Gustav Schwab: Die Schildbürger

 

 

Gustav Schwab

Die Schildbürger

und andere Erzählungen

aus alten Volksbüchern

 

 

 

Gustav Schwab: Die Schildbürger und andere Erzählungen aus alten Volksbüchern

 

Neuausgabe.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2016.

 

ISBN 978-3-8430-9269-2

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-8430-9202-9 (Broschiert)

ISBN 978-3-8430-9203-6 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

Die Schildbürger

Die ersten Schildbürger, Bewohner des Städtchens Schilda im Lande Utopien, waren hochweise Leute, die ihre Kinder aufs beste unterwiesen, so daß ihnen in der ganzen weiten Welt niemand zu vergleichen war. Deswegen verbreitete sich der Ruhm ihres hohen Verstandes und ihrer seltenen Weisheit über alle Lande und ward Fürsten und Herren bekannt. Aus fernen Orten, von Kaisern und Königen, wurden Botschaften an die Schildbürger abgefertigt, um sich in zweifelhaften Sachen Rat zu holen. Allmählich kam es so weit, daß Fürsten und Herren es viel zu umständlich fanden, Botschaften zu ihnen zu schicken. Jeder wollte einen Schildbürger bei sich am Hof haben, um sich seiner täglich bedienen und aus seinen Reden lernen zu können.

In kurzer Zeit war es so weit, daß fast kein Schildbürger mehr in der Heimat blieb. Darum sahen sich die Frauen genötigt, die ganze Männerarbeit zu verrichten, das Vieh zu betreuen und den Feldbau zu versehen.

Aber das Fehlen der Männer machte sich bald bemerkbar. Alle Mühe der Frauen konnte die Männerarbeit nicht ersetzen. Die Felder verwilderten, das Vieh wurde mager und, was das ärgste war, Kinder, Knechte und Mägde wurden ungehorsam und wollten nichts Rechtes mehr leisten.

Nach einiger Zeit traten die Schildbürgerinnen zusammen, um dem drohenden Verderben zu steuern. Nach langem Geschnatter und Gerede wurden die Frauen schließlich einig, daß sie ihre Männer heimrufen wollten. Zu diesem Zweck ließen sie einen Brief aufsetzen und durch eigene Boten nach allen Orten abschicken, wo sie wußten, daß sich ihre Männer aufhielten.

Sobald die Männer dieses Schreiben gelesen hatten, fanden sie es höchst notwendig, sogleich heimzukehren.

Am folgenden Tag begaben sie sich unter die Linde; denn dort pflegten sie sich im Sommer von altersher zu versammeln, im Winter dagegen war das Rathaus der Versammlungsort. Nun berieten sie lange hin und her, wie dem Schaden, der aus ihren Berufungen entstünde, abzuhelfen wäre. Dann trat ein alter Schildbürger auf und brachte seine Meinung vor: daß sie alle, Weiber und Kinder, Junge und Alte, die abenteuerlichsten und seltsamsten Sachen ausführen sollten, die zu ersinnen wären; was jedem Närrischen in den Sinn käme, das solle er tun.

 

Die Schildbürger erbauen ihr Rathaus

Zu einem recht glückhaften Anfang ihres geänderten Wesens wollten sie zuerst ein neues Rathaus auf gemeinsame Kosten erbauen, das ihrer »Narrheit« entsprechen sollte.

Offenbar waren aber die Schildbürger, deren Weisheit nur allmählich vergehen sollte, viel zu vorausschauend, da sie wußten, daß man Bauholz und andere Sachen haben müsse, ehe man mit dem Bauen anfangen könne; echte Narren würden wohl ohne Holz, Stein und Kalk zu bauen begonnen haben. Deswegen zogen sie einmütig miteinander ins Gehölz, das jenseits des Berges gelegen war, und fingen an, nach dem Rat ihres Baumeisters das Bauholz zu fällen.

Als die Stämme von den Ästen gesäubert und ordentlich zugerichtet waren, wünschten sie nichts als eine Armbrust, auf der sie das geschlägerte Holz heimschießen könnten. Damit, meinten sie, würden sie viel Mühe und Arbeit ersparen. Wenn nicht, mußten sie die Arbeit selbst verrichten; deshalb schleppten sie die Bauhölzer schnaufend und pustend den Berg hinauf und jenseits wieder mit vieler Mühe hinab, bis auf einen Stamm, der nach ihrer Ansicht das letzte Stück war. Dieses banden sie gleich den andern an Stricke, brachten es mit Heben, Schieben und Stoßen den Berg hinauf und auf der andern Seite zur Hälfte wieder mühsam hinab. Plötzlich entglitt ihnen der Stamm und fing an, von selbst den Berg hinabzurollen, bis er zu den andern Hölzern kam, wo er ruhig liegenblieb.

»Sind wir doch alle rechte Narren«, meinte endlich einer der Schildbürger, »daß wir uns solche Mühe gegeben haben, die Bäume den Berg hinabzuschaffen; erst dieser Klotz mußte uns lehren, daß sie von selbst rascher hätten hinunter gleiten können!«

»Nun, da ist leicht abzuhelfen«, sagte ein anderer; »wer die Stämme mühsam hinabgetan hat, der soll sie auch wieder hinauftun! Darum sputen wir uns! Wenn wir die Hölzer wieder auf den Berg gebracht haben, können wir sie alle miteinander wieder hinunterrollen lassen; dann haben wir mit dem Zusehen unsere Freude und werden für unsere Mühe belohnt!«

Dieser Rat gefiel allen Schildbürgern außerordentlich.

Nachdem sie sich redlich geplagt hatten und alle Hölzer wieder oben waren, ließen sie die Baumstämme allmählich den Berg hinabrollen. Die Schildbürger standen droben und ließen sich den Anblick wohl gefallen. Ja, sie waren ganz stolz auf die erste Probe ihrer Narrheit, zogen fröhlich heim und setzten sich ins Wirtshaus, wo sie auf Kosten der Stadt zechten.

Das Bauholz war gefügt und gezimmert, Stein, Sand, Kalk herbeigeschafft, und so fingen die Schildbürger einmütig ihren Bau mit solchem Eifer an, daß in wenigen Tagen die drei Hauptmauern standen; weil sie etwas Besonderes haben wollten, sollte das Haus dreieckig werden. Doch ließen sie an einer Seite ein großes Tor in der Mauer offen, um, wie sie erklärten, das Heu, das der Gemeinde gehörte und dessen Erlös sie miteinander vertrinken durften, unterzubringen.

Nachdem der Dachstuhl auf die Mauer gesetzt und das Dach mit Ziegeln eingedeckt war, wollten sie ihr Rathaus zu aller Narren Ehre einweihen und in aller Narren Namen versuchen, wie es sich darin beraten lasse. Kaum aber waren die Schildbürger eingetreten, da merkten sie, daß es ganz finster war, so finster, daß einer den andern nicht sehen konnte. Darüber erschraken sie und konnten sich nicht genug wundern, woher das kommen möge. So gingen sie denn bei ihrem Heutor wieder hinaus, um zu sehen, wo der Fehler stecke. Da standen alle drei Mauern, das Dach saß ordentlich darauf, auch an Licht mangelte es im Freien nicht. Sobald sie aber wieder eintraten, um zu forschen, ob der Fehler etwa drinnen liege, da war es finster wie zuvor. Die Ursache lag darin, daß die Schildbürger die Fenster an ihrem Rathaus einzubauen vergessen hatten.

Die Schildbürger sorgen für Beleuchtung

Als der festgesetzte Ratstag gekommen war, fanden sich die Schildbürger in großer Zahl ein und setzten sich auf ihre Plätze. Einer von ihnen hatte einen brennenden Span mitgebracht und ihn auf seinen Hut gesteckt, damit sie einander in dem finsteren Rathaus sehen könnten. Nun wurden über den Bau des Rathauses die widersprechendsten Meinungen vorgebracht. Die Mehrheit war der Ansicht, man solle das ganze Gebäude bis auf den Grund abbrechen und aufs neue aufführen. Da trat einer hervor, der früher unter allen der Weiseste gewesen war, jetzt aber sich als der Allertörichteste zeigen wollte und meinte: »Wer weiß, ob das helle Tageslicht sich nicht in einem Gefäß tragen läßt, so wie das Wasser in einem Eimer getragen wird. Keiner von uns hat es bisher versucht. Darum wollen wir es probieren. Gelingt es, so werden wir als Erfinder dieser Kunst großes Lob erringen. Geht es aber nicht, so paßt unser Tun ganz zu unserer Narrheit.«

Dieser Vorschlag gefiel allen Schildbürgern so gut, daß sie beschlossen, ihn eiligst auszuführen. Sie kamen daher zu Mittag, wo die Sonne am besten scheint, alle vor das neue Rathaus, jeder mit einem anderen Geschirr.

Sobald die Glocke Mittag geschlagen, begannen sie zu arbeiten. Viele hatten Säcke mitgebracht, darein ließen sie die Sonne scheinen, dann knüpften sie den Sack eilends zu und rannten damit in das Rathaus, den Tag auszuschütten. Andere taten dasselbe mit verschließbaren Gefäßen, wie Kesseln, Zubern und dergleichen mehr. Einer lud sogar den Tag mit einer Strohgabel in einen Korb, der andere mit einer Schaufel, etliche gruben ihn aus der Erde hervor. Ein anderer war besonders schlau: er wollte den Tag in einer Mäusefalle fangen und diesen dann ins Haus tragen. Das trieben die Schildbürger den langen, lieben Tag, solang die Sonne schien, mit solchem Eifer, daß sie vor Hitze fast verschmachteten. Darum meinten die Schildbürger zuletzt: »Nein, es wäre doch eine Kunst gewesen, wenn es gelungen wäre!« Darauf zogen sie ab, um ihre durstigen Kehlen auf Kosten der Gemeinde im Wirtshaus zu laben.

Die Schildbürger waren mitten in ihrer Arbeit, als ein fremder Wandersmann durch die Stadt reiste. Dieser blieb stehen, sah ihnen mit offenem Mund lange zu und wäre beinahe auch zu einem Schildbürger geworden, so sehr zerbrach er sich den Kopf darüber, was denn das bedeuten sollte. Als er sich am Abend im Wirtshaus über den Zweck dieser Arbeit erkundigte, antworteten ihm die Schildbürger ohne Bedenken, sie hätten versucht, das Tageslicht in ihr neugebautes Rathaus zu tragen.

Der fremde Geselle war ein Spaßvogel, deswegen fragte er ernsthaft, ob sie mit ihrer Arbeit etwas ausgerichtet hätten. Da sie mit Kopfschütteln antworteten, meinte der Geselle: »Das kommt daher, daß ihr die Sache nicht richtig angepackt habt.«

Am folgenden Tag führten sie den fremden Künstler zum Rathaus und besahen es mit ihm von oben bis unten, vorn und hinten, innen und außen. Da meinte der Fremde, sie sollten das Dach besteigen und die Dachziegel wegnehmen, was auch tatsächlich geschah.

»Nun habt ihr den Tag in eurem Rathaus«, rief er, »ihr mögt ihn drin lassen, solang es euch gefällt. Wenn es euch beschwerlich wird, könnt ihr ihn wieder hinausjagen.« Die Schildbürger freuten sich und hielten den ganzen Sommer ihre Versammlungen im Rathaus. Der Geselle nahm seinen Lohn und zählte das Geld nicht lange, sondern machte sich aus dem Staub, wobei er sich oft umsah, ob ihm niemand nacheile, der ihm seinen Fang wieder abnehme. Er kam auch nie wieder, und bis heute weiß niemand, woher er gewesen und wohin er gegangen ist.

Nun hatten die Schildbürger das Glück, daß es den ganzen Sommer über, sooft sie zu Rat saßen, nicht regnete. Inzwischen ging der Sommer zu Ende, und der leidige Winter meldete seinen Einzug an. Da merkten die Schildbürger bald, daß sie sich gegen Schnee und Ungewitter schützen müßten. Sie hatten daher nichts Eiligeres zu tun, als das Dach wieder zu decken. Aber als sie dann wieder ins Rathaus gingen, war es darin wieder so dunkel wie zuvor. Jetzt erst merkten sie, daß sie der fremde Wanderer häßlich hinter das Licht geführt hatte. Sie setzten sich daher wieder mit ihren Lichtspähen auf den Hüten zusammen und berieten, was zu tun sei.

Endlich stand einer auf und rief: »Ich rate das, was mein Vater raten würde.«

Nach diesem weisen Wort trat er aus der Versammlung, um sich zu räuspern, da ihn ein böser Husten quälte. Wie er nun in der Finsternis – sein Lichtspan war ihm erloschen – an der Wand krabbelte, bemerkte er plötzlich einen kleinen Riß in der Mauer. Auf einmal kam ihm die Erleuchtung, und er rief: »Liebe Freunde, wir sind doch alle richtige Narren! Wir haben in das Haus keine Fenster gemacht, durch die das Licht hereinfallen konnte!«

Verblüfft sahen die Bürger einander an und schämten sich einer vor dem andern. Sogleich gingen sie daran, überall die Mauern des Rathauses durchzubrechen, und es gab keinen Schildbürger, der nicht sein eigenes Fenster hätte haben wollen.

 

Die Schildbürger und ihr Ofen

Inzwischen war es Winter geworden. Nun sollten sie einmal Gerichtssitzung halten; ein Kuhhirte hatte mit seinem Horn die Ratsherren zusammenberufen. Da brachte denn jeder der Richter sein eigenes Scheit Holz mit, um die Ratsstube zu wärmen. Aber nun zeigte es sich, daß die Schildbürger einen Ofen einzubauen vergessen, ja, nicht einmal Raum freigelassen hatten, wo man einen aufstellen konnte. Als sie die Sache überlegten, waren einige der Ansicht, man solle ihn hinter die Tür setzen. Da aber der Schultheiß im Winter seinen Sitz hinter dem Ofen haben mußte, schien es doch unpassend, wenn das Stadtoberhaupt hinter der Tür säße. Zuletzt riet einer, man solle den Ofen vors Fenster hinaus setzen, damit schon gewärmte Luft in den Raum komme.

Doch sagte ein Alter unter ihnen, der schon länger Narr war als die andern: »Aber, lieber Freund, die Hitze, die in die Stube gehört, wird zum Ofenrohr hinausgehen! Was hilft uns dann der Ofen im Freien?« – Dagegen weiß ich ein Mittel«, rief ein dritter. »Ich habe ein altes Hasengarn daheim, das wollen wir vor das Ofenrohr hängen, damit die Hitze im Ofen bleibt. Dann brauchen wir nichts zu befürchten, nicht wahr, lieber Nachbar, und können lustig im Ofen unsere Äpfel braten. Die Wärme wird bei der Ofentür in die Stube dringen!« Dieser Schildbürger wurde wegen seines weisen Rates hoch gepriesen und ihm mit allen seinen Nachkommen der allernächste Sitz hinter dem Ofen zugesprochen.

 

Die Schildbürger bauen Salz

Bei der nächsten Sitzung berieten die Ratsherren vor allem darüber, wie man einen Vorrat für die Zeit der Not anlegen könnte. Besonders an Salz litten sie großen Mangel. Da kamen sie nach langer Beratung zu dem Schluß, daß das Salz auf dem Feld wachsen müsse, weil es dem Zucker ganz ähnlich sehe und dieser doch auch vom Feld stamme. Darum beschloß der wohlweise Rat, daß man ein großes, der Gemeinde gehöriges Grundstück in Gottes Namen mit Salz besäen solle.

Der Acker wurde gepflügt und das Salz ausgestreut. Alle Schildbürger waren in bester Hoffnung und zweifelten nicht, Gott werde seinen Segen im Überfluß zu der Arbeit geben, weil sie ja in seinem Namen gearbeitet hätten. Sie stellten Hüter auf, die mit langen Vogelrohren die Vögel schießen sollten, die das ausgesäte Salz etwa aufpicken wollten.

Es währte nicht lange, so fing der Acker aufs allerschönste zu grünen an. Die Schildbürger hatten eine unsägliche Freude darüber und gingen alle Tage hinaus, um zu sehen, wie das Salz wüchse. Und je mehr es wuchs, desto mehr wuchs in ihnen die Hoffnung, und jeder sah sich im Geist schon als Besitzer eines ganzen Scheffels voll Salz. Deswegen trugen sie den Hütern strenge auf, wenn etwa eine Kuh, ein Pferd, ein Schaf oder eine Geiß sich auf den Salzacker verirrte, so sollten sie diese Tiere ohne Schonung fortjagen. Dessenungeachtet kam das unvernünftige Vieh auf den wohlbebauten Salzacker und fraß die herrliche Aussaat.

Die Hüter verloren den Kopf, denn sie waren Schildbürger; anstatt das Vieh aus dem Acker zu treiben, liefen sie in die Stadt und meldeten das Vorkommnis dem Schultheißen. Dieser faßte, nachdem er und die Ratsherren sich lang die Köpfe zerbrochen hatten, den weisen Beschluß, vier Ratsherren sollten einen Hüter auf eine geflochtene Tragbahre setzen, ihm eine lange Peitsche in die Hand geben und ihn so lange auf dem Salzacker herumtragen, bis er das Vieh herausgetrieben hätte. Dies geschah auch; der Hüter hielt seinen Umzug, als wäre er der Papst, und die vier Ratsherren wußten mit ihren breiten Füßen so vorsichtig einherzugehen, daß der kostbaren Saat kein allzugroßer Schaden widerfuhr.

Wirklich blühte und reifte das Salzkraut, als ob es Unkraut gewesen wäre. Als nun ein ehrlicher Schildbürger einmal an dem herrlich grünenden Acker vorbeiging, konnte er es nicht lassen, ein wenig von dem edlen Salzkraut auszuraufen und es bescheiden zu kosten. Da bissen ihn die Brennesseln auf die Zunge, daß er hätte schreien mögen; aber gerade das machte ihn besonders fröhlich. Er rannte vor Schmerz und Freuden auf und ab und schrie mit heller Stimme: »Es ist Leckerwerk; Leckerwerk ist es!« Darauf lief er eilig nach Schilda und läutete Sturm mit der großen Glocke, damit alle Schildbürger zusammenkämen und die gute Mär vernähmen. Als alle versammelt waren, berichtete er ihnen, vor Freude zitternd, das Kraut sei schon so scharf, daß es ihn auf der Zunge gebissen habe; man könne spüren, daß ein recht gutes Salz daraus werden würde.

Fröhlich eilten die Schildbürger auf den Acker hinaus. Der Schultheiß raufte ein Krautblatt ab, reckte die Zunge und kostete es. Alle taten ihm nach und fanden es so, wie der Bote es ihnen verkündet hatte. Als dann die Zeit der Ernte da war, kamen sie mit Roß und Wagen und mit Sicheln herbei, das Salz abzuschneiden und heimzuführen. Etliche hatten gar ihre Dreschflegel mitgenommen, um es gleich an Ort und Stelle auszudreschen. Als sie aber Hand anlegen und das Kraut mit der Sichel schneiden wollten, da war es so herb und hitzig, daß es allen Schnittern die Hände verbrannte.

Nun meinten einige, man solle den Acker mähen, andere waren der Ansicht, man solle die Gräser mit der Armbrust niederschießen. Das letzte gefiel ihnen am besten. Weil sie aber keinen Schützen unter sich hatten und fürchteten, wenn sie nach einem Fremden schickten, könnte ihre Kunst verraten werden, so ließen sie es bleiben. Kurzum, die Schildbürger mußten das edle Salzkraut auf dem Felde stehen lassen! Und hatten sie zuvor wenig Salz gehabt, so hatten sie jetzt noch weniger.

 

Die Wahl zum Schultheiß

Nun geschah es, daß der Kaiser des Reiches Utopia, in dem der Flecken Schilda lag, einen persönlichen Besuch in Schilda machen wollte, um mit eigenen Augen zu sehen, wie es sich mit der Torheit seiner dortigen Untertanen verhalte. Er ließ ihnen anzeigen, daß er alle ihre althergebrachten Privilegien und Freiheiten bestätigen und sie mit weiteren begnaden wolle, wenn sich ihre Antwort auf seinen Gruß reime.

Die armen Schildbürger erschraken über diese Botschaft und ordneten alles, was in Stall und Küche notwendig war, aufs eifrigste, um den Kaiser so großartig als möglich in ihrem Dorf zu empfangen. Unglücklicherweise aber hatten sie damals gerade keinen Schultheißen. Nachdem sie sich lange über eine neue Wahl beraten hatten, kamen sie endlich zu folgendem Beschluß: Weil sie dem Kaiser auf seine ersten Worte in Reimen antworten müßten, sei es am besten, daß derjenige Schultheiß werde, der am folgenden Tag den besten Reim hervorbringen könnte. Nun zerbrachen sich die weisen Herren die ganze Nacht den Kopf; denn jeder wäre gern Schultheiß geworden. Am unruhigsten aber schlief der Schweinehirt. Er warf sich so wild im Schlaf, daß seine Frau endlich erwachte und ihn fragte, was ihm fehle. Der Schweinehirt aber wollte nicht aus dem Rat schwatzen, und nur mit vieler Mühe konnte ihn sein Weib bewegen, ihr zu sagen, was sich Wichtiges begeben habe. Als er ihr endlich sein Geheimnis anvertraut hatte, wäre des Schweinehirten Frau ebensogern Schultheißin gewesen als der Schweinehirt Schultheiß.

»Sorge dich doch nicht, lieber Mann«, sagte sie. »Was willst du mir geben, wenn ich dich einen Reim lehre, daß du Schultheiß wirst?« – »Wenn du das kannst«, antwortete der Schweinehirt vergnügt, »will ich dir einen schönen Pelz kaufen.« Damit war die Frau sehr zufrieden, dachte eine kleine Weile nach und fing an, ihm folgenden Reim vorzusprechen:

 

Ihr lieben Herrn, ich tret' herein,

Mein feines Weib, das heißt Kathrein,

Ist schöner als mein schönstes Schwein

Und trinkt gern guten, kühlen Wein.

 

Diesen Reim sagte die Schildbürgerin ihrem Mann neunundneunzigmal vor und er ebensooft ihr nach, bis er ihn fest zu beherrschen glaubte. Aber auch die andern Schildbürger hatten nicht gerastet; sie hatten alle vom eifrigen Reimen größere Köpfe gekriegt, und jeder hatte sich die ganze Nacht schon als Schultheiß gesehen.

Als sie dann am nächsten Morgen zusammentraten, konnte man die zierlichsten Reime hören. Freilich war es schade, daß die edlen Ratsherren infolge ihrer langen Narrheit ein recht schwaches Gedächtnis hatten, so daß ihnen jedesmal das rechte Schlagwort des Reimes entfiel. Da gab es Reime wie:

 

»Ich heiße Meister Hildebrand,

Mein Spieß lehnt an der Mauer ...«

 

worüber darin alle lachten, bis sie selbst ihren Reim hersagen mußten und auch steckenblieben. Der Schweinehirt stand weit hinten und kam wegen seines niedrigen Standes zuletzt an die Reihe. Er war in tausend Ängsten; denn er fürchtete immer, ein anderer könnte einen besseren Reim vorbringen und dadurch Schultheiß werden. Sooft einer nur ein einziges Wörtchen aussprach, das auch in seinem Reim vorkam, erschrak er, daß ihm das Herz klopfte. Als nun die Reihe an ihm war, stand er auf und sprach mit kühner Stimme:

 

Ihr lieben Herrn, ich tret' – hierher,

Mein feines Weib, das heißt Kathrein,

Ist schöner als mein schönstes – Ferkel

Und trinkt gern guten, kühlen Most!

 

»Das sind einmal vier Zeilen – ein Gedicht!« riefen die Ratsherren von Schilda einmütig! Und bei der Wahl fielen alle Stimmen auf den Schweinehirten; denn alle waren fest überzeugt, dieser würde dem Kaiser wohl in Reimen antworten können und ihm würdige Gesellschaft leisten. So war der Schweinehirt von Schilda über Nacht Schultheiß geworden!

Diese Ehre und Würde tat dem Schweinehüter so wohl, daß er beschloß, seinen Hirtenschweiß abzuwaschen und in die Nachbarschaft ins Bad zu gehen, denn in Schilda war keine Badeanstalt. Unterwegs begegnete ihm ein Mann, der vor Jahren mit ihm Schweine gehütet hatte, und duzte ihn als alten Freund. Jener aber verbat sich das feierlich und fügte hinzu: »Wisse, wir sind jetzt unser Herr der Schultheiß zu Schilda!« Da wünschte ihm der andere ehrerbietig Glück zu seinem neuen Amt bei dem Volk der Schildbürger.

So zog »unser« Herr, der Schultheiß, fort und kam in das Bad. Hier stellte er sich gar weise, nahm Platz auf einer Bank in schweren, tiefen Gedanken und zählte von Zeit zu Zeit seine zehn Finger ab, so daß alle, die ihn kannten, sich über diese Veränderung wunderten und ihn für besonders tiefsinnig hielten. Indessen fragte er einen Herren, der neben ihm saß, ob dies die Bank sei, auf der die Herren zu warten pflegen. »Ja!« wurde ihm geantwortet. »Ha, wie fein habe ich es getroffen«, dachte der Schultheiß, »es ist, als habe es die Bank gerochen, daß ich Schultheiß zu Schilda bin!«

Als er wieder nach Hause kam, vergaß unsere gnädige Frau, die Schultheißin, nicht, den versprochenen Pelz recht oft zu fordern. Als der Schultheiß wieder einmal wichtiger Geschäfte halber in die Nachbarstadt gehen wollte, unterließ sie nicht, ihn an den Pelz zu mahnen. Ehe noch der Schultheiß die Stadt betrat, fragte er schon den Torwart nach dem Haus des Kürschners. Als dieser ihm das Haus wies, erkundigte er sich weiter, ob es auch der Meister sei, bei dem alle Schultheißenfrauen ihre Pelze kauften.

Als er heimkam, empfing die Frau den Pelz mit Freuden, zog ihn sofort an, drehte sich nach allen Seiten und ließ sich bewundern. Der Schultheiß aber verlangte, jetzt solle sie für seinen Dienst ihm auch etwas backen; er wolle eine Wurst, die er aus der Stadt mitgebracht hatte, dazu geben und ein Maß Wein bezahlen. Da begann seine Frau grobe, dicke Schnitten zu backen, wie sie es früher getan. Er aber stieß die ersten, die aus der Pfanne kamen, voll Unmut zurück. »Was glaubst du«, sagte er; »meinst du, ich sei ein Schweinehirt? Weißt du nicht, daß ich der Herr Schultheiß zu Schilda bin?« Da mußte die Frau ihm feine Kuchen backen, die aß er dann und trank einen Schluck guten Weins dazu.

Die ganze folgende Nacht dachte die neue Frau Schultheißin angestrengt darüber nach, wie sie in ihrem neuen Pelz ihrem Mann und seinem Amt zu Ehren vor den Schildbürgern prangen könnte. Sie stand früh auf und putzte sich eifrig heraus, so daß sie sogar das Läuten in die Predigt überhörte. Der Schultheiß mußte ihr den Spiegel halten, und wohl hundertmal fragte sie ihn, ob sie auch von vorn und von der Seite recht wie eine Frau Schultheißin aussehe. Als sie mit ihrem neuen Pelz zur Kirche hineinrauschte, war eben die Predigt zu Ende, so daß alle Andächtigen aufstanden. Die gute Frau legte das ganz anders aus und meinte, weil ihr Mann Schultheiß und sie Frau Schultheißin sei und weil sie einen nagelneuen Pelz anhabe, stünden alle ihr zu Ehren auf. Sie sprach deswegen, indem sie sich gnädig nach beiden Seiten verneigte: »Lieber Nachbar, ich bitte Euch, bleibt doch sitzen; denn ich denke wohl noch an die Zeit, wo ich ebenso arm und zerlumpt wie Ihr zur Kirche gegangen bin!«

Bald darauf kam der Herr Schultheiß, der bisher an seinem Barett gestriegelt hatte, in die Kirche. In diesem Augenblick war der Gottesdienst zu Ende, und alle Schildbürger verließen die Kirche, nur seine Frau, in Erwartung der Predigt, blieb in ihrem Stuhl sitzen. Da nahm der Herr Schultheiß seine eitle Gattin am Arm und führte sie heim.

 

Der Kaiser in Schilda

Endlich war der Kaiser auf dem Weg nach Schilda. Da berieten die Schildbürger, wie sie ihn würdig empfangen sollten.

Über die Frage aber, wie man dem Kaiser entgegenziehen sollte, waren die Meinungen geteilt. Einige schlugen vor, ein Teil solle reiten, der andere zu Fuß gehen, je ein Reiter und ein Fußgänger in einem Glied. Andere meinten, es solle ein jeder den einen Fuß im Steigbügel haben und reiten und mit dem andern auf dem Boden gehen; das wäre teils gegangen, teils geritten. Wieder andere rieten, man solle dem Kaiser auf hölzernen Pferden entgegengehen; solche Pferde seien geduldiger. Dieser letzten Meinung stimmten alle bei, und es wurde beschlossen, daß jeder sein Roß satteln sollte. Das taten alle mit großer Bereitwilligkeit, und bald tummelten sie ihre Holzpferde und richteten sie meisterlich her.

Als nun der Kaiser mit seinem Gefolge heranrückte, sprengten ihm die Schildbürger mit ihren Steckenpferden entgegen. Sobald der Schultheiß den Kaiser gewahrte, sprang er im Eifer von seinem Gaul auf einen Misthaufen und band sein hölzernes Roß vorsichtig an einen daneben stehenden Baum. Weil er dazu beide Hände brauchte, nahm er den Hut zwischen die Zähne und murmelte vor sich hin: »Nun seid uns willkommen auf unserm Grund und Boden, fester Junker Kaiser!« Der Kaiser hatte Mühe, den Gruß zu verstehen, doch merkte er, was der Schultheiß sagen wollte, und erwiderte: »Hab Dank, von deinem besten jungen Kaiser!« Aber der Schultheiß hielt seinen Hut mit den Zähnen fest und konnte nicht antworten. Schnell besann sich sein Nebenmann, dachte an den verabredeten Reim, konnte ihn aber nicht finden und platzte endlich heraus: »Der Schultheiß ist ein Narr!«

Als der Kaiser den Schultheiß lächelnd fragte: »Warum stehst du denn auf dem Mist?« erwiderte dieser schlagfertig: »Ach Herr, ich armer Tropf bin nicht wert, daß mich der Erdboden vor Euch trage!«

Hierauf geleiteten sie den Kaiser in sein Quartier, das sie für ihn hergerichtet hatten. Weil aber der Tag noch lang nicht zu Ende war, baten sie den Kaiser um die Erlaubnis, ihn auf den Salzacker führen zu dürfen, und zeigten stolz ihr vortreffliches Gewächs, das der Kaiser lächelnd besichtigte.

Am andern Tag luden die Schildbürger den Kaiser zu Tisch. Sie geleiteten ihn in ihr merkwürdiges Rathaus und baten ihn, an dem frisch gedeckten Tisch Platz zu nehmen. Das vornehmste Gericht, das aufgetischt wurde, war eine kalte, saure Buttermilch. Der Schultheiß nahm neben dem Kaiser Platz, während die übrigen Bürger aus Ehrfurcht vor beiden um sie herum standen und von oben herab in die Schüssel langten. Die Ratsherren hatten zweierlei Brote zum Einbrocken in die Milch vorbereitet. Vor des Kaisers Platz lagen weiße Semmelwecken, vor den Bauern lagen die schwarzen Brote. Während sie aßen, erwischte ein derber Bauer einen Brocken von dem weißen Brot. Kaum hatte der Schultheiß diesen groben Verstoß gegen den Kaiser wahrgenommen, als er den Bauer auf die Hände schlug und ihn zornig anfuhr: »Flegel, willst du des Kaisers Brot essen?« Der Schildbürger erschrak und legte das abgebissene Stück sogleich bescheiden wieder in die gemeinsame Milchschüssel. Der Kaiser, der das sah, hatte vom Essen genug und schenkte den Schildbürgern die saure Milch mitsamt dem weißen Brot. Diese nahmen das Geschenk mit großem Dank an, löffelten die Milch aus und lobten des Kaisers Freigebigkeit.

Nach einigen Tagen zog der Kaiser wieder fort, nachdem er den Schildbürgern noch eine gute Mahlzeit im Nachbardorf zubereiten ließ. Diesen war erst jetzt, nachdem der Kaiser fort war, recht wohl in ihrer Haut. Sie sprengten mit ihren Steckenpferden in das nächste Dorf, wo ihnen das kaiserliche Mahl angerichtet war. Als sie satt waren, überkam sie das Verlangen, in die schöne grüne Au hinauszuspazieren, um sich dort zu belustigen; doch vergaßen sie einige gute Flaschen Weines nicht und fuhren fort, ins grüne Gras gelagert bis in den Abend hinein zu zechen. Nun hatten sie aber alle Kleider von der gleichen Farbe an, und beim Zechen waren ihnen die Beine durcheinandergekommen. Wie sie heimgehen wollten, war eine große Not! Keiner konnte mehr seine Beine erkennen, weil sie alle doch gleiche Stoffe trugen.

Während sie einander so angafften, ritt ein Fremder vorüber. Dem klagten sie ihren Jammer und fragten, ob er kein Mittel wüßte, daß jeder wieder zu seinen eigenen Beinen komme, sie wollten sich gewiß mit guter Bezahlung für einen richtigen Ratschlag dankbar erweisen. Der Fremde meinte, das könne nicht schwer sein. Er stieg vom Roß, und nachdem er sich vom nächsten Baum einen guten Prügel geholt hatte, fuhr er unter die Bauern und schlug den Nächstbesten auf die Beine. Wen er traf, der sprang schnell auf, und mit den Hieben hatte jeder auch seine Füße wieder. Zuletzt blieb einer der Ratsherren ganz allein sitzen, der jammerte: »Lieber Herr, soll ich meine Beine nicht auch haben? Wollt Ihr das Geld nicht auch an mir verdienen? Oder gehören vielleicht diese Beine mir?« Der Fremde erwiderte: »Das wollen wir gleich sehen!« und zog ihm einen Hieb über die Beine, daß es flammte. Da sprang auch der letzte auf, und alle waren froh, daß sie ihre Beine wieder hatten. Sie übergaben dem Reiter das versprochene Trinkgeld und nahmen sich vor, ein andermal vorsichtiger mit ihren Füßen zu sein!

 

Die Kuhweide

Allmählich trieben es die Schildbürger immer närrischer. Einmal kamen sie zusammen, um eine längst verfallene, alte Mauer zu besichtigen, die noch von einem alten Bau übrig geblieben war; denn sie wollten die Steine für einen Neubau verwenden. Auf dieser Mauer aber wuchs schönes, langes Gras, und es dauerte die Bürger, wenn es verloren sein sollte; sie berieten daher, wie man das Grün verwerten könnte. Die einen waren der Meinung, man solle es abmähen; aber niemand wollte sich auf die hohe Mauer wagen. Andere rieten, es wäre das beste, wenn man die Gräser mit Pfeilen herabschösse. Endlich trat der Schultheiß hervor und sagte, man solle das Vieh auf der Mauer weiden lassen, das würde mit dem Gras am ehesten fertig werden; auf diese Weise brauche man es weder abzumähen noch abzuschießen. Diesem Rat stimmte die ganze Gemeinde zu, und zum Dank sollte des Schultheißen Kuh die erste sein, die das Gras weiden durfte. Der Schultheiß willigte mit Freuden ein. So schlangen die Schildbürger denn der Kuh ein starkes Seil um den Hals, warfen es über die Mauer und fingen auf der andern Seite zu ziehen an. Als sich nun der Strick zusammenzog, wurde die Kuh erwürgt und ließ die Zunge heraushängen. Als ein langer Schildbürger das sah, rief er laut: »Zieht, zieht fest.« Und der Schultheiß selbst schrie: »Zieht, sie hat das Gras gerochen! Seht, wie sie die Zunge darnach ausstreckt! Sie kann sich nur nicht selbst hinaufhelfen.«

Aber alles Ziehen war vergebens; die Schildbürger konnten die Kuh nicht hinaufbringen, weshalb sie daher von ihrem Beginnen wieder abstanden. Und jetzt merkten die törichten Schildbürger erst, daß die Kuh schon lange verendet war.

 

Die Geschichte vom Mühlstein

Auf Grund eines Beschlusses der Ratsherren hatten die Schildbürger sich eine Mühle gebaut; den Mühlstein hatten sie auf einem hohen Berg in einem Steinbruch ausgehauen und mit großer Mühe den Berg herabgewälzt. Als sie ihn drunten hatten, erinnerten sie sich an die Bauhölzer für das Rathaus, die von selbst den Berg hinabgerollt waren.

»Wir sind doch große Narren«, riefen sie, »daß wir uns abermals so viele Mühe gegeben haben!« Und nun zogen sie den Mühlstein mit größter Anstrengung den Berg wieder hinauf. Als sie ihn aber eben wieder abstoßen wollten, fiel es einem Schildbürger ein zu fragen: »Wie wollen wir aber wissen, wohin er laufen wird?«

»Nun«, meinte der Schultheiß, der den Rat gegeben hatte, »das ist leicht festzustellen; es muß einer von uns sich durch das Mittelloch stecken und mit hinabrollen.«

Sofort wurde ein Schildbürger ausgewählt, der mit dem Stein hinunterrollen mußte. Nun war am Fuß des Berges ein Fischweiher. In diesen fiel der Stein mitsamt dem Mann, und beide sanken unter, so daß die Schildbürger nicht wußten, wo Mann und Stein hingekommen waren. Da verdächtigten sie den armen Kerl, der den Kopf in den Stein gesteckt hatte, daß er mit dem Mühlstein durchgegangen sei. Sie ließen daher in allen umliegenden Orten anschlagen, wenn einer käme mit einem Mühlstein um den Hals, den solle man festhalten und als einen Gemeindedieb verurteilen. Der arme Narr von einem Schildbürger aber lag tief im Weiher und hatte so viel Wasser trinken müssen, weshalb er sich nicht mehr verteidigen konnte.

 

Das Versteck der Kirchenglocke

Einstmals verbreitete sich im Land das Gerücht von einem großen Krieg. Die Schildbürger wurden um ihr Hab und Gut besorgt, besonders angst war ihnen um eine Glocke, die auf dem Rathaus hing. Auf diese, dachten sie, könnte das Kriegsvolk ein besonderes Auge haben und Büchsen daraus gießen wollen. So wurden sie denn nach langem Beraten einig, sie bis zu Ende des Krieges in den See zu versenken, und wenn der Feind abgezogen wäre, wieder herauszuziehen und aufzuhängen. Sie bestiegen also ein Schiff und fuhren mit der Glocke auf den See. Als sie aber die Glocke hineinwerfen wollten, da fiel es ihnen ein, wie sie die Stelle wiederfinden könnten, wo sie die Glocke ausgeworfen hätten.

»Da laß dir keine grauen Haare darüber wachsen«, sagte der Schultheiß und schnitt mit dem Messer eine Kerbe in das Schiff an der Stelle, wo sie die Glocke in den See versenkten; »hier, bei dem Schnitt«, erklärte er, »wollen wir sie wieder erkennen.« So ward die Glocke bei der Kerbe hinabgelassen und versenkt. Lange nachher, als wieder tiefster Friede herrschte, fuhren die Schildbürger hinaus auf den See, ihre Glocke zu holen. Den Kerbschnitt an dem Schiff fanden sie richtig wieder, aber die Stelle, wo die Glocke lag, zeigte die Kerbe ihnen nicht an. So fehlte ihnen fortan ihre alte Kirchenglocke.

 

Der »tapfere« Schildbürger

Das Gerücht von einem Krieg, weswegen die Schildbürger ihre Glocke in den tiefen See versenkt hatten, war nicht so unbegründet; denn bald kam der Befehl, eine Anzahl Knechte zur Besatzung in die Stadt zu schicken, was sie auch befolgten.

Einige Zeit darauf machten die Städter einen Ausfall, um auf den Feind zu treffen und den Bauern Hühner und Gänse abzunehmen. Nun hatte einer der abgeordneten Schildbürger kurz vorher ein handbreites Panzerstück gefunden; da er sich gerade eine neue Kleidung machen ließ, befahl er dem Schneider, dieses Stück Stahl unter das Futter ins Wams zu vernähen und gerade vor das Herz zu setzen. Der Schneider versprach, es nach seinem Wunsch zu tun, und setzte lächelnd hinzu, er wolle den rechten Fleck für das Panzerstück schon treffen.

Als die Kleidung fertig war, lief der Schildbürger mutig mit den andern hinaus, bei den Bauern gute Beute zu erjagen. Aber ehe er sich's versah, waren diese über ihn hergefallen und jagten ihn davon. In der Angst wollte er über einen Zaun klettern, doch blieb der tapfere Held aber mit der Hose an einem Zaunstecken hangen. Da stach einer der Bauern nach ihm, so daß er über den Zaun hinüberflog. Lange lag er in Todesangst, seiner Meinung nach schwer verwundet. Als aber die Feinde vorübergezogen waren und er nichts von einer Wunde spürte, beschaute er seine Hose, ob diese nicht zerrissen sei. Da stellte der kühne Krieger fest, daß der Schneider den rechten Fleck für das Panzerstück gewählt habe, indem er es hinten in die Hose einnähte. »Nun danke ich Gott«, sprach der Kriegsknecht, »und dem klugen Mann, der mir diesen Anzug gemacht hat! Wie gut hat er gewußt, wo einem braven Schildbürger das Herz sitzt!«

Nach dem Kriege herrschte große Not. Hab und Gut waren dahin. Die Schildbürger hielten es daher für das beste, auszuwandern.

So verließen die einfältigen Bürger ihre Vaterstadt Schilda und zogen mit Weib und Kind in die weite Welt hinaus. Der eine nahm diese Richtung und der andere die entgegengesetzte. Seit dieser Zeit gibt es Schildbürger überall in der ganzen Welt!

 

Der gehörnte Siegfried

In alter Heldenzeit, als König Artus in Britannien mit seinen edlen Rittern Tafelrunde hielt, herrschte in den Niederlanden ein König namens Sieghard, dessen Gemahlin einen einzigen Sohn, Siegfried, hatte.

Der Knabe Siegfried war groß und stark, dachte nur daran, ein freier Mann zu werden, und ging ohne Erlaubnis davon, um Abenteuer zu suchen.

Während er nun durch Gehölz und Wildnis zog und Hunger ihn allmählich zu quälen anfing, sah er vor einem dichten Wald ein Dorf liegen und schritt darauf zu. Vor dem Dorf wohnte ein Schmied, den Siegfried fragte, ob er einen Knecht nötig habe; denn er hatte zwei Tage nichts gegessen und war eine große Strecke zu Fuß gegangen. Als der Schmied sah, daß Siegfried ein stattliches, gesundes Aussehen hatte, gab er dem Knaben zu essen und zu trinken. Am andern Morgen stellte er ihn als seinen Jungen an und führte ihn zur Arbeit; aber als er ihm den Hammer in die Hand gab, da schlug Siegfried so gewaltig auf das Eisen, daß es entzweibrach und der Amboß tief in die Erde sich eingrub. Der Meister erschrak darüber und wurde ärgerlich; er nahm den jungen Siegfried beim Haar und zauste ihn ein wenig. Dieser aber, solche Behandlung nicht gewohnt, nahm den Meister beim Kragen und warf ihn auf den Erdboden nieder, daß ihm Hören und Sehen verging. Als er aber wieder zu sich kam, rief er seinen Knecht zu Hilfe. Diesen empfing jedoch Siegfried wie seinen Herrn, so daß der Meister auf Mittel und Wege sann, den unbequemen Jungen wieder loszuwerden.

Am nächsten Morgen rief er Siegfried zu sich und befahl: »Da ich gerade notwendig Kohlen brauche, mußt du in den Wald zum Köhler gehen und mir einen Sack voll Kohlen holen.« Der Schmied meinte nämlich, der furchtbare Drache, der sich im Wald bei einer Linde aufhielt, werde ihn töten. Siegfried ging ohne Sorge in den Wald und dachte nichts anderes, als daß er Kohlen holen sollte. Als er aber zu der Linde kam, schoß das Ungeheuer auf ihn los und drohte ihn zu verschlingen. Siegfried überlegte nicht lang; den ersten Baum, der ihm unter die Hände kam, riß er aus der Erde und warf ihn gegen den Drachen. Dieser verwickelte sich derart in die Äste des Baumes, daß er nicht loskam. Dann lief er schnell in des Köhlers Hütte und holte sich Feuer; damit zündete er die Äste über dem Untier an, daß der Drache verbrannte. Bald floß unter den brennenden Ästen das Fett wie ein Bächlein dahin. Siegfried tauchte den Finger darein; sobald es erkaltet war, wurde es hartes Horn. Deshalb überstrich er mit dem Drachenfett seinen ganzen Leib, mit Ausnahme zweier Stellen an der Schulter, wo er nicht hingelangen konnte. Aus diesem Grunde wurde er später der »gehörnte Siegfried« genannt.

Nun sagte sich Siegfried: »Jetzt bist du gepanzert, jetzt kannst du wie ein anderer Ritter ins Land ziehen.« So begab er sich denn an den Hof des berühmten Königs Gilbald nach Worms am Rhein. Der König hatte drei Söhne und eine liebliche Tochter namens Florigunde, die ein ungeheurer Drache entführt hatte. Vater und Mutter der Jungfrau vergingen vor Sorge; die Mutter weinte Tag und Nacht, bis ihre Augen fast blind wurden. Inzwischen hatte das Ungeheuer die Jungfrau auf den Drachenstein gebracht, und da es vom Flug müde war, legte es sein Haupt in ihren Schoß und schlief ein. Das Tier fing an zu schnarchen, daß der Drachenstein erzitterte.

Indessen kam das Osterfest heran, und der Drache verwandelte sich in eine kräftige Menschengestalt. Die Jungfrau wußte nicht, ob sie auf Befreiung hoffen oder noch Ärgeres erwarten sollte, und bat: »Lieber Herr, wie böse habt Ihr an mir gehandelt. Erlaubt mir, mit meinen Eltern und Geschwistern zu sprechen, und ich will Euch geloben, wieder an diese Stelle zu kommen und Euch gerne zu folgen, wohin Ihr mich auch führen wollt.«

Aber das Ungeheuer erwiderte: »Du bittest vergeblich. Du wirst weder Vater, Mutter und Brüder wiedersehen noch einen einzigen anderen Menschen!«

Dies war für die Jungfrau wie ein Donnerschlag in Seele und Herz. Als sie in Todesschrecken sprachlos niedersank, brummte der Mensch, der einmal ein Drache gewesen war:

»Du brauchst dich nicht zu ängstigen. Ich verwandle mich jetzt wieder in einen Drachen, und du mußt bei mir fünf Jahre und einen Tag ausharren; dann aber werde ich wieder ein Mann, und du sollst meine Frau werden. Schließlich sollst du freilich mit mir zur Hölle fahren, und dort wird ein einziger Tag sein wie ein ganzes Jahr.«

Als die Jungfrau diese schrecklichen Worte hörte, erzitterte sie. Bald betete sie zu Gott, bald rief sie nach ihren Eltern Tag und Nacht, bis sie in tiefe Ohnmacht sank. Der Mann aber war wieder zum Drachen geworden und hütete Florigunde.

Indessen verliefen fast vier Jahre, während die Jungfrau hilflos auf dem Drachenstein ausharren mußte. Wäre das fünfte Jahr hinzugekommen, so wäre es ihr wohl schlecht ergangen! Siegfried war inzwischen ein Mann geworden, zog im Land umher, fing Bären und Wölfe und hing die Raubtiere zum Gespött an den Bäumen auf, worüber sich jedermann wunderte.

Eines Tages war König Gilbald mit seinem Hofgesinde auf die Jagd geritten. Er hatte sich im Dickicht des Waldes verloren, so daß niemand mehr bei ihm war außer Siegfried, der ihn nie verließ. Da kam ein großer Eber auf den König zugerannt. Dieser wollte mit seiner Lanze nach dem Tier stechen, Siegfried aber kam ihm zuvor und tötete den Eber mit seinem Schwert. Der König wunderte sich sehr über Siegfrieds Stärke und wurde ihm immer mehr gewogen; Siegfrieds Ruhm verbreitete sich durch alle Lande.

Einige Zeit später kamen ausländische Könige nach Worms, um König Gilbald und seine Gemahlin über den Verlust ihrer Tochter zu trösten. Da ließ der König ein Turnier ausschreiben, um zu sehen, wie sich Siegfried dazu anstelle. Als nun der festgesetzte Tag nahte, begann das Treffen. Siegfried war nie aus dem Sattel gehoben worden, so daß ihm der Preis zuerkannt wurde, und er eine goldene Kette erhielt, an der ein köstliches Kleinod hing. Mit Einwilligung aller anwesenden Könige, Fürsten und Herren wurde Siegfried sodann feierlich zum Ritter geschlagen.

Nach Abzug der Gäste verfielen der König und die Königin in ihre alte Trauer. Da tröstete sie Siegfried und versprach, mit Gottes Hilfe ihre Tochter zu erlösen. Bei Nacht aber hatte Siegfried einen lebhaften Traum. Die schöne Jungfrau Florigunde stand leibhaftig vor ihm. Bei Tagesanbruch nahm er seine Hunde und ritt auf die Jagd. Sie gelangten in einen dichten Wald, wo sich kein Wild blicken ließ. Plötzlich lief einer seiner besten Spürhunde in das Gehölz und brachte ihn auf die Spur des Drachen. Vier Tage verfolgte Siegfried diese Spur, ohne an Essen und Trinken zu denken, denn stets schwebte ihm die schöne Florigunde vor Augen.

Als er bemerkte, daß sein Pferd müde wurde, ließ er es ein wenig grasen; er selbst wollte sich auch ausruhen. Da lief aus dem Wald ein großer Löwe auf ihn zu. »Hier ist nicht lange Zeit zu spaßen«, dachte Siegfried, griff dem wilden Tier in den Rachen und riß es voneinander. Dann hängte er die Beute an einem Baum auf, sattelte sein Pferd und eilte seinem Hund nach, der ein getreuer Wegweiser war.

Er war noch nicht weit geritten, als ihm ein gewappneter Ritter begegnete, der ihn barsch anredete: »Junger Mann, wer du auch seist, kämpfe mit mir, oder gib dich gefangen!« Mit diesen Worten zog er sein Schwert. Aber Siegfried überlegte nicht lange, griff zu seiner Waffe und rief: »Du kühner Ritter, wehre dich tapfer; denn ich will dich bald lehren, daß man mich nicht ungestraft auf freier Straße überfällt!« Damit schlugen sie kräftig aufeinander, daß die Funken stoben, und Siegfried traf seinen Gegner tödlich, daß er vom Pferd sank. Dann schwang sich auch Siegfried von seinem Roß, neigte sich über den Ritter und fragte ihn:

»Sage mir, edler Ritter, woher bist du? Wie ist dein Name? Warum hast du mich überfallen?«

Der Ritter antwortete: »Ich möchte dir gern auf alles Bescheid geben, doch verlassen mich meine Kräfte. Sage mir, wer du bist.«

»Sie heißen mich den ›gehörnten Siegfried‹«, erwiderte der kühne Held. Als der Ritter dies hörte, richtete er sich auf und flüsterte: »Wenn du Siegfried bist, so bin ich durch eines berühmten Mannes Hand gefallen. Ich vermache dir Harnisch und Schild, denn du wirst sie nötig haben. In diesem Wald wohnt nämlich ein gewaltiger Riese, Wolfgrambär genannt; der hat auch mich bezwungen und zu seinem Gefangenen gemacht, als ich jenes Gehölz betrat. Gern möchte ich dir, Ritter Siegfried, noch von einem andern Geheimnis erzählen, das dieser Wald verbirgt, von einem Drachen, der eine schöne Jungfrau gefangenhält, aber ach – ich sterbe!«

Der Schwerverletzte winkte ihm mit der Hand Abschied zu, dann brach sein Auge, und er gab den Geist auf.

Siegfried beklagte den Toten und jammerte, daß ihm die Nachricht von der schönen Florigunde so nahe gewesen war. Aber er konnte es nicht mehr ändern. Darauf nahm er dem toten Ritter Schild und Sturmhaube ab. Den Panzer zog er dem Toten nicht aus, denn seine gehörnte Haut brauchte keinen Harnisch.

So setzte sich Siegfried wieder auf sein Roß und ritt ziellos in den Wald. Da kam nun plötzlich ein Zwerglein in großer Gefolgschaft auf einem kohlschwarzen Roß daher geritten, mit köstlichen Kleidern angetan. Denn der Zwerg Egwald war ein reicher König. Als er den gehörnten Siegfried erblickte, grüßte er höflich. Siegfried dankte und bestaunte die kostbare Kleidung, die prächtige Krone und das tausendköpfige Gefolge des Königs. Er bat den König, ihn seines Schutzes zu würdigen und ihm zu erklären, wie er am besten nach dem Sitz des Drachen gelangen könnte. Dann drückte er seine Verwunderung darüber aus, daß der Zwerg ihn mit Namen genannt und wie einen alten Bekannten angeredet habe.