Franz-Peter Tebartz-van Elst

Werte wahren – Gesellschaft gestalten

Plädoyer für eine Politik
mit christlichem Profil

 

 

 

 

 

Butzon & Bercker

 

„Orientierung durch Diskurs“

Die Sachbuchsparte bei Butzon & Bercker, in der dieser Band erscheint, wird beratend begleitet von Tobias Licht, Susanne Sandherr, Johannes Bernhard Uphus und Marc Witzenbacher.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Gesamtprogramm
von Butzon & Bercker
finden Sie im Internet
unter www.bube.de

ISBN 978-3-7666-1390-5
E-BOOK ISBN 978-3-7666-4141-0
EPUB ISBN 978-3-7666-4142-7

© 2012 Butzon & Bercker GmbH,47623 Kevelaer, Deutschland,
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www.religioeses-sachbuch.de
Alle Rechte vorbehalten.
Umschlagfotos und Fotos im Innenteil: Werner Baumann
Umschlaggestaltung: Christoph Kemkes, Geldern
Satz: Schröder Media GbR, Dernbach
Druck: Bercker Graphischer Betrieb, Kevelaer

Hinführung:
Mit Worten Werte prägen

Unter den bewegenden Ansprachen,die Papst Benedikt XVI. während seines Besuches in Deutschland vom 22. bis 25. September 2011 gehalten hat,ist seine Rede vor dem Bundestag im Berliner Reichstagsgebäude zu einem besonderen und bleibenden Referenztext geworden, wenn es darum geht, Werte zu wahren und Gesellschaft zu gestalten. Dass die Erde und der Mensch von Gott her eine Würde in sich tragen, die es zu wahren gilt, hat Papst Benedikt XVI. eindrucksvoll vermittelt, indem er das Verhältnis von Natur und Vernunft aus christlicher Sicht als Quelle einer Erkenntnisorientierung zu erschließen vermochte. Er hat dabei die gängige, fast absolutistische Sichtweise eines positivistischen Konzeptes von Natur und Vernunft infrage gestellt, das nur gelten lässt, was sich der Mensch mittels seines Verstandes erschlossen hat und als allein gültig betrachtet. Ohne die damit verbundenen Leistungen des Menschen in seiner Bedeutung zu schmälern oder zu verachten, weist Papst Benedikt aber darauf hin, dass nachhaltige Wertebildung und -bindung in Staat und Gesellschaft einen darüber hinausgehenden Erkenntnishorizont brauchen: „Das positivistische Verhältnis von Natur und Vernunft, die positivistische Weltsicht als Ganze ist ein großartiger Teil menschlichen Erkennens und menschlichen Könnens, auf die wir keinesfalls verzichten dürfen. Aber es ist nicht selbst als Ganzes eine dem Menschen in seiner Weite entsprechende und genügende Kultur.Wo die positivistische Vernunft sich allein als die genügende Kultur ansieht und alle anderen kulturellen Realitäten in den Status der Subkultur verbannt, da verkleinert sie den Menschen;ja,sie bedroht seine Menschlichkeit. (…)“1

Diese Wahrnehmung bewegt Christen, die sich mit allen Menschen, Gruppen und Vereinigungen in unserem Land um eine gemeinsame Zukunft in Gerechtigkeit, Frieden und Solidarität sorgen. Wie sehr die Politik in ihrer Verantwortung auf Wertebildung und -wahrung angewiesen ist, wird umso bedrängender bewusst, wo sich verbindende und tragende Überzeugungen nicht mehr so selbstverständlich generieren, wie die Mütter und Väter des Grundgesetzes dies aus bitteren Lernerfahrungen der Geschichte und mit Weitsicht verfassungsrechtlich verankert wissen wollten.

Unsere Gesellschaft ist im Umbruch. In diesen vielfältigen Veränderungen, die alle Institutionen erfassen,stellt sich die bange Frage: Sind auch die Werte, die bislang Orientierung und Zusammenhalt gewahrt haben,im Abbruch?

Bereits kurz vor seiner Wahl zum Nachfolger des Apostels Petrus hat Papst Benedikt XVI. In seiner Predigt vor dem Kardinalskollegium eine zutreffende Zeitdiagnose gegeben, wenn er von einer vorherrschenden „Diktatur des Relativismus“ spricht: „Einen klaren Glauben nach dem Credo der Kirche zu haben wird oft als Fundamentalismus abgestempelt, wohingegen der Relativismus, das sich ,vom Windstoß irgendeiner Lehrmeinung Hin-und-hertreiben-Lassen', als die heutzutage einzige zeitgemäße Haltung erscheint. Es entsteht eine Diktatur des Relativismus, die nichts als endgültig anerkennt und als letztes Maß nur das eigene Ich und seine Gelüste gelten lässt.“ 2

Es gibt Grund zur Sorge, dass die Werte relativiert oder marginalisiert werden, die das Menschenbild prägen, auf dem unsere Verfassung und Rechtsprechung, unsere Ethik (Medizin) und Kultur aufbauen. Schon vor zwanzig Jahren hat der damalige bayerische Kultusminister Hans Maier selbstkritisch reflektiert, wieweit das Christentum insofern Opfer seines eigenen Erfolgs geworden ist, als genuin christliche Werte so sehr in das Allgemeinbewusstsein übergegangen sind, dass sie nicht mehr als spezifisch christliche Errungenschaften identifiziert werden.

Heute ist aber auch diese scheinbare Selbstverständlichkeit christlicher Imprägnierung immer weniger gegeben. Fortschreitende Säkularisierung und Individualisierung des Lebens bewirken eine Relativierung und Marginalisierung der Glaubenssubstanz, die Werte hervorbringt und so Voraussetzungen für ein gesellschaftliches Zusammenleben schafft, die Staat und Politik nicht aus sich selbst schaffen können. Relativierung christlicher Werte hat dementsprechend eine Schwächung ethischer Verbindlichkeit und sozialer Verbundenheit zur Folge.

In seinem Diskussionsbeitrag „Ein Bewusstsein von dem, was fehlt“ 3 nennt der Philosoph Jürgen Habermas vier Desiderate der Gegenwart: den Verlust der eschatologischen Dimension; den Verlust von Solidarität und Motivation zum gemeinwohlorientierten Handeln; den Verlust an Überzeugungsgemeinschaften, die Politik und Staat aus bindenden Werten mittragen, sowie den Verlust an religiös begründeten Stellungnahmen in der politischen Öffentlichkeit. Diktatur der Diesseitigkeit bewirken einen Smog der Säkularisierung des Lebens, in dem die Wurzeln und Wirkung christlicher Werte nicht mehr gesehen werden. Es ist die Aufgabe der Kirche, in der Öffentlichkeit der Gesellschaft ein Bewusstsein von dem zu wecken, was fehlt, wenn der christliche Glaube nicht mehr gehört und gesehen wird.

Die folgenden Beiträge sind in Zusammenhängen entstanden, die nach der Stimme der Kirche rufen. Sie verstehen sich als Plädoyer für eine Politik mit christlichem Profil, die die Werte wieder ins Wort bringt, die in unserer Gesellschaft nicht mehr selbstverständlich sind. Solche Werte zu wahren, führt die Kirche manchmal auf einen einsamen, deswegen aber noch lange nicht verlorenen Posten. Aus Politik und Gesellschaft kommen zugleich Signale und manchmal auch Hilfeschreie, die Religion und Kirche neu auf die Verantwortung des Rufers in der Wüste (vgl. Mt 3,1–12) verweisen. Es ist an der Zeit,von dem zu sprechen, was von Gott her um der Menschen willen nicht verloren gehen darf, wenn sich gesellschaftlich, wirtschaftlich und kulturell so vieles rasant verändert. Eine Lebensmentalität, die einem konstanten Drängen zur Diesseitigkeit und einem Druck zum Pragmatismus unterliegt, bringt schleichend und offen eine Dominanz des säkularen Denkens mit sich, für das am Ende gilt: „Wenn es keinen Gott gibt, dann ist alles erlaubt“ (Fjodor Dostojewski).

Gegen solche Gegebenheiten einer säkularen Kurzsichtigkeit, die zu einer ethischen Blindheit führen können, bekommt der „Ruf nach Religion“ auch eine politische Dimension. Der frühere hessische Ministerpräsident Roland Koch stellt diese Bedeutung heraus, wenn es um die Garantiedes Gemeinsinns in unserer Gesellschaft geht: „Der Mensch hat eine natürliche Neigung, sich selbst für den Mittelpunkt der Welt zu halten. Ohne einen Bezugspunkt außerhalb seiner selbst wird er intolerant gegenüber allem, was sich ihm entgegenstellt, und verfällt in Verzweiflung, sobald er in existenzielle Not gerät. Die Neigung des Menschen zur Transzendenz ist vor diesem Hintergrund etwas Befreiendes (…) Denn tief im Herzen haben die Menschen die Sehnsucht, sich selbst nicht für den Maßstab aller Dinge halten zu müssen, sondern Antwort zu erhalten auf tiefere Fragen nach dem Sinn des Lebens.“4

Dieses Bedürfnis will das vorliegende Buch in sieben Themenfeldern aufgreifen. Orientierung aus dem christlichkirchlichen Glauben hilft, ein Gewissen zu formen, das um die Größe Gottes und um die Grenzen des Menschen weiß, wo ihm scheinbar alles möglich ist. Politik mit christlichem Profil verweist auf die unverzichtbaren Räume der Entfaltung, in denen die Tragfähigkeit des christlich-kirchlichen Glaubens so erfahren und vermittelt werden kann, dass die Lebensform von Ehe und Familie in ihrer wesenhaften Verbindlichkeit und ihrer gesellschaftlich verbindenden Bedeutung erlebt wird. Politik mit christlichem Profil setzt auf Bildung, die mehr ist als Pisa. Christen geht es um Bedingungen und Möglichkeiten, unter denen Menschen ihre ganze Persönlichkeit im Sinne einer umfassenden Charismenförderung entwickeln können. Den ganzen Menschen zu sehen bedeutet, ihn gerade an den Grenzen des Lebens, in Gesundheit und Krankheit als Geschöpf Gottes zu begreifen, dem ein unbedingtes Lebens-und Fürsorgerecht zukommt. Politik mit christlichem Profil versteht sich als unermüdliche Anwaltschaft für einen Lebensschutz, der den Menschen nicht von seiner Produktivität für die Gesellschaft her bewertet, sondern das Apriori Gottes als Maß aller Dinge begreift. Wo Gott vorkommt, gewinnt die Gerechtigkeit auch in der Welt der Wirtschaft und der Arbeit Gestalt.

Die Beiträge dieses Buches verdanken sich allesamt konkreten Situationen, in denen das Wort der Kirche erbeten war.Sie gehen auf Redemanuskripte zurück, die darauf angelegt waren, pointiert zur Sprache zu bringen, was Christen vom Evangelium her zu sagen haben. Der bisweilen appellative Charakter ist dem Interesse geschuldet, christlich-kirchliches Profil benennbar und damit zitierbar zu machen.

Mit der Vorlage dieses Buches verbinde ich meinen Dank an alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Bistum Limburg, die an unterschiedlichen Orten in Gemeinde, Bildung und Caritas den Glauben der Kirche auch mit ihrem persönlichen Zeugnis als einen Dienst an der Welt vertreten. Den Vertreterinnen und Vertretern des politischen und öffentlichen Lebens, die in säkularer Gesellschaft den Mut zu diesem Bekenntnis aufbringen, gilt mein tiefer Respekt. Meinem persönlichen und theologischen Referenten, Roland Berenbrinker, danke ich für die Mühe der redaktionellen Überarbeitung.

Das Plädoyer für eine Politik mit christlichem Profil ist die Position der Heiligen Schrift. Der erste Petrusbrief zeigt den Weg auf, wie Christen Werte wahren und Gesellschaft gestalten können: „Denn es ist der Wille Gottes, dass ihr durch eure guten Taten die Unwissenheit unverständiger Menschen zum Schweigen bringt. Handelt als Freie, aber nicht als solche, die die Freiheit als Deckmantel für das Böse nehmen, sondern als Knechte Gottes. Erweist allen Menschen Ehre, liebt die Brüder, fürchtet Gott und ehrt den Kaiser“ (1 Petr 2,15–17).

Diese Worte in unsere Zeit gesprochen mahnen zu begründeten Positionen im Respekt vor Personen und Verantwortungen. Es geht um die Haltung eines demütigen Selbstbewusstseins, die den Mut zum Widerspruch und die Leidenschaft zur Argumentation nicht scheut. In diesem Sinn will uns die Bibel bewegen, offensiver zu werden. Es geht um eine Perspektive,die im Denken und Handeln die gefährliche Enge einer Immanenz durchbricht, die Transzendenz in ihrer Bedeutung für das Gemeinwohl unserer Gesellschaft aus dem Auge zu verlieren scheint. In diesem Sinn verstehen sich die folgenden Beiträge als ein Plädoyer für eine Politik mit christlichem Profil und im Dienst einer Priorität, die Papst Benedikt XVI. In seiner Ansprache vor dem Bundestag in einem plausiblen Bild als Gebot der Stunde formuliert hat: „Die sich exklusiv gebende positivistische Vernunft, die über das Funktionieren hinaus nichts wahrnehmen kann, gleicht den Betonbauten ohne Fenster,in denen wir uns Klima und Licht selber geben, beides nicht mehr aus der weiten Welt Gottes beziehen wollen. Und dabei können wir uns doch nicht verbergen, dass wir in dieser selbst gemachten Welt im Stillen doch aus den Vorräten Gottes schöpfen, die wir zu unseren Produkten umgestalten. Die Fenster müssen wieder aufgerissen werden, wir müssen wieder die Weite der Welt, den Himmel und die Erde sehen und all dies recht zu gebrauchen lernen.“5

Limburg an der Lahn, zum 20. Januar 2012

+ Dr. Franz-Peter Tebartz-van Elst
Bischof von Limburg

Erstes Kapitel
Konturen
Fundament und Fügung

I. Werte wahren

In seinem viel beachteten Roman „Das amerikanische Hospital“ schildert Michael Kleeberg die Begegnung zweier Menschen, die auf den ersten Blick unterschiedlicher nicht sein können. Die dreißigjährige Pariserin Hélène wartet in einem amerikanischen Militärkrankenhaus in Paris auf einen Untersuchungstermin, um, zusammen mit ihrem Mann, mittels künstlicher Befruchtung doch noch zur Erfüllung ihres sehnlichen Kinderwunsches zu kommen. Vor der Rezeption des Hospitals begegnet sie dem Literaturwissenschaftler David Cote, der vor ihren Augen zusammenbricht.

Als Veteran kehrte er aus dem Golfkrieg des Jahres 1991 zurück, nun, Jahre später, bricht sich bei ihm eine Art posttraumatische Belastungsstörung bahn. Immer wieder begegnen sich beide. Ein Mann, der Leben nahm, und eine Frau, die es nicht schafft, Leben zu schenken. Sie werden, obwohl ihre Situationen so gegensätzlich sind, einander zur Stütze. Er ist lange davongelaufen; vor der Auseinandersetzung mit seiner Kriegsvergangenheit, aus Angst vor der Konfrontation mit persönlicher Schuld. Wie sollte er damit umgehen, dass er auch am Tod von Kindern schuldig wurde, denen zu helfen er doch eigentlich aufgebrochen war.

Sie muss erleben, wie die immer wieder vorgenommenen Befruchtungen immer aufs Neue fehlschlagen; erlebt ihren Körper als etwas zunehmend Fremdes, ihrem tiefen Wunsch Widerstrebendes. Er gibt ihr Trost und Hoffnung, wenn sie immer mehr von dem durch verschiedenste Behandlungen vorgegebenen ,Takt' bestimmt wird: „Down-Regulierung, Stimulation, Auslösung, Follikelpunktion, Transfer, Wartezeit, Enttäuschung, Erholung und Neubeginn.“1 Mit zunehmender äußerlicher Routine, ja, mit der „Selbstverständlichkeit einer Pendlerin“, passiert Hélène die Grenze zwischen ihrem Leben, das von dem so starken Kinderwunsch geprägt ist, und den beschriebenen, beinahe mechanischen Abläufen in der Klinik.

Ergreifend und empfindlich präzise beschreibt Michael Kleeberg die Situation des modernen Menschen und konfrontiert mit der kalten medizinisch-technisierten reinen Möglichkeit. Es bleibt der fahle Geschmack eines über alles andere erhobenen ,Denkens der Machbarkeit', das Vorgaben und Grenzen nicht akzeptieren will. Kleebergs Roman führt durch die beiden so persönlich geschilderten Biografien zu den grundsätzlichen Fragen, die sich unserer Gesellschaft heute stellen. Dazu gehört vor allem die Frage der Verhältnisbestimmung zwischen Sollen und können, zwischen Dürfen und Vermögen des Menschen. Es steht zu befürchten, dass die Antwort darauf – das zeigen die zuweilen heftig geführten Kontroversen und Debatten unserer Zeit – nicht selbstverständlich zugunsten des christlichen Menschenbildes ausfallen wird.

1. Menschenbild und Gottesbild

Deutschland ist ein Land, das man im positiven Sinne als ,Teil Europas in der so genannten westlichen Welt' bezeichnen kann. Oft beschworen werden dabei von den unterschiedlichsten Vertretern und Meinungen ,unsere Werte' bzw. ,unser Menschenbild'. Wie selbstverständlich verstehen wir uns – und auch jeden anderen Menschen – als frei, gleich an Rechten und Würde; wir betrachten unsere Verfassung als eine, die dieser Auffassung am ehesten gerecht wird, und geben ihr ,grund-sätzlichen'Rang.

Allzu schnell übersehen wird jedoch, dass das damit gemeinhin verbundene und transportierte Bild vom Menschen in unserem Kulturraum nicht ohne Herkunft bzw. Bezugsgröße ist, es ist nicht im ,luftleeren Raum' entstanden. Immer stärker ist in unserer Gesellschaft die Tendenz zu einer regelrechten ,Selbstsäkularisierung' aller Lebensbereiche zu spüren. Es erscheint geradezu verpönt, sich mit seinem Wertebezug festzulegen, besonders da, wo dieser sich auf originär christliche Wurzeln stützt. Die Rückbindung an den eigentlichen Grund unseres Wertesystems droht uns immer mehr abhandenzukommen. Die Debatte um die Frage einer ,christlichen Leitkultur' zeigt das eindrücklich. Es gibt in unserem Land durchaus eine christliche Leitkultur. All unsere Rede vom Menschen, von seinen gesellschaftlichen Bezügen und Bindungen, ist geprägt vom (jüdisch-)christlichen Erbe unseres Kulturraumes. Immer weniger haben wir jedoch das Bewusstsein für diesen Ursprung und damit auch für die Plausibilität unserer Grundwerte. Es gerät uns zunehmend aus dem Blick, dass sich unser Menschenbild dem jüdischchristlichen Gottesbild verdankt. Ausführlich widmen sich die Kapitel 3/I.; 3/II. und 7 des vorliegenden Buches der Frage nach der Herkunft unserer Werte (vgl. auch Kapitel 1/II.1.).

2. ,imago' und ,similitudo'

Unsere kirchliche Rede vom ,Menschenbild' nimmt ihren Anfangin den ersten Kapiteln der Genesis. Hier ist von der Gottebenbildlichkeit des Menschen die Rede und von der Schöpfungsabsicht Gottes: „Dann sprach Gott: Lasst uns Menschen machen als unser Abbild (imago), uns ähnlich (similitudo). Sie sollen herrschen über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels, über das Vieh und über die ganze Erde und über alle Kriechtiere auf dem Land. Gott schuf also den Menschen als sein Abbild;als Abbild Gottes schuf er ihn.Als Mann und Frau schuf er sie“ (Gen 1,26 f.).

In der nachfolgenden Paradiesgeschichte wird in den bekannten Bildern beschrieben, wie der Schöpfer Adams, gleichsam als bildender Künstler, den Menschen („Adam“) wie auch die Tiere aus der Erde formt. Adam ist es, dem er den Odem, den göttlichen Geist, einhaucht, dem er damit allein gewissermaßen Anteil gibt an seiner Schöpfung. Diese „Sonderstellung im Kosmos“ (Max Scheeler) – das Alleinstellungsmerkmal des Menschen – ist es, was Psalm 8 in seiner so wunderbaren Sprache noch einmal hervorhebt: Die einzigartige Würde des Menschen kommt darin zum Ausdruck, dass der Schöpfer ihn mit „Herrlichkeit und Ehre gekrönt“ hat; ihn nur „wenig geringer gemacht hat, als Gott“ (vgl. Ps 8,6). Adam, obwohl er selbst Teil der Schöpfung ist, darf neben den Schöpfer treten und den Tieren Namen geben.

Die hier kurz angesprochenen Texte bilden Quelle und Grund des biblischen Menschenbildes. Gerhard Lohfink hat darauf hingewiesen, dass der hebräische Begriff ,Selem' (Ebenbild) sprachlich auch in anderen Kontexten vorkommt bzw. vorkam. Interessant und aufschlussreich ist beispielsweise der Hinweis, dass im Ägypten der Pharaonen der Begriff ,Selem' das ,Bild des Pharao' bezeichnete, was ihm in seinem Reich eine ,ubiquitäre Präsenz' verschaffte. Überträgt nun der biblische Sprachgebrauch diesen Zusammenhang auf die Beziehung zwischen Schöpfer und (menschlichem) Geschöpf, bleibt die Rede vom Menschen als ,Bild Gottes' nicht nur Sinnbild, sondern wird zu Realität und Anspruch der Schöpfung. Der Mensch hat nicht nur die Möglichkeit, sondern den Auftrag, überall und in jeder Situation die Gottespräsenz zu verkörpern und – andersherum – die Gottespräsenz im anderen anzuerkennen. (Vgl. dazu Kapitel 3/II.3)

Dieser Grundgedanke setzt sich im Zeugnis des Neuen Testamentes fort. In und durch die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus kommt uns der Schöpfer auf einmalige Weise unüberbietbar entgegen. Mit ihm ist die Fülle der Zeiten angebrochen. Wir sind hineingenommen in die Liebes-und Lebensgemeinschaft des dreifaltigen Gottes. Daraus resultiert unsere Auffassung von Werten im gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Miteinander. Es ist das christliche Menschenbild, das diese Grundhaltung bedingungslos auf alle Menschen übertragen hat.

Das christliche Bild vom Menschen weiß auch um die Schwäche des Einzelnen. Wir sind nicht frei von der Gefahr der Selbstüberschätzung. Zu sehr neigt der Mensch dazu,sich selbst in den Mittelpunkt zu setzen und den Bezugspunkt seines Handelns letztlich im eigenen Wollen zu suchen. Der Glaubende hingegen hat ein ,Korrektiv'. Ohne einer gesellschaftlichen Funktionalisierung der Religion das Wort zu reden, soll doch auf diesen entscheidenden Punkt hingewiesen werden. Wir sehen uns als Christen immer schon auf die in Jesu Christi Person gewordene Wahrheit bezogen, zu der uns zu verhalten wir stetig gefordert sind. Der Mensch muss sich damit nicht dem geradezu unmenschlichen Druck ausgesetzt sehen, sein Heil aus eigener Kraft, im Hier und Jetzt, selbst bewerkstelligen zu müssen.

Ohne Transzendenz, so drückt es der vormalige Ministerpräsident von Hessen, Roland Koch, aus, „ohne einen Bezugspunkt außerhalb seiner selbst, wird [der Mensch] intolerant gegenüber allem, was sich ihm entgegenstellt, verfällt in Verzweiflung, sobald er in existenzielle Not gerät“. 2 Wenn nun aber der Mensch in dem bis hierher skizzierten Sinne ,Bild Gottes' ist, und zwar jeder Einzelne, dann hat dies besonders auch an den ,Grenzen des Lebens' seine Berechtigung und verdient dort besonderen Schutz.

3. Lebensrecht und Lebensschutz

Mit der Frage, was dem unbedingten Schutz menschlichen Lebens dient, sind wir noch einmal sehr konkret beim Thema des eingangs zitierten Romans „Das amerikanische Hospital“. Die Nüchternheit und der geradezu berechnende Umgang mit den befruchteten Eizellen der Hauptprotagonistin, die der Autor Michael Kleeberg beschreibt, rückt eindrücklich vor Augen, dass die rein medizinisch-technische Orientierung das menschliche Leben viel zu schnell zur Konkursmasse der Machbarkeit zu degradieren droht.

So sehr in dem fiktiv geschilderten Fall Verständnis und sogar echtes Mit-Leiden für den sehnlichen Kinderwunsch aufkommen mag: Die bereits genannte Würde und die Freiheit jeden menschlichen Lebens werden hier in der Regel nur noch sehr selektiv und damit willkürlich geachtet. Aus dem bereits herausgestellten Bekenntnis des christlichen Menschenbildes zur Einzigartigkeit und Würde jeder Person resultiert konsequent auch der Wille zum unbedingten Schutz menschlichen Lebens von Anfang an. (Vgl. Dazu Kapitel 5/II.)

Dies gilt in den Debatten über Stammzellenforschung, über Präimplantationsdiagnostik (PID) ebenso wie in der Frage der Abtreibung. In allen genannten Bereichen wird in den immer wieder aufkommenden Diskussionen mit dem Freiheitsbegriff argumentiert. Die Freiheit der Forschung müsse gewährleistet sein, auch, um nicht hinter die internationale Konkurrenz zurückzufallen. Das aber würde bedeuten, Unrecht zu legitimieren, weil es an anderer Stelle auch getan wird. Ebenso gerne wird der Begriff der Freiheit derartig isoliert, dass er am Ende dazu dienen soll, die Tötung ungeborenen Lebens zu rechtfertigen. Dass die menschliche Freiheit ein Gut ist, das nur im Verbund mit anderen Werten zu realisieren ist, wird dabei in der Regel zugunsten der Individualität ausgeblendet. Konkret hat dies im Jahr 2003 der damalige Präfekt der Glaubenskongregation, Joseph Kardinal Ratzinger, am Beispiel der Abtreibung ausgeführt:

„In der Radikalisierung der individualistischen Tendenz der Aufklärung erscheint Abtreibung als ein Freiheitsrecht: Die Frau muss über sich selbst verfügen können. Sie muss die Freiheit haben, ob sie ein Kind zur Welt bringen oder sich davon befreien will. Sie muss über sich selbst entscheiden dürfen, und niemand kann ihr – so wird uns gesagt – da von außen her eine letztlich bindende Norm auferlegen. Es geht um das Recht der Selbstbestimmung. Aber entscheidet die Frau bei der Abtreibung eigentlich über sich selbst? Entscheidet sie nicht gerade über jemand anderen – darüber, dass einem anderen keine Freiheit zugestanden werden soll, dass ihm der Raum der Freiheit – das Leben – genommen werden muss, weil das mit meiner eigenen Freiheit konkurriert? Und so ist zu fragen: Was ist das eigentlich für eine Freiheit, zu deren Recht es zählt, die Freiheit eines anderen gleich vom Ansatz her aufzuheben?“3

In dem geschilderten Fall handelt es sich nicht um einen ,Sonderfall', den man bei der Frage nach der menschlichen Freiheit eigentlich ausschließen kann. Das Gegenteil ist der Fall: Entwickelt sich der Embryo doch nicht erst zum Menschen, sondern als Mensch. So wird gerade der Umgang mit diesem Beispiel gewissermaßen zur ,Nagelprobe' für die Wertegemeinschaft einer Gesellschaft. Es verdeutlicht das typisch menschliche Wesen unserer Freiheit. Wer dennoch nach absoluter Freiheit verlangt, der verkennt die Grundfigur menschlicher Existenz: Als Wesen der Gemeinschaft begrenzt sich unsere Freiheit am Für- und Mitsein der anderen. Dieses macht unser Miteinander-Sein gerade ,menschlich'.

Der unbedingte Schutz des Lebens muss auch an den Grenzen und Schwächen des Alters und der Krankheit gelten.Wo sich das Leben in seiner womöglich größten Abhängigkeit zeigt, die mutmaßlich angesichts vormalig größerer Eigenständigkeit noch schmerzvoller ist, geht der Mensch seiner Freiheit und einzigartigen Würde nicht verlustig. (Vgl. dazu Kapitel 5/III.)

Der hohe Wert, den das christliche Menschenbild jedem menschlichen Leben gegenüber (an-)erkennt, bleibt jeder Verfügbarkeit entzogen. Jedwede Grenzziehung wäre im Kern doch eine willkürliche Setzung, die sich in der Regel als utilitaristisch entlarven muss. Auch behindertes Leben ist ganz und gar lebenswert. Denn wo der ganze Mensch, als Geschöpf, vom Schöpfer gewollt, vor Augen ist, scheidet eine mehr oder weniger pauschale Einteilung des Lebens nach ,wert' oder ,unwert' ebenso aus wie eine (konsensual herbeigeführte) Taxierung seines,Wertes'.

Es gibt einen entscheidenden Unterschied in der Gewichtung von Werten. Die moralische Pflicht des so genannten Embryonenschutzes steht deutlich über der moralischen Verantwortung, uns beispielsweise um neue Arbeitsplätze oder Wohlstand zu sorgen. So absolut klar und selbstverständlich dies für uns klingen mag, der genannte ,Vergleich' ist tatsächlich erst vor wenigen Jahren gezogen worden. „Wer [aber] gerade in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit dem Embryonenschutz über die Proklamation der Hoffnung auf neue Arbeitsplätze die gesellschaftliche und demokratische Grundlage entziehen will, handelt zutiefst gewissen-und verantwortungslos. Er vergeht sich damit langfristig am Rechtsbewusstsein der Menschen in unserem Land.“ 4

Es ist die entscheidende ,Aufgabe' des christlichen Menschenbildes, ein wachsames und gleichermaßen entschiedenes Gespür dafür zu schaffen, wo sich derartige Schieflagen in unserer Gesellschaft entwickeln. (Vgl. dazu Kapitel 2/II.)

II.Wahrheit wollen

Man sagt, dass die Wahrheit ,unbequem'ist. Die fast sprichwörtliche Wendung verweist darauf, dass die Konfrontation mit der Wirklichkeit wehtun kann, weil sie Defizite ungeschminkt vor Augen führt. Der Ansatz des Evangeliums klingt einladender: „(Dann) werdet Ihr die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch befreien“ (Joh 8,32). Diese Worte sprechen nicht weniger von der Konfrontation mit der Wirklichkeit, aber die Zielrichtung ist nicht die Entlarvung des Menschen und seiner Schwüchen, sondern die Motivation und Bewegung zu mehr Authentizität im Sinne einer größeren Moralität. Dabei geht es nicht um einen Moralismus, der den Menschen gängelt, sondern um das Anliegen Jesu, den Menschen in seiner Verantwortung für das ihm anvertraute Gut des Lebens zu einer größeren Einsicht, Wachsamkeit und Stimmigkeit zu führen.

,Wahrheit wollen' ergibt sich aus der Begegnung des Menschen mit seiner Berufung von Gott her. Es geht um den Horizont, den eine chassidische Geschichte in einer Ausführung von Martin Buber illustriert: „Rabbi Sussja von Anipoli pflegte auf seinen Wanderungen von Ort zu Ort den Menschen zu sagen: ,Ich fürchte mich nicht davor, keine Antwort zu finden, wenn ich nach meinem Tod vom Allmächtigen, dem höchsten Richter, gefragt werde: ,Sussja, warum warst du deinem Volk nicht ein so großer Führer wie Mose oder ein so feuriger Prophet wie Elija oder ein so berühmter Schriftgelehrter wie Rabbi Akiba?'. Aber ich fürchte, dass meine Worte verstummen, wenn ich gefragt werde: ,Sussja, warum bist du nicht Sussja geworden? Warum hast du dich entfernt von dem Bild, nach dem ich dich geschaffen? Warum bist du mit deinen Anlagen und deinen Gaben dir so fremd, so unähnlich geworden?'“ 5

Der Weg zu einer Selbsterkenntnis als Frucht einer vertieften Gotteserkenntnis hat für Christen immer eine persönliche und gemeinschaftsbezogene Implikation.Aus der Werteorientierung im Glauben für eine Lebensführung, die dem Evangelium entspricht, erwachsen Offenheit und Verantwortung für das Gemeinwohl. Christlicher Glaube will die Persönlichkeit des Menschen als Geschöpf Gottes so prägen, dass Kultur, Gesellschaft, Wirtschaft und die ganze Schöpfung dadurch zu einem verlässlichen und verbindlichen Werteprofil finden. Die von Papst Benedikt XVI. In seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag am 22. September 2011 aufgezeigte „Ökologie des Menschen“6 setzt ein christliches Wertefundament voraus, das unter den säkularen Lebensbedingungen moderner Gesellschaften in seiner Glaubensqualität und Glaubwürdigkeit die persönliche Bezeugung und Vermittlung braucht. In diesem Zusammenhang wird zunehmend plausibel, was Frère Roger Schutz, der Begründer der Gemeinschaft von Taizè, als den ,Wahrheitstest' christlicher Prägung in säkularer Gesellschaft herausstellt: „Wir Christen sind das einzige Evangelium, das die Welt heute noch liest.“

1. Christentum und Kultur

Im Kontext der Debatte um das für und Wider der christlichen Leitkultur in unserem Land schreibt der evangelische Exeget Klaus Berger im Magazin ,Focus', dass er es nicht für sinnvoll halte, von „einer (christlichen) religiösen Leitkultur zu sprechen.Was müssten dann in der Konsequenz die jeweils anderen tun? Müssen dann alle Muslime einen Weihnachtsbaum kaufen?“ 7

Auch wenn sicher davon auszugehen ist, dass der Hinweis auf die Anschaffung weihnachtlichen Grüns nicht ganz ernst gemeint ist, geben die bisweilen heftigen Reaktionen in der genannten Debatte sehr zu denken. Es ist erstaunlich zu sehen,in welcher Schieflage sich unsere Gesellschaft und die in ihr geführte Debatte befinden, wenn das bloße Aufzählen der christlichen Beiträge zu unserer Kultur und die Nennung der im Verhältnis zwischen modernem Rechtsstaat und Islam ungeklärten Fragen so viel Gegenrede auslöst. Es wird jedoch gerade um des Evangeliums willen darauf ankommen, sich ausdrücklich als Christen an den Debatten zu beteiligen, bei denen es um die Zukunft Deutschlands und Europas und darin um die Bedeutung der monotheistischen Religionen geht. (Vgl. dazu Kapitel7/I.-III.)

Der kulturelle Anspruch des Christentums in Europa leitet sich aus der Lebendigkeit seiner gesellschaftlichen Präsenz ab. So muss es erlaubt sein, auf fast 50 Millionen Menschen in Deutschland hinzuweisen, die sich jeden Monat neu entscheiden, einer der beiden großen Kirchen anzugehören, auch wenn es immer wieder Zeiten gibt, in denen nahezu alles,was in der öffentlichen Debatte zur Kirche gesagt wird, dagegen zu sprechen scheint. Es ist nur gerecht, auf das vielfältige caritative, soziale und liturgische Engagement hinzuweisen, das von den Gliedern des Volkes Gottes oft unbemerkt geleistet wird. (Vgl. dazu Kapitel 3/II. und Kapitel 4/III.)

Es gibt in unserem Land keinen merkwürdigen Dualismus von Religion und Kultur – so als sei Religion ein unhistorischer Nucleus, der sich im Laufe der Geschichte in verschiedene Kulturen eingenistet hat. Das Christentum hat sich nicht die Substrate verschiedener Epochen der Geschichte zu eigen gemacht,es hat sie durchdrungen. Durch diese Dynamik eigener Art, die auch durch die Epoche der so genannten Aufklärung gegangen ist,haben sich Werte und gesellschaftliche Prinzipien in unserem Land ausgebildet. (Vgl.Kapitel 2/I.)

Immer wieder sind Judentum, Christentum und Islam dazu aufgerufen, als monotheistische Religionen gemeinsam aufzutreten und sich für Gerechtigkeit in einer immer egoistischer werdenden Gesellschaft einzusetzen. Doch Würde man den Kern des christlichen Glaubens aufgeben, wenn man, um eines faulen Friedens zwischen den Religionen willen, die zentralen Glaubenswahrheiten verschweigt:Gottessohnschaft Jesu, Dreifaltigkeit, Sühnetod am Kreuz ... Ein möglicher Grund für die Zurückhaltung, zustimmend von der christlichen Kultur zu sprechen, mag darin liegen, dass diese lange verschwiegen wurde oder als zu schwierig und nicht zumutbar kleingeredet wurde.

Es muss entschieden widersprochen werden, wo es zu der Tendenz kommt, die Dreifaltigkeit Gottes und den Kreuzestod Jesu Christi umzudeuten. An den ,Fundamenten des Glaubens' sind Kompromisse und falsch verstandene Toleranz fehl am Platz. Hier sind Zeugnis und Bekenntnis gefordert. Christen sind der Gesellschaft das Zeugnis schuldig, dass Gott selbst Mensch wurde, unter uns wohnte und für unsere Sünden gestorben ist. Im Dialog mit einer zunehmend säkularen Gesellschaft darf das Entscheidende des Glaubensbekenntnisses gerade nicht verschwiegen werden. Im Interesse unserer Zukunft brauchen wir einen fairen Dialog mit den monotheistischen Religionen, wie Papst Benedikt XVI. ihn einfordert: „Der interreligiöse und interkulturelle Dialog zwischen Christen und Muslimen darf nicht auf eine Saisonentscheidung reduziert werden.Tatsächlich ist er eine vitale Notwendigkeit, von der zum großen Teil unsere Zukunft abhängt.“8

Einen entscheidenden Ort für die Ausbildung eines in diesem Sinne gefestigten Glaubens und eines daraus gebildeten Gewissens erblickt das christliche Bild vom Menschen im Beziehungsgefüge von Ehe und Familie.

2.Verbindung und Verbindlichkeit

Der Staat setzt Werte und Haltungen voraus, die er nicht durch Vereinbarungen oder Rechtsgrundsätze festlegen kann. Eine demokratische Staatsform allein ist kein Garant dafür, dass die Bürger gute Demokraten sind; ebenso kann kein Gesetz festschreiben oder sogar einfordern, was als besondere Grundhaltung im christlichen Bild von Ehe und Familie beständig zum Aufschein kommt. (Vgl.Kapitel 3/I.)

Ehe und Familie bilden einen unersetzlichen Wert für das Miteinander in unserem Gemeinwesen. Wie in keiner anderen Konstellation werden Kindern Grundhaltungen und Werte vorgelebt und durch das Beispiel der eigenen Eltern in kaum zu übertreffender Weise vermittelt. Kinder erfahren in Familien was Verlässlichkeit, Solidarität und Rücksichtnahme bedeuten. Sie lernen Anteilnahme, Gemeinschaft und Kompromissfähigkeit.

Die Kirche betrachtet die Familie auch als wichtigste Keimzelle des Glaubens. In ihr werden, neben den genannten grundlegenden Werten menschlichen Zusammenlebens, Riten und Gebräuche der kirchlichen Tradition vermittelt. In Familien erfahren Menschen Sinn und Erfüllung. In ihr wird das Einüben sozialer Kompetenzen ermöglicht, die Übernahme von Verantwortung wird selbstverständlich. Durch diese hohe Bedeutung für die Gesellschaft ist die Familie in besonderer Weise schutzbedürftig.

Der Auftrag, Ehe und Familie besonders zu schützen und zu fördern, richtet sich über den Staat und die Rechtsordnung hinaus an die gesamte Gesellschaft. Diese Charakteristika begründen die Vorrangstellung von Ehe und Familie und erklären, warum es nach christlichem Menschenbild keine rechtliche und politische Gleichstellung mit gleichgeschlechtlichen Verbindungen geben kann – ein Thema, das überall dort in Europa zunehmend diskutiert wird, wo fortschreitende Säkularisierung des Lebens die christliche Prägung verblassen lässt.

Die Frage, was unsere Gesellschaft erhält und fördert, ist elementar an das gebunden, was Nachkommenschaft und Nachhaltigkeit generiert. In diesem Sinn hat die Verantwortung für Gerechtigkeit ethisch-moralische, soziale und wirtschaftliche Implikationen.

3. Gewinn und Gerechtigkeit

Auf dem Fundament des christlichen Menschenbildes und der darauf bauenden katholischen Soziallehre, die seit der Enzyklika „Rerum Novarum“ (1891) von Papst Leo XIII. ausdrücklich erarbeitet wurde, entwickelte sich in unserem Land das Modell der sozialen Marktwirtschaft. Zwar stellen weder das christliche Menschenbild noch die katholische Soziallehre ein eigenes Wirtschaftsmodell dar – das wollen und können sie ja auch ausdrücklich nicht sein –; dennoch bilden sie wichtige Prinzipien für unser Gemeinwesen.

Die jüngste Krise der Wirtschaft und des Finanzmarktes offenbart, dass es auch in diesem Bereich nicht mehr selbstverständlich ist, das christliche Bild vom Menschen als maßgeblich zu erachten. Die Krise mancher Unternehmens-und Finanzkonzepte, die zum Teil einzig auf die kurzfristige Maximierung von Gewinn ausgerichtet schienen, hat in unserer Gesellschaft die existenzielle Frage nach dem aufgeworfen, was verlässlich ist. Deutlich spricht daraus die Erkenntnis, dass sich der Mensch, auch in seinen vielfältigen wirtschaftlichen Bezügen, nicht als Alleingänger betrachten darf. Das Gelingen unseres Miteinanders bleibt auch im Bereich der Ökonomie auf die Vermittlung unserer christlichen Wertvorstellungen angewiesen. (Vgl. dazu Kapitel 6/I.)

Es wird in Zukunft vermehrt darauf ankommen, Verantwortung wieder mehr im Sinne des christlichen Menschenbildes und der katholischen Soziallehre wahrzunehmen. Mit dieser Option für eine ethisch-moralische Weitsicht verbindet sich die Aufmerksamkeit für ein siebtes Handlungsfeld, in dem es die Gestaltungskraft des christlichen Menschenbildes braucht.

4. Schöpfung und Verantwortung

Der Mensch steht in vielfältigen Bezügen. Er ist zuerst einmal Geschöpf, er verdankt sich nicht seiner eigenen Anstrengung oder seinem Wollen. Er ist ein Teil der Schöpfung. Seinem ,Vorzug' und seiner besonderen ,Funktion' innerhalb des Schöpfungsaktes Gottes auf der einen Seite entspricht auf der anderen Seite auch eine besondere Verantwortung für das Werk Gottes. Mensch und Schöpfung, so hält es uns das christliche Menschenbild vor Augen, stehen in einer unmittelbaren Beziehung zueinander. Die Schöpfung bildet den ,Möglichkeitsrahmen' für die Entfaltung dessen, was in jedem Menschen individuell, als Gabe des Schöpfers, angelegt ist. Die daraus resultierende Haltung bringt Papst Benedikt XVI. In seiner Enzyklika „Caritas in veritate“ treffend zum Ausdruck:

„Der Umgang mit [der Schöpfung] stellt für uns eine Verantwortung gegenüber den Armen, den künftigen Generationen und der ganzen Menschheit dar. Wenn die Natur und allen voran der Mensch als Frucht des Zufalls oder des Evolutionsdeterminismus angesehen werden, wird das Verantwortungsbewusstsein in den Gewissen schwächer. Der Gläubige erkennt hingegen in der Natur das wunderbare Werk des Schöpferischen Eingreifens Gottes, das der Mensch verantwortlich gebrauchen darf, um in Achtung vor der inneren Ausgewogenheit der Schöpfung selbst seine berechtigten materiellen und geistigen Bedürfnisse zu befriedigen. Wenn diese Auffassung schwindet, wird am Ende der Mensch die Natur entweder als ein unantastbares Tabu betrachten oder, im Gegenteil, sie ausbeuten. Beide Haltungen entsprechen nicht der christlichen Anschauung der Natur, die Frucht der Schöpfung Gottes ist.“9

In diesem Sinn wird es einem, vom christlichen Menschenbild getragenen Gemeinwesen, immer darum gehen müssen, sich an einen nachhaltigen Umgang mit den Ressourcen der Schöpfung zu orientieren.Raubbau und Ausbeutung,die in unseren Tagen oftmals zu Lasten der (wirtschaftlich) schwächeren Länder gehen, Klimakatastrophe und der Hunger in der Welt brauchen eine Haltung und Handlungsoption, die sich dem christlichen Menschenbild verpflichtet wissen. Hier liegt das Korrektiv einer Politik, die eine vom Glauben geprägte Umkehrbereitschaft voraussetzt. (Vgl. dazu Kapitel 6/II.)

III.Worte wählen

In der Bundesrepublik Deutschland gebührt der Grundhaltung des christlichen Menschenbildes, besonders der einmaligen Würde jeder Person und deren uneingeschränktem Recht auf Unversehrtheit, auch aus historischer Perspektive ganz besondere Achtung. Nach dem wohl dunkelsten Kapitel unserer Geschichte, nach Krieg und Zerstörung, bezogen sich die Väter und Mütter des Grundgesetzes ganz bewusst auf das Fundament des christlichen Menschenbildes. Unter den ,Trümmern des Krieges', so könnte man sagen, bargen sie das Fundament des christlichen Glaubens, den sie als leitenden Gottesbezug ausdrücklich in die Präambel aufgenommen haben. Die Geschichte hatte gezeigt, dass der Staat allein keinen ausreichenden Bezugsrahmen für das Zusammenleben und Zusammenwollen von Menschen bereitzustellen vermag. Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott bekennt das Deutsche Volk deshalb in Artikel 1 GG: „Die Würde des Menschen ist unantastbar, sie zu achten und zu schützen ist die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

Im Unterschied zu Verfassungen anderer Länder, wie z.B. Frankreich oder den USA, die aus ihrer jeweiligen Geschichte heraus den Freiheitsgedanken besonders hervorheben, betont das Grundgesetz zuerst die Unantastbarkeit der Würde jedes Menschen. Diese Würde entspringt zutiefst dem christlichen Bild vom Menschen.Zu diesem eher allgemeinen und,wenn man so will, zurückhaltend formulierten Gottesbezug hält Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio fest: „Das kann der Gott der Gläubigen sein, und ich glaube sogar, das kann der Gott der Atheisten sein. Denn auch für den Atheisten wird damit nichts anderes gesagt, als dass es eine andere Dimension der Einsicht geben kann, die nicht im praktischen oder theoretischen Diskurs betretbar ist. Es geht also um die Möglichkeit der Transzendenz, die man auch einräumen kann, wenn man nicht an Gott glaubt.“10

In seinem viel beachteten Essay „Ein Bewusstsein von dem, was fehlt“ beschäftigt sich Jürgen Habermas mit eben diesem Zusammenhang. Er sieht die (praktische) Vernunft als das Vermögen, welches menschliches Leben auf seinen letzten Horizont hin orientieren will. Dieses Bewusstsein, ja die Fähigkeit des Ausgreifens in das Unbedingte, fehle dem Menschen in der nach Habermas ,postsäkularen Gesellschaft'. Es mangele an Solidarität und an der Bereitschaft, solidarisch zu sein. Es fehle an Riten, vor allem an den Grenzen und Übergängen des Lebens. „Gleichwohl“, so schreibt Habermas, „verfehlt die praktische Vernunft ihre Bestimmung, wenn sie nicht mehr die Kraft hat, in profanen Gemütern ein Bewusstsein für die weltweit verletzte Solidarität, ein Bewusstsein von dem, was fehlt, von dem, was zum Himmel schreit, zu wecken und wachzuhalten.“11 Es fehle das feste Wissen, dass das politische Gemeinwesen von belastbaren Überzeugungen getragen ist, es fehle ausdrücklich auch an „religiös begründeten Stellungnahmen in der politischen Öffentlichkeit.“ (Vgl. dazu Kapite l4/I. – III.)

Deutlich spricht aus dieser Einschätzung das Bewusstsein, dass es den Menschen in unserer Gesellschaft zunehmend schwerfällt zu erkennen, dass es nicht nur um Diesseitigkeiten geht. Unser Handeln und Sollen ist bezogen auf etwas – das Hier und Jetzt Überschreitende. Es fehlt an Transzendenz.

1. Erinnerung als Mahnung12

Ein Bild macht mich nachdenklich. Es hängt in einem Tagungshaus und ist wie die Reliquie eines Ereignisses, das nie vergessen werden darf, damit es sich nie wiederholt. Das Bild zeigt einen kleinen Teil aus einer größeren Thorarolle, die beim schrecklichen Terror der Reichspogromnacht 1938 zerstört wurde. Nach der Verwüstung der Synagoge in einer deutschen Stadt hat damals ein 17-jähriger Jugendlicher im Respekt vor der Buchrolle, die den Juden heilig ist, diese beschädigten Ausschnitte von der Straße aufgenommen und aufbewahrt. Als Christ verspürte er Ehrfurcht und Anteilnahme.

Diese Thorareste enthalten Worte des Alten Testamentes aus den ersten fünf Büchern der Bibel. Beim Gottesdienst in der jüdischen Synagoge wird die Thorarolle aus dem Schrein genommen und geöffnet, um daraus Gottes Wort zu verkünden. Die Ausschnitte, die wie Buchseiten hinter dem Glasrahmen des Bildes zu sehen sind, zeigen deutliche Spuren von Zerstörung. Der Text ist nur schwer zu entziffern.Und doch spricht aus dieser Schrift laute Mahnung. Bevor man überhaupt ein Wort identifiziert hat, begreift man:Wo Menschen so brutale Gewalt angetan wird, wie es vor über 70 Jahren in der Reichspogromnacht geschehen ist, wird sie auch Gott angetan. Wo Gottes Wort mit Füßen getreten wird, wie die braunen Barbaren es vor 70 Jahren getan haben, hat der Mensch entsetzlich zu leiden. Der Blick auf diese Reliquie der Thora macht bewusst, was am Ende dieser Schriftrolle aus dem Mund des Mose im Buch Deuteronomium des Alten Testamentes zu lesen ist: „Heute beschwöre ich euch: Verpflichtet eure Kinder, dass auch sie auf alle Bestimmungen dieser Weisung achten und sie halten. Das ist kein leeres Wort, das ohne Bedeutung für euch wäre, sondern es ist euer Leben“ (Dtn 32,46–47).

Wo Menschen den Respekt vor Gott verlieren, geht auch die Achtung voreinander verloren. Für immer müssen die schrecklichen Ereignisse der Reichspogromnacht zur Mahnung dafür werden, dass wir nicht wegschauen dürfen. Was damals geschehen ist, darf nie vergessen werden. Wir müssen es auch als Christen immer wieder ansprechen, denn mit einer Stummheit vor der Geschichte wächst eine Gleichgültigkeit im Alltag, mit der eine Gottvergessenheit einhergeht, aus der am Ende brutale Menschenverachtung wird. Der Theologe Johann Baptist Metz hat gerade im Blick auf die Gräueltaten, die die Nationalsozialisten dem jüdischen Volk angetan haben, von der Notwendigkeit einer „gefährlichen Erinnerung“13 gesprochen.

Das Bild mit den Ausschnitten der Thorarolle, die 1938 geschändet wurde, macht bewusst, wie sehr gerade uns Christen das Schicksal des jüdischen Volkes angeht. Die ersten fünf Bücher der Bibel, aus denen die beschädigten Worte kommen, erinnern an das Wort von Papst Johannes Paul II., der der Kirche ins Gedächtnis und ins Herz geschrieben hat, dass die Juden unsere , älteren Geschwister im Glauben' sind. Diese besondere Verwandtschaft bedeutet umso mehr Verpflichtung in der Anteilnahme und im Einsatz für eine wachsame Erinnerung.

Wer einmal die Gelegenheit hatte, in einer Synagoge an einer Bar-Mizwa-Feier teilzunehmen, hat erlebt, wie bei diesem Fest der Religionsmündigkeit eines jüdischen Jungen ihm der Gebetsschal umgelegt wird und ihm das Sch'mah Israel in einer Kapsel auf die Stirn gebunden wird. Zugleich überreicht man ihm einen silbernen Gebetsfinger wie ein Zeigestab. Dann öffnen ältere Männer eine kostbar dekorierte Thorarolle und zum ersten Mal darf der Jugendliche öffentlich aus der Thora lesen. Ihm wird Gottes Wort so anvertraut, wie es in Psalm 119 aus den Gebeten Israels zur Sprache kommt: „Wie geht ein junger Mann seinen Pfad ohne Tadel? Wenn er sich hält an dein Wort. (…) Gott, ich berge deinen Spruch im Herzen, damit ich gegen dich nicht sündige. Gepriesen seist du Herr, lehre mich deine Gesetze“ (Ps 119,9.11–12). Mit Jubelrufen und Tanz antwortet die umstehende Gemeinschaft auf diese Berührung mit dem Wort Gottes.

Wo Menschen sich Gottes Wort aneignen, ist geheiligter Boden. Wo Menschen Gottes Wort mit Füßen treten, tun sich Abgründe auf. Der 17-jährige Christ, der 1938 die beschädigten Ausschnitte der jüdischen Thora aus dem Dreck der Straße und dem Schmutz einer Gott und Menschen verachtenden Ideologie gerettet hat, betrachtete diesen Rest der Thora zeit seines Lebens mit Ehrfurcht und hat sie als Reliquie gegen das Vergessen gezeigt. Als er 1970 starb, wurde sie zum Vermächtnis einer Erinnerung, die nie verblassen darf.

2. Ursprünglichkeit als Auftrag14

Jedes Jahr im Herbst, wenn die Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz in Fulda stattfindet, beginnen die Beratungen mit dem Gebet am Grab des heiligen Bonifatius. Dazu steigen alle Bischöfe hinab in die Krypta des Domes. Diese Schritte sind wie eine Berührung mit der Anfang der Kirche in unserem Land. Sie sind eine Begegnung mit dem Apostel der Deutschen im Gebet.

Am 5.Juni des Jahres 754 erlitt er mit zahlreichen Gefährten in Friesland den Martertod. Acht Jahre zuvor war er zum Bischof von Mainz geweiht worden. Ein Zeuge, der für unsere Heimat zum Halt im Glauben geworden ist. Zu seinem Andenken findet in Fulda jedes Jahr das große Bonifatiusfest statt.

Am Grab dieses großen Glaubenszeugen kann man unmittelbar spüren, was Papst Johannes Paul II. im Blick auf die Heiligen der Kirchengeschichte gesagt hat: „Heilige veralten nie; sie verlieren nie ihre Gültigkeit. Sie bleiben ständig Zeugen für die Jugend der Kirche. Sie werden nie Menschen der Vergangenheit, Männer und Frauen von gestern. Im Gegenteil: Sie sind immer Männer und Frauen von morgen, Menschen der im Evangelium verheißenen Zukunft. Zeugen der kommenden Welt.“

, für„Die Kirche, die wie ein großes Schiff auf dem Meer dieser Welt dahinf