein militärisches Übungsgebiet nahe Helsingør. Und normalerweise sagen sie zwar immer im Seefunk, wenn da etwas irgendwie akut ist und man ein Gebiet nicht überqueren darf. Und wenn Leute dann trotzdem hinfahren, dann scheuchen sie die raus. Ich achte immer auf die Funksprüche. Das Wetter ist eigentlich auch passabel, wir haben gute Sicht. Aber, was weiß ich denn, hoffentlich sind das nicht irgendwelche Unterwasserbomben. Ich habe ja keine Ahnung. Außer uns ist hier gerade niemand unterwegs. Mir wird doch etwas mulmig.

»Ja, Jonas, dann zeig mir die. Was für Bälle? Wo sind die?«

»Jetzt sind grad keine da.«

Okay. Also informiere ich Peter, der im Cockpit sitzt und ziemlich überrumpelt ist: »Übernimm du das Steuer. Kann sein, dass wir ganz schnell die Richtung ändern müssen.« Er weiß gar nicht, was los ist. Ich sage zu ihm: »Sei wach. Wenn ich dir eine Anweisung gebe, musst du nicht lange fragen. Dann musst du einfach machen.«

Mein Lebensgefährte Peter hat lange gezögert, ob er mit mir auf diesen Segeltrip kommen soll. Er ist kein Segler oder wenigstens jemand, der immer schon mal segeln wollte. Nein, als bodenständiger Österreicher hatte er ganz grundsätzliche Bedenken, was diese Schiffsreise anbelangt. Auch Jonas’ wegen. Umso höher rechne ich es Peter an, dass er sich ein Herz gefasst hat und mich und meinen ältesten Sohn nun doch an Bord begleitet. Und jetzt muss er zur Not eben gleich das Steuer herumreißen.

Jonas und ich liegen inzwischen beide bäuchlings am Bug an Deck. Unsere Köpfe sind über die Reling gebeugt, einer rechts, einer links. Ich kann immer noch nichts sehen. Ich weiß ja nicht, wonach ich schauen muss, wie groß, wie tief. Keine Ahnung.

Und dann ist Jonas wieder ganz aufgeregt: »Da ist wieder einer, da ist wieder einer. Auf der ganz anderen Seite hinten!« Ich renne hin. »Ja, jetzt wieder nicht mehr.«

Ich will es ihm ja glauben. Aber jetzt frage ich mich: Schwimmt da tatsächlich etwas, womöglich etwas Gefährliches, unter unserem Segelboot in der Ostsee? Oder bildet sich Jonas das doch nur ein? Hat er vielleicht irgendwelche Visionen? Möglich wäre es. Ich weiß gerade nicht, was ich denken soll.

Und dann sehe ich selbst einen: so groß wie ein Basketball oder noch größer, knallorange, sieht ein bisschen aus wie eine Boje. Was ist das bloß? Ich starre angestrengt ins Wasser. Und plötzlich sind dann da ganz viele. Mindestens zehn auf einem Haufen, in ganz verschiedenen Größen. Okay, denke ich, wenn diese Dinger unterschiedlich groß sind, dann muss es etwas Lebendiges sein. Dann ist es irgendwas, das da wohnt. Das da wächst. Irgendwelche Algen oder Quallen. Wassertiere. Jedenfalls nichts aus Plastik mit einer Kette unten dran. Und definitiv kein Sprengsatz. Keine Gefahr. Weder für uns noch für das Boot. Nach ein paar weiteren Exemplaren können wir beide lange helle Tentakel erkennen. Also doch Quallen. Manche halb unter Wasser, manche schwimmen tiefer, manche fast an der Wasseroberfläche, einige sind kleiner, andere riesig, orange und gelb.

Puh, jetzt bin ich erleichtert. Ein warmes Gefühl durchflutet mich. Ich rufe Peter am Steuer zu: »Entwarnung hier, alles kein Problem, das sind nur Quallen.«

Zu Jonas sage ich: »Jonas, ich bin total froh, dass du aufgepasst hast, hier vorn. Dass du geschaut hast. Das hätte sonst was sein können, etwas Gefährliches. Gut, dass wir das rausgefunden haben. Ich wusste ja auch nicht, was das ist. So etwas habe ich auch noch nie gesehen. Ich bin sehr froh, dass ich mich auf dich verlassen kann.«

Mein 16-jähriger Sohn Jonas lächelt ein bisschen schief. Dabei platzt er fast vor Stolz. Ich kann das in seinen Augen sehen. Er ist aufmerksam und wach gewesen und hat etwas entdeckt, das für uns alle eine potenzielle Gefahr hätte sein können. Und er hat mich, den Captain, schnell darüber informiert. Wer hätte das noch vor wenigen Wochen gedacht – was für ein Riesenfortschritt!

AUTOBIOGRAFISCHER ROMAN

Dieses Buch beruht lose auf wahren Begebenheiten, die allerdings soweit verfremdet sind, dass eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden Personen zufällig und nicht beabsichtigt sind. In diesem Buch werden nicht konkrete Personen, sondern Typen von Personen beschrieben.

KAPITEL 5

Horizont und Muster

Über den Tellerrand zu schauen, finde ich generell sehr wichtig. Den eigenen Horizont zu erweitern. Ganz grundsätzlich. Ich reise unglaublich gern, ich möchte die Welt sehen und Neues kennenlernen. Das möchte ich auch meinen Kindern weitergeben. Und das bedeutet, dass ich immer schon relativ viel Aufwand getrieben habe, um Extrasachen zu veranstalten. Obwohl – oder vielleicht gerade weil – ich alleinerziehend bin.

Ich bin zum Beispiel nie davon ausgegangen, dass meine Söhne in der Schule alles lernen, was sie brauchen. In die Schule zu gehen schärft ja hauptsächlich die Sozialkompetenz, nicht viel mehr. Ich habe immer versucht, meinen Teil beizusteuern. Wenn sie in Geografie irgendetwas Spezielles durchgenommen haben, dann sind wir ins passende Museum gegangen. Oder haben uns das Theaterstück zum Buch angesehen, das sie gelesen haben. Schon möglich, dass es den Jungs dann auch mal peinlich war, wenn ich dann da die einzige Mama mit Kindern war und sonst nur Schulklassen. Das ist mir egal. Ich möchte, dass sie ganzheitlich wahrnehmen, wie die Welt aussieht. Das sehe ich so ein bisschen als mein Vermächtnis. Das Einzige, was ich weitergeben kann, sind ja Sichtweisen und Werte.

Und deswegen habe ich vielleicht immer schon Sachen mit meinen Söhnen gemacht, die nicht ganz so alltäglich sind, weil ich möchte, dass sie intensive Erfahrungen machen. Natürlich war mit drei kleinen Kindern im österreichischen Bergdorf nicht immer alles einfach. Kindergarten und Grundschule gehen da bis zwölf Uhr mittags. Dann musste ich schon wieder ein Mittagessen gekocht haben. Und wenn die Kindergärtnerin krank ist oder sich die Haxen bricht, ist der Kindergarten eben sechs Wochen zu, Ende, aus. Da gibt es kein Back-up. Da ist dann nur ein Zettel an der Tür. Also musste ich mir andere Mittel suchen, um in meiner Situation klarzukommen.

Wenn die Kinder quengelig waren oder wenn Jonas besonders schwierig war, bin ich mit ihnen einfach immer rausgegangen und hoch auf den Berg. Kommt, habe ich dann gesagt, packt zusammen, wir gehen. Einfach, weil ihr mir jetzt auf die Nerven geht. Wir haben dann oben oft gezeltet. Da gibt es einen kleinen See, an dessen Ufer wir Lagerfeuer gemacht haben. Damit konnte ich sie immer gut locken, vor allem, als sie noch klein waren: Kommt, wir sehen da wahrscheinlich Hirsche. Oder wir fischen irgendwo Lurche raus. Das war immer schon mein Kontrastprogramm zu: »Oh, ich bin so müde, kommt, wir hocken uns alle vor die Glotze.« Auch effektiver als zu sagen: »Lies doch mal ein Buch.« Was sie sowieso nicht tun. Einfach zusammenpacken, kommt, wir gehen. Macht nicht jeder, wirkt aber Wunder.

Einmal bin ich mit allen dreien nach Sardinien gefahren mit dem Zelt. Da waren sie zwischen vier und zehn. Also eher noch klein. Ich wollte gern auf Sardinien wandern. Und ich wollte, dass wir das zusammen machen. Nicht so, dass wir dahinfahren und dann sind alle bei irgendwelchen Aktivitäten wie im Klub-Urlaub und wir sehen uns nie. Nein, wir wandern, das können wir ja, und wir erleben gemeinsam Abenteuer in der Natur. Ich habe gesagt, ich weiß, was ihr könnt. Ich weiß auch, wie weit ihr es schafft. Also sind wir mit dem Auto in den Nationalpark im Osten der Insel gefahren, haben da geparkt und sind losgelaufen. Dort sind wir fünf Tage mit dem Zelt über die Berge gewandert. Wir sind dann immer nur relativ kurze Etappen gewandert und haben gezeltet. Ich hatte von einem Skirennen noch eine Blase am Fuß, trug deshalb keine Bergschuhe und musste in Crocs gehen. Ich hatte extrem viel Gepäck: Zelt, Schlafsäcke, Isomatten, Essen, Trinken und Anziehsachen für alle. Die Kinder konnten zwar auch ein bisschen was tragen, aber darauf konnte ich mich ja nicht verlassen. Da kam dann schon immer mal wieder: »Nein, ich mag jetzt nicht mehr.« Oder, auch ganz beliebt: »Ich gehe nicht mehr weiter.« Der Klassiker. Dann haben wir eben eine Pause gemacht, uns über etwas anderes unterhalten oder auch einfach umgeplant. Und dann ging es doch wieder. Und immer, jedes einzelne Mal bei diesen Touren, ist es supergut ausgegangen. Wir hatten es lustig, wir hatten eine fantastische Zeit, es hat uns als Familie noch stärker zusammengeschweißt. Und ich habe festgestellt, dass solche Sachen wie mieses Wetter, Sturm, ein nasser Schlafsack oder ein nasses Zelt, kein Nutella, sondern halt nur das zu essen, was gerade da ist, dem Erlebnis überhaupt keinen Abbruch tun.

Natürlich weiß ich, auch weil wir in den Bergen leben, dass man in der Natur vorsichtig sein muss. Deswegen habe ich bei solchen Wandertouren stets auf die Sicherheit geachtet. Selbst wenn wir im August unterwegs waren, hatte ich immer Handschuhe und Mützen für alle dabei, weil ich weiß, wenn das irgendwie danebengeht, schaut man ganz schnell ganz blöd. Und wenn man dann noch drei Kinder dabeihat, schaut man noch blöder. Erste-Hilfe-Kurse muss ich als Skilehrerin ja ohnehin regelmäßig absolvieren. Das gibt mir natürlich eine gewisse Sicherheit. Zur Not kann ich auch einen offenen Bruch schienen oder eine Wunde nähen. Wenn sich jemand auf der Piste verletzt, kann ich mich sehr zusammenreißen und weiß, was zu tun ist. Ich klappe dann erst in dem Moment zusammen, wenn ich nicht mehr zuständig bin.

Solche Touren habe ich also immer schon gemacht, und am Anfang denken alle: was für ein Aufwand. Und fragen mich, wieso tust du dir das an? Jetzt habt ihr doch mal keinen Stress mit der Schule, jetzt setz deine Kinder doch mal aufs Sofa und mach ganz ruhig.

Aber ich frage mich eben: An was werden sich die Kinder erinnern? In zehn Jahren oder auch in zwanzig, wenn sie vielleicht selbst Kinder haben? Und ich möchte nicht, dass sie sich an eine alleinerziehende, meckernde Mutter erinnern, die fix und fertig mit allem war, oder daran, dass das Leben vor dem Fernseher auf dem Sofa stattfand. Ich möchte, dass sie sich daran erinnern, dass wir zusammen eine gute Zeit hatten. An gemeinsame Erlebnisse. Dafür habe ich vielleicht nicht so viel Materielles zu bieten.

Nach dem Tod meiner Mutter und der Trennung von meinem Mann habe ich bewusst entschieden, dass ich mit den Kindern in unserem Bergdorf bleiben will. Das war eine Kopfentscheidung. Ich bin da zu Hause, ich habe da Familie, das ist mein Elternhaus. Mein Vater hat mich bei der Betreuung der Kinder unterstützt. Die Kinder waren hier gut aufgehoben. Das hieß aber auch, dass ich nicht wieder in meinem erlernten Beruf als Architektin arbeiten konnte.

Alle paar Monate oder Jahre hatte ich immer mal so Momente, in denen ich dachte: Verdammt! Essen kochen, aufräumen, putzen. Eat, sleep, repeat. Nervt. Aber dann sah ich wieder ganz deutlich, dass es wichtiger war, noch ein paar Jahre zu Hause zu sein und eben nicht Karriere zu machen. Die Kinder waren wichtiger. Und ich bewundere alle, vor allem die Alleinerziehenden, die irgendwie beides unter einen Hut kriegen, Kinder und Karriere. Das wäre auch sicher einfacher in der Stadt gewesen, wo man eine andere Infrastruktur hat. Beziehungsweise im Dorf hätte man die Großfamilie noch stärker in Anspruch nehmen müssen. Das wäre bestimmt alles irgendwie möglich gewesen, aber ich hatte mich – auch vor dem Hintergrund der Trennung – eben anders entschieden.

Vielleicht wäre es auf lange Sicht besser gewesen, wenn ich Grundschullehrerin geworden wäre oder eine Ausbildung zur Buchhalterin gemacht hätte. Aber mit »Was wäre gewesen, wenn?« halte ich mich generell nicht lange auf. Das bringt ja nichts.

Doch natürlich war ich hier mit meinem akademischen Hintergrund auch nicht wirklich ausgelastet. Also habe ich meinem Freund Hannes, der schon lange als Skilehrer arbeitet, vor einigen Jahren geholfen, seinen Traum zu verwirklichen: die Eröffnung einer eigenen Skischule. Er hatte sich das bisher nicht so richtig getraut.

Wir haben die Skischule dann zusammen aufgezogen und organisatorisch aufgebaut, was am Anfang sehr spannend war mit lauter kleinen gelben Post-it-Zetteln und lauter unzuverlässigen Skilehrern, einfach so from scratch. Am Anfang haben wir beide alles gemacht. Also Snowboardkurse und Skikurse gegeben, Leute abgeholt, E-Mails geschrieben, Buchungen eingegeben, Skilehrer und Personal eingeteilt. Mittlerweile steht das Ganze auf festen Beinen, die Skischule hat in der Hauptsaison 25 Mitarbeiter. Es gibt ein computergestütztes Buchungsprogramm, die Buchungen sind via Handy abrufbar. Jetzt läuft das.

Und da braucht es mich nicht mehr so dringend. Seither mache ich dort nur noch die Sachen, die ich interessant finde. Ich bin ja nicht Skilehrerin geworden, weil ich immer schon Skilehrerin sein wollte. Das hat sich eher so ergeben. Ich übernehme die schwierigen Fälle. Denn ich habe eine Zusatzausbildung gemacht und unterrichte seitdem Blinde, Rollstuhlfahrer und Kinder mit nur einem Fuß im Skifahren und Snowboarden. Die können genauso gut snowboarden und haben mindestens so viel Spaß. Da habe ich ganz interessante Erfahrungen gemacht, auch grundsätzliche fürs Leben. Ich habe von den Blinden gelernt: Man kann alles, man muss sich nur keinen Stress machen. Sie haben mir erklärt, wie sie im Restaurant bestellen, wie sie sich Cola einschenken, immer nur halb voll; wie sie E-Mails versenden, indem sie die in ihr Handy reindiktieren, kurz gesagt, wie sie ein ganz normales Leben führen. Man muss nicht unbedingt immer alles sehen können, um glücklich zu sein.

Skilehrerin ist meiner Ansicht nach eigentlich kein Beruf. Sicher, man macht eine Ausbildung, natürlich muss man auch gewissenhaft sein, man muss ein paar Sprachen sprechen können, man muss fit in Erster Hilfe sein. Und man sollte Verantwortung übernehmen können. Aber das ist eher etwas Charakterliches, das muss man vorher schon haben. Das lernt man nicht im Skilehrerlehrgang. Und Hausfrau ist ehrlich gesagt zehnmal mehr Arbeit als Skilehrerin.

Ich habe immer versucht, das Beste aus meiner Situation als Alleinerziehende im Dorf zu machen. Dabei musste ich pragmatisch sein. In dem Jahr, in dem Max geboren wurde, habe ich ihn zum Beispiel schon auf die Skier gestellt. Es war Dezember, wir hatten tollen Schnee, und die Großen wollten natürlich Ski fahren. Alleine konnte ich Jonas und Vincent allerdings nicht auf die Piste schicken, mit vier und sechs. Max war acht Monate alt, er konnte stehen, aber noch nicht laufen. Kinderbetreuung hatte ich keine. Der Kleine konnte ja auch nicht allein hierbleiben. Also habe ich Max in Skischuhe gesteckt, die ihm bis über die Knie gingen. Er hatte Miniskier. Ich habe ihn zwischen die Beine genommen und einfach festgehalten, habe gesagt: »Du kannst singen, schlafen, was du willst, aber wir nehmen dich mit.« Das ging gut. Wenn wir irgendwo eingekehrt sind, habe ich ihn einfach aus den Schuhen rausgehoben und in seinem Schneeanzug auf eine Bank gelegt. Da ist er dann sofort eingeschlafen. Und so waren wir unterwegs, sonst hätte ich ja ein ganzes Jahr lang nicht Ski fahren können mit den Kindern. Und wir leben ja immerhin in einem Skigebiet.

Das Muster, mit den Kindern, gerade wenn es Probleme gibt, rauszugehen in die Natur, mit ihnen aktiv zu werden, das hatte ich also schon, bevor ich auf die Idee mit dem Boot kam. Und lange bevor Jonas in Frankfurt in die Drogenszene abgerutscht ist. Vielleicht war das Rausgehen und Aktivsein auch einfach immer schon eines meiner Mittel, um mit Jonas’ ADHS-Auffälligkeiten umzugehen.

Zeitweise haben wir es ja bei Jonas auch mit Ritalin versucht. An Tagen, an denen beispielsweise eine Schularbeit zu schreiben war. Ohne Ritalin hätte er dann wieder nur rumgehampelt. Und mit Ritalin schrieb er eine Zwei. Das nahm in manchen Fällen einfach viel Druck raus. Es nahm ihn aus der Schusslinie in bestimmten Situationen. Auch bei Familienfesten. Beim Geigenvorspiel. Ritalin funktioniert gut, wenn man es gewissenhaft nimmt, das heißt, Schlafprotokolle führt und schaut, wie es wirkt. Aber Ritalin ist eben gleichzeitig gut und böse. Man weiß auch nicht so genau, wie die Langzeitwirkungen sind. Zum Thema Ritalin bekommt man, wenn man zwei Ärzte oder Therapeuten fragt, zwanzig verschiedene Antworten. Es gibt zehn gute Argumente dafür und zehn gute Argumente dagegen. Alle sind Experten, aber keiner kennt sich aus. Und zum Schluss musste ich als Mama doch wieder selbst entscheiden, wie ich es handhabe. Das war eine Bauchentscheidung. Jonas hat dann, als er älter wurde, kurz bevor er nach Frankfurt zu seinem Vater zog, angefangen, das Ritalin gar nicht mehr zu nehmen. Er hat die Tabletten in der Hosentasche gesammelt, hat gesagt, er nimmt sie, hat es aber nicht getan. Später hat er dann auch versucht, sie zu verkaufen. Das war natürlich übel.

Irgendwann muss man bei Ritalin sowieso, wenn das Kind größer wird, den Sprung schaffen, ihm die Verantwortung für das Medikament zu übertragen und zu sagen: Du merkst selbst, wann du es brauchst. Und dann nimmst du es auch selbst oder lässt es bleiben. Der Punkt war bei uns erreicht. Jonas hat dann eben entschieden, er nimmt es nicht. Dann lief es auch gleich in der Schule nicht mehr gut. Aber ich konnte ihn ja auch nicht zwingen oder ihm das heimlich geben, mit 13 Jahren.

Natürlich habe ich, als er später drogenabhängig geworden ist, manchmal gedacht, vielleicht hätten wir ihm nie Ritalin geben sollen. Aber man kennt da die medizinischen Zusammenhänge nicht so genau. Man kann nicht sagen, dass Kinder, die Ritalin nehmen, später im Leben drogenabhängig werden. Es ist ein weites Feld, und viele Faktoren spielen eine Rolle. Ich glaube, es ist eher der Dopamin-Mangel im Hirn, der anfällig macht für den Drogenkonsum.

Aber mein Mittel der Wahl war eben vor allem immer: draußen sein, aktiv sein, etwas unternehmen, gemeinsam etwas erleben.

Deswegen war meine Idee mit der Bootsreise auch nicht so eine große neue Initiative, sondern ich habe einfach das gemacht, was ich immer gemacht habe in schwierigen Situationen mit den Jungs. Das Muster war das gleiche, das ist ein Teil von mir. Als es darum ging, was mit Jonas nach seinem Aufenthalt in der Entzugsklinik passieren sollte, wäre es für mich in dieser enorm belastenden Situation nicht gut möglich gewesen, das Rad komplett neu zu erfinden. Ich musste auf irgendetwas zurückgreifen, von dem ich wusste, das kriege ich emotional hin und das könnte funktionieren. Es haben alle gesagt: »Das geht nicht.« Und ich habe es einfach trotzdem gemacht. Im Vertrauen auf das Muster, das ich vorher schon hatte und von dem ich für mich wusste: »Ist mir doch egal, was der Rest der Welt denkt, ich weiß, dass es geht.« Selbst wenn die Chance noch viel kleiner gewesen wäre, hätte ich es trotzdem versucht. Ich stand mit dem Rücken zur Wand und wusste, ich muss und will irgendetwas tun, und jetzt tue ich das, was ich am besten kann.

KAPITEL 3

Plötzlich alles ganz anders

Eigentlich habe ich mich von Anfang an allein um die Kinder gekümmert. Ich war mit Jonas hochschwanger, als wir geheiratet haben. Mein damaliger Mann war beruflich stark eingespannt, er ist als Ökonom in einer leitenden Position tätig. Ein gefragtes Berufsfeld. Er hat viel gearbeitet, und ich habe mich um die Kinder gekümmert. Ganz klassisch eigentlich. Ich habe das gern gemacht mit den Kindern. Und ich habe das auch gut gemacht. Bevor die Kinder zur Welt kamen, habe ich als Architektin in einem großen Büro in Stuttgart gearbeitet. Studiert habe ich in Zürich, inklusive zweier Auslandssemester in Mailand. Später habe ich noch promoviert. Meine Eltern haben mir mitgegeben, man soll beruflich etwas machen, bei dem man mit dem Herzen dabei ist. Und das habe ich gemacht. Ich lerne gerne. Das hat mir immer schon Spaß gemacht. Lernen und Lernprozesse finde ich ganz enorm wichtig.

Für mich war es damals in Ordnung, dass mein Mann sich eher um seine Karriere gekümmert hat. Ich habe mir gedacht, wir machen das so: Jetzt ist er erst mal dran. Und wenn er dann beruflich etabliert ist, dann kann ich auch wieder arbeiten. Das war für mich okay. Es ist dann anders gekommen.

Er hatte beruflich viele Optionen. Kurz hieß es mal, wir gehen nach Spanien; dort waren wir dann aber nur wenige Tage, um zu sehen, ob und wie es sich dort leben lässt. Es war dann allerdings von der Stelle her doch nicht geeignet. Später bin ich mit ihm und zwei kleinen Kindern wegen seines Jobs nach Kanada gegangen. Dort sind wir einfach hingeflogen, mit Kind und Kegel, ohne uns Haus und Gegend vorher angesehen zu haben. Er hatte vorher monatelang mit der Firma verhandelt und eine gute Position und einige Mitarbeiter bekommen. Für ihn war es ein Karrieresprung.

Ich habe ihm den Rücken freigehalten, war das Backoffice. Er war oft auf Geschäftsreise. Manchmal sind wir mitgekommen, manchmal nicht. Es war okay, einige Jahre lang. Diese Konstellation hat allerdings dazu geführt, dass ich zu Hause alles allein gemacht habe.

Ich wusste deshalb immer schon, wenn ich etwas unternehmen will, dann muss ich es allein machen. Aber das finde ich nicht schlimm, ich habe mich ein bisschen daran gewöhnt. Vielleicht ist das auch ein Grund dafür, dass ich mir diese Schiffsreise überhaupt zugetraut habe. Ich habe noch nie erwartet, dass mir einer hilft, einen Reifen zu wechseln oder Schneeketten aufzuziehen oder den Müll runterzutragen. Wenn etwas zu tun ist, dann frage ich auch nicht lange rum: »Meint ihr, das ist eine gute Idee?« In der Zeit habe ich es schon selbst gemacht. Natürlich gehören dazu auch Rückschläge, gehört es dazu, Fehler zu machen. Das ist mir so was von wurscht. Fehler sind Teil eines Lernprozesses. Ich probiere Sachen einfach aus. Wenn ich Schneeketten aufziehe, und dann schlägt das so, dann bleibe ich halt stehen und denke mir, okay, das war jetzt nicht richtig. Und dann versuche ich es noch einmal. Aber ich halte mich nicht lange damit auf, zu überlegen, mache ich das jetzt oder doch nicht oder frage ich irgendwen, ob er das machen kann. Nein. Ich frage höchstens, wie es geht, und dann probiere ich das aus.

Als ich mit dem dritten Kind schwanger war, erkrankte meine Mutter an ALS, einer unheilbaren Nervenkrankheit. Daraufhin haben mein damaliger Mann und ich eigentlich gemeinsam beschlossen, dass wir zurück nach Österreich gehen. Ich hatte mir in Kanada einen Freundeskreis aufgebaut. Aber meine Familie hat mir schon gefehlt. Und ich wollte meiner Mutter helfen und meinen Vater unterstützen.

Mein Mann hatte eine Arbeitsstelle in der nahegelegenen Großstadt in Aussicht. Wir wollten mein Elternhaus umbauen, also, es sah eigentlich ganz gut aus. Es ist dann allerdings ganz anders gekommen. Und wir haben uns getrennt.

So saß ich plötzlich Ende August Mitte der Nullerjahre in unserem österreichischen Bergdorf, im Haus meiner Eltern, schwanger mit dem dritten Kind und alleinerziehend. Vincent war drei und kam in den Kindergarten. Jonas war im August gerade erst fünf geworden. Er hatte bereits in Kanada einen Kindergarten besucht. Von dort hatte ich immer Berichte bekommen, dass Jonas sehr beweglich und aktiv sei, sich aber nicht so gut artikulieren könne. Ja, na gut, er konnte halt kein Englisch, dachte ich mir. Und als es dann darum ging, ob Jonas noch mal in den Kindergarten soll oder schon in die Grundschule, da sagte die Dorfschullehrerin: »Den tu ruhig in die Schule. Der kann bis zwanzig zählen. Den brauchst du nicht noch mal in den Kindergarten schicken.«

Da dachte ich mir, die macht das seit dreißig Jahren, die wird es schon wissen, sie wird mir schon das Richtige raten. Und wenn es nicht geht, dann kann Jonas ja immer noch in den Kindergarten. Was ich aber nicht wusste: Sie hat einfach noch einen Schüler gebraucht. Denn es müssen fünf Kinder sein, sonst können sie in der Dorfschule keine Klasse aufmachen. Und da war Jonas dann in der ersten Klasse mit drei Sechsjährigen und mit Mohammed, der war schon zehn und konnte kein Deutsch. Die Lehrerin musste Jonas einfach behalten, damit die Klasse zustande kommt. Das war keine wirklich ideale Startkombination für ihn.

Aber ich hatte auch alle Hände voll zu tun. Meine Mama war todkrank. Ich war schwanger mit Max, er ist im April auf die Welt gekommen. Das war eine sehr anstrengende Zeit mit einem Baby, zwei kleinen Kindern und einem Pflegefall samt Piepgeräten. Mein Onkel vom Hotel hat Essen für uns organisiert. Es kamen Familienhelferinnen, die haben mit Jonas Hausaufgaben gemacht. Mein Ex-Mann hatte inzwischen eine Stelle in Frankfurt am Main und war nicht da. Ich hatte aber sowieso den Kopf voll anderer Dinge. Ich konnte in dieser Situation nicht vor und nicht zurück. Anderthalb Jahre nach meiner Rückkehr ins Dorf ist meine Mutter dann gestorben.

In der Grundschule lief es bei Jonas mittelmäßig. Was ich von der Lehrerin hörte, war, dass er vieles schon konnte und vieles schnell begriff, aber auch häufig den Unterricht störte. Deshalb hatte ich zwischendurch sogar mal die Idee, Jonas zu Hause zu unterrichten, Homeschooling mit ihm zu machen. Ich dachte, das bringe ich ihm in zwei Stunden bei, wofür sie den ganzen Tag brauchen. Dann wäre die Lehrerin entlastet. Und er wäre happy, weil er nicht hinzugehen bräuchte. Aber das ging rechtlich nicht. Also mussten wir da irgendwie durch. In der zweiten Klasse wurde Jonas dann das erste Mal psychologisch getestet. Da war dann ziemlich schnell klar: Er hat ADHS.

Das ist ja im Augenblick fast so eine Modediagnose, aber Jonas hat das wirklich. Es handelt sich um einen zu niedrigen Dopamin-Spiegel im Hirn. Und der führt dazu, dass Jonas manchmal die schwierigsten Sachen sofort kann. Und dann wieder einfachste Dinge überhaupt nicht. Mal ist es hell, dann ist da wieder nichts. Er hat eine Konzentrationsspanne zwischen ein paar Sekunden und ein paar Minuten. Auf jeden Fall keine, die einer Schulstunde entsprechen würde. Bisweilen hat er total geniale Inseln, mit denen die Lehrer gar nicht klarkommen. »Wieso kann er das jetzt auf einmal?«, fragen sie sich, und das ärgert sie dann. Man kann es ja verstehen: Wenn einer nie zugehört, keine Hausaufgaben gemacht hat, nichts, dann aber einen Test mit null Fehlern schreibt, dann wissen die Lehrer nicht, wie sie damit umgehen sollen und denken sich: »Na gut, dann hat er wahrscheinlich abgeschrieben.« Auf jeden Fall werden sie grantig, und das ist selten gut.

Diese Diagnose gab es also schon relativ früh. Der Test wurde dann noch einmal wiederholt, als Jonas in der Mittelschule war. Mit identischem Ergebnis. In den Gutachten stand damals schon, dass Jonas ganz klare Strukturen braucht, dass es hilfreich für ihn ist, wenn Abläufe immer gleich sind. Manches Alltägliche ist enorm schwierig für ihn: Zum Beispiel kann er bis heute seine Schultasche nicht packen. Das Konzept »Was habe ich heute? Was muss ich dafür in die Schultasche reintun?«, das kann er nicht. Er nimmt einfach immer alles mit. Schuhe binden? Zu kompliziert. Er lässt sie offen. Das ist ja auch nicht lebensnotwendig.

Jonas ist sehr intelligent. Er konnte am besten von all meinen Söhnen Geige spielen, aber er konnte nie Noten lesen. In Österreich müssen alle Kinder in der Schule Blockflöte spielen lernen, also auch Jonas. Der Lehrer nahm ihm allerdings das Mundstück weg, weil er die ganze Zeit nur damit rumgefiept hat. Er sagte zu Jonas: »Du übst ohne.« Also hat Jonas nie richtig Blockflöte üben können. Mit akustischem Feedback. Zuhause hat er das sowieso nie gemacht. Und dann war irgendwann Prüfung. Das Kind, das vor ihm an der Reihe war, hat das Musikstück mit ein paar Fehlern gespielt. Als die Reihe an Jonas war, hat der Lehrer ihm das Mundstück auf die Flöte gesetzt, und Jonas hat das Stück mit genau den gleichen Fehlern gespielt, aber transponiert in irgendeine entlegene Tonart. Und der Lehrer hat gesagt:

»Ja, was soll ich jetzt da machen? Der ist genial, aber ich kann ihm trotzdem keine Eins geben, weil er nichts geübt und sich auch überhaupt nicht an die Regeln gehalten hat. Gut, zwischen Eins und Fünf, dann bekommt er jetzt einfach mal eine Drei.«

Und so war das immer. Jonas hat stets eine fürchterliche Handschrift gehabt. Aber wahnsinnig gute Ideen. Er hat einen Aufsatz geschrieben in der ersten oder zweiten Klasse, als er noch kaum schreiben konnte. Mit Lautschriftwörtern, die muss man laut lesen, damit man sie überhaupt verstehen kann. Dass er mit einem Raumschiff in die Steinzeit reist und ein Feuerzeug dabeihat und dort König wird wie bei den Wilden Kerlen. Und alles revolutioniert, die gesamte Geschichte ändert.

In den Jahren nach der Trennung haben Jonas, Vincent und Max ihren Vater nur in den Schulferien gesehen. Wir haben das gemeinsame Sorgerecht für die Kinder. Aber gelebt haben die Jungs bei mir.

KAPITEL 4

Normalität?

Letzte Nacht lagen wir vor Anker. Es war sehr ruhig. Kein Geräusch. Nur gegen Morgen ein paar Vögel. Geweckt wurde ich von Sonnenstrahlen, kein Windhauch weit und breit. So entspannt ist alles, dass ich Zeit habe, nachzudenken. Immer noch bin ich wie in Habacht-Stellung. Wenn ich kurz zur Ruhe komme, so wie jetzt, frage ich mich schon, was ist eigentlich, wenn Jonas doch plötzlich austickt? Was, wenn er mir während eines Manövers kollabiert? Heute müssen wir unter der Storebælt-Brücke durchfahren. Da können wir es uns nicht leisten, dass etwas schiefgeht. Bisher läuft es fast zu gut. Zum Glück ist das Wetter sonnig und vergleichsweise angenehm. Gut, dass ich die Sonnencreme eingepackt habe.

Anker auf ohne Probleme. Das bisschen Schlick am Anker spülen wir mit dem Eimer ab, es ist fast kein Seegras dabei. Unter Motor fahren wir aus dem Svendborgsund und setzen bei sehr wenig Wind später die Segel. Zwischen Fyn und Langeland segeln wir Richtung Norden.

Jonas schläft jeden Tag bis elf Uhr. Am Anfang unserer Tour schien er mir fast süchtig nach seinen starken Medikamenten. Nachdem ich mir sämtliche Beipackzettel durchgelesen hatte, wurde mir ganz anders. Eine heftige Mischung aus Schlaftabletten und Aufputschmitteln. Kein Wunder, dass er mir vorkommt wie im lethargischen Wachschlaf. Wieso haben die ihm aus der Entzugsklinik solche Hämmer mitgegeben? Ich begreife das nicht. Ich denke darüber nach, ihm jeden Tag etwas weniger davon zu geben. Das kann ja nicht gesund sein. Er wirkt leicht retardiert, nicht richtig ansprechbar. Er hat auch irgendwie die Augen gar nicht ganz offen. Ich mache mich im Netz noch mal schlau und bespreche mich mit Peter. Denn natürlich ist Jonas so zugedröhnt auch zu müde zum Abhauen oder zum Randalieren. Das hat vielleicht auch Vorteile. Aber, da sind wir uns einig, diese Menge an Medikamenten ist zu viel. Ich versuche also, ihn davon zu überzeugen, weniger zu nehmen. Jonas sagt, er könne nicht schlafen und brauche deshalb unbedingt die Medikamente. Er hat aus der Klinik so eine Medikamentenbox mitbekommen, wie alte Leute sie haben, mit dem Aufdruck der Wochentage und Tageszeiten. Da waren schon in der Klinik immer die ganzen Pillen drin: blau, grün, lila.

»Es ist doch hier auf dem Boot völlig egal, wann du schläfst,« argumentiere ich. »Du kannst ruhig am Tag schlafen, kannst auch in der Nacht auf sein, das spielt ja keine Rolle. Kein Mensch muss hier in die Schule oder zur Arbeit, da kannst du ruhig schlafen, bis zum Nachmittag. Du brauchst keine Schlafmittel. Oder wenn, dann nimm halt erst mal nur eine Tablette, und dann gucken wir.«

Ich ahne schon, dass das kein kontrolliertes Absetzen der Medikamente sein wird. Jeder Arzt würde wahrscheinlich die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, aber wir versuchen das jetzt mal so.

Am Anfang der Reise hat Jonas kaum etwas gegessen. Dafür umso mehr geschlafen, geschlafen, geschlafen. Seit er aber weniger Medikamente nimmt, verdrückt er meistens doppelte Portionen. Eigentlich muss man es sogar so sagen: Er frisst. Jonas schaufelt das Essen nur so in sich rein. Zwischendurch kann ich kaum hingucken. Nach dem Essen ist alles in einem Bereich von rund dreißig Zentimetern um seinen Platz herum verwüstet. Reishäufchen liegen neben dem Teller, alles ist mit Soße vollgespritzt, Jonas hat Essen in den Haaren hängen. Ein Wahnsinn. Seine Feinmotorik ist nicht gut. Von Manieren wollen wir erst gar nicht reden. Ich muss mich ziemlich zusammenreißen, um nicht zu schimpfen, und sehe Peter an, dass es ihm mindestens ebenso geht. Aber, hey, Jonas isst wieder. Ich schaffe es, darüber hinwegzusehen, wie er das tut. Ich werte seinen gesunden Appetit als gutes Zeichen und vertage den Rest auf später.

Jonas raucht zwar noch, vielleicht aber nicht mehr ganz so viel. Zwischendurch fühlt es sich manchmal fast so an, als hätten wir einen völlig normalen Teenager an Bord. Allerdings stellt er bisweilen ziemlich kindliche Fragen, anhand derer man merkt, dass ihm bei grundlegenden Dingen tatsächlich der Überblick fehlt:

»Wann sind wir denn in Dänemark?«