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Thomas Kleine-Brockhoff

Die Welt braucht den Westen

Neustart für eine liberale Ordnung

 

Guido Goldman gewidmet,

meinem väterlichen Freund und Förderer

 

 

 

»Thomas Kleine-Brockhoff hat ein Buch vorgelegt, das kenntnisreich, meinungsstark und trotzdem realistisch-optimistisch ist. Nichts für Defätisten, Propheten des Niedergangs, nichts für die Adepten des modischen Kulturpessimismus.

 

In einem Land, in dem es ein Defizit an strategischem Denken gibt und das sich damit schwertut, eine seiner Bedeutung angemessene internationale Verantwortung zu akzeptieren, ist dieses Buch mehr als nur eine Streitschrift. Es stellt Politik und Gesellschaft existentielle Fragen und verweist auf Prinzipien, die Menschen brauchen, wenn sie die liberale Demokratie gegen antiliberale Ideen verteidigen.

 

Es ist auch ein Buch des Augenmaßes, wenn es davor warnt, mit ›offensivem Liberalismus‹ die ganze Menschheit erlösen zu wollen. Stattdessen wird für einen ›robusten Liberalismus‹ geworben, der erkennt, was realistischerweise als machbar und erreichbar erscheint.

 

Geschrieben hat es einer, der sehr wohl weiß, wie schwierig, ja unmöglich es ist, die uneingeschränkte Achtung der Menschenrechte weltweit durchzusetzen und der gleichzeitig zutiefst davon überzeugt ist, dass es lohnend, zwingend – und sogar aussichtsreich – ist, denen zu widerstehen, die ihre Geltung negieren. Mag die neue globale Welle nationaler Populismen auch die aktuellen Debatten bestimmen, der Autor weiß: Zukunft hat, was Zukunft verheißt; er nennt uns gute Gründe dafür, dass die Werte des ›Westens‹, sofern sie richtig gedeutet und verteidigt werden, auch künftig die tragenden und prägenden Werte der Zukunft sein werden.«

 

Joachim Gauck, Bundespräsident a.D.

Inhalt

Warum dieses Buch?

  1.Wider den neuen Fatalismus

  2.Um den Westen kämpfen

  3.Die freiheitliche Weltordnung erneuern

  4.Amerika nicht verloren geben

  5.Die liberale Überdehnung erkennen

  6.Auf robusten Liberalismus setzen

  7.Flüchtlingsschutz: Das Globale mit dem Nationalen versöhnen

  8.Intervention: Der demokratischen Mission Grenzen setzen

  9.Welthandel: Internationale Regeln durchsetzen

10.Das nationalistische Fieber senken

Anmerkungen

Warum dieses Buch?

Das Wort von der Welt, die aus den Fugen geraten ist, hat sich als Metapher durchgesetzt. Sie beschreibt ein Zeitgefühl, einen Zustand der Verunsicherung. Etwas, das zuvor fest gefügt schien, bröckelt. Nichts hält mehr zusammen. Nicht der Westen, nicht die NATO, nicht das Institutionengebäude der liberalen internationalen Ordnung. Allerorten der Lärm von Abrissbirnen. Sogar am gläsernen Palast der liberalen Demokratie meißeln Populisten und Nationalisten, wollen ihn Stockwerk um Stockwerk abtragen.

Die Erzählung von der Zerstörung, vom Zerfall, vom Kollaps, vom Ende ist nun schon seit ein paar Jahren zu hören und zu lesen. Wortreich wird beschrieben, wie die Abbrucharbeiten vorankommen. Es ist Gegenwartsanalyse als Verlustgeschichte. Ein Klagelied wird angestimmt, ein Lamento über ein Zeitalter, das nun scheinbar zu Ende geht. Der Gestus ist schulterzuckend. Wo die Kräfte der Geschichte walten, kann man ohnehin nichts ausrichten.

Aber das stimmt nicht. Man kann sehr wohl etwas tun. Deshalb habe ich dieses Buch geschrieben. Als Gegengift gegen Kulturpessimismus und Gegenwartsblues. Als Versuch, über Gejammer hinauszukommen. Als Rezeptbuch für die Kräfte der Mitte. Als Mut- und Muntermacher für die Freunde der Freiheit, für die Anhänger von Menschen- und Minderheitenrechten und für all jene, die auf transnationale Probleme transnationale Antworten geben wollen. Denn so viel ist klar: Der vielgescholtene Westen – er wird noch gebraucht. Und mit ihm eine erneuerte, sehr wohl bescheidenere, aber zugleich entschiedenere liberale Ordnung, die das Zusammenleben und das Zusammenarbeiten auf unserem Planeten erleichtern wird.

Ich erinnere mich an drei Situationen, die mir geholfen haben, die Veränderungen unserer Tage besser zu erkennen. Deshalb sind sie für die Entstehung dieses Buches wichtig. Die erste Szene spielt in Berlin, im Schloss Bellevue, dem Amtssitz des Bundespräsidenten, für den ich vier Jahre lang den Planungs- und Redenstab leitete. Von meinem Büro im ovalen Nebengebäude habe ich täglich aufs Schloss geschaut, über den weitläufigen Park hinweg, in dem kaum je ein Mensch zu sehen ist. Das Gelände wirkt manikürt und der Rasen wie mit der Nagelschere geschnitten. Wirbel und politisches Drama erwartet man hier nicht, eher Gediegenheit und inszenierte Staatskunst. Doch im August und September 2015 herrscht hier, wie überall im politischen Berlin, Dauerkonsternation. Jeden Abend sehen wir in den Fernsehnachrichten Kolonnen von Flüchtlingen und Migranten, die, aus Österreich kommend, die deutsche Grenze überqueren; zumeist ohne dass auch nur die Personalien festgestellt oder Fingerabdrücke genommen werden. Der öffentliche Druck wächst, Bundespräsident Joachim Gauck möge sich äußern und erklären, was hier geschehe und was er davon halte.

Dem Bundespräsidenten ist schnell klar, dass Bundeskanzlerin Merkels »Wir schaffen das« eine erste Annäherung, aber noch nicht die letzte Weisheit sein kann. Er ahnt, dass Merkels menschenrechtliche Unbedingtheit, so sympathisch sie ihm als ehemaligem Bürgerrechtler ist, einer verantwortungsethischen Ergänzung bedarf. Gauck erkennt das übrigens schneller als das Gros seiner Mitarbeiter. Viele von uns sind in jenen Tagen – wie die Mehrheit der Bevölkerung – vor allem eins: beeindruckt und beeinflusst vom Geist der Willkommenskultur. Gauck hingegen prägt jene Sentenz, die Merkel eine Brücke baut in die bescheidenere Welt einer Politik aus realistisch grundierten Idealen: »Wir wollen helfen. Unsere Herzen sind weit. Aber unsere Möglichkeiten, sie sind endlich.«1

Es ist mir damals klargeworden, dass nicht einzelne Staaten, und sei es mit den besten Intentionen, die Bürde menschenrechtlicher Verpflichtungen weitgehend allein übernehmen können. Rechte gelten universell. Sie durchzusetzen, obliegt aber den Staaten. Doch was, wenn Entuniversalisierung grassiert? Wenn kaum noch jemand etwas wissen will von gemeinsamen Verpflichtungen? Und wie wäre in Zukunft die Prinzipientreue und der Solidaritätsgeist von Staaten wiederherzustellen? Seit den Monaten der Flüchtlingskrise frage ich mich jedenfalls, wie eine Reform des internationalen Regelwerks für die Aufnahme von Flüchtlingen aussehen müsste, die geeignet wäre zu verhindern, dass wir global die blutig erkauften Lektionen des Zweiten Weltkriegs vergessen – und die gleichzeitig die aufnehmenden Staaten nicht überfordert.

Die zweite Szene spielt in Peking und ist ein Gespräch, das Bundespräsident Joachim Gauck im März 2016 als Staatsgast mit Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping in Peking führt. Als Mitglied der deutschen Delegation nehme ich teil. Die militärischen Ehren samt Abschreiten der Ehrenkompanie und Nationalhymnen sind soeben vorüber – ein seelenloses Schauspiel vor den Stufen zur Großen Halle des Volkes, an dem von Geisterhand leergeräumten und komplett videoüberwachten Platz des Himmlischen Friedens, also genau dort, wo etwas mehr als ein Vierteljahrhundert zuvor die Hoffnung auf Demokratie blutig erstickt worden war. Das Gespräch findet ein paar Meter weiter statt, in einem gewaltigen, beige-braun getäfelten Saal der Großen Halle des Volkes. Die Delegationstische sind so lang, dass man seinen Tischnachbarn selbst mit ausgestrecktem Arm kaum berühren kann.

Bundespräsident Gauck hat sich vorgenommen, etwas zu tun, was nur ein Ostdeutscher tun kann, jemand, der selbst fünfzig Jahre lang unter kommunistischer Herrschaft gelebt und gelitten hat: Er möchte den Staats- und Parteichef in ein Gespräch über ideologische Fragen verwickeln. Wie ernst, will Gauck wissen, ist es Xi mit der Rechtsstaatlichkeit? Immerhin gibt es einen deutsch-chinesischen Rechtsstaatsdialog und damit verbunden die Hoffnung, China werde die Willkürherrschaft zunehmend durch die Herrschaft des Gesetzes ersetzen. Wenn China sich zu einem Rechtsstaat samt unabhängiger Justiz entwickele, was werde dann aus dem Primat der kommunistischen Partei, will Gauck wissen.

Xi Jinping mag im Fernsehen etwas steif wirken, im Gespräch ist er wendig und schlagfertig, keineswegs ein Apparatschik der alten Schule. Natürlich hat Xi sofort verstanden, worauf Gauck hinauswill, und kürzt die Sache deshalb auf seine Weise ab. Auf den offenkundigen Widerspruch zwischen Herrschaft der Partei und Herrschaft des Rechts lässt er sich vorsichtshalber nicht ein. Stattdessen fragt er Gauck, ob der eine Ahnung davon habe, was es bedeute, ein Reich von 1,3 Milliarden Menschen zusammenzuhalten. Es folgt ein kleiner Vortrag über die Macht, und zwar die absolute Macht, sowie die Notwendigkeit, sie im Namen der nationalen Einheit einzusetzen.

Wer Xi Jinping in so einem Moment zugehört hat, wird keinen Zweifel mehr daran hegen, wohin China sich unter diesem Partei- und Staatschef entwickelt. Er wird die Hoffnung fahrenlassen, nach der China sich schrittweise liberalisieren und zusätzliche Formen demokratischer Mitwirkung in sein politisches System aufnehmen werde.

Meiner Illusionen über den Weg Chinas beraubt, frage ich mich seit diesem Moment: Was folgt daraus, dass Deutschlands Schicksal durch die Globalisierung mit der Entwicklung Chinas verknüpft ist und der eigene Wohlstand von der Wohlfahrt der weltgrößten Diktatur abhängt? Wird sich diese riesige Diktatur künftig überhaupt irgendwelchen Regeln unterwerfen? Oder wird dieser Koloss nur noch sein Gewicht einsetzen und tun, was er will? Wie willfährig oder wie widerborstig sollten Demokratien sich im Angesicht der Autokratie verhalten?

Xi Jinping hat dazu übrigens einen Kommentar ganz eigener Art abgegeben. Fast genau zwei Jahre nach dem Gespräch mit Bundespräsident Gauck lässt er sich quasi zum Kaiser krönen. Der Nationale Volkskongress hebt die Amtszeitbegrenzung für den Staatspräsidenten auf. Xi kann jetzt lebenslang an der Macht bleiben.

Die dritte Szene spielt in Washington, und zwar in dem Gebäude, in dem einst die deutsche Mission zum Marshallplan untergebracht war, jenem Hilfsprogramm, das Westdeutschlands Weg in die Europäische Integration und in die Atlantische Allianz ebnen half. Heute hat mein gegenwärtiger Arbeitgeber in diesem Gebäude seine Zentrale, der German Marshall Fund of the United States. Anfang 2019 haben wir dorthin eine Gruppe von Transatlantikern eingeladen – Europäer und Amerikaner, Konservative und Linksliberale. Wir wollen über den möglichen Zerfall der Atlantischen Allianz nachdenken, also die denkbar gewordene Entkoppelung westlicher Demokratien voneinander. Wir wollen wissen: Warum würde es zur transatlantischen Scheidung kommen? Wer würde sie betreiben? Wie würde die alternative Zukunft aussehen? Und wie müsste eine neue transatlantische Übereinkunft aussehen, die eine Scheidung vermeiden könnte?

Irgendwann trennen wir die amerikanischen von den europäischen Teilnehmern und lassen sie separat beraten. Worauf sich die Europäer einigen, überrascht die Amerikaner keineswegs: Die Europäer glauben, der amerikanische Präsident Donald Trump sei der größte Treiber der Entkoppelung; er wolle die Entwestlichung im Namen seiner ethnonationalistischen Vision von den Vereinigten Staaten. Hingegen überrascht die Europäer sehr, was die Amerikaner eint: Sie glauben nämlich, die Europäer entfernten sich im Namen des Traums von Europas strategischer Autonomie von den USA; die wichtigsten Treiber der Entkoppelung seien die Deutschen, die nicht einmal mehr bereit seien, dem grundlegendsten Maßstab von Solidarität in einer Allianz zu genügen, nämlich die verabredeten Verteidigungsbeiträge tatsächlich zu leisten.

Mit dem Finger auf andere zeigen, das ist der Geist der Zeit. Die eigenen Möglichkeiten für begrenzt, die Verpflichtungen der anderen für gewaltig zu halten, das entspricht dem grassierenden Trend zur Selbstviktimisierung – auf beiden Seiten des Atlantiks. Unsere Experten finden am Ende der Beratungen keinen Weg heraus aus diesem Teufelskreis, der nur in die Isolierung führt und in die Unfähigkeit, irgendein internationales Problem gemeinschaftlich zu lösen. Wir trösten uns etwas hilflos damit, dass unsere Gruppe gewiss nicht repräsentativ sei.

Was verbinden nun diese drei Szenen aus Berlin, Peking und Washington miteinander? Sie zeigen schlaglichtartig, unter welchen Stress die Ordnungssysteme unseres internationalen Zusammenlebens geraten sind, seit der Problemdruck durch die Globalisierung und den Aufstieg Chinas zunimmt, während die relative Macht und die Willenskraft der USA als liberaler Hegemon langsam nachlässt. Und sie werfen die Frage auf, was zu tun ist, wenn die Gestaltung der internationalen Ordnung nicht einfach den Autokraten überlassen bleiben soll.

Diese Streitschrift versucht nicht, Antworten auf alle Fragen zu geben. Vielmehr möchte sie eine Art des Denkens über internationale Zusammenarbeit vorstellen. Sie möchte Prinzipien entwerfen, die für den Abwehrkampf gegen die Kräfte des Antiliberalismus hilfreich sind.

Das erste Kapitel wendet sich gegen die Vorstellung, der Ära der demokratischen Expansion werde nun quasi unabweisbar ein Zeitalter des Nationalismus folgen. Dabei ist der Westen nicht schon verloren (Kapitel 2), so wenig wie die totgesagte liberale internationale Ordnung (Kapitel 3). Beide können sich sehr wohl neu erfinden. Die Vereinigten Staaten als westliche Vormacht quasi aufzugeben und sich immer weiter abzuwenden, wäre fahrlässig. Denn es ist unabsehbar, sogar unwahrscheinlich, dass Donald Trumps Amtszeit in einen dauerhaften Trumpismus münden wird (Kapitel 4). Allerdings wird die internationale Ordnung nicht so bleiben können, wie sie sich zuletzt entwickelt hat. Seit 1990 hat der Glaube an das heraufziehende demokratische Zeitalter zu liberaler Überdehnung und westlicher Hybris geführt. Das wird nun zu korrigieren sein (Kapitel 5).

Das Prinzip, das Pate stehen sollte bei dieser Reform, heißt robuster Liberalismus. Damit ist ein Denken gemeint, das sehr wohl auf den Prinzipien der Freiheitlichkeit besteht, zugleich aber den demokratischen Bekehrungseifer einhegt und begrenzte Ziele und Normen robust vertritt (Kapitel 6). An drei praktischen Beispielen wird vorgestellt, was diese Variante des demokratischen Liberalismus ist und will: am Schutz von Flüchtlingen (Kapitel 7), an militärischen Interventionen zu humanitären Zwecken (Kapitel 8) sowie am Handel mit der chinesischen Autokratie (Kapitel 9). Und schließlich endet die Streitschrift mit einem Appell, angesichts der antiliberalen Revolte nicht gleich die Aufklärung aufzugeben und deren politische Summenbildung in Gestalt der liberalen Demokratie zu verraten. Stattdessen gilt es, dafür zu kämpfen, dass die gegenwärtige Krise zu einem neuen Häutungs- und Lernprozess des politischen Westens wird (Kapitel 10).

Die Quellen zu diesem Buch stammen im Wesentlichen aus jenen beiden Ländern, zu deren intellektuellen Ressourcen ich den besten Zugang habe: der Bundesrepublik und den Vereinigten Staaten. Allerdings wird der Blick immer wieder geweitet, hinein in die anderen westlichen Länder, vor allem die europäischen Staaten. Die Europäische Union, wiewohl ein wichtiges Element der westlichen Institutionenbildung nach dem Zweiten Weltkrieg, spielt hier eine nachgeordnete Rolle. Europas Vereinigungskrise und die potenziellen Auswege wären ein eigenes Buch wert.

Auf den folgenden Seiten wird viel vom Liberalismus die Rede sein. Das ist ein schillernder Begriff. Deshalb ein paar Worte zu seiner Definition und Verwendung. Es geht beim Liberalismus hier nicht im engeren Sinne um die politische Richtung, die in Europa für die Begrenzung von Staatsaufgaben und für freies Wirtschaften eintritt. Insofern wird der Begriff des Neoliberalismus nicht verwandt. Auch ist hier nicht liberalism im amerikanischen Sinne gemeint, also das Kürzel für die politische Linke, die für staatliche Regulierung und Sozialstaatlichkeit eintritt.

Dreh- und Angelpunkt ist vielmehr der Begriff der »liberalen Demokratie«. Damit ist die Regierungsform gemeint, die vor allem in Nordamerika und Europa, aber auch andernorts verbreitet ist. Es ist üblich geworden, beide Wörter als Kompositum zu benutzen, weil »liberal« qualifiziert, um welche Art der »Demokratie« es sich handelt.

Demokratie beschreibt bekanntermaßen jene Regierungsform, in der das Volk der Souverän ist und sich in freien und fairen Wahlen für seine Repräsentanten entscheidet. Liberal ist eine Demokratie dann, wenn die Regierenden Einschränkungen akzeptieren, sobald sie an der Macht sind. Diese Einschränkungen zielen darauf, die Rechte von Einzelnen und Minderheiten zu schützen und die Rechtsstaatlichkeit zu sichern. Der liberale Kernbestand einer Demokratie findet sich üblicherweise in der Verfassung und wird dort durch die Rede-, Versammlungs-, Religions- und Pressefreiheit, die Gewaltenteilung und das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit gesichert.

All das verdient Erwähnung, weil die Verbindung von liberal mit Demokratie keineswegs unauflöslich ist. Ursprünglich waren Demokratien überwiegend nicht liberal. Sie ermöglichten zwar die Volkswahl, waren aber majoritär, weil sie die liberalen Rechte mit Mehrheitsbeschluss aushebeln konnten und es gelegentlich auch taten. Umgekehrt waren liberale Staatswesen nicht notwendig demokratisch, etwa konstitutionelle Monarchien des 19. Jahrhunderts. Neuerdings versuchen Rechtspopulisten, unter dem Begriff der »illiberalen Demokratie« das Mehrheitsdiktat wieder hoffähig zu machen.2

Und so geht es auf den folgenden Seiten genau darum: die liberale Demokratie gegen deren Verächter zu verteidigen und zugleich vor den Maximalisten aus den eigenen Reihen zu schützen. In diesem Sinne wird der vorgeschlagene Begriff des »robusten Liberalismus« verwandt.

Außerdem wird hier der Begriff der »liberalen internationalen Ordnung« benutzt, manchmal als »LIO« oder wechselnd und gleichbedeutend als »liberale Ordnung«, »internationale Ordnung« oder »freiheitliche Ordnung« abgekürzt. Gemeint ist damit jenes Gefüge internationaler Zusammenarbeit, also Normen und Regeln, Allianzen und Institutionen, das auf freiheitlichen Grundlagen fußt und in zwei Entwicklungsschritten, nach 1945 und nach 1990, eingeführt wurde und in der Welt Geltung erlangte.

* * *

Ein solches Buch entsteht nicht ohne Hilfe. Ohne geistigen Austausch geht es nicht, auch nicht ohne (vielfache) Ermutigung, ohne Recherchehilfe, ohne Diskussion und die folgende Überarbeitung von Textteilen. Es steckt in diesem Sinne mehr Gruppenarbeit dahinter, als der Buchtitel vermuten lässt. Deshalb möchte ich mich bei allen bedanken, die einen Anteil daran hatten, dass dieses Manuskript seinen Weg bis in den Druck fand.

Da ist zuerst einmal meine Frau Antje Kuchenbecker, die gottlob schon seit Langem meine intellektuelle Sparringspartnerin ist. Sie war es, die mich immer wieder aufforderte: »Schreib das doch mal auf!« Und sie hat auch all die überarbeiteten Versionen ertragen, die immer wieder zu lesen waren. Sodann gilt mein Dank meinem Referenten Henrik von Homeyer, der einen Gutteil der Literaturrecherche übernommen hat. Er hat sich immer tiefer eingedacht in die Kernthese, die seinen eigenen politischen Präferenzen nicht immer entspricht. Das verdient besondere Hochachtung. Und dann sind da meine Kollegen im Berliner Büro des German Marshall Fund of the United States. Sie haben nicht nur meine zeitweilige Unerreichbarkeit ertragen; sie haben vielfach mitgeholfen, dieses Buch zu verbessern. Es ist ein Privileg, in den benachbarten Büros Kolleginnen zu wissen, die mit ihrer Fachkompetenz aushelfen können, wo die eigene nicht ausreicht. Gemeint sind Jessica Bither, Sudha David-Wilp, Emma Gollhardt, Janka Oertel, Sena Staufer, Rachel Tausendfreund, Jan Techau und Astrid Ziebarth. Dank gebührt auch der Edition Körber, insbesondere Bernd Martin, der das Projekt von Anfang an genauso wohlwollend wie professionell begleitet hat.

Schließlich möchte ich meine intellektuellen Lehrer erwähnen, darunter jene, die von dieser Rolle nichts wissen können. Das macht nichts. Geistiger Einfluss kann vermittelt und über lange Dauer stattfinden. Mein Dank ist nicht weniger profund. Nennen möchte ich hier Isaiah Berlin, Marion Gräfin Dönhoff, Joachim Gauck, Michael Ignatieff, Helmut Schmidt, Heinrich August Winkler und, natürlich, Guido Goldman. Ihr Einfluss auf dieses Buch ist jedenfalls erheblich.

1.Wider den neuen Fatalismus

Ein Vierteljahrhundert lang war die Einschätzung verbreitet, die Demokratie habe mit der Zeitenwende von 1990 einen historischen Sieg errungen, der weltweit in ein Zeitalter der liberalen Demokratie münden werde. In westlichen Gesellschaften zählte die selbstgewisse, ja, triumphalistische Erzählung vom unausweichlichen Fortgang der Geschichte zum politischen Katechismus. Wie alle erfolgreichen Narrative erfasste sie wichtige Elemente der Wirklichkeit und übersah dafür andere – oder ließ sie einfach weg. Diese selektive Wahrnehmung sorgte auf dem Marktplatz der Meinungen zunächst für eine gewisse Ordnung. Über die Jahre führte sie aber dazu, dass die Erzählung vom demokratischen Zeitalter ein zunehmend ungeeigneter Rahmen für die Erfassung der Wirklichkeit wurde.3

Heute droht eine ähnliche Gefahr: dass der Glaube an einen demokratischen Determinismus vom Glauben an einen populistischen Determinismus abgelöst wird. Dieses Denken sieht den neumächtigen Populismus (in seiner rechtsgewirkten Variante) auf einem nicht zu stoppenden Siegeszug. Der Populismus drohe, das politische Leben in den entwickelten Industriestaaten auf Jahre, wahrscheinlich Jahrzehnte zu dominieren. In dieser Lesart wurzelt der Populismus in übersehenen oder unterschätzten Kräften, die auf Jahre Wirkung entfalten und die Amtszeiten einzelner Politiker überdauern würden. Deshalb sei auch die mögliche Abwahl von Führungspersonen (etwa US-Präsident Donald Trump) letztlich nicht wirkmächtig, weil ihre Nachfolger ähnlichen Grundströmungen im Wahlvolk ausgesetzt seien. Also quasi vom Ende der Geschichte zum ewigen Populismus.4

Außenpolitisch rechnet dieses lineare Denken mit dem Ende des Westens, dem Tod der NATO und dem Zerfall der liberalen internationalen Ordnung. Aus den Vereinigten Staaten sieht diese Denkrichtung auf lange Sicht nichts Gutes kommen, jedenfalls keinen Multilateralismus, keine Bündnisorientierung, keinen Pro-Europäismus. Und sollte die populistische Welle doch irgendwann abebben, sei in den internationalen Beziehungen nichts mehr wie zuvor.

Weil die neuen Fatalisten dem Nationalismus auf Jahre Durchsetzungsmacht zuschreiben, nennen sie jene gern »Nostalgiker«5 (oder »Dinosaurier« oder »Transatlantiker«), die an der Unausweichlichkeit eines populistischen Zeitalters zweifeln, eher auf die Anpassungs- und Reformfähigkeit der heutigen Ordnung und ihrer Institutionen setzen und deshalb rufen: »Nicht so schnell!«

Wie jedes lineare Denken führt die einfache Fortschreibung von Trends zum Ausblenden gegenläufiger Tendenzen. In der Analyse der neuen Fatalisten taucht kaum auf, dass der Nationalismus überall in den westlichen Gesellschaften die Opposition, die ihn zu Fall bringen könnte, – wie Antikörper – selbst erzeugt. Krisen des Nationalismus, schon gar nicht sein krachendes Scheitern, besonders das des amtierenden US-Präsidenten Donald Trump – das alles sieht die Kontinuitätsthese nicht vor und damit auch nicht das mögliche Abwenden vieler seiner Wähler. Aus den realen Krisensymptomen der Gegenwart können die Fatalisten nichts anderes ableiten als das Ende des Westens und seiner Ordnung, und das in naher Zukunft. Mit Krisenbewältigung oder einem Übergang zu einem neuen, zeitgemäßen Gleichgewicht in angepassten Strukturen rechnet der linear geprägte Zeitgeist nicht. Damit unterschätzt er die Widerstandsfähigkeit, die Reform- und Wandlungsfähigkeit von Institutionen, die sich aus der Selbstheilungskraft der Demokratie speisen. Und er übersieht, dass der Anpassungsprozess liberaler Ordnungselemente vielerorts längst begonnen hat.

So drehen die Alarmisten die Analysespirale immer weiter und produzieren immer extremere Untergangsphantasien – als sei »Hau den Lukas« ein intellektueller Sport.6 Es scheint, als wollten die Analysten ihre Irrtümer der Vergangenheit wettmachen. Das Unvermögen, den Brexit, die Wahl Donald Trumps und damit die ganze populistische Welle vorherzusehen, wollen sie nun offenbar überkompensieren, indem sie alles für möglich und den jeweils radikalsten Ausgang für den wahrscheinlichsten halten. Zu beobachten ist ein prognostischer Immerschlimmerismus. Und die populären Sachbücher unserer Tage tragen Titel wie »Über Tyrannei«, »Der Weg in die Unfreiheit« oder auch »Wie Demokratien sterben«.

Weil dramatische Einschätzungen drastische Konsequenzen erfordern, rechnen die Fatalisten mit sich selbst erfüllenden Prophezeiungen. Sie schreiben dem neuen Nationalismus Prägekraft über nicht weniger als ein ganzes Zeitalter zu, statt mit der Verunsicherung und der Prognoseungewissheit zu leben, die die gegenwärtige Übergangszeit mit sich bringt.

In solchen Phasen gilt es, sich nicht der Verführungskraft des Kulturpessimismus zu ergeben. Davor hat der Historiker Fritz Stern bereits vor 40 Jahren gewarnt. Er mahnte, sich nicht in endlosen Jeremiaden über den angeblich bevorstehenden Niedergang des eigenen Landes, des eigenen Kontinents, ja, der ganzen Idee des Westens zu ergehen. Wenn nämlich Kulturpessimismus umschlägt in kulturelle Verzweiflung, so sagt uns Fritz Stern, dann singt so mancher in seiner großen Verstimmung über die Moderne »Rhapsodien der Irrationalität«.7 Daraus könne leicht eine zerstörerische politische Kraft werden.

Das Menschengeschlecht hat schon immer Transformationsphasen durchlebt – und überwunden. Schon immer wurde es von bedrohlich erscheinenden Veränderungen aus Perioden eines relativ widerspruchsfreien und identitätssicheren Lebens herausgerissen – etwa während der industriellen Revolution oder der kopernikanischen Wende, die einen Grad an Entwurzelung und Entheimatung produzierten, der heute nur noch schwer nachvollziehbar ist.

Phasen von existenzieller Geborgenheit sind weltgeschichtlich nur flüchtige Sequenzen. Eine solche Periode von Stabilität und Selbstgewissheit hat die westliche Welt in den vergangenen Jahrzehnten erlebt – und darüber beinahe schon vergessen, dass, wie Ian Kershaw in seiner großen Geschichte des Nachkriegseuropa schreibt, »Unsicherheit ein Kennzeichen des modernen Lebens« bleiben wird.8

In diesem nüchternen Geist will die vorliegende Streitschrift darauf verzichten, ein weiteres Bedrohungsszenario für das fraglos fragil gewordene Gebäude der liberalen internationalen Ordnung vorzulegen. Vielmehr soll es um die Grenzen all der Untergangsszenarien gehen, um die Haltelinien. Die Frage lautet: Was bleibt? Was muss bleiben? Was liefert Stabilität im gegenwärtigen Wirbel aus Veränderungen? Wie kann eine Anpassungsstrategie an veränderte Umstände aussehen?

Denn es ist keineswegs ausgemacht, dass der Westen todgeweiht ist. Zwar steht sein normatives Projekt unter Beschuss. Aber zugleich wächst eine neue Verbundenheit mit der alten Idee des politischen Westens heran. Und zwar weil die Alternative so furchteinflößend ist, die von den rechten Kulturrelativisten präsentiert wird: der civilisation state9, der mehr sein will als eine Staatsnation, der eine scheinbar festgefügte Zivilisation umfassen soll und der – in seiner gegenwärtig auf der äußersten Rechten populären Variante – weiß, fremdenfeindlich, religiös intolerant und sich nach außen abschottend ist.

Dabei ist keineswegs schon entschieden, dass die liberale internationale Ordnung gänzlich zerfällt. Zwar leiden die Nachkriegsinstitutionen an Auszehrung. Es mag auch sein, dass es künftig wieder einen Wettbewerb unterschiedlicher Ordnungsmodelle geben wird und die westlich geprägte Teilordnung weniger global, weniger integriert und weniger liberal sein wird. Aber solange die Zahl der Probleme wächst, die nur über Staatsgrenzen hinweg gelöst werden können, bleibt ordnender Multilateralismus die plausible Antwort.

Auch ist keineswegs gewiss, dass Amerika für die Idee eines westlichen Bündnisses und multilateraler Bindungen verloren zu geben wäre. Zwar kann sich die Politik des gegenwärtigen US-Präsidenten auf verbreitete Interventionsmüdigkeit und Globalisierungskritik in der Bevölkerung stützen. Darin liegt aber kein Wählerauftrag zur Zerstörung der NATO und der gesamten liberalen Ordnung.10 Nicht die Ewigkeitsannahme national-imperialer Außenpolitik sollte den Umgang mit den Vereinigten Staaten prägen, sondern die Erwartung von Erschütterungen, die sich aus dem denkbaren Scheitern dieser Außenpolitik ergeben.

Statt in Selbstmitleid zu baden und die Unabwendbarkeit einer antiliberalen Ära zu beklagen, sollten die Kräfte der demokratischen Mitte besser heute als morgen darangehen, ein Konzept für die Reform der internationalen Zusammenarbeit zu entwickeln. Die Welt braucht dazu den Westen, einen erneuerten Westen. Es gilt, Abschied zu nehmen von der Vorstellung des demokratischen Weltfriedens und den Realitäten einer Welt ins Auge zu schauen, die geprägt ist von Machtkonkurrenz. Ein realistischeres Bild der Wirklichkeit wird es ermöglichen, die Grundlagen internationaler Zusammenarbeit konzeptionell zu überarbeiten. Es gilt, die wichtigsten Herausforderungen zusammenhängend zu betrachten: Sicherheit und Verteidigung, Finanzmarkt und Währungsunion, Freihandel und grenzüberschreitende Steuerpolitik, Migration und Flucht. Mit einer großen und zusammenhängenden Reformanstrengung lässt sich neues Vertrauen für die Idee erwerben, dass gegenseitige Abhängigkeit in der Welt nicht Unsicherheit und Kontrollverlust für den Einzelnen bedeutet, sondern die Fähigkeit, Probleme zu lösen, die sonst unlösbar blieben.

Dieses Konzept zur Erneuerung der freiheitlichen Ordnung hat einen Namen: robuster Liberalismus. Es denkt den Westen neu, indem es sehr wohl auf den Prinzipien der Freiheitlichkeit besteht, zugleich aber die liberale Überdehnung beendet und den demokratischen Bekehrungseifer einhegt. Robuster Liberalismus setzt auf einen Universalismus, der weniger verspricht und mehr hält. Er zieht gerade aus der Selbstbegrenzung sein Selbstbewusstsein und seine Überzeugungskraft. In einem zunehmend spannungsgeladenen Umfeld stattet er sich mit stabilen Institutionen, soliden Regeln und Instrumenten zur Selbstverteidigung aus.

Neonationalismus ist kein Schicksal und muss kein Ewigkeitsphänomen sein. Wer dessen politisches Momentum brechen will, muss aber Alternativen anbieten. Robuster Liberalismus ist diese Alternative. Es ist ein Projekt der Mitte für eine Politik der Mitte. Es verbindet Erneuerung mit Moderation und Bescheidenheit mit Prinzipientreue.

2.Um den Westen kämpfen

Ohne Zweifel befindet sich der Westen in einer Krise.11 Hie und da wird im Debattengetümmel bereits das Totenglöckchen geläutet. Manche sehen am Horizont schon »die Morgenröte einer anbrechenden Post-West-Ära« aufscheinen, beobachtet Gernot Erler, der frühere Staatsminister im Auswärtigen Amt.12 Wer den Westen mit seinen gegenwärtigen Institutionen gleichsetzt, dem ist der Endzeitton zu verzeihen, denn der Bedeutungsverlust dieser Institutionen ist schwer zu übersehen.13

Nun ist aber schon die Begriffsdefinition Teil langjähriger Deutungskämpfe, und es gibt bis heute verschiedene Vorstellungen vom Westen, weshalb es sich empfiehlt, von Traueranzeigen zunächst abzusehen. Im Gegenteil: Wer genau hinsieht, wird bemerken, dass der Bedeutungsverlust von Institutionen nicht der einzige beobachtbare Trend ist. Denn zugleich hat ein neuer Kampf um den Westen begonnen, um dessen Wesen und Zukunft.

Stark vereinfacht lassen sich vier Definitionen des Westens unterscheiden: Da ist erstens der Westen als Synonym für eine historisch gewachsene Kulturgemeinschaft, die auf christlichem oder jüdisch-christlichem Erbe fußt. Dann gibt es zweitens eine rassistische Deutung, die den Westen über das Weißsein definiert. Drittens steht der Westen für die moderne Zivilisation, also für die Gemeinschaft der entwickelten und technologisch führenden Länder. Und viertens lässt sich der Westen als eine politische Gemeinschaft liberaler Demokratien beschreiben.14

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