Lindsay Harrrel

Das Flüstern von Tinte auf Papier

Über das Buch:
Nach dem Tod ihres Verlobten entschließt sich die Therapeutin Sophia Barrett zu einem Tapetenwechsel. Im malerischen Cornwall mietet sie eine Wohnung über einem alten Buchladen – fern der Heimat und inmitten großartiger Literatur, wo ihre Seele endlich aufatmen kann. Als ihr das über 150 Jahre alte Notizbuch der Gouvernante Emily in die Hände fällt, wird Sophia neugierig. Gemeinsam mit ihrer Vermieterin Ginny Rose – die so verzweifelt um den Erhalt ihres entzückenden kleinen Buchladens kämpft, als könnte sie dadurch nicht nur ihn, sondern auch ihre Ehe retten – begibt sich Sophia auf Spurensuche. Die beiden Frauen ahnen nicht, dass diese sie für immer verändern wird.

Über die Autorin:
Lindsay Harrel hat Journalismus und Englische Literatur studiert. Zusammen mit ihrem Mann, ihren zwei kleinen Kindern und zwei Golden Retrievern lebt sie in Arizona. Es ist ihr ein Herzensanliegen, mit ihren Romanen all denen neue Hoffnung zu geben, denen diese irgendwie abhandengekommen ist, und darauf hinzuweisen, dass Gott in einem ganz gewöhnlichen Leben Außerordentliches zu vollbringen vermag.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

ISBN 978-3-96362-929-7
Alle Rechte vorbehalten
Copyright © 2019 by Lindsay Harrel
Originally published in English under the title
The Secrets of Paper and Ink
Published by arrangement with Thomas Nelson, a division of
HarperCollins Christian Publishing, Inc. USA
German edition © 2020 by Verlag der Francke-Buchhandlung GmbH
35037 Marburg an der Lahn
Deutsch von Dorothee Dziewas
Umschlagbilder: © Dreamstime.com / Helen Hotson
Umschlaggestaltung: Verlag der Francke-Buchhandlung GmbH /
Christian Heinritz
Satz und Datenkonvertierung E-Book:
Verlag der Francke-Buchhandlung GmbH

www.francke-buch.de

Für Kent Walker

Daddy, du warst immer für mich da,
hast immer an mich geglaubt und mir immer vorgelebt,
wie ein Mann die Frau, die er liebt,
behandeln und wie er für sie sorgen sollte.
Ich liebe dich mehr, als Worte es ausdrücken können.

Es gibt keine größere Qual,
als eine unerzählte Geschichte in dir herumzutragen.

Maya Angelou

Prolog

Edward,

hallo, neuer Freund. Ich muss sagen, ein hohler Baumstamm ist der perfekte Ort, um dir eine Nachricht zu hinterlassen. Vielen Dank, dass du dieses besondere Versteck mit mir teilst. Es ist schön, einen Freund zu haben. Die Kinder zu Hause denken alle, ich wäre keine richtige Dame, weil ich lieber auf Bäume klettere, als zu handarbeiten. Ich bin froh, dass du nicht so bist wie sie.

Herzlich

Emily Fairfax

* * *

Edward,

du wirst nicht glauben, was heute passiert ist. Während ich darauf gewartet habe, dass du nach deinem Unterricht vorbeikommst, bin ich auf unseren Baum geklettert, und zwar höher als jemals zuvor – sogar noch an dem großen Ast vorbei, der überm Meer hängt und auf dem du normalerweise sitzt und versuchst, mir Angst zu machen –, und die Wellen haben mich so hypnotisiert, dass ich abgerutscht bin und beinahe heruntergefallen wäre! Es war ganz schön abenteuerlich, Captain Nathaniel Pike wäre bestimmt stolz gewesen (wenn er nicht nur eine Figur in unseren Lieblingsgeschichten wäre, meine ich). Meine Mutter hätte mir die Leviten gelesen, wenn sie es gesehen hätte, obwohl ich glaube, dass sie meine Eskapaden insgeheim mag.

Vom Mädchen beim Baum

Emily

* * *

Edward,

danke für deine Nachricht und das neue Buch, das du mir zum Lesen dagelassen hast. Ich kann es kaum erwarten, mich in seine Seiten zu vertiefen und mehr über Amerika zu erfahren. Es scheint mir ein wildes Land voller Abenteuer zu sein, in dem die Menschen nicht von so vielen Anstandsregeln behindert werden. Ich glaube, ich würde gerne irgendwann dorthin reisen. Möchtest du mitkommen?

Deine Freundin

Emily

* * *

Edward,

ich kann kaum fassen, dass du seit drei Monaten weg bist (inzwischen warten viele Briefe in dem hohlen Baumstamm auf dich), aber ich freue mich auf die Weihnachtsferien, wenn du wiederkommst.

Ich habe fleißig gelernt, und wenn ich kann, lese ich bis tief in die Nacht, damit du mir nichts voraus hast. Vielleicht werde ich nie auf eine so noble Schule gehen wie du, aber das bedeutet nicht, dass ich mich von dir so leicht unterkriegen lasse! Mach dich auf einen intellektuellen Wettstreit gefasst, mein Freund.

Voller Zuneigung

Emily

* * *

Edward,

morgen reise ich ab, um mein Leben als Gouvernante zu beginnen. Der Gedanke gefällt mir nicht besonders, aber das ist nun mal mein Schicksal als Tochter eines armen Pfarrers und ich bin stolz darauf, dass ich bald meinen eigenen Lohn verdiene. Jetzt, wo du in Oxford bist, ist das Leben hier ziemlich langweilig und ich freue mich auf alles Spannende, was die Zukunft mit sich bringen wird.

Meine Schwester wohnt bereits seit zwei Jahren nicht mehr zu Hause. Kannst du dir das vorstellen? Mutter hat mir in der Zwischenzeit alles beigebracht, was sie weiß. Wie immer hat sie mich ermutigt, das, was andere für Fehler halten, als meine größten Stärken zu betrachten. Ich hoffe so sehr, dass sie mit diesem Rat richtigliegt!

Ich weiß nicht, wann wir uns das nächste Mal sehen werden, aber vielleicht findest du diese Nachricht ja vorher. Wann immer ich zu einem Besuch herkomme, werde ich sofort zu unserem Baum laufen und nachsehen, ob du mir auch eine Nachricht hinterlassen hast.

Unsere Briefwechsel sind mir sehr lieb geworden. Du forderst mich mehr heraus und kennst mich besser, als jeder andere Mensch es bisher getan hat oder jemals könnte.

Immer deine Freundin

Em

* * *

Edward,

Mutter ist tot. Meine Schwester auch. Die Cholera hat sie beide dahingerafft. Mein Leben ist nicht mehr, was es einmal war. Vater ist nur noch eine Hülle von einem Mann und ich bin nach Hause gezogen, um mich um ihn zu kümmern.

Inzwischen schreibe ich mehr als nur Briefe. Jeden Abend sitze ich an meinem Tisch und lasse meinen Kummer mit der Tinte aufs Papier fließen. Alle möglichen Geschichten sammeln sich in mir an und wollen heraus, also gehorche ich.

Und ich habe das eine Thema gefunden, das mir Freude macht – dich, liebster Edward.

Weil ich dich liebe.

Ich glaube, ich habe dich immer schon geliebt, seit ich elf war und du mir erzählt hast, dass du feine Damen langweilig findest und viel lieber mit mir zusammen bist. Du bist auf unseren Baum geklettert, hast innegehalten und mich aufgefordert, dir zu folgen. Und das habe ich getan. Und ich würde dir überallhin folgen, wenn du mich darum bätest.

Aber ich weiß, dass das nie geschehen wird.

Ich kann dir meine Gefühle niemals gestehen und deshalb ist diese Nachricht die eine, die nie in unserem Baum landen wird. Aber ich platze, wenn ich meine Gefühle nicht irgendwie zum Ausdruck bringen kann.

Und deshalb wende ich mich dem geschriebenen Wort zu und meine Liebe zu dir ist ein Geheimnis, das ich gut verstecken werde, für immer festgehalten im Flüstern von Tinte auf Papier.

Von Herzen dein

Em

1. Kapitel – Sophia

Wenn im Leben viel los war, rasten drei Monate nur so vorbei. Aber Sophia Barretts letzten zweiundneunzig Tage waren ein Tröpfeln stetiger Monotonie gewesen. Sie hatte diese Tage damit verbracht, zusammengerollt auf ihrem Ledersofa zu liegen und zu schlafen, zerfledderte Romane zu lesen und in einer Menge Therapiestunden zu sitzen.

Zum Glück war heute der dreiundneunzigste Tag und endlich stand sie vor ihrem Büro. Sie strich über ihren frisch gebügelten Blazer, zog den Riemen ihrer Laptoptasche auf der Schulter ein bisschen höher und atmete hörbar aus. Endlich konnte sie zur Normalität zurückkehren. Mit zitternder Hand zog sie die große schwarze Tür zur Bürosuite 608 auf.

Sophia trat durch die Tür und bemühte sich, so zu tun, als wäre sie immer noch die starke, selbstsichere Frau, deren Lebensaufgabe es war, anderen beim Überwinden ihres Kummers zu helfen.

Das Wartezimmer roch wie immer nach Lavendel, der Ausblick auf die Innenstadt von Phoenix, den man vom Fenster hinter dem Schreibtisch der Sekretärin hatte, war unverändert und der Springbrunnen an der Wand zu ihrer Rechten plätscherte immer noch beruhigend vor sich hin.

Aber trotzdem war es ein anderes Gefühl, hier zu ein. Vielleicht war es auch nur sie selbst, die sich verändert hatte.

Kristin blickte von dem großen Eichenschreibtisch auf. »Du bist wieder da!« Die Praktikantin riss sich das Headset vom Kopf und kam hinter dem Tisch hervorgeeilt, um Sophia zu umarmen. »Wir haben dich alle vermisst.«

»Und ich habe es vermisst, hier zu sein.« Sophia stieß die Luft aus, die sie unbewusst angehalten hatte.

»Du hast dir die Haare abschneiden lassen!« Kristin neigte den Kopf seitwärts und kaute auf ihrem Kaugummi, während sie Sophia musterte. »Sieht super aus.«

»Danke.« Sophia hob die Hand und berührte die kürzeren Strähnen, die kaum bis auf ihre Schultern reichten. David hatte ihre langen Haare immer gemocht. »Es war Zeit für etwas Neues.«

Kristins Lächeln wurde mitfühlend. Sie drückte Sophias Schulter. »Gut, dass wir dich wiederhaben. Ich weiß, dass Dr. Beckman ohne dich verrückt geworden ist.«

»Ich bin sicher, Joy überlebt auch ohne mich.«

»Nein, tut sie nicht. Aber darum geht es nicht.«

Sophia drehte sich um und sah ihre beste Freundin hinter sich im Flur stehen, die Hände in die Hüften gestemmt. Joy Beckman war kaum eins sechzig groß, aber was ihr an Körpergröße fehlte, machte sie mit ihrer Persönlichkeit wett. Mit der blonden Strubbelfrisur, dem ausgefallenen Schmuck und der leuchtend bunten Kleidung strahlte Joy pures Selbstbewusstsein aus. Sophia hingegen fühlte sich in schwarzen Hosen und cremefarbenen Blusen viel wohler. Es war ihr nur recht, wenn sie nicht so auffiel. Aber trotz ihrer Unterschiede und der beinahe zehn Jahre Altersunterschied war Joy für Sophia eher eine Vertraute und große Schwester als eine Chefin.

»Hi.« Sophia beugte sich vor, um Joy zu umarmen. »Es war ja nicht meine Idee, die letzten drei Monate zu Hause rumzusitzen. Du bist diejenige, die mich verbannt hat.«

Joy verdrehte die Augen. »Komm, ich zeige dir deinen Plan für heute.« Das Telefon klingelte. »Kannst du bitte rangehen, Kristin?«

»Natürlich.« Kristin eilte an ihren Schreibtisch und setzte ihr Headset wieder auf. »LifeSong Beratung für Frauen. Was kann ich für Sie tun?«

Sophia folgte Joy den kurzen Gang hinunter. In Joys Büro nahm sie ein Foto vom überfüllten Schreibtisch ihrer Freundin. »Du hast neue Bilder machen lassen.« Auf dem Foto war eine strahlende Joy zu sehen, umgeben von fünf Hunden.

»Ich konnte doch nicht nur Fotos ohne Lion haben. Da wäre er zu Recht beleidigt.« Joy nahm Sophia die gerahmte Fotografie aus der Hand, warf einen kurzen Blick auf den winzigen einäugigen Hund ganz links und lächelte verschmitzt.

»Der Gute hat schon neun Jahre auf dem Buckel und du hast ihn in diesem hohen Alter gerettet. Ich glaube, es bräuchte einiges mehr, um ihn zu beleidigen.« Sophia ließ sich Joy gegenüber auf den Sessel fallen, während diese auf ihrem Schreibtischdrehstuhl Platz nahm. »Also, hast du für heute irgendwelche Termine für mich gemacht? Ich war nicht sicher, ob du beschlossen hast, dass meine ehemaligen Klientinnen wieder zu mir kommen, oder ob sie bei Veronica bleiben sollen.« Obwohl sie sich mehrmals die Woche außerhalb des Büros gesehen hatten, hatte Joy sich immer geweigert, über die Arbeit zu sprechen, weil sie der Meinung war, es würde Sophia nur stressen, wenn sie wüsste, was sie verpasste.

Joy suchte in den Papierstapeln auf ihrem Schreibtisch und zog schließlich ein Blatt heraus. »Hier. Das habe ich dir auch per E-Mail geschickt, aber ich dachte, wir könnten kurz darüber reden, bevor du dich in die Arbeit stürzt.«

Sophia nahm das Blatt aus Joys Hand entgegen und betrachtete es. Dann zog sie eine Augenbraue hoch. »Da steht nur ein Name auf der Liste.«

»Du solltest langsam anfangen.« Ihre Freundin biss sich auf die Unterlippe. »Ich bin noch immer nicht sicher, ob du überhaupt hier sein solltest. Drei Monate sind keine sehr lange Zeit.«

»Drei Monate sind eine Ewigkeit. Ich bin auf dem Sofa fast verrückt geworden und das weißt du auch.« Sophia versuchte, nicht vorwurfsvoll zu klingen, aber es gelang ihr nicht ganz.

»Niemand hat gesagt, dass du drei Monate Däumchen drehen sollst.«

»Das habe ich auch nicht.« Als Joy sie fragend ansah, schnaubte Sophia. »Na gut, wahrscheinlich schon. Ein wenig.« Zuerst war es schwierig gewesen, mit der Tatsache fertigzuwerden, dass sie an Davids erstem Todestag einen Nervenzusammenbruch gehabt hatte – ausgerechnet im Supermarkt. Irgendwie war es ihr ein Jahr lang gelungen, den Schein zu wahren. Leugnung hatte viele Gesichter. Doch als sie das teure Proteinpulver auf dem Regal gesehen hatte, das er so gemocht hatte, war das der viel zitierte Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte.

Sie schämte sich immer wieder aufs Neue, wenn sie daran zurückdachte, wie sie jede einzelne Dose genommen, den Deckel abgeschraubt und den Inhalt auf den Boden geleert hatte, um schließlich schluchzend in einem Berg aus Pulver und leeren Behältern zu enden.

Natürlich war sie seitdem nicht mehr in diesem Supermarkt gewesen, obwohl sie sich tausendmal entschuldigt hatte und selbstverständlich für den Schaden aufgekommen war.

Danach hatte sie es nicht mehr über sich gebracht, irgendjemand anderem gegenüberzutreten als Mom, Joy und Cindy – der Therapeutin, die Sophia durch die schlimmsten Stunden begleitet hatte. Es war ihr einfacher erschienen, die Nase in ihre Lieblingsbücher zu stecken und ihre Strafe in der Hoffnung abzusitzen, dass sie sie so schnell wie möglich hinter sich haben würde: drei Monate bezahlten Urlaub von der Arbeit.

Die meisten Menschen hätten ein solches Urteil mit Handkuss entgegengenommen. Aber die meisten Menschen versuchten auch nicht, einen toten Verlobten zu vergessen und mit dermaßen komplizierten Gefühlen klarzukommen wie denen, die sein Tod noch immer in ihr hervorrief, auch jetzt noch, mehr als ein Jahr nach dem Autounfall, der ihn aus diesem Leben ins nächste befördert hatte.

»Ich verurteile dich ja gar nicht. Ich mache mir nur Sorgen. Das weißt du. David hat dir übel mitgespielt. Und als er gestorben ist, hast du all deine Gefühle vergraben und so zu tun versucht, als hätte sein Tod dich nicht getroffen.«

Leider konnte Sophia das nicht abstreiten. Sie hatte genau das Gegenteil von dem getan, was sie in den sechs Jahren Ausbildung zur Therapeutin und zahllosen Praxisstunden gelernt hatte. »Das weiß ich alles. Aber die Therapie bei Cindy war genau das Richtige, um all das zu verarbeiten. Mir geht es jetzt besser.«

Jedenfalls würde das so sein, sobald sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Und dafür musste sie in ihren geregelten Arbeitsalltag zurückkehren. »Das hier ist wichtig für mich.« Sophia machte eine Handbewegung, die den Raum umfasste. »Etwas zu tun, was mir vertraut ist. Mich zu beschäftigen.« Anderen Menschen zu helfen. Mom sagte immer, das sei die beste Methode, dem eigenen Gedankenkarussell zu entkommen – und Sophia war es wirklich leid, sich in ihrem zu drehen.

Joy rieb sich die Stirn. Offenbar war sie noch nicht fertig, trotz aller Einwände, die sie in den letzten Wochen bereits vorgebracht hatte. »Ich fürchte nur, dass die Arbeit hier etwas auslöst …«

»Ich weiß deine Fürsorge zu schätzen, Joy. Wirklich. Aber vertrau mir bitte.« Sophia stand auf und straffte die Schultern. »Wie es aussieht, kommt meine Klientin um neun Uhr, also muss ich in mein Büro und mich vorbereiten.« Sie ging zur Tür und drehte sich noch einmal um. »Ohne dich hätte ich längst den Verstand verloren. Aber jetzt bin ich so weit. Ich schaffe das.«

Joys Lächeln wirkte etwas gezwungen. »Okay.«

Sophia durchquerte den Flur und kramte in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel. Sie schloss die Tür auf und schaltete das Licht an. Der muffige Geruch abgestandener Luft schlug ihr entgegen, zusammen mit einem letzten Hauch ihres Apfel-Zimt-Raumdufts. Jemand hatte alle Unterlagen von ihrem Schreibtisch geräumt. Sophia setzte sich auf ihren Stuhl und fuhr zum ersten Mal seit Monaten ihren Computer hoch.

Während sie wartete, dass ihr E-Mail-Programm startete, sah sie sich im Büro um. In der Ecke stand die bequemste Couch, die sie jemals besessen hatte. Ein Gefühl von Stolz stieg in ihr auf, als sie ihre Master-Urkunde und das Zertifikat betrachtete, das sie als lizenzierte Therapeutin in Arizona auswies. Was auch immer geschah – das konnte ihr niemand nehmen.

Schließlich streckte Sophia die Hand aus und griff nach dem Bilderrahmen, der dort stand, seit sie vor einem halben Jahrzehnt angefangen hatte, hier zu arbeiten. Zuerst hatte ein Foto ihrer kleinen Familie darin gesteckt – nur sie und Mom. Dann hatte sie es vor ein paar Jahren gegen ein Verlobungsbild ausgetauscht, nur vier Monate, nachdem sie David kennengelernt hatte. Darauf trug er sie huckepack. Ihre langen schwarzen Haare flossen um ihre Schultern und ihre blauen Augen waren voller Vertrauen und Liebe, während sie die Arme um ihn schlang und er sie festhielt. Zwischen ihnen hatte ein Gewirr aus Liebe und Besessenheit geherrscht, das sich immer weiter zugespitzt hatte, seit sie ihn im Café zum ersten Mal gesehen und er sie tatsächlich irgendwie bemerkt hatte.

Mit seinen braunen Augen starrte er sie aus dem Bild heraus an. Sie hatten sie vom ersten Blickkontakt an angezogen, als wäre er eine Sirene und sie Odysseus. Sein entspanntes Lächeln und das dichte dunkle Haar hatten ihm eine gewisse Ähnlichkeit mit Patrick Dempsey verliehen und sein unfehlbarer Geschmack in Sachen Kleidung war ein Zeugnis des Reichtums gewesen, mit dem er aufgewachsen war.

Sie hatte sich Hals über Kopf in ihn verliebt. Die unscheinbare Sophia Barrett hatte sich einen Prinzen geangelt, einen Mann, den alle Frauen wollten.

Zumindest war er äußerlich ein Prinz gewesen. Innerlich hatte die Sache ganz anders ausgesehen.

Sophia öffnete eine Schreibtischschublade und schob das Foto hinein. Na also – ein Fortschritt.

Sie arbeitete sich durch eine Menge E-Mails, bis Kristin anrief und Bescheid gab, dass ihre Klientin eingetroffen war.

Puh, sie hasste diese Nervosität! Aber die würde bestimmt verschwinden, sobald sie ihre eigenen Emotionen beiseiteschob und sich auf jemand anderen konzentrierte.

Sophia holte tief Luft und ging ins Wartezimmer. »Patty Smith?«

Eine unscheinbare Frau, die Sophia auf Ende dreißig schätzte, stand auf. Schlaffes braunes Haar fiel ihr ins Gesicht und über die hängenden Schultern. »Hier«, antwortete sie mit piepsiger Stimme.

Sophia streckte die Hand aus. »Freut mich, Sie kennenzulernen! Ich bin Sophia Barrett.«

Die Frau wich ihrem Blick aus, gab ihr aber die Hand und murmelte ebenfalls eine Begrüßung.

Sophia ging voran zu ihrem Büro und ließ sie eintreten. »Bitte setzen Sie sich doch.«

Patty nahm auf der vorderen Sofakante Platz. Ihre Statur war kaum zu erahnen, weil sie einen viel zu großen Pullover trug. In Phoenix. Ende Mai. Ihre Füße steckten in Sneakers und wippten hektisch auf dem Teppichboden auf und ab.

Sophias Herz zog sich zusammen. »Ich nehme meine Sitzungen gerne auf, damit ich mir nicht so viele Notizen machen muss, während Sie hier sind.« Sie achtete darauf, dass ihre Stimme weich klang, so als wollte sie ein Kind beruhigen, aber nicht herablassend. »Ist das für Sie in Ordnung, Patty?«

Pattys Blick wirkte gehetzt. »Ich will nicht, dass irgendjemand erfährt, dass ich hier war.«

Die Art, wie sie »irgendjemand« betonte, jagte Sophia einen Schauer über den Rücken. Und plötzlich kannte sie den Grund für Pattys Verhalten. Den Grund, warum sie hier war.

Hatte Joy das gewusst, als sie Sophia diese Klientin zugeteilt hatte? So grausam wäre ihre Freundin doch nicht, oder? Aber vielleicht wollte sie Sophia prüfen und sich vergewissern, dass sie wirklich so weit war, wie sie behauptete.

»Niemand außer mir wird sich diese Bänder jemals anhören. Das verspreche ich.« Die Worte blieben ihr fast im Halse stecken.

Patty zog an einem ihrer langen Ärmel. »Okay.«

»Super.« Sophia drückte auf die Aufnahmetaste ihres Diktiergerätes. »Was halten Sie davon, wenn wir uns erst mal ein bisschen besser kennenlernen? Ich heiße Sophia und bin seit acht Jahren Therapeutin. Davon habe ich die letzten fünf Jahre hier bei LifeSong gearbeitet. Ich habe eine Katze namens Gigi, ich gehe gern in den Park, wenn es nicht gerade tausend Grad heiß ist, und ich liebe britische Literatur. Und Sie?«

Die Frau seufzte. Eine ganze Reihe von Emotionen huschte über ihre Züge, bevor ein Ausdruck der Entschlossenheit die Oberhand gewann. »Ich heiße Patty. Seit elf Jahren bin ich mit Jack verheiratet. Wir haben zwei kleine Kinder, Turner und Sabrina. Ich bin zu Hause bei ihnen und Jack arbeitet auf dem Bau.«

»Und was machen Sie zur Entspannung?«

»Entspannung?« Patty wirkte völlig verwirrt, als hätte ihr noch nie jemand diese Frage gestellt. »Ich ...« Sie unterdrückte ein Schluchzen. »Tut mir leid.«

»Sie müssen sich nicht entschuldigen. Das hier ist ein geschützter Raum.« Sophia zog ein Papiertaschentuch aus einer Schachtel neben ihrem Sessel und beugte sich vor, um es Patty zu reichen.

»Geschützt. Was heißt das eigentlich?« Patty fuhr sich mit dem Taschentuch unter den Augen entlang und putzte sich dann die Nase. »Ich habe gelogen, als ich diesen Termin gemacht habe. Ich habe Ihrer Sekretärin erzählt, ich hätte eine Angststörung.«

Wieder spürte Sophia ein Frösteln. »Ach ja?« Es war das Einzige, was sie herausbrachte.

»Ich bin hier, weil ...« Pattys Hand zitterte. Sie rollte ihren Ärmel hoch und enthüllte mindestens ein Dutzend blaue Flecke, alle in unterschiedlichen Stadien der Heilung. »Deshalb.«

Sophias Magen zog sich zusammen. »Wer …« Sie räusperte sich. »Wer hat Ihnen das angetan, Patty?«

»Ich bin sicher, er will das eigentlich gar nicht.« Patty zog den Ärmel wieder bis zum Handgelenk hinunter. »Aber wenn er trinkt, wird er einfach aggressiv.«

Tut mir leid, Kleines. Das war nicht wirklich ich. Der Scotch hatte mich völlig im Griff.

Nein. Die Erinnerungen durften sie nicht überwältigen. Nicht jetzt. Sophia schürfte tief in ihrem Inneren nach der Kraft, die sie in den letzten Monaten gesammelt hatte. Sie umklammerte ihren Stift ein wenig fester. »Ihr Mann?«

Ein kleines Nicken. »Er ist ein guter Vater. Und ein guter Ehemann. Meistens jedenfalls. Aber manchmal mache ich ihn wütend. Ich gebe mir natürlich Mühe, es ihm recht zu machen, aber vielleicht bin ich einfach nicht dankbar genug für das, was ich habe, wissen Sie?«

Ich habe dich immer geliebt, du undankbares –

»Das nennt man Täter-Opfer-Umkehr, Patty. Sagen Sie, glauben Sie diese Dinge wirklich?« Die Worte hinterließen ein Brennen auf ihrer Zunge. Wie konnte sie so etwas fragen? Schließlich hatte sie sich von David einreden lassen, ihn zu lieben. Er hatte ihre Verletzlichkeit ausgenutzt und die Tatsache, dass sie sich zu sehr auf ihre Ausbildung und dann auf die Arbeit konzentriert hatte, um mit Männern auszugehen und echte Liebe zu erleben. Und dann war sie bei ihm geblieben, selbst als er anfing, sie kleinzumachen, erst manchmal, dann die ganze Zeit, bis ihr Selbstbewusstsein gegen null ging und ihre Gefühle ganz ausgefranst waren. Und obwohl er sie nur einmal geschlagen hatte, direkt vor seinem Tod – wie konnte Sophia hier sitzen und diese Frau fragen, ob sie die Lügen glaubte, die ihr Mann ihr erzählte? Denn sie hatte sie ja selbst geglaubt, trotz all dem, was ihre Fachbücher sie gelehrt hatten.

Heuchlerin.

Patty zuckte mit einer Schulter. Dann beugte sie sich vor. »Ich weiß nur, dass ich so nicht weiterleben kann. Neulich habe ich sogar gedacht –« Wieder entfuhr ihr ein Schluchzer.

»Was haben Sie gedacht, Patty?« Die Worte klangen gepresst, aneinandergereiht aus reiner Verzweiflung. Sophia spürte den Schmerz körperlich, er drang ihr bis in die Knochen.

»Ich wünschte ... ich wünschte, er wäre tot.«

Nun schlug die Flut von Erinnerungen über Sophia zusammen, und mittendrin Davids Stimme. Beschuldigungen, Fäuste, hässliche Worte – alle gegen sie gerichtet.

Die Kraft, die sie auf ihrem Stuhl gehalten hatte, verließ ihren Körper.

Sie konnte nicht hierbleiben. Sie konnte dieser Frau nicht helfen. Sie konnte ja nicht einmal sich selbst helfen.

»Es tut mir leid, Patty. Ich ... ich muss gehen.«

Sophia stand auf und stürzte zur Tür hinaus.

2. Kapitel – Ginny

Ein beachtlicher Teil ihrer Zukunft hing an dem Zucken eines Augenlides.

Ginny Rose faltete die Hände im Schoß. In dem kleinen Büro, in dem sie Reginald Brown gegenübersaß, war es trotz der kühlen Maitemperaturen draußen stickig. Ein kleiner Schweißtropfen rann ihr über die Schläfe. Vielleicht hätte sie ihre langen braunen Haare zu einem Knoten hochstecken sollen, wie ihre Mutter es getan hätte. Aber wenn möglich vermied sie es mittlerweile, irgendetwas so zu machen wie Mariah Bentley.

Nicht, dass es eine Rolle gespielt hätte, wie professionell und erwachsen sie aussah. Zwar hatten die Menschen in Port Willis sie vor fünf Jahren als eine der Ihren aufgenommen, als sie Garrett Rose von Amerika nach Cornwall gefolgt war, aber dies war eine Kleinstadt. Mr Brown kannte ihre Situation, egal, wie positiv sie die Lage darzustellen versuchte.

Er räusperte sich, während er ihren Kreditantrag studierte, den er vor sich liegen hatte. »Es tut mir leid, dass ich nicht die Gelegenheit hatte, den Antrag früher zu prüfen. Meine Sekretärin hat Sie aus Kulanz noch in letzter Minute dazwischengeschoben.«

»Das verstehe ich. Und danke. Noch mal.«

Seine langen knochigen Finger trommelten auf dem Rand des mehrseitigen Dokuments, dann rückte er seine Brille zurecht und seine nach unten gerichteten Mundwinkel verzogen sich zu einem kritischen Ausdruck.

Hauptsache, sein Lid zuckte nicht. Ihrem Schwager William zufolge – der hier aufgewachsen war und Mr Brown schon sein Leben lang kannte – konnte sie einpacken, wenn das geschah. Und an diese Möglichkeit wollte sie nicht einmal denken. Wie sollte Rosebud Books ohne diesen Kredit überleben?

Obwohl die eigentliche Frage lauten sollte, wie es überhaupt zu der Misere hatte kommen können. Wie viel davon war ihre eigene Schuld – und wie viel ging auf Garretts Konto? Er war immer für die Finanzen zuständig gewesen, trotz der Wirtschaftskurse, die Ginny drei Jahre lang absolviert hatte, bevor sie Harvard verlassen hatte. Zahlen waren noch nie ihre Leidenschaft gewesen, deshalb hatte sie überhaupt nichts dagegen gehabt, diesen Organisationsbereich der Buchhandlung ihm zu überlassen. Vielleicht war das ein Fehler gewesen. Oder vielleicht hatte sie in den sechs Monaten, die er bereits fort war, einfach zu viel ausgegeben.

Wie peinlich ihren Eltern das wäre, wenn sie davon wüssten. Nicht, dass sie überhaupt etwas hätte tun können, um sie noch mehr zu »demütigen«, wie ihre Mom es formulierte. Sie hatte sich längst entschieden, die Dinge anders zu machen als ihre Geschwister Sarah und Benjamin, die in die Fußstapfen ihrer Eltern getreten waren – sie als gut verdienende Anwältin, er als Vizepräsident einer Tochtergesellschaft des väterlichen Unternehmens.

Ginny hatte unbewusst mit dem Bein zu wippen begonnen. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit dem Panoramafenster hinter Mr Brown zu. Von hier aus konnte sie die High Street sehen. Die vorhin noch ruhige Hauptstraße war jetzt von dem geschäftigen Neun-Uhr-Treiben erfasst worden. Nebenan schlug das urige Holzschild der Bäckerei gegen die geweißte Verkleidung. Offenbar zog mal wieder ein Wind von den Klippen herauf. Sie stellte sich vor, wie er durch die schmalen Gassen pfiff.

Das Schweigen wurde allmählich so drückend wie die Luft in diesem Büro.

»Mr Trengrouse hat heute etwas Neues gebacken.« Ginny konnte die Worte einfach nicht zurückhalten. Sie brachen aus ihr heraus, als hätte sich ihre Zunge verselbständigt. »Eine Art Rosinencroissant mit Zuckerguss. Ich kann nach nebenan gehen und Ihnen eins holen, wenn Sie möchten.«

Die Antwort bestand in einer hochgezogenen Braue. Aber kein Augenlidzucken. Noch nicht. »Nein danke, Mrs Rose. Ich brauche nichts.« Mr Brown widmete sich wieder ihrem Antrag.

Das Dokument wirkte auf Ginny irgendwie verletzlich, wie es dort strahlend weiß auf dem dunklen Braun seines Schreibtischs lag, den sie als einen Huntington identifizierte. Ihr Vater hatte in seinem Arbeitszimmer in Boston so einen.

Die Geschäfte der Bank mussten angesichts der jüngsten Rezession in Port Willis und vielen anderen Dörfern an der Nordküste Cornwalls gut laufen. Sie konnte unmöglich die einzige Geschäftsinhaberin sein, die dringend einen Kredit brauchte. Aber vielleicht war sie die Einzige, die so dumm war, nicht aufzugeben, obwohl die Lage praktisch aussichtslos war.

Ginny strich über den Saum des Shirts, das sie unter ihrem Blazer trug, ein Geschenk ihrer Mutter, das seinen Weg in den Koffer gefunden hatte, als sie Garrett in diese winzige Stadt gefolgt war. Eine Falte in dem dunkelgrünen Stoff war geblieben, obwohl sie schon dreimal versucht hatte, sie wegzubügeln. Ihre Mutter hätte das Haus nie in einem solchen »Zustand der Unordnung« verlassen.

Ginnys Bein wippte immer schneller, und als ihr Knie an die Schreibtischkante stieß, unterdrückte sie ein Stöhnen.

Mr Brown sah sie an. »Ist alles in Ordnung, Mrs Rose?«

Sie hatte das Gefühl, dass er nicht nur nach ihrem Knie fragte.

»Ja, alles gut.« Ginnys Grinsen geriet wahrscheinlich eher zu einer Grimasse. »Ich bin nur besorgt, wie Ihr Urteil ausfällt.«

»Ich bin doch kein Richter.«

War ihm nicht klar, dass er genau das war? Sein Ja oder Nein hatte nicht nur Folgen für Ginny. Immerhin war es auch Garretts Buchhandlung – ihr gemeinsamer Traum. Na ja, eigentlich eher seiner, aber sie hatte sich ganz in die Sache hineingestürzt und der Laden war ihr gemeinsames Baby geworden, was ein Segen war, weil sie noch keine eigenen Kinder hatten bekommen können.

Wenn sie die Buchhandlung aufgab, was sagte das dann über den Zustand ihrer Ehe aus? Garrett hatte um etwas Zeit zum Nachdenken gebeten, und wenn er aus London zurückkam, bereit, an ihrer Seite nach vorn zu sehen, würde er nicht begeistert sein, wenn sie in der Zwischenzeit ihren gemeinsamen Traum hatte sterben lassen.

Natürlich wäre es hilfreich gewesen, wenn er nicht die Hälfte ihrer Konten leer geräumt hätte, bevor er gegangen war. Aber er würde einsehen, dass das ein Fehler gewesen war. Das musste er. Ihre Mutter konnte nicht recht haben, was ihn betraf.

»Hm.« Mr Browns tiefes Brummen zerkratzte die Stille im Raum.

Endlich nahm er seine Brille ab und seufzte. »Mrs Rose, wieso glauben Sie, dass dieser Kredit Sie weiterbringen würde? Ja, er könnte kurzfristig einige Ihrer Kosten decken, aber wie sieht Ihr langfristiger Plan für die Sanierung Ihres Unternehmens aus? Ich weiß, dass Sie die Unterlagen hier eingereicht haben, aber ich möchte es von Ihnen selbst hören.«

»Ich habe mir überlegt, wie ich zusätzlichen Gewinn machen und Schwung für einen zukünftigen Erfolg holen kann.« Sie skizzierte ihre Ideen, was leider nicht sehr lange dauerte. »Ich brauche nur eine kleine Starthilfe«, schloss sie. »Ein bisschen Spielraum, um die Wirtschaftsflaute zu überstehen, die uns alle getroffen hat. Ich habe mir die Zahlen angesehen und bin zuversichtlich, dass wir durch die zusätzlichen Einkünfte aus den geplanten Veränderungen den Kredit in Rekordzeit zurückzahlen können.«

Sie glaubte es beinahe selbst.

Mr Brown faltete die Hände auf dem Schreibtisch und beugte sich vor. Sein Stuhl quietschte bei der Bewegung. »Ich bin nicht sicher, was für Zahlen Sie durchgegangen sind, um zu diesem Schluss zu gelangen, aber ich muss die Fakten betrachten, die mir vorliegen.«

Sein rechtes Lid – war das das Zucken? Ginny unterdrückte ein Stöhnen.

»Den Unterlagen zufolge sind die Gewinne von Rosebud Books in den letzten sechs Monaten drastisch zurückgegangen. Das ist sicher teilweise eine Folge davon, dass Port Willis in letzter Zeit weniger Touristen zu verzeichnen hat, aber …«

Oh, das war eindeutig ein Zucken.

Ginny drückte ihren Rücken gegen die Stuhllehne. »Aber was?«

»Nun, meine Liebe, der Zeitraum entspricht dem, in dem Sie die Buchhandlung allein geführt haben.«

Sie stöhnte innerlich auf. »Er kommt zurück.«

Hatte sie diese Worte wirklich laut ausgesprochen? Sie wünschte, sie könnte sich unter dem Tisch verstecken, im Erdboden versinken, sich mit einem Zauberwort in Luft auflösen. Nur weg hier, egal wie. »Ich meine, selbstverständlich war ich etwas … überrascht von den Umständen, in denen ich mich plötzlich wiedergefunden habe. Aber ich weiß, dass ein Kredit genau das ist, was ich brauche, um weitermachen zu können.«

Mensch, klang das verzweifelt! Dieser Mann hatte keinen Grund, ihr zu helfen. Obwohl sie seit fünf Jahren in dieser Stadt lebte, hielten manche Leute sie zurzeit merklich auf Abstand, nachdem Garrett vorübergehend nach London gezogen war. Immerhin war er der Liebling des Orts und natürlich zog manch einer die Schlussfolgerung, dass sie ihn in die Flucht geschlagen hatte. Vielleicht gehörte Mr Brown zu diesen Personen.

»Hören Sie.« Mr Browns graue Augenbrauen zogen sich zusammen und er sog die Unterlippe ein wenig ein. Mehr brachte er an mitfühlendem Ausdruck nicht zustande. »Ich weiß, dass es für Sie nicht leicht ist. Aber ich führe ein Unternehmen und kann kein Geld verschenken. Ich fürchte, ich kann Ihnen diesen Kredit nicht geben.«

Das Stöhnen entwich Ginnys Lippen; es hörte sich roh und erbärmlich und peinlich an. »Was kann ich sagen, damit Sie Ihre Meinung ändern?«

Mr Browns Lid zuckte schneller. Aber Moment mal … zuckte das linke jetzt auch noch? Das war schlecht. Ganz schlecht.

»Es tut mir leid, Mrs Rose. Ich habe mich entschieden. Vielleicht sollten Sie aufgeben und nach Hause zurückgehen, wo Sie hingehören.«

3. Kapitel – Sophia

»Kann ich Ihnen helfen?«

Sophia riss den Blick von den Bücherreihen in dem deckenhohen Regal los und sah sich einer Teenagerin in rotem T-Shirt gegenüber. Sie trug ein Schild mit der Aufschrift: »Ich heiße Lauren und meine Lieblingsautorin ist Rae Carson.« Laurens Gesicht war apfelförmig und unschuldig und sie sah Sophia mit einer Mischung aus Neugier und Betroffenheit an.

Kein Wunder, wahrscheinlich waren Sophias Augen furchtbar gerötet und die Wimperntusche völlig verschmiert nach all den Tränen. »Nein, danke, ich sehe mich nur um.«

Das Mädchen zog eine Braue hoch und nickte. »Sagen Sie einfach Bescheid, wenn Sie mich brauchen.« Sie schob ihren Bücherwagen weiter und verschwand damit aus Sophias Sichtfeld.

Plötzlich hatte sie das Bedürfnis, Lauren hinterherzulaufen und ihr das Versprechen abzunehmen, da draußen vorsichtig zu sein, sich nicht an den ersten Typen mit einem süßen Lächeln zu verschwenden und …

Ach, du liebe Güte. Reiß dich zusammen, Sophia!

Sie wandte sich wieder dem Regal mit den Romanen von Robert Appleton zu und fuhr mit den Fingerspitzen über die Rücken ihrer Lieblingsbücher: Mondlicht überm Moor, Das Flüstern der Klippen, Der gewundene Weg. Obwohl sie natürlich alle selbst zu Hause hatte, die Einbände abgegriffen und die Seiten voller Post-its, die ihre Lieblingsstellen markierten, kam sie gern hierher und bewunderte die noch ungelesenen Exemplare. Etwas an diesen Büchern berührte sie und die starken Heldinnen darin gaben ihr Hoffnung. Diese Frauen fanden trotz aller Widrigkeiten Liebe und Glück.

Sie nahm Mondlicht heraus, an dem sie zurzeit las, und ging damit zu der Sitzecke aus zu prall gepolsterten Ledersesseln vorne im Laden.

Das Geschäft war relativ leer, was an einem Dienstag um elf Uhr vormittags nicht wirklich überraschend war. Ein paar Studenten mit Kopfhörern saßen an den hölzernen Tischen des kleinen Bistros vor ihren Laptops. Zwei Mütter mit Kleinkindern in Buggys unterhielten sich bei eisgekühlten Getränken, die Haare in unordentlichen Knoten aus dem Gesicht gebunden, Flipflops von den Füßen baumelnd. Ein Geruch von Kaffee und Wein lag in der Luft.

Sophia ging zu ihrem Lieblingssessel am Fenster und machte es sich bequem. Dann schlug sie das Buch auf, das sie in der Hand hielt, und suchte das Kapitel, bei dem sie aufgehört hatte. Es dauerte nicht lange und sie war wieder in die Geschichte eingetaucht, in den Klang der Wellen Cornwalls, die an die Klippen schlugen, in die Gedanken von Julia, deren Hand das lange Gras berührte, während sie durchs Moor lief und über Martins Liebeserklärung nachdachte.

All das war ihr so vertraut und beruhigte sie.

»Du weißt, dass du beim Lesen die Lippen bewegst, oder?«

Sophia sah erschrocken auf und das Buch entglitt ihr. Joy ließ sich in den Sessel neben ihr fallen.

»Was machst du denn hier?« Sophia beugte sich vor und hob den Roman vom Boden auf.

»Du kommst immer hierher, wenn dir etwas zu schaffen macht.«

Wirklich? Wenn sie so darüber nachdachte, hatte Joy recht. Hier in die Buchhandlung zu kommen, fühlte sich besser an, als zu Hause zu sein. Die Bücher hatten etwas an sich – sie sprachen zu ihr, egal, ob sie beinahe zweihundert Jahre alt waren oder nagelneu. Jedes von ihnen hatte etwas zu sagen und sie sehnte sich danach, die Weisheit in sich aufzusaugen, die an den geheimen Orten auf jeder Seite verborgen war. Die Tinte floss förmlich vom Papier direkt in ihre Seele.

»Hast du gehört, was ich gesagt habe?«, durchbrach Joys Stimme ihre träumerischen Gedanken.

»Nein, tut mir leid.«

»Ich habe gefragt, was heute passiert ist. Ich kam aus meiner Neun-Uhr-Sitzung und Kristin erzählte mir, du seist nach zehn Minuten mit deiner Klientin rausgerannt. Ohne ein Wort zu irgendwem. Ich musste meinen Zehn-Uhr-Termin wahrnehmen und habe Kristin dann gebeten, meinen Kalender für die nächsten paar Stunden freizuräumen.« Joy spielte an ihrem riesigen orangefarbenen Creolen-Ohrring herum.

Einen Augenblick lang überlegte Sophia, ob sie lügen sollte. Joy würde sie niemals wieder in die Praxis lassen, wenn sie die Wahrheit sagte. Aber außer ihrer Mutter gab es keinen Menschen, dem sie so sehr vertraute wie Joy, und das wollte Sophia ihrer Freundin nicht mit Unehrlichkeit danken. »Ich habe Panik bekommen. Meine Klientin … Sie wurde misshandelt.«

Joys Finger erstarrten. »Nein, sie hat gesagt, dass sie unter Ängsten leidet. Ich dachte … dann hat sie also gelogen. Oh, Soph, das tut mir so leid!«

»Ist schon gut. Das konntest du ja nicht wissen.«

In der Nähe fing eines der Kinder in seinem Buggy an zu weinen. Mit einer Hand machte die Mutter das kleine Mädchen los und zog es auf ihren Schoß, wo die Kleine sich zufrieden mit der Strohhalmverpackung beschäftigte, während die Mutter ihre Unterhaltung fortsetzte.

»Komm, ich brauche einen Kaffee.« Joy stand auf und zog Sophia am Arm, um sie zum Aufstehen zu bewegen. Dann nahm sie den Roman und legte ihn auf das Regal für neue Lieferungen, bevor sie Sophia mit einem gutmütigen Grinsen den Ellbogen in die Rippen rammte. »Deine Besessenheit mit diesen Romanen wird langsam echt extrem.«

Mit sanftem Druck schob sie Sophia zum Bistro, in dessen Zentrum sich eine hölzerne Theke befand. Weingläser hingen an einem Gitter von der Decke und bildeten einen kristallenen Heiligenschein über dem Kopf des Barista, der Bestellungen für Kaffee und Kuchen entgegennahm. Eine glänzende Espressomaschine stand auf der Arbeitsplatte hinter ihm.

Joy bestellte einen Eiskaffee, Sophia wollte ihren Kaffee heiß und schwarz. Als die Getränke fertig waren, wählten sie einen kleinen Tisch in der Ecke aus, um einigermaßen ungestört zu sein.

Sophia trank einen ersten Schluck aus ihrer Tasse und verbrannte sich prompt die Oberlippe. »Ich weiß, dass ich dich enttäuscht habe.« Was sollte sie noch dazu sagen?

»Das ist Unsinn. Du warst einfach noch nicht so weit.«

»Das ist dann wohl jetzt der Moment für dein ›Ich hab’s dir gesagt‹.«

Joy nahm ihre Hand und drückte sie. »Beste Freundinnen sagen so was nicht. Und ich wollte ja auch gar nicht recht haben. Du musst selbst noch eine Menge verarbeiten, bevor du anderen helfen kannst, dasselbe zu tun. Sonst ist der Schmerz dieser Menschen zu groß. Er hängt sich an dich und droht, dich runterzuziehen. Wenn du noch all deinen eigenen Schmerz mit dir herumträgst …«

Allein schon das Bild gab Sophia das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Sie legte die Finger um ihren Becher. »Ich dachte wirklich, ich wäre bereit. Und jetzt frage ich mich, ob ich es jemals sein werde. Ich meine, welche Klientin will von einem Opfer häuslicher Gewalt beraten werden? Das ist doch absurd.« Auch sie hatte sich an falschen Entschuldigungen festgehalten, als es passiert war. Sie hatte die Misshandlung in ihrem Herzen verschlossen und sich eingeredet, sie wäre nicht real. Die Liebe zwischen David und ihr wäre die Wirklichkeit.

Sie hatte niemandem davon erzählt, als David noch lebte. Und nach seinem Tod hatte niemand außer Mom und Joy – und inzwischen Cindy – davon erfahren. Alle dachten immer noch, der Grund für ihren Zusammenbruch wäre der Verlust selbst gewesen und nicht die merkwürdige Mischung aus extremer Erleichterung und überwältigender Trauer, die sie seitdem empfunden hatte.

»Hey.« Joy wartete, bis Sophia sie ansah. »Du wirst das hinter dich bringen. Und wenn es so weit ist, dann wirst du so viel Wissen und Empathie für diese Frauen haben, dass du die beste Therapeutin sein wirst, die sie sich wünschen können. Aber bis dahin solltest du vielleicht einen Rat von mir annehmen.«

»Und was ist das für ein Rat?«

»Derselbe, den ich dir schon einmal gegeben habe: Schreib deine Geschichte auf.« Ihre Freundin hatte Sophia zu diesem Zweck sogar ein wunderschönes Notizbuch geschenkt.

»Nein. Ich habe dir doch schon gesagt, dass ich das nicht kann. Der Gedanke, die Worte zu Papier zu bringen … das könnte ich einfach nicht.« Die Vorstellung, den Schmerz, den sie erlebt hatte – ihre Verwirrung, ihre Schuldgefühle, einfach alles –, schwarz auf weiß vor sich zu haben, schnürte ihr die Kehle zu.

»Aber ist das nicht oft genau die Strategie, die so vielen unserer Klientinnen hilft, eine Wende herbeizuführen? Klar, das geht nicht von jetzt auf gleich, aber wenn du es aufschreibst, kannst du dich nicht davor verstecken. Es bedeutet, dass du dich nicht mehr selbst belügen kannst.«

»Glaubst du, das mache ich?«

Joy zuckte mit den Schultern. »Ich weiß, dass du unbedingt stark sein willst, obwohl du es nicht sein musst. Er ist nicht mehr hier und kann dir nicht mehr wehtun.«

»Du verstehst das nicht. Er ist immer noch hier. Wohin ich auch gehe, spüre ich ihn – wie einen Geist, den ich nie loswerden kann. Seine Stimme in meinem Kopf. Seine Worte, die unauslöschlich in mein Herz gebrannt sind.«

»Also fliehst du in deine Romane.«

»Nein, das ist nicht … Ich weiß nicht, vielleicht. Aber die Therapie hilft mir, wenn auch vielleicht langsamer, als ich gehofft hatte.«

»Deine Geschichte ist es wert, erzählt zu werden, Soph.«

Die Worte ihrer Freundin stachen direkt in Sophias geschundenes Herz. Aber sie hatte wahrscheinlich recht. Sollte Sophia nicht bereit sein, alles zu versuchen, wenn auch nur die geringste Chance bestand, dass sie sich dann nicht mehr auf andere verlassen musste und endlich wieder die unabhängige Frau werden konnte, die sie immer gewesen war … vorher? »Also gut. Ich versuche es.«

»Und noch etwas.« Joy legte eine Hand auf Sophias Arm. »Es wird dir nicht gefallen, aber du musst dir noch länger freinehmen. Für mindestens zwei oder drei Monate. Vielleicht sogar den ganzen Sommer.«

Diese Empfehlung war mehr als begründet. Sophia wusste das.

Obwohl sie sich unwillkürlich fragte, ob sie jemals wieder stark genug sein würde, um einem anderen Menschen zu helfen.