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Nr. 2811

 

Bote der Atopen

 

Julian Tifflor im Arkonsystem – ein Richter unterbreitet ein Angebot

 

Wim Vandemaan

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

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Auf der Erde schreibt man das Jahr 1518 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ). Menschen haben Teile der Milchstraße besiedelt, Tausende Welten zählen sich zur Liga Freier Terraner. Man treibt Handel mit anderen Völkern der Milchstraße, es herrscht weitestgehend Frieden zwischen den Sternen.

Doch wirklich frei sind die Menschen nicht. Die Galaxis steht unter der Herrschaft des Atopischen Tribunals. Die Atopischen Richter behaupten, nur sie und ihre militärische Macht könnten den Frieden in der Milchstraße sichern.

Wollen Perry Rhodan und seine Gefährten gegen diese Macht vorgehen, müssen sie herausfinden, woher die Richter überhaupt kommen. Ihr Ursprung liegt in den Jenzeitigen Landen, in einer Region des Universums, über die bislang niemand etwas weiß.

Auf dem Weg dorthin kommt es zu einem Unfall, der Perry Rhodan in die Vergangenheit der Milchstraße verschlägt, mehr als 20 Millionen Jahre vor seiner Geburt. Im Gegenzug dringen die kriegerischen Tiuphoren aus dieser Epoche in die Gegenwart ein und greifen mehrere Welten an. Diese unheilvolle Entwicklung ruft jemanden auf den Plan. Es ist der BOTE DER ATOPEN ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Julian Tifflor – Ein New Yorker befindet sich im Arkonsystem.

Attilar Leccore – Ein Gefangener auf dem Mond versucht zu fliehen.

Fenckenzer – Ein Überschwerer als Flottenadmiral mit einem alten Raumschiff.

Matan Addaru Jabarim – Ein Atope unterbreitet ein Angebot.

Gesichter

Erstens: die Eltern

 

Das viele Blut, steht dem Mann ins Gesicht geschrieben. Sein Gesicht ist wächsern wie bei einer erloschenen Kerze. Er schaut in das Zimmer, auf die Blutlachen am Boden, auf die zusammengeknüllten blutigen Tücher, auf die Frau auf dem Stuhl und auf die Frau im weiß bezogenen Bett.

»Mister«, sagt der Arzt und stellt sich ihm in den Weg. Er pumpt so viel Autorität, wie zu dieser müden Stunde möglich ist, in sein Gesicht und sagt noch einmal: »Mister ...?«

Die Hebamme ist eine Schwarze; sie ruht sich auf einem Schemel aus Plastik aus. Ihre Schürze ist blutbefleckt. Sie gähnt herzzerreißend. Es ist spät in der Nacht.

Der Mann schiebt den Arzt zur Seite; der Arzt hält sich am Jackenärmel des Mannes fest wie ein Schiffbrüchiger an einem Stück Holz. Und wird einfach mitgezogen.

»Ich gehe zu meiner Frau«, sagt der Mann.

Die Frau im Bett, die Wangen weiß wie Schneewittchen, hat die Augen geschlossen. Sie atmet. Systematisch. Atmen ist Arbeit.

»Mister!«, sagt der Arzt scharf.

Endlich antwortet der Mann: »Mein Name ist Tifflor. Und Sie sind Doktor ...?« Er macht die Augen schmal und liest das Namensschild: Dr. D. Garfinkle.

»Sie müssen sich keine Sorgen machen«, sagt Dr. Garfinkle. »Und Sie müssen vor allem nicht hier sein. Wer hat Sie überhaupt hereingelassen?«

»Das viele Blut«, sagt der Mann nachdenklich.

»Wir haben das im Griff«, sagt Dr. Garfinkle. »Beruhigen Sie sich, Mr. Tifflor. Es ist alles gut.«

Mr. Tifflor atmet ein, und er hört gar nicht mehr auf einzuatmen. »Und das Kind?«

»Ist ein Junge. Es ist alles gut. Beruhigen Sie sich. Und bitte – verlassen Sie den Raum jetzt.«

Dr. Garfinkle hält immer noch den Arm fest und will den Mann daran aus dem Zimmer bugsieren. Was nicht geht.

»Jim?«, fragt die Frau, die Lider jetzt halb geöffnet.

»Ich bin hier«, sagt Tifflor. »Es ist alles gut. Mach dir keine Sorgen.«

Er schaut fragend zu Dr. Garfinkle. Dr. Garfinkle nickt.

Die Frau im Bett fragt leise: »Und Junior?«

Vielleicht zu leise, denn der Mann fragt zurück, aber nicht nach einem Junior, sondern: »Julian? Ihm geht es gut. Mach dir keine Sorge.«

James Tifflor dreht sich wieder zu Dr. Garfinkle um. »Oder?«

Dr. Garfinkle murmelt etwas, das wie meschuggene Mischpoke klingt, und gibt der Hebamme ein Zeichen.

Die Hebamme steht vom Schemel auf und hebt ein Bündel aus einem winzigen Bett, das Tifflor bislang völlig übersehen hat. Das Bündel ist ganz still.

»Bitte«, sagt Dr. Garfinkle. »Eben ans Licht der Welt geholt.« Er blinzelt aus dem Fenster, wo die Regentropfen verrinnen und sich mit den Lichtern der Wolkenkratzer zu einem abstrakten Bild vermischen. »Auch wenn das Licht der Welt heute Nacht ein wenig zu wünschen übrig lässt.«

Die Hebamme legt der Frau das Bündel auf die Brust; die Frau schlägt das Tuch, das den Kopf schützt, ein wenig zurück.

»Julian«, sagt die Frau.

»Julian«, sagt der Mann.

Ich sehe das Gesicht in den Tüchern, keinen Handteller groß. Ganz auf seinen Schlaf konzentriert.

Ich sehe mir selbst ins Gesicht.

1.

Julian Tifflor:

Khatarkonsystem

 

Die Tür von Julian Tifflors Kabine an Bord der GAUPELLAR GUZDRIN stand halb offen. Es waren nur wenige Schritte bis zur Zentrale. Auch Fenckenzer hatte seinen Raum – die Zentrale – nicht abgeschottet. Tifflor lag auf seiner Pneumoliege, die Arme im Nacken verschränkt, und hörte Fenckenzer dort singen.

Flottenadmiral Fenckenzer war erst vor wenigen Stunden, am Morgen des 27. April 1518 NGZ – von Blauncken zurückgekehrt. Auf der öden Schwerkraftwelt – 3,6 Gravos an den Polen, noch immer satte 2,4 am Äquator – existierte ein Handelsstützpunkt der Überschweren, Stolltanc.

Manchmal brauchte Fenckenzer diese Auszeit unter Artgenossen: seine jährliche Ration an Rauferei und den Austausch mit den weiblichen Bewohnern der Stadt, von deren Kunst, ihr Gewicht in den richtigen Momenten wirkungsvoll einzusetzen, er in indiskreten Augenblicken schwärmte.

Es musste ein in jeder Hinsicht erfolgreicher Ausflug nach Stolltanc gewesen sein. Der Überschwere sang aus voller Kehle. Sein Repertoire erstaunte Tifflor immer wieder. Es bestand aus mehandorischen Handelshymnen, allerlei kruden arkonidischen Heldenliedern und terranischen Hits.

Fenckenzer mochte die Treck-Choräle aus dem 24. Jahrhunderts alter Zeitrechnung, als die Auswandererflotten des Solaren Imperiums sich eigene Erkennungsmelodien hatten komponieren lassen.

»Herz aller Sonnen, Stern an Stern«, schmetterte Fenckenzer die Hymne des Zentralgalaktischen Siedlerkonvois. Dazu klopfte er sich gut hörbar den Takt mit den Händen auf den Bauch.

Er besang die Entscheidung von Raumkapitän Johnson, den Siedlerkonvoi durch die Dunkelwolke Devil's Dark Hand zu führen, womit der wackere Mann seinerzeit 80.000 Siedlern das Leben gerettet und sie in das System von Fragonards Stern geführt hatte.

Julian Tifflor kannte die wahre Geschichte, und er hätte einige andere Strophen zu singen gewusst, in denen Raumkapitän Johnson etwas weniger geglänzt, ja, einen Großteil seines Glanzes hätte abtreten müssen an seinen Ersten Offizier, Cennet Matthea.

Aber die Menschen des Solaren Imperiums hatten eben kernige Kerle mehr geschätzt als verantwortungsbewusste Raumfahrerinnen, die auch in hitzigen Situationen ihren kühlen Kopf behielten.

Tifflor hing seinen Gedanken noch ein wenig nach und bemerkte erst später, dass Flottenadmiral Fenckenzer zu singen aufgehört hatte.

»Bist du wach?«, hörte er den Überschweren raunen.

»Ich bin wach«, sagte Tifflor

»Komm doch bitte mal.«

Tifflor richtete sich auf und machte sich auf den kurzen Weg.

In der Zentrale der GAUPELLAR GUZDRIN leuchtete ein Doppelstern im Panoramaschirm: Khatarkon I und II. Die beiden weißblauen Sonnen lagen eingebettet im Sternendiadem von M 13. Ein grün blinkendes Symbol markierte die Position ihres Schiffes einige Lichtminuten oberhalb des zweiten Planeten, der denselben Namen trug wie seine Sonnen.

Khatarkon lag unter ihnen mit seinen smaragdgrünen Ozeanen. Das Bumerang-Schiff eines Tesqiren stieg hinter dem Nordpol des Planeten empor, eingekreist von sechs Robotraumern der EPPRIK-Klasse.

WER DIE GERECHTIGKEIT GEBIERT IST MUTTER ALLEN FRIEDENS, las Tifflor den Namen des Schiffes.

Fenckenzer ruhte in seinem Kontursessel wie ein Monument. Der zweite Kontursessel – schmaler und mit einer höheren Rückenlehne versehen – stand leer.

Fenckenzers Schädel war kahl und wuchtig; bronzefarbene Altersflecken sprenkelten die Haut wie Inseln auf einer Schatzkarte.

»Und?«, fragte Tifflor. Er setzte sich in den freien Sessel. Im Sitzen überragte er den gedrungenen Flottenadmiral um mehr als einen Kopf.

»Du hast eine Einladung erhalten«, sagte der Überschwere.

»Matan Addaru Jabarim?«, riet Tifflor.

Fenckenzer verzog keine Miene

Tifflor streckte seine Arme aus, spreizte die Finger und betrachtete seine Haut. Der Kristallstaub hatte eine dünne Schicht gebildet, eine zweite Lage. Terranische Mediker hatten sie analysiert und versucht herauszufinden, in welcher Beziehung die hellblaue Kristallschicht zu seiner menschlichen Haut stand.

Tifflor hatte vergessen, zu welchem Ergebnis sie gekommen waren. Er vergaß viel, aber er vergaß es auf seine eigene Art. Da gab es Strömungen in seinem Gedächtnis, die nahmen mal diese, mal jene Erinnerung mit sich, ließen sie eintauchen in die Abgründe seines Geistes, setzten sie mal mit dieser, mal mit jener Erinnerung in Beziehung, ließen sie in einem neuen Licht erscheinen oder in einer neuen Dunkelheit.

Es hatte Zeiten gegeben, Tage, Monate, vielleicht Jahre, da hatte Tifflor mit geschlossenen Augen dagelegen und nichts getan, als in die Tiefe seines Gedächtnisses hinabzusteigen.

Es hatte Zeiten gegeben, da hätte er gerne seine Erinnerung mit anderen Menschen, mit irgendjemandem geteilt.

Aber sein Gedächtnis hatte sich zu einem Gefilde entfaltet, das die Grenzen des Menschenmaßes weit überstieg.

Manchmal kehrte er in die Menschenwelt zurück. Das war ihm keine Last. Er erinnerte sich an die uralte Sprache und sprach sie, als hätte er seitdem nicht Dutzende andere Sprachen gelernt und sie länger gesprochen, als lange Menschenleben dauern.

Dass seine Sätze voller Hintersinn waren, dass er unter der Hand von unerhörten Dingen sprach, dass jedes seiner Worte Geschichten erzählte und in jeder Silbe das Echo von zehn, hundert, tausend Gesprächen klang mit Wesen, so fremdartig, so fern alles Menschlichen, entging seinen Hörern.

Er beließ es dabei. Er wollte niemanden hineinlocken in den Irrgarten seines Geistes.

Er sah aus wie ein Mensch, wie ein Mensch mit blauer Kristallhaut. Man wusste, dass er alt war. Möglich, dass man ihn beneidete um seine Unsterblichkeit.

Als hätte die Zeit ihn unberührt gelassen. Dabei war er nur noch ein Schatten, der in die Menschenwelt fiel.

Wenn er unter Menschen war, trank er Wasser und aß. Er schlief, er atmete.

Anders war es, wenn er aus dem Schatten trat, wenn er überwiegend bei sich war und das Atmen vergaß und den Schlaf; wenn seine kristalline Haut ihn mit Sauerstoff versorgte und mit Licht und mit den Schwingungen des Geistes, die um ihn waren von überall her. Mit den Energien, die unablässig aus den höheren Räumen rieselten. Wenn er die Wärme aufnahm, die den ganzen Kosmos speiste und die ihn barg.

Oft, wenn er die Augen wieder aufgeschlagen hatte, war Fenckenzer da gewesen, hatte still und mit übereinandergeschlagenen Beinen vor seinem Bett gesessen und ihm eine Schale mit Milch und eine Schale mit Käsebrocken auf den Tischkubus gestellt – wie einer Maus.

Der Käse hatte ein feines, würzig-säuerliches Aroma verströmt; die Milch hatte blau geschimmert und die Schale gewärmt, und Tifflor hatte gegessen und getrunken.

Er hatte die Milch und den Käse genossen und sich zugleich zurückgesehnt in die Welt hinter seinen Lidern, wo nichts zum ersten Mal geschah, wo alles vertraut war, wo er daheim war seit Äonen.

»Hast du seinen Anruf erwartet?«, fragte Fenckenzer.

Tifflor nickte.

»Der Richter scheint keinen Zweifel zu haben, dass du kommen wirst«, sagte der Überschwere. »Gibt es da eine Verabredung, von der ich nicht weiß?«

Julian Tifflor schüttelte den Kopf. »Als hätte ich Geheimnisse vor dir.«

»Ich hätte es mir denken können«, grummelte Fenckenzer. »Warum sonst halten wir uns in Thantur-Lok auf?«

Julian Tifflor reckte die Arme, gähnte herzhaft und kuschelte sich wohlig in den Kontursessel. »Es ist schön hier. Khatarkon, die stellare Zwillingsperle des Imperiums. Heimat der schneidigen Khatarkoniden, dieser genialen Robotiker, Garrabo-Spieler und Helden einer funktionierenden Finanzverwaltung. Seit wenigen Wochen stolzer Träger einer Ordischen Stele. Umworben von einem sprachgewaltigen Tesqiren und einem Tamaron, der den Fragmenten des Kristallimperiums Schutz und Zukunftsaussicht bietet. Wer möchte nicht hier weilen?«

»Ich«, sagte der Überschwere. »Dir ist klar, wohin der Atope uns eingeladen hat?«

»Ins Baagsystem natürlich.«

»Ins Arkonsystem«, korrigierte Flottenadmiral Fenckenzer.

Tifflor grinste lausbübisch. »Mein guter Fenckenzer – wir werden doch nicht sentimental auf unsere alten Tage? Imperien kommen, Imperien gehen. Namen gehen verschollen.«

»Ich sage dann mal unseren khatarkonidischen Freunden, dass wir uns auf den Weg machen müssen.«

»Sag ihnen vor allem, dass wir ihnen sehr für ihre Gastfreundschaft danken«, ergänzte Tifflor. Er stand auf und verließ die Zentrale, ließ das Schott aber offen.

Flottenadmiral Fenckenzer sang erneut los.

 

*

 

Kurz nach Beginn der Linearetappe betrat Julian Tifflor die tonnenförmige Schiffsweide über die gravomechanische Schleuse. Die künstliche Schwerkraft des Schiffes war weitgehend auf den Boden der Decks ausgerichtet. Der Riesenzylinder mit der Weide dagegen rotierte und ersetzte die Anziehungskraft durch Fliehkraft. Die Tiere lebten an den Innenwänden des Raums, der größer wirkte, als er war.

Rundum Süßgräser, üppig und grün, eine Weide voller Blumen und Kräuter; da und dort einige Nester von Hühnerhirse; einige vereinzelte Eichen, ein Buchenhain. Tifflor hörte Gänse schnattern. Eine der Kühe hob kurz den Kopf, als sich die Schleuse hinter Tifflor mit einem Kussgeräusch schloss.

Der Sonnenfaden trat knapp oberhalb der Schleuse aus der Wandung und spannte sich von dort durch den röhrenförmigen Raum. Er verströmte eine sommerliche Wärme.

Tifflor öffnete den Zeugschrank neben der Schleuse, griff nach dem einbeinigen Melkschemel und schnallte ihn sich mit der Garnitur um. Dann fasste er den Milcheimer am Bügel.

Er ging die Wand zur Rechten hoch, ohne das Gefühl von Steigen zu haben.

Die Kuh schaute auf, aber nur kurz, und graste weiter. Sie hatte vor zwei Monaten gekalbt. Tifflor trat an ihre Flanke, sprach kurz auf sie ein und ließ sich an ihrer Seite auf den Schemel nieder. Dann massierte er das Euter und rüstete das Tier an, wartete einen Moment, klopfte ein wenig mit der Hand zwischen die vier Zitzen, griff dann, als die Milch ins Euter geschossen war, die Zitze an der Wurzel und begann. Die ersten Milchspritzer lenkte er ins Gras, danach melkte er in den Eimer.

Die ersten Strahlen Milch waren reich an Bakterien, aber das hätte ihm nicht geschadet; Fenckenzer dagegen reagierte sensibler und schätzte es, wenn Tifflor ihn damit verschonte.

Drei, vielleicht vier Minuten melkte er. Die Kuh gab beinahe ein Fünftel mehr Milch, wenn sich die GAUPELLAR GUZDRIN im Linearraum aufhielt – ein Rätsel, das weder die Positronik noch Tifflor selbst bislang hatten lösen können.

Der Sonnenfaden glühte; Tifflor wischte sich kurz mit dem Handrücken über die Stirn. Ein Gänsepaar schritt selbstsicher an Tifflor und der Kuh vorüber.

Tifflor schloss für einen Moment die Augen. Er stellte sich die dünne Wand vor, die ihn vor dem leeren Weltraum schützte; er stellte sich die Geschwindigkeit vor, mit der sich die GAUPELLAR GUZDRIN durch einen Raum bewegte, dessen Eigenart sich allen menschlichen Vorstellungen entzog.

Tifflor bemerkte diesen Raum, diese grenzenlose Passage zwischen der vierten und der fünften Dimension, eines der Niemandslande der Schöpfung. Er bemerkte das schattenhafte Gefüge, die Gezeitenkräfte, die dort wirkten, die zeitverqueren Driften.

Er wusste, dass die Onryonen dieses Niemandsland zu kartografieren versuchten und dass sie nicht die Einzigen waren, die sich um ein Kataster des Linearraumes bemühten – des Transpositorischen Raums, wie sie dieses Gefilde abseits der Wirklichkeit nannten.

Ob es ihnen gelingen würde, an jenem Ort Neuland für ein Leben mit Bewusstsein zu schaffen?

Viele Technosphären waren an solchen und ähnlichen Projekten gescheitert. Aber die Onryonen wären auch nicht die Ersten, die Erfolg hätten.

Jedenfalls begriffen ihre On-Wissenschaftler längst mehr von diesem Raum als die anderen galaktischen Zivilisationen. Die meisten standen dem Linearraum ohnehin bloß ein wenig, aber nicht wesentlich verständiger gegenüber als das Lebewesen, das Tifflor eben gemolken hatte.

Was für ein Gewinn die Onryonen für die Milchstraße wären. Vielleicht könnten sie das Rätsel lösen, warum Kühe im Linearraum mehr Milch gaben.

Ein Onryone an Bord der GAUPELLAR GUZDRIN als Melker, dachte Tifflor. Passt.

»Ich schlage leichten Regen vor«, meldete sich die Positronik, die die rotierende Schiffsweide verwaltete.

Tifflor sog witternd die Luft ein. Sehr warm, sehr trocken. Er nickte zustimmend.

Die Regenspule fuhr aus, ein spiraliges Gebilde, das sich mehrfach um den Sonnenfaden wand und an der gegenüberliegenden Kopfseite des Raumes andockte.

»Wir sind bald da«, unterrichtete er die Kuh.

Sie nahm es gewiss zur Kenntnis, äußerte sich aber nicht dazu.

Nachdem Tifflor die Schleuse erreicht und den Schemel gelöst hatte, regnete es in alle Richtungen. Tifflor hob den Eimer und ging damit zur Schleuse. Er goss die Milch um in eine Kanne, schöpfte mit einem Glas daraus und trank.

Dann füllte er einen Krug und machte sich damit auf den Weg in die Zentrale. Flottenadmiral Fenckenzer hatte zu singen aufgehört.

Im Panoramaschirm leuchtete Arkon, noch fern und nur der hellste Stern unter vielen. Tifflor reichte Fenckenzer den Krug. Der Flottenadmiral trank.

»Bis hierhin und nicht weiter«, sagte er. »Einige Lichtminuten vor uns beginnt die Kombination aus Kristallschirm und Repulsorwall.«

»Eine echte Herausforderung«, sagte Tifflor und lächelte. »Nimm Fahrt auf. Wir fliegen durch.«

In diesem Moment fielen drei Onryonenraumer mit geringer Geschwindigkeit aus dem Linearraum und kreuzten den Weg der GAUPELLAR GUZDRIN. Es waren Raumväter, Sphären von zweitausendeinhundert Metern Durchmesser, gegen die die Springerwalze mit ihren 135 Metern Länge als vernachlässigbare Größe erschien.

Das Patronit ihrer Hüllen leuchtete in düsterem Rot. Sie hatten ihre Schutzschirme desaktiviert. Die Feuerinseln mit den offensiven Waffensystemen lagen unbewegt; die Positronik der GAUPELLAR GUZDRIN konnte keine Zielerfassung feststellen.

Der onryonische Kommandant meldete sich und teilte Tifflor mit, dass Matan Addaru Jabarim ihn erwarte.

Ohne dass Tifflor oder Fenckenzer ihn darum gebeten hätten, übermittelte er ihnen die Koordinaten für eine Passage durch die Schirme.

Am 28. April 1518 NGZ flog die GAUPELLAR GUZDRIN ins Arkonsystem ein. Die drei Raumväter begleiteten sie.

2.

Attilar Leccore:

In Gefangenschaft

 

Attilar Leccore löste den Blick vom Schauspiel der fallenden Wasser des Niagara. Er schaute hoch zur Steilküste. Dort saß Shiva im Schneidersitz auf einem flimmernden Raubtierfell; zwei Hände lagen in der Gebärde der Selbstversenkung im Schoß; zwei weitere Arme hielt der Gott erhoben. Um jeden dieser erhobenen Arme ringelte sich eine Schlange, pendelte mit dem Kopf und glotzte herab zu Leccore und den anderen Passagieren der MAID OF THE MIST. In seiner rechten Hand hielt der Glückverheißende seinen Trishula, den Dreispeer, in seiner linken die Sanduhrtrommel.

Die MAID OF THE MIST hatte den Antigravmodus desaktiviert, lag auf dem Wasser und schaukelte auf den Wellen wie zur Urzeit der Schifffahrt.

Leccore atmete die feine, kitzelnde Gischt ein.

Jemand zupfte ihn am leichten Regenmantel, wie ihn jeder Passagier der MAID OF THE MIST trug. Leccore blickte zur Seite und sah, dass es ein Kind war, ein Junge, vier, vielleicht fünf Jahre alt.

»Hallo«, sagte Leccore und setzte sein gutmütiges, etwas onkelhaftes Lächeln auf.

»Was hast du da in der Hand?«, fragte der Junge.

Hielt er etwas in der Hand?

Tatsächlich war seine rechte Hand um einen Gegenstand geschlossen. Seit wann denn das? »Na so was«, sagte er und zwinkerte dem Jungen zu. Er ging neben dem Jungen in die Hocke und hielt ihm die Faust hin. »Wollen wir doch mal schauen.« Er öffnete die Finger. In der dunklen Innenfläche seiner Hand lag eine Figur wie aus Ebenholz. Die Beine waren nur angedeutet; das Gesicht dagegen fein moduliert. Auf der Stirn saß eine Art drittes Auge.

»Was ist das denn?«, fragte der Junge.

»Das ist ein Pyzhurg«, sagte Attilar Leccore.

Der Junge packte Leccore am kleinen Finger und schüttelte ihn. »Der ist so schwarz wie du«, sagte der Junge. »Bist du auch ein Püt-Surg?«

»Ich glaube nicht«, sagte Leccore.

»Was bist du dann?«

»Dies ist eine verdammt gute Frage, Chef«, mischte sich in diesem Moment der Glück verheißende Gott vom Dach seines Tempels ein.

»Ich bin ...« Leccore schloss die Augen. Konzentrier dich! Beinahe hätte er gesagt: Ich bin der Direktor des Terranischen Liga-Dienstes. Diese alten Gottheiten konnten ganz schön pfiffig sein, wenn sie einen Sterblichen verhörten. »Ich bin Tourist. Ich mache hier Urlaub.«