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Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts Ausgewählt von Jörg Baberowski, Bernd Greiner und Michael Wildt

Das 20. Jahrhundert gilt als das Jahrhundert des Genozids, der Lager, des Totalen Krieges, des Totalitarismus und Terrorismus, von Flucht, Vertreibung und Staatsterror – gerade weil sie im Einzelnen allesamt zutreffen, hinterlassen diese Charakterisierungen in ihrer Summe eine eigentümliche Ratlosigkeit. Zumindest spiegeln sie eine nachhaltige Desillusionierung. Die Vorstellung, Gewalt einhegen, begrenzen und letztlich überwinden zu können, ist der Einsicht gewichen, dass alles möglich ist, jederzeit und an jedem Ort der Welt. Und dass selbst Demokratien, die Erben der Aufklärung, vor entgrenzter Gewalt nicht gefeit sind. Das normative und ethische Bemühen, die Gewalt einzugrenzen, mag vor diesem Hintergrund ungenügend und mitunter sogar vergeblich erscheinen. Hinfällig ist es aber keineswegs, es sei denn um den Preis der moralischen Selbstaufgabe.

Ausgewählt von drei namhaften Historikern – Jörg Baberowski, Bernd Greiner und Michael Wildt – präsentieren die »Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts« die Forschungsergebnisse junger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Die Monografien analysieren am Beispiel von totalitären Systemen wie dem Nationalsozialismus und Stalinismus, von Diktaturen, Autokratien und nicht zuletzt auch von Demokratien die Dynamik gewalttätiger Situationen, sie beschreiben das Erbe der Gewalt und skizzieren mögliche Wege aus der Gewalt.

Christian Teichmann

Macht der Unordnung

Stalins Herrschaft in Zentralasien 1920–1950

Hamburger Edition

Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH
Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung
Mittelweg 36
20148 Hamburg
www.hamburger-edition.de

© der E-Book-Ausgabe 2016 by Hamburger Edition
ISBN 978-3-86854-669-9

© 2016 by Hamburger Edition
ISBN 978-3-86854-298-1

Redaktion: Sigrid Weber
Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras
Karte: Peter Palm, Berlin
Satz aus der Minion Pro von Dörlemann Satz, Lemförde
Coverabbildung:
Bildausschnitt aus: »Beim Bau des Kerki-Kanals, 1927«
Privatsammlung

Inhalt

1 Rotes Land, Weißes Gold – Künstliche Bewässerung, Baumwollwirtschaft und der sowjetische Staat

2 Koloniale Revolutionen – Zentralasien zwischen Zaren und Sowjets, 1885–1922

Land der Wüsten und Oasen: Ein wirtschaftsgeografischer Überblick

Amerikanische Träume: Der Baumwollboom in Turkestan, 1885–1914

In der Hungersteppe: Erste Experimente im Wasserbau

Kolonisierung: Russische Siedler in Turkestan

Kriege und Revolutionen, 1914–1920

Safarows »wilde« Landreformen, 1921–1922

3 Grenzen ziehen, Wasser teilen – Moskau und die indigenen Eliten, 1923–1929

»Dekolonisierung der Kolonie«: Ein politisches Programm

Die Schaffung der zentralasiatischen Sowjetrepubliken, 1924–1925

Grenzkonflikte, Wasserkonflikte

Revolution ohne soziale Basis: Die Landreformen in Usbekistan

Zwischen Intrige und Ideologie: Die »Parteisäuberungen«, 1928–1929

4 Fußvolk mit Eigensinn – Ingenieure und Bolschwiki,1923–1929

Im Wandel: Wahrnehmungen der »traditionellen« Bewässerung

Vor Ort: Arbeit und Alltag der russischen Ingenieure

Ein Revolutionär als Bürokrat: Michail Rykunow und die Zentralasiatische Wasserbehörde

Scheitern im Wasserbau: Das Fiasko am Usboj

Politik der Zerstörung: »Rationalisierung« und ein Schauprozess gegen »bourgeoise Spezialisten«

5 Eine Zeit der Wirren – Forcierter Baumwollanbau und Kollektivierung, 1929–1932

Von der Getreidekrise zur Kollektivierung, 1928–1929

Stalins »Baumwolloffensive«, 1929

Widersprüchliche Befehle: Kollektivierung in Usbekistan, 1930

Despotismus und Gewalt in der Baumwollzone, 1931–1932

6 Utopie im Ausnahmezustand – Ein Großbau in Tadschikistan,1930–1937

Baumwollgarten in der Wüste: Das Wachsch-Tal und die sowjetische Staatswerdung

Chaotische Anfänge: Mangel, Flucht, Gewalt

Strategien in der Krise: Die Macht der stalinistischen Direktoren

Zwischen Erfolg und Vernichtung: Ein »alter« Ingenieur in einer »neuen« Welt

Feindliche Natur: Die Folgen technischer Fehlplanung

Landschaft der Unordnung: Terror, Deportationen und ein fragiler Staat, 1934–1937

7 Planerfüllung ohne Plan – Baumwollwirtschaft und Staatsterror, 1933–1937

Medien der Macht: Statistik und Ressourcenallokation

Institutionen der Gewalt: Politische Abteilungen, Beschaffungskampagnen, Trojkas

Wirkungen der Willkür: »Traditionalismus« und »Rückständigkeit«

Improvisieren statt Planen: Deichbau am Amudaria, 1937

Der Staat als Spektakel: »Großer Terror« in Usbekistan und der Moskauer Schauprozess, 1937–1938

8 Kriegslandschaften – »Volksbaustellen« und der Zweite Weltkrieg, 1937–1950

Massenmobilisierung: Usman Jusupow und der Große Ferghanakanal, 1937–1939

Die Grenzen des Mobilisierungsregimes, 1939–1941

Krieg an der Heimatfront: Usbekistan in der Krise, 1941–1943

Keine Wende, keine Flexibilität: Baumwolle, Terror und Hunger, 1943–1945

Bleierne Jahre: Die Nachkriegszeit, 1945–1950

9 Macht der Unordnung – Ein Resümee

Anhang

Begriffe, Namen, Archive

Glossar

Quellen und Literatur

Namens- und Ortsregister

Dank

Zum Autor

1 Rotes Land, Weißes Gold – Künstliche Bewässerung, Baumwollwirtschaft und der sowjetische Staat

Kein Land setzte im zwanzigsten Jahrhundert so vehement auf künstliche Bewässerung als Mittel zur Ausbreitung staatlicher Herrschaft wie die Sowjetunion. Dämme, Kanalanlagen und Stauwerke veränderten im Land des Sozialismus das Zusammenleben der Menschen, ihre wirtschaftlichen Möglichkeiten und ihren Umgang mit der Natur. Das sowjetische Wasserbauprogramm begann mit Lenins »Plan zur Elektrifizierung« des Landes in den frühen 1920er Jahren und gipfelte in Stalins »Plan zur Umgestaltung der Natur« Ende der 1940er Jahre. Schon die Fertigstellung des Dnjepr-Staudamms 1931 und die Eröffnung des Weißmeer-Kanals 1933 sorgten für internationale Aufmerksamkeit. Die Eröffnung des Moskau-Wolga-Kanals im Juli 1937 übertraf diese glänzende Außenwirkung noch. Das Bauprojekt zeigte, dass der sowjetische Staat »Berge versetzte« und es ihm so gelang, »ein Riesenland zu einem Gesamtorganismus« zusammenzubinden.1 In Italien eiferte Benito Mussolini dem Vorbild des sowjetischen Erzfeindes mit der Kolonisierung der Pontischen Sümpfe ebenso nach wie Franklin Delano Roosevelt in den Vereinigten Staaten, auf dessen Initiative im Rahmen des New Deal etliche wasserbauliche Großprojekte entstanden.2 Die Nationalsozialisten ließen vom Reichsarbeitsdienst, von Häftlingen und Zwangsarbeitern Moore trockenlegen, Kanäle bauen und Talsperren errichten.3

In der Sowjetunion gab es jedoch im Vergleich zu den Vereinigten Staaten und den faschistischen Diktaturen im Europa der 1930er Jahre einen markanten Unterschied: Die Umgestaltung der Natur war nicht nur ein Mittel zur inneren Kolonisation, sondern auch ein Instrument zur grundlegenden Umgestaltung bestehender Gesellschaften. Die sowjetischen hydrotechnischen Großbauten in den Jahren zwischen Lenins Tod 1924 und Stalins Tod 1953 sollten die Menschen und ihre ökonomischen Beziehungen revolutionär verändern. Der Zweck der sowjetischen Wasserbauten bestand in der Expansion staatlicher Herrschaft in alte Landschaften und traditionelle Gesellschaften. Lenin machte diesen Zusammenhang deutlich, als er 1921 feststellte, dass für die sowjetischen Kommunisten »Bewässerung nötiger ist als alles andere«, weil sie »das Land mehr verändert als alles andere, zu seiner Wiedergeburt führt, die Vergangenheit begräbt und den Übergang zum Sozialismus forciert«.4

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Aus Lenins Sicht war der Staat das Instrument, um die Revolution aus den großen Städten der Sowjetunion in die weitläufigen ländlichen Regionen Russlands und die multiethnischen Peripherien zu tragen.5 Doch nach dem Abklingen des Bürgerkriegs in Russland und der Ukraine im Herbst 1920 verfügten die Bolschewiki über keinen Staatsapparat, der dieser Aufgabe gewachsen gewesen wäre. Daher bedeutete der Bau von Kanälen, Dämmen und Schleusen zwischen 1920 und 1950 weit mehr als die technische Erschließung und wirtschaftliche Nutzbarmachung von natürlichen Räumen. Die Bauprojekte griffen tief in die vorhandenen sozialen und landschaftlichen Texturen ein: Veränderungen im Wasserhaushalt zerstörten die Landschaften, Massendeportationen und Umsiedlungskampagnen im Zuge von Bewässerungsprojekten veränderten nachhaltig das soziale Gefüge. Darüber hinaus rückte die Ausbreitung der künstlichen Bewässerung aber vor allem und deshalb ins Zentrum staatlicher Handlungsmacht, weil sie die industrialisierte Erzeugung nachwachsender Rohstoffe erlaubte. Wasserbau und revolutionäre Staatswerdung verwuchsen zu einer Einheit. Wie sich dieser Prozess in Zentralasien6 vollzog und zu welchen Reibungen es dabei kam, ist Gegenstand des vorliegenden Buches.

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Die Bolschewiki hatten die Weltrevolution vor Augen. Nach Zentralasien kamen sie jedoch nicht als Revolutionäre, sondern als koloniale Eroberer. Mit militärischer Übermacht bekämpften die Rote Armee und die Tscheka den zähen und gut organisierten Widerstand von lokalen Guerillaverbänden, parastaatlichen Rebellengruppen und antisowjetischen Armee-Einheiten.7 Die Bolschewiki bombardierten Städte, marodierten, massakrierten und verbreiteten, wo immer sie hinkamen, Angst und Schrecken. Im Oktober 1919 marschierte die Rote Armee in Taschkent ein, im Februar 1920 besetzte sie das Chanat von Chiwa und im September 1920 stürzte sie den Emir von Buchara. Noch im Frühjahr 1922 planten Moskaus Emissäre in Taschkent einen Eroberungszug in die Nordprovinzen Afghanistans. Doch stieß die Weltrevolution im muslimisch dominierten Zentralasien an ihre Grenzen. »Wir wissen aus der Erfahrung von Buchara und Chiwa (und ebenso aus Turkestan)«, resümierte 1922 der sowjetische stellvertretende Außenminister Lew Karachan in einem Brief an Joseph Stalin, »dass die Loyalitätsbekundungen der Bevölkerung gegenüber den neu gebildeten Regierungen direkt von der Anzahl der russischen Truppen abhängig ist, die sich in diesen Republiken befinden.«8

Von Beginn an erkoren die Bolschewiki die künstliche Bewässerung zu ihrer »operativen Kampfaufgabe« in Zentralasien. »Alle technischen Kräfte sind auf das Bewässerungswesen zu konzentrieren«, tönte ein Propagandist des neuen Regimes 1922. »Zwar ist die Erfahrung der einheimischen Bevölkerung groß«, schrieb er, »aber die Bewässerung ist unwirtschaftlich organisiert: Es gibt keine Intensivwirtschaften, sondern nur eine kolossale Verschwendung von Wasser und physischer Arbeitskraft.«9 Das Pathos und die Emphase, die die europäischen Eroberer ausgerechnet auf die künstliche Bewässerung als Herrschaftsinstrument legten, waren weder überraschend noch innovativ. Denn damit verbunden war die Produktionssteigerung des begehrten Rohstoffs Baumwolle – ein Ziel, das die revolutionären Bolschewiki mit ihren zaristischen Vorgängern teilten. Dennoch unterschieden sich die Mittel und Wege, wie sie dieses Ziel erreichen wollten, vor und nach 1917 ebenso markant voneinander wie die Ansichten und Absichten, die hinter dem machtpolitischen Interesse an der künstlichen Bewässerung standen.

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In den alten Oasen Zentralasiens war jedes Dorf ein Kosmos für sich und lebte nach seinen eigenen Regeln. Der Schriftsteller Sadriddin Ajni, geboren 1878, verbrachte seine Kindheit in zwei Dörfern, die beide wenige Dutzend Kilometer entfernt von der Stadt Buchara lagen. Zehn Jahre vor Ajnis Geburt war das Emirat von Buchara von russischen Truppen erobert und zum Protektorat des Zarenreichs erklärt worden. Doch Saktar, das Dorf seines Vaters, blieb von der großen Politik äußerlich unberührt. Es lag unweit des Flusses Serafschan, der die Oasen zwischen Samarkand und Buchara mit Wasser versorgte. Ein Kanal, der durch das Dorf führte, sorgte »für einen Überfluss an Wasser«, wie Ajni sich erinnerte, und bot der Bevölkerung die Möglichkeit, »Obsthaine, Weinberge und Gemüsegärten anzulegen, wo alles reichhaltig wuchs, angefangen bei verschiedenartigen Früchten und Obstsorten bis hin zum wasserliebenden Reis«. Zur Moschee gehörten eine Elementarschule und eine kleine Medrese, »nirgends im ganzen Bezirk gab es so viele schriftkundige und gebildete Leute wie in Saktar«.

Ganz anders war das Dorf seiner Mutter: In Machallai Bala »reichte das Wasser nie«. Das Dorf bestand aus »armseligen Lehmhäusern«, und an den wenigen Obstbäumen wuchsen nur »saure Äpfel«. Weil nicht genügend Wasser zur Verfügung stand, baute die Bevölkerung Trockenkulturen wie Weizen, Gerste, Hirse und Bohnen an. »Baumwolle wuchs so schlecht, dass man von den grauen Sträuchern nur eine oder zwei Kapseln ernten konnte.« Niemand in Machallai Bala lebte von der Landwirtschaft allein. »Einige hüteten die Herden der Reichen, andere verdingten sich bei ihnen, und wieder andere sammelten Brennstoff. Im Winter waren fast alle mit der Reinigung der Rohbaumwolle beschäftigt, die sie von Kaufleuten erhielten. Mit dieser Arbeit verdienten sie sich ein paar Groschen dazu.«10

Die Bolschewiki, denen sich auch Sadriddin Ajni in den 1920er Jahren anschließen sollte, wollten bedrückende Verhältnisse wie die in Machallai Bela verändern. Für ihre revolutionäre Staatsbildung eignete sich die künstliche Bewässerung als ideales Einfallstor in die heterogenen und partikularen Oasengesellschaften Zentralasiens: Die Umverteilung von Wasser- und Landrechten bot die Möglichkeit, in den Oasen die soziale Revolution auszulösen, mit der die Bolschewiki die Welt verändern wollten. Insbesondere mussten die Bewässerungssysteme aber instand gesetzt werden, wenn man an die boomende Baumwollerzeugung der Vorkriegsjahre anknüpfen wollte, als Russland der fünftgrößte Baumwollproduzent weltweit gewesen war. Vor allen revolutionären Zielen galt es daher, wieder Baumwolle zu produzieren, deren Erzeugung in Zentralasien aufs Engste mit einem funktionstüchtigen Bewässerungswesen verbunden war.

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1923 erkannte Stalin in Zentralasien eine »Achillesferse der Sowjetmacht«, zeigte sich gleichzeitig aber überzeugt, dass die Region in eine »sowjetische Musterrepublik« und einen »Vorposten der Revolution im Orient« verwandelt werden könne. »Wir müssen diese Aufgabe lösen, egal was es kostet«, meinte er, »wir dürfen keine Mühen scheuen und vor Opfern nicht zurückschrecken.«11 In den Oasen des zentralasiatischen Zweistromlands zwischen den Flüssen Amudaria und Syrdaria sorgte die Ausrichtung des Sowjetstaats auf den Baumwollanbau jedoch von Beginn an für Widerspruch. Dieser schlug den Bolschewiki nicht allein als zäher bewaffneter Widerstand entgegen. Eine größere Herausforderung war, dass sich der Großteil der Landbevölkerung gleichgültig und passiv gegenüber den Ambitionen des neuen Regimes verhielt.12 Auch diejenigen Zentralasiaten, die sich auf die Seite der russischen Revolutionäre geschlagen hatten, konnten wenig mit den Plänen der Moskauer Parteiführung anfangen, ihr Land in einen Rohstofflieferanten für die Textilfabriken in Russland zu verwandeln. Zu sehr, so schien es ihnen, war die Baumwollproduktion mit der »kolonialen« Herrschaftsordnung des untergegangenen Zarenreichs verbunden. Stattdessen träumte die junge zentralasiatische politische Elite, die ihre Macht den Eroberern aus Moskau und ihrer Armee zu verdanken hatte, von der »Dekolonisierung der Kolonie«.

Moskaus Emissäre und die zentralasiatischen Kommunisten formulierten sich jeweils widersprechende Ziele und Zukunftsvorstellungen. Sie teilten jedoch die Ansicht, die Bewässerungssysteme schnellstmöglich instand zu setzen, sie mithilfe staatlicher Investitionen auszubauen und zu modernisieren. Darüber hinaus nutzten sie die Regulierung von Wasserrechten, die Schlichtung von Wasserstreitigkeiten zwischen Oberliegern und Unterliegern oder den Kampf gegen Überschwemmungen und Dürren als eine willkommene »Gelegenheit zu Interventionen von oben«. Diese Vorgehensweise war, wie der Historiker Joachim Radkau feststellt, keineswegs neu und einmalig, sondern alt und tausendfach durchlebt. »Wasserbelange führten überall auf der Welt zu Regulierungsformen, die über die Hauswirtschaft hinausgingen«, und bildeten schon in den alten Hochkulturen die »Eckpfeiler der Staatenbildung«. »Oft«, schreibt Radkau, »kommen ökologische Notwendigkeiten mit Chancen zu Machtausübung zusammen. Beim Wasserbau hängt in vielen Fällen eins am anderen.«13

Damit in einer alten Oasenlandschaft ein revolutionärer Staat entstehen konnte, mussten utopische politische Intentionen in konkrete Handlungen umgesetzt werden. Abstraktes technisches Wissen musste in der unberechenbaren Ökologie der zentralasiatischen Flüsse bestehen. Menschen mussten ständig mobilisiert werden, weil die Wartung und der Ausbau der Bewässerungssysteme dies erforderten. An den Kanälen und Schleusen, beim Dammbau und beim Hochwasserschutz konnte man dem sowjetischen Staat »bei der Arbeit« zuschauen und beobachten, wie die »lokale Präsenz des Staates« die wirtschaftlichen Handlungsbedingungen und das soziale Gefüge in den Oasen veränderte.14 Am Beispiel des Wasserbaus ist auch zu sehen, wie sich der sowjetische Staat durch die Aufgaben, die er sich stellte, und die Lösungen, die er fand, selbst veränderte. Wie die Ereignisse der 1930er und 1940er Jahre zeigen, prägten Hunger, Gewalt und Krieg nicht nur das Zusammenleben in den Gesellschaften Zentralasiens, sondern bedrohten auch immer wieder den Kern der sowjetischen Staatlichkeit.

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Das Buch behandelt den Zeitraum zwischen 1920 und 1950 nicht als Erfolgsgeschichte, in der Stalins Stern immer heller erstrahlte und die Sowjetunion von einem rückständigen Agrarland zu einer Supermacht aufstieg, sondern als eine fragmentierte und in sich widersprüchliche Epoche. In diese Jahre fielen die koloniale Eroberung Zentralasiens durch die Rote Armee, die Integration der neuen zentralasiatischen Eliten in den entstehenden sowjetischen Staatsapparat, die »Baumwolloffensive«, der Terror der 1930er Jahre und die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs. Es waren drei Jahrzehnte andauernder sozialer Konflikte und schwerster wirtschaftlicher Verwerfungen. Man könnte an dieser Stelle argumentieren, dass der sowjetische Staat unter Stalins Führung die vielen wissentlich herbeigeführten, aber ebenso die nicht intendierten Krisen dazu nutzte, sich gegenüber den Gesellschaften in der Sowjetunion Machtvorteile zu verschaffen, dass also Chaos und Leid gezielt als Instrumente benutzt wurden, um eine staatliche Herrschaftsordnung aufzubauen und mit brachialen Gewaltmitteln durchzusetzen. Die »Gesellschaft« wurde, so gesehen, vom »Staat« mit allen Mitteln bekämpft und schließlich unterworfen. Gerade wenn man die Perspektive auf die sowjetische Geschichte eng führt und sich auf die Sicherheitsorgane, die Armee und die Parteielite konzentriert, liegt es nahe, Staat und Gesellschaft einander gegenüberzustellen und zu betonen, wie ungleich Machtvorteile und Gewaltmittel verteilt waren.15

Der Historiker Christopher Bayly hat jedoch zu Recht davor gewarnt, den »modernen Staat als homogenes und allwissendes Wesen« zu verklären. Oft beschreiben Historikerinnen und Historiker Staatsbildungsprozesse aus Sicht der Machthaber. Dies ist nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass nur die Bürokraten, Kolonialherren und Militärbefehlshaber Archive hinterlassen haben, die aufbewahrt und gepflegt werden. Weil Geschichtsschreibung deshalb notgedrungen vor allem auf staatliche Quellenüberlieferungen zurückgreift, meint Bayly, sei es »sehr leicht anzunehmen, dass Staaten für jeglichen und jedweden sozialen Wandel verantwortlich« seien. Spätestens an diesem Punkt würden die Argumente der Historiker »zirkulär«.16 In der Geschichtsschreibung zur Sowjetunion ist diese »zirkuläre« Arbeitsweise, sicherlich auch aufgrund der besonderen Archivlage, nach wie vor verbreitet. Vorschub leisteten ihr unter anderem die Arbeiten des Soziologen James Scott. Er sah die Sowjetunion der 1920er Jahre als ein »niedergewalztes und planiertes Gelände, von dem Staatsgründer nur träumen können«. Die »Pioniere der ersten sozialistischen Revolution« konnten insofern »bei null anfangen«; weswegen »fast alles, was sie planten, monumental« gewesen sei.17 Scotts These von den »hochmodernen autoritären Regimes« bietet eine einfache Erklärung für eine historische Konstellation, die sich nicht einfach erklären lässt.

Für seine schematischen Vereinfachungen wurde Scott vielfach kritisiert.18 Im Wesentlichen ging es dabei um seine eindimensionale Analyse der technischen Rationalität, seine künstliche Gegenüberstellung von »modernem Staat« und »entmündigter Zivilgesellschaft« sowie um seinen Begriff des Staates, den er als eine homogene Superstruktur beschreibt, die Gesellschaften und Naturräume »lesbar« und damit »beherrschbar« macht. Ob denn der »angeblich moderne Herrschaftsapparat« nicht selbst von »partikularistischen Mechanismen durchzogen« gewesen sei, fragte der Historiker Frederick Cooper und forderte, Begriffe klarer zu definieren und Differenzen genauer zu beschrieben, statt wie Scott »das Systemische zu verdammen und das Chaotische zu feiern«.19

Auf diese Kritik hat James Scott mit einer Studie über Südostasiens vormoderne Sonnenmonarchien reagiert, in der er Staatsbildungsprozesse aus der Perspektive ihrer Peripherien und nicht aus der Perspektive ihrer politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Zentren beschreibt. Es geht ihm um die »Bruchzonen« und »Fluchtzonen« an den Rändern staatlicher Herrschaftsbereiche, die »unvermeidliche Nebenprodukte von gewaltsamen Staatswerdungsprozessen« waren, weil Menschen sich angesichts der Steuerlasten, Arbeitspflichten und Militärdienste, die die Zentralisierung von Herrschaft mit sich bringt, in benachbarte Gebirgsregionen, Steppengebiete und Flussdeltas zurückzogen, auf die der Zentralstaat keinen regelmäßigen Zugriff hatte.20 Indem Scott Staatsbildungsprozesse aus der Perspektive ihrer geografisch isolierten und schwer zugänglichen Peripherien porträtiert, kann er die Grenzen staatlicher Handlungsmacht genauer bestimmen. Im Zuge dieser Grenzvermessung fordert Scott, die »tatsächliche Macht des Staates von seinem wirtschaftlichen und symbolischen Einfluss zu unterscheiden«. Die »kosmologischen Geltungsansprüche und ideologische Reichweite« von Staaten waren »viel größer als ihre praktische Kontrolle über Arbeitskräfte und Getreide«.21 Diese Überlegungen Scotts können auch das Bild der Sowjetunion verändern, deren »moderne« Staatlichkeit an den Peripherien trotz aller ideologischen Einflussnahme brüchig und begrenzt blieb.

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In der streng hierarchisierten politischen Geografie der Sowjetunion gehörte Zentralasien zu den Peripherien im wortwörtlichen Sinn.22 Aus Moskauer Sicht verkörperte es »Rückständigkeit« schlechthin.23 Als Stalin Anfang der 1920er Jahre die Nationalitätenpolitik der Bolschewiki neu ausrichtete, ordnete er die Völker der Sowjetunion anhand einer Skala von »Entwicklung« und »Kultiviertheit«, die sich am Alphabetisierungsgrad der Bevölkerung maß. Demnach belegten Georgien und Armenien die ersten Plätze, während Zentralasien ganz hinten lag. Die Situation sei hier »äußerst ungünstig« und »äußerst beunruhigend«. Stalin bemängelte die »kulturelle Rückständigkeit«, die »miserablen Alphabetisierungsraten« und das »furchtbar langsame Entwicklungstempo«. Es sei aber »kein Geheimnis«, wie eng »Kultur« und »Staatlichkeit« zusammenhingen. »Je alphabetisierter und kultivierter ein Land, eine Republik oder ein Gebiet ist«, behauptete er, »desto näher ist der Partei- und Regierungsapparat am Volk, an seiner Sprache und an seinem Alltag.« Stalin fasste diese Ansicht zu einer einfachen Regel zusammen: »Du möchtest dein Land im Sinne einer Verbesserung seiner Staatlichkeit fortschrittlich machen? Dann steigere die Alphabetisierungsrate der Bevölkerung und hebe die Kultur deines Landes.«24

Mit den einfachen Mitteln, die Stalin empfahl, konnte man in Zentralasien keinen revolutionären Staat errichten. Es gab dort weder Nationen noch Klassen, weder standardisierte Schriftsprachen noch eine allgemein verbindliche Lebensweise. Selbst das Band des Islam wirkte weniger vereinheitlichend, als man annehmen könnte, weil trotz sunnitischer Dominanz unterschiedliche Auslegungen, Riten und Glaubenspraktiken oft unverbunden nebeneinander existierten. Was das Zusammenleben der Bevölkerungen Zentralasiens verband, war das Ineinander sesshafter und nomadischer Lebensweisen und damit die Symbiose zwischen iranischen und türkischen Lebenswelten, die sich wirtschaftlich ergänzten und ökonomisch aufeinander angewiesen waren.25 Basare und Markttage bildeten die wichtigsten Knotenpunkte, an denen Austausch stattfand und Konflikte ausgetragen werden konnten. Die sozialen Kategorien des »modernen« Staates wie »Klassen« und ethnische »Nationen«, mussten in einer Region kultureller Vielheit und ökonomischer Spezialisierung erst hergestellt werden, um gesellschaftliche Geltung zu erlangen.26

Deshalb wirkten die »kosmologischen Geltungsansprüche« des Staates in Zentralasien andersartig als in vergleichbaren Gebieten der sowjetischen multiethnischen Peripherie, was unmittelbare Folgen für den Handlungsradius des Staates und die Stabilisierung seiner Herrschaft hatte. Dabei spielten nicht nur die »Verschlossenheit« der Oasengesellschaften und die schmalspurige Infrastruktur eine ausschlaggebende Rolle.27 Es gab auch keine engen persönlichen Verflechtungen zum Zentrum des Parteistaats in Moskau. Ein kurzer Vergleich zu einer anderen sowjetischen »Peripherie«, dem Kaukasus, kann diesen entscheidenden Unterschied illustrieren: Nach den langjährigen Eroberungskriegen im 19. Jahrhundert nahm der Kaukasus einen herausgehobenen Platz in der Selbstimagination der russischsprachigen Eliten des Zarenreichs ein.28 Nicht nur Stalin, sondern zahlreiche andere sowjetische Führer, die in den 1920er und 1930er Jahren die Macht im Kreml eroberten, stammten aus dem Kaukasus und waren dort politisch sozialisiert worden. Aus ihren Heimatländern brachten sie eine politische Kultur mit, die den sowjetischen Staat tief prägte.29 Mit dem Aufstieg Stalins verwandelte sich der Kaukasus in ein »Experimentierfeld« für den »Gewaltstil«, mit dem die Bolschewiki dann »den Rest der Sowjetunion heimsuchten«.30

Obwohl es in Zentralasien weder an Experimenten noch an Gewalt mangelte, lagen die Dinge in vielerlei Hinsicht anders als im Kaukasus. Zentralasien blieb peripher und schwach integriert. Die Eroberung der Region in den 1860er und 1870er Jahren hatte die russische Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Bevor der Baumwollanbau um die Wende zum 20. Jahrhundert zu einem einträglichen Geschäft wurde, erfüllte die Region im Zarenreich allenfalls die Funktion einer militärischen Pufferzone zwischen den russischen und englischen Einflusssphären.31 Als während des Ersten Weltkriegs die russische Südfront unter der Last des türkisch-armenischen genozidalen Konflikts fast zusammenbrach, reagierte die hauptstädtische Öffentlichkeit Russlands besorgt; den gleichzeitig stattfindenden Nomadenaufstand in Zentralasien, der exorbitante Opferzahlen mit sich brachte, konnte die russische Regierung dagegen erfolgreich geheim halten.32 Zu Beginn der 1920er Jahre kamen mit Buchara und Chiwa Gebiete in den sowjetischen Staatsverband, die nie unter direkter Herrschaft des russischen Zarenstaats gestanden hatten. Ihre territoriale und politische Integration forderte einen erheblichen Preis.

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In Zentralasien bildete die künstliche Bewässerung eine entscheidende Relaisstation für die Bolschewiki, an der ihre staatliche Herrschaftsbildung ansetzen konnte, um den Baumwollanbau wiederzubeleben und im großen Stil auszuweiten. Viele Historikerinnen und Historiker folgern aus diesem Umstand, die sowjetische Staatsführung unter Lenin und Stalin habe in Zentralasien eine Politik der Emanzipation und Entwicklung verfolgt. Diese Entwicklungspolitik sei Teil einer genuin »sowjetischen Moderne« gewesen. Die sowjetische Elite habe Technologie und Ideologie kombiniert, um das heterogene Imperium in einen homogenen, hierarchischen und bürokratischen Staat zu verwandeln, der immer besser dazu in der Lage war, seine Bevölkerungen zu mobilisieren, zu disziplinieren und zu kontrollieren. So habe sich das durch Revolution und Bürgerkrieg verwüstete Land allmählich in eine moderne Diktatur verwandelt, in der Bürokratie, Technologie und Ideologie eine machtvolle Allianz eingingen.33

Solcherlei Erfolgsgeschichten sind eingängig und leicht nachvollziehbar, weil sie die weitläufige Grundannahme bestätigen, dass menschliches Handeln auf Fortschritt und Entwicklung abzielt. Doch muss diese teleologische Herangehensweise von vornherein viele widersprüchliche Entwicklungen der vergangenen Wirklichkeit ausblenden, weil sie nicht in den engen Rahmen der Modernisierungsgeschichte passen. Hier soll der Versuch unternommen werden, die Geschichte von Stalins Herrschaft in den Rahmen alternativer Analysekategorien zu stellen.

Am Beispiel der künstlichen Bewässerung und des Baumwollanbaus in Zentralasien soll gezeigt werden, wie Unordnung zum wichtigsten Instrument der Herrschaftssicherung im sowjetischen Staat wurde und wie die Macht der Unordnung die staatliche Herrschaftsausübung gleichzeitig fortwährend unterminierte und destabilisierte.34 Um diesen paradoxen Zusammenhang zu verstehen, muss gefragt werden, wie staatliche Herrschaft funktioniert, wenn sie an der »Stabilität der Lebensverhältnisse keinen Gefallen« findet und sich »in der unablässigen Terrorisierung der Bevölkerung, in der Zerstörung von Ordnung« gefällt.35

Unordnung ist ein Ermöglichungsraum für Gewalt, und Gewalt ist eine Quelle von Unordnung.36 Versteht man unter Unordnung aber auch die Abwesenheit von geregelten Verfahren, von Verlässlichkeit und Sicherheit, dann umfasst sie neben Gewalt und Terror auch andere Instrumente der staatlichen Herrschaftssicherung. Dazu zählten in der Sowjetunion Stalins die Willkürpraktiken des Parteistaats und seiner untergeordneten Verwaltungsapparate ebenso wie die permanenten Krisen der »Planwirtschaft«, die Zerstörung von Landschaften durch Großbauprojekte und die stetige Unberechenbarkeit der ideologischen »Generallinie«. Willkür und Gewalt strukturierten die Herrschaftsausübung und untergruben sie gleichzeitig. Darum war die Macht der Unordnung, statt sich auf staatliche Institutionen und bürokratische Verfahren verlassen zu können, immer wieder darauf zurückgeworfen, was Macht nach Niklas Luhmann in ihrem Kern ausmacht: nämlich eine »Einflussform« zu sein, die sich auf »negative Sanktionen stützt« und die »über Drohung kommuniziert oder schlicht antizipiert« wird, bis es »einer expliziten Drohung gar nicht mehr bedarf«. Der »Staat« ist in dieser Machtkonstellation nicht mehr und nicht weniger als ein Instrument der Selbstbeschreibung, um Herrschaftsausübung zu legitimieren.37

Es geht auf den folgenden Seiten darum, die Gewalt der Staatswerdung und ihre Dynamik nicht nur »in der Perspektive einer Ordnung zu betrachten«, wie es in den historischen Sozialwissenschaften häufig getan wird, sondern darum, Gewalt mit der Grundannahme zu beschreiben, dass sie »keine Ordnung kennt«.38 In der brüchigen nachrevolutionären Ordnung, die infolge des sowjetischen Kolonialkriegs in Zentralasien entstanden war, setzten der wirtschaftliche Zusammenbruch und die ubiquitäre Gewalt den Intentionen der bolschewistischen Machthaber enge Grenzen. In dieser flüchtigen und ungewissen Situation wurde Unordnungstiften zu ihrer dominierenden Handlungsweise. Unordnung diente als Mittel, um aus dem Chaos heraus politische Macht zu manifestieren. Unordnungschaffen hatte zum Ziel, traditionelle soziale und politische Strukturen zu vernichten, um die sowjetische Herrschaft als einzigen Sanktionsmechanismus durchzusetzen. Die Macht der Unordnung konnte sich dabei aber ebenso gegen die eigenen Adepten und Vollstrecker richten. Paradoxerweise kannte die sowjetische Herrschaftsausübung in Zentralasien nach außen und nach innen keine Routine, die feste Verfahrensweisen, anerkannte Normen und Regeln schuf: Die sowjetische Herrschaftsroutine kennzeichnete die Machtausübung durch Unordnung. Es ist dieses Paradox, dem dieses Buch am Beispiel von Stalins Herrschaft in Zentralasien nachgeht.

1 Schlögel, Terror und Traum, S. 371.

2 Schivelbusch, Entfernte Verwandtschaft, S. 129–132.

3 Blackbourn, Conquest of Nature, S. 228–231, 248–249, 283–284.

4 Lenin, Polnoe sobranie sočinenij, Bd. 43, S. 200.

5 Lenin, »Die nächsten Aufgaben«, S. 231.

6 Zur geografischen Nomenklatur vgl. die Ausführungen im Anhang unter »Begriffe, Namen, Archive«.

7 Penati, »The Reconquest of East Bukhara«.

8 Bol’ševistskoe rukovodstvo, S. 248. Vgl. Volodarsky, The Soviet Union and Its Southern Neighbours, S. 34–44.

9 Subbota, »K voprosam irrigacii«, S. 25–26.

10 Ajni, Buchara, Bd. 1, S. 3–5. Zu Ajnis kulturellem Umfeld und politischen Ansichten vgl. Khalid, »Society and Politics in Bukhara«.

11 Tajny nacional’noj politiki, S. 261.

12 Sovremennyj kišlak, Bd. 3: Kitabskaja volost’, S. 18. Vgl. Spittler, »Passivität statt sozialer Bewegung«.

13 Radkau, Natur und Macht, S. 107.

14 Bierschenk/Olivier de Sardan, »Studying the Dynamics«.

15 Baberowski, Verbrannte Erde, S. 23–27, 215–221.

16 Bayly, Birth of the Modern World, S. 252.

17 Scott, Seeing Like a State, S. 193–194.

18 Li, »Beyond ›the State‹ and Failed Schemes«.

19 Cooper, Colonialism in Question, S. 141–142.

20 Scott, Art of Not Being Governed, S. 24.

21 Ebenda, S. 35.

22 Abashin, »Soviet Central Asia on the Periphery«, S. 361–363.

23 Northrop, »Nationalizing Backwardness«.

24 Tajny nacional’noj politiki, S. 260. So argumentierte Stalin schon 1919, vgl. Stalin, Werke Bd. 4, S. 209–211.

25 Subtelny, »The Symbiosis of Turk and Tajik«.

26 Martin, Affirmative Action Empire, S. 125–129.

27 Safarov, Kolonial’naja revoljucija, S. 16.

28 Jersild, Orientalism and Empire, S. 110–125; Khodarkovsky, Bitter Choices, S. 66–91.

29 Rieber, »Stalin, Man of the Borderlands«.

30 Baberowski, Der Feind, S. 537, 773.

31 MacKenzie, »Turkestan’s Significance«.

32 Central’naja Azija v sostave, S. 291–292.

33 Stellvertretend für viele: Shearer, »Stalinism«; Kotkin, »Modern Times«; Plaggenborg, Experiment Moderne; Obertreis, »Infrastrukturen«; Gestwa, Die Stalinschen Großbauten, S. 14–16.

34 Die Formulierung »Unordnung als politisches Instrument« stammt von Chabal/Daloz, Africa Works, S. 155–162, die den Begriff in anderem Zusammenhang benutzen und mit anderer Bedeutung füllen.

35 Baberowski, Der Feind, S. 15.

36 Reemtsma, »Brachiale soziale Gestaltung«, S. 83–85.

37 Luhmann, Politik der Gesellschaft, S. 45–46.

38 Riekenberg, »Einführende Ansichten«, S. 10, 12.

2 Koloniale Revolutionen – Zentralasien zwischen Zaren und Sowjets, 1885–1922

Am 21. April 1922 telegrafierte Stalin seinem georgischen Vertrauten und Freund in Tbilissi, Sergo Ordschonikidse.1 Stalin, der wenige Wochen zuvor zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion aufgestiegen war, teilte ihm mit, dass er sofort nach Zentralasien aufbrechen müsse. Denn in Buchara hatte sich wenige Wochen zuvor unter der Führung des ehemaligen osmanischen Kriegsministers Enver Pascha das Volk gegen die Sowjetmacht erhoben, und Enver marschierte nun mit einer viertausend Mann starken Freiwilligenarmee auf die Stadt Buchara zu. Auch im Ferghanatal untergruben lokale Guerillaverbände alle Versuche, die Sowjetmacht zu stabilisieren. Ordschonikidse sollte sich ein Bild von der Krise machen und »praktische Maßnahmen« vorschlagen, wie die Regionen beruhigt werden könnten. Zudem bat Stalin ihn, die Kampfmoral der Roten Armee und ihre »Erfolgsaussichten« einzuschätzen und zu bewerten, wie groß die Gefahr sei, dass »Ferghana und Buchara« für die Sowjetmacht »verloren gehen« könnten.2

Schon seit vier Jahren versuchten die Bolschewiki vergeblich, ihre Herrschaft in Zentralasien zu konsolidieren. Ihre militärischen und wirtschaftlichen Maßnahmen provozierten jedoch immer neuen Widerstand der indigenen Bevölkerung. Landwirtschaft und Handel lagen am Boden. Große Teile der Bevölkerung des Ferghanatals, der wichtigsten Baumwollregion Zentralasiens, hungerten. Weder in den Städten noch auf dem Land akzeptierten die einheimischen Eliten den Herrschaftsanspruch Moskaus. Selbst die wenigen zentralasiatischen Kommunisten und Sympathisanten der Bolschewiki erwiesen sich als eigenmächtig und illoyal. Spannungen zwischen Moskauer »europäischen« Emissären und den indigenen »muslimischen« Bolschewiki bestimmten die Tagesordnung. Ordschonikidse schrieb Stalin im Mai 1922 aus Taschkent, dass »als Resultat des vierjährigen Krieges« ein »interessantes Bild« entstanden sei: »Anstelle der Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft kamen Organisationen von Feudalen und Khanen zustande, die ihre eigenen bewaffneten Leute, ihre eigenen Territorien und eigenen Untertanen haben. Die hiesigen Kommunisten führen mit diesen Feudalen Friedensverhandlungen von gleich zu gleich.«3

Der langwierige koloniale Eroberungskrieg, den die Bolschewiki in Zentralasien führten, ergab sich aus den russischen Revolutionen von 1917. Diese hatten in Zentralasien, ähnlich wie im Kaukasus und in der Ukraine, ausufernde ethnische Konflikte hervorgerufen. Im revolutionären Taschkent speiste sich »Politik« aus ethnischer Segregation und religiösen Konflikten.4 Aber anders als im Kaukasus und der Ukraine kamen in Zentralasien 1917 keine indigenen Nationalisten oder Sozialisten an die Macht, sondern »russische Soldaten«, »armenische Nationalisten« und »verschiedenartigste marodierende Elemente«, darunter deutsche und österreichische Kriegsgefangene, die der »Bürgerkrieg als leichter Broterwerb angelockt« hatte.5 In Taschkent sorgte der im Oktober 1917 entstandene »Stadtsowjet« für den Ausschluss der muslimischen Mehrheitsbevölkerung von jedweder politischen Mitbestimmung und von den überlebenswichtigen Versorgungsnetzwerken.6 Seine Diktatur verursachte und beförderte eine Hungersnot, die in der indigenen Bevölkerung zwei Millionen Menschenleben forderte.7

Im Herbst 1919 sollte dann mit dem Durchbruch der Roten Armee nach Taschkent eine zweite, nunmehr wahrhaft bolschewistische Revolution beginnen. Sie sollte kulturellen Fortschritt und wirtschaftliche Entwicklung in eine Region bringen, die von den Moskauer Revolutionären als »feudal« und »rückständig« eingestuft wurde. »Die Sowjetmacht«, schrieb der Revolutionär Georgi Safarow, »kann nicht auf der Gewalt von Bajonetten und auf blinder ökonomischer Notwendigkeit beruhen. Von ihrem innersten Wesen her kann sie keine koloniale Macht sein, keine Macht eines Häufleins von Kolonisatoren, das über die Massen der eingeborenen Bevölkerung bestimmt. Sie sollte die Macht dieser Massen sein.«8 Damit sprach Safarow das Leitthema der kolonialen Revolution der Bolschewiki an, nämlich wie die ethnischen Konflikte zwischen den indigenen Bevölkerungen und den russischen Kolonisten im Rahmen einer postkolonialen sowjetischen Herrschaft aufgehoben werden konnten.

In den Augen der Moskauer Bolschewiki bildete ihre Utopie von einer gesamtstaatlichen nichtkapitalistischen Wirtschaftslenkung keinen Gegensatz zu ihrem Vorhaben, die Emanzipation der »unterdrückten Völker des Orients« herbeizuführen. Vielmehr sahen sie beides als unzertrennliche Einheit an. Dabei eiferten die Moskauer Revolutionäre und ihre Emissäre in Taschkent dem Vorbild der vorrevolutionären zaristischen Kolonialpolitik nach, die es vollbracht hatte, Turkestan binnen weniger Jahrzehnte in eines der größten Baumwollanbaugebiete der Welt zu verwandeln. Will man das Denken und Handeln der Bolschewiki während der entscheidenden Eroberungsphase zwischen 1919 und 1922 verstehen, ist ein kurzer Blick in die Geschichte dieser ersten Baumwollrevolution zwischen 1885 und 1914 zu werfen. Um die Komplexität der Welt zu erahnen, in die die Bolschewiki ihre koloniale Revolution tragen wollten, soll jedoch zunächst ein Eindruck von den geografischen und ökologischen Bedingungen vermittelt werden, die vor hundert Jahren im Zweistromland zwischen Amudaria und Syrdaria herrschten.

Land der Wüsten und Oasen: Ein wirtschaftsgeografischer Überblick

Gern und häufig haben Geografen Zentralasien als eine Region von »ausgeprägten Gegensätzen« beschrieben. Man findet Hochgebirge und Tiefebenen, erlebt die heißen Sommer und kalten Winter der kontinentalen Klimazone, es gibt Oasen, die dicht besiedelt sind wie Großstädte, inmitten menschenleerer Wüsten und Steppen.9 Sich Zentralasien als eine geografische Einheit vorzustellen, fällt schwer, solange man nicht den dominanten Effekt der großen Flüsse Amudaria (Oxus) und Syrdaria (Jaxartes) berücksichtigt, von deren Wasserzufuhr die Lebensmöglichkeiten und Wirtschaftsweisen der Menschen in der Region abhängig sind. Die seit der Antike bestehende Vorstellung von Zentralasien als »Land jenseits des Oxus« (Transoxanien) teilten die Lateiner mit den Arabern, die es mit dem gleichbedeutenden Wort »Mawarannahr« bezeichneten. Trotz der in Russland seit Mitte des 19. Jahrhunderts gebräuchlichen Bezeichnung »Mittelasien« blieb das Land zwischen Amudaria und Syrdaria eine leere Mitte, deren Geschichte sich zwischen den Machtsphären und Lebensweisen der iranischen, arabischen, mongolischen, türkischen, europäischen und chinesischen Welten abgespielt hatte und die Teil aller großen Imperiumsbildungen in der eurasischen Steppe gewesen war.10

Betrachtet man die geografischen Gegebenheiten genauer, kann Zentralasien eigentlich nicht als »Zweistromland« zwischen Amudaria und Syrdaria gesehen werden, denn der geografische Raum wird von drei großen und vielen kleineren Flüssen durchzogen. Der wasserreichste dieser Flüsse, der Amudaria, entspringt am Südrand des Pamir-Gebirges aus dem Zusammenfluss des Pandsch mit dem Wachsch, teilt die Wüsten Kyzylkum und Karakum, durchfließt die Oase von Choresm und mündete (bis in die späten 1970er Jahre) in den Aralsee. Der mit 2212 Kilometern längste Fluss Zentralasiens, der Syrdaria, speist sich aus zwei Gebirgsflüssen im Tian Schan, dem Naryn und dem Karadaria, entsteht an deren Zusammenfluss am Ostrand des Ferghanatals, durchfließt die Hungersteppe, bildet den Nordrand der Kyzylkum und mündet (seit Ende des 1970er Jahre nur episodisch) ebenfalls in den Aralsee. Der dritte Fluss, der Serfaschan (in der Antike auch mit dem Namen »Sughd« bezeichnet), entspringt wie der Amudaria aus den Gletschern des Pamir und versorgt die alten Oasen von Samarkand und Buchara mit Wasser. Dieser kleinere, aber historisch überaus relevante Gebirgsfluss, der vormals in den Amudaria mündete, endet heute in der Kyzylkumwüste.

Weil Niederschläge in den semiariden und ariden Tiefebenen Zentralasiens sehr selten und gering sind, beruht der Ackerbau, dessen Anfänge bis ins zweite vorchristliche Jahrtausend zurückreichen, auf künstlicher Bewässerung.11 Die ältesten Herrschaftsbildungen zwischen Syrdaria und Amudaria verdankten ihre Existenz dem Bau von Bewässerungssystemen.12 Inmitten von Steppen und Sandwüsten erlaubte erst die Umlenkung von Wasser das Überleben in den verwundbaren Flussoasen, deren reiche Sedimentböden in Kombination mit den heißen und langen Sommern mehrere ertragreiche Ernten pro Jahr erlauben. Im frühen zwanzigsten Jahrhundert glichen manche Bewässerungskanäle, die über Generationen entstanden waren, natürlichen Flüssen. Schiffbare Kanalmagistralen, die sich in Hunderte Nebenkanäle verzweigten, konnten Längen von 160 Kilometern erreichen. Die größten Kanalsysteme am Unterlauf des Amudaria erstreckten sich auf einer Distanz von bis zu 900 Kilometern.13

Aufgrund der harschen, aber landwirtschaftlich vielversprechenden ökologischen Bedingungen entwickelte sich in den Flussoasen eine Bewässerungskultur, wie sie sich auch in Mesopotamien oder im nordindischen Doab finden lässt. Von alters her baute die Oasenbevölkerung mit einfachsten Arbeitsgeräten und lokalen Baumaterialien ihre Bewässerungskanäle, Schleusen und Dämme, die im Lauf der Jahrhunderte jedoch einen hohen Grad an technischer Komplexität erreichten. Schon der Ort an den Flussufern, an dem die Kanäle ihren Ausgang nahmen, musste sorgfältig gewählt werden. Einerseits durfte das Wasser nicht zu schnell in die künstlichen Kanalsysteme einfließen, da es angesichts der großen Wassermengen und der hohen Fließgeschwindigkeiten der Gebirgsflüsse die Kanalanlagen leicht beschädigen konnte. Andererseits mussten die Kanäle auf eine Art und Weise trassiert sein, die gewährleistete, dass die Fließgeschwindigkeit hoch genug blieb, um das Wasser bei geringem Geländegefälle über weite Strecken zu transportieren.14

Nicht nur wegen der Ausdehnung der Kanalnetze erforderte die Wasserregulierung viel Geschick. Hinzu kam, dass die zentralasiatischen Flüsse saisonal sehr unterschiedliche Wassermengen führen. Wie bei der Nilschwemme in Ägypten oder beim Monsun in Indien ist das »erste Wasser« ein jährlich wiederkehrendes Naturphänomen, auf das sich die Bevölkerung in den Oasen mit entsprechender Sorgfalt einstellte. Bei niedrigen Flusspegeln mussten die Kanäle möglichst viel Wasser aufnehmen, bei Hochwasser dagegen den schnell strömenden Fluten widerstehen können. Gelangte während des Frühjahrs nicht genügend Wasser von den Flüssen in die Kanalsysteme, trockneten die fruchtbaren Böden aus und bildeten eine harte Salzkruste, die die Vegetation zerstörte. Während der Hochwasser bestand die Gefahr, dass die Flüsse die Felder überschwemmten und die Ernten vernichteten. Darum band die Instandhaltung der Bewässerungsanlagen viel Arbeitskraft.

Die Oasenbevölkerung erneuerte jährlich die Holzschleusen an den Fluss- und Kanalufern, baute Schutz- und Leitdämme, befreite die Kanäle von Sedimentablagerungen und die Felder von Salzrückständen. Dies konnte nur in den Wintermonaten bei Niedrigwasser geschehen. Jeder Wassernutzer war dazu verpflichtet, an den gemeinschaftlichen Kanalreinigungsarbeiten (chaschar oder kasu)15