Über das Buch:
England im 19. Jahrhundert

Amelia Barrett soll heiraten, um ihr Erbe, Winterwood

Manor, übernehmen zu können. Doch ihr Herz gehört nicht ihrem Verlobten Edward, sondern Lucy, der kleinen Tochter ihrer verstorbenen besten Freundin. Amelia hat versprochen, für die Kleine zu sorgen. Aber passt das auch zu Edwards Plänen?

Da kommt Lucys Vater ins Spiel. Amelia schmiedet einen verwegenen Plan, der die Rettung bedeuten könnte: für sie, für Lucy und für ihr Erbe. Als sich die Ereignisse überschlagen, erkennt Amelia, dass sie nur dann eine Zukunft hat, wenn sie ihre Pläne voll Vertrauen in Gottes Hände legt. Oder ist es dafür schon zu spät?

Über die Autorin:
Sarah E. Ladd arbeitete nach ihrem PR-Studium im Marketing-Bereich, bevor sie sich ganz auf das Schreiben konzentrierte. Sarah ist fasziniert von England, insbesondere im 19. Jahrhundert. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrer Tochter in Indiana, USA.

Kapitel 7

Grahams eigensinniges Pferd blieb mitten im Trab abrupt stehen und bog scharf nach rechts ab. Schon wieder. Graham hielt sich im Sattel fest und riss an den Lederzügeln, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Die ungleichmäßige Fortbewegungsweise des unwilligen Pferdes und seine sonderbare Neigung, ohne Vorwarnung die Richtung zu ändern, drohten auch erfahrene Reiter aus dem Sattel zu werfen – und einen Mann, der die meiste Zeit seines Lebens auf dem Meer verbrachte, erst recht.

„Brauchst du Hilfe, um dieses Tier unter Kontrolle zu bringen?“, spottete William, der sein elegantes Tier neben Graham lenkte.

„Dieser Gaul ist störrisch wie ein Maultier.“ Graham betrachtete das Tier kritisch und drückte die Beine um den Bauch des Pferdes zusammen. Er war noch nie ein besonders guter Reiter gewesen, und seine Jahre auf dem Meer hatten das nicht verbessert. Er ärgerte sich, dass er das Tier auf dem Weg von Plymouth nach Darbury gekauft hatte. Aber er war dazu gezwungen gewesen, als er für einen Teil der Strecke keinen Platz in einer Postkutsche bekommen hatte. Er hatte es so eilig gehabt, nach Darbury zu kommen, dass er das erste halbwegs brauchbare Pferd gekauft hatte, das er gefunden hatte. Diese Entscheidung kam ihn seitdem teuer zu stehen.

„Wir hätten die Kutsche nehmen sollen.“

William lachte. „Unsinn. Dafür ist der Tag viel zu schön. Endlich ein Nachmittag ohne Regen! Außerdem wäre es zu umständlich, für eine so kurze Strecke die Kutsche anzuspannen.“ Er deutete mit dem Kopf auf Grahams Pferd. „Wenn es an der Zeit ist, für deine Tochter ein Pony auszusuchen, schlage ich vor, dass du das mir überlässt. Es sieht so aus, als hättest du dafür kein allzu großes Talent.“

Graham überhörte die Stichelei seines Bruders und verstärkte seinen Griff um die Zügel. Dieses starrköpfige Tier würde ihn nicht in die Knie zwingen.

„Ich habe ein ausgezeichnetes Auge für Pferde“, sprach William mit einem Augenzwinkern weiter. „Nimm zum Beispiel Tibbs hier.“ Er stieß einen leisen Pfiff aus, und der Hengst spitzte die Ohren. „Wirklich schade, dass ich ihn verkaufen muss.“

„Was? Du willst dieses Pferd verkaufen?“ Graham deutete mit dem Kopf auf Williams kostbaren Braunen. „Ich dachte, das wäre dein Lieblingstier.“

„Das ist er auch, aber er wird in Abbott’s einen guten Preis erzielen.“

„Eastmore scheint wirtschaftlich gut dazustehen. Warum machst du dir Sorgen ums Geld?“

William zuckte die Achseln. „Ach, du weißt schon, dumme Entscheidungen, schlechte Wetten. Nichts Dramatisches, aber ein paar Pfund mehr in der Tasche könnten nicht schaden.“

Graham verbarg seine Überraschung über diese Bemerkung und folgte William durch Winterwoods Eisentore. Große Ulmen säumten die Einfahrt. Der Herbstwind hatte den größten Teil der goldenen und purpurroten Blätter auf die Erde geweht und nur ein paar robuste Blätter an den Bäumen gelassen, die sich gegen das unerbittliche Rütteln des Windes wehrten. Hinter der Einfahrt ragten Winterwoods graue Zinnen majestätisch zum leuchtend blauen Himmel hinauf. Der strahlende Sonnenschein spiegelte sich in den zahlreichen Flügelfenstern und warf Schatten auf die Simse und Giebel.

Sie erreichten den Haupteingang, und zwei junge Stallburschen tauchten auf, um ihnen die Pferde abzunehmen. Graham schwang sich auf den Boden, reichte einem Jungen die Zügel und war dankbar, dass er wieder mit beiden Beinen auf der Erde stand. Er ging auf Winterwoods schwere Eingangstür zu, bemerkte aber, dass sein Bruder zurückblieb.

Graham blieb stehen. „Kommst du nicht mit?“

William zog seine ledernen Reithandschuhe aus und steckte sie in die Tasche. „Natürlich. Natürlich.“

Warum benahm er sich so sonderbar? Graham beschloss, die Veränderung im Verhalten seines Bruders zu ignorieren. Er ging zur Tür, hob den eisernen Türklopfer und ließ ihn wieder fallen. Die Vorfreude, seine Tochter zu sehen, beflügelte seine Schritte. Würde sie sich an ihn erinnern?

Der Butler öffnete ihnen und führte sie in den Salon. Alles sah genauso aus wie bei Grahams erstem Besuch auf Winterwood vor drei Tagen. Trotzdem betrachtete er es inzwischen ganz anders.

„Kapitän Sterling!“ Miss Barrett erschien in einem zitronengelben Kleid, das genauso hell leuchtete wie die Nachmittagssonne, und mit Lucy in den Armen.

„Und Mr Sterling.“ Miss Barretts Lächeln wurde deutlich dünner, als sie William erblickte. Eine spürbare Distanz lag zwischen den beiden. Graham nahm sich vor, William später danach zu fragen. Aber im Moment konnte er an nicht viel anderes als an seine niedliche Tochter denken.

Graham trat eifrig vor und erinnerte sich, wie problemlos sie am ersten Tag zu ihm gekommen war. Aber heute drückte sie sich an Miss Barrett und schaute ihn nur widerstrebend an. Als er sie nehmen wollte, drehte sie den Kopf weg und klammerte sich an Miss Barrett.

„Komm schon, Liebes“, sagte Miss Barrett mit leiser, sanfter Stimme zu dem Kind. „Geh zu deinem Vater. Er ist einen weiten Weg gekommen, um dich zu sehen.“ Als sie versuchte, Graham das Kind in die Arme zu geben, stieß Lucy einen so schrillen Schrei aus, dass er sich beherrschen musste, um sich nicht die Ohren zuzuhalten.

Graham trat zurück und war bestürzt, dass sein eigenes Kind sich so gegen ihn wehrte. Lucys Gesicht rötete sich, und ihre Augen wurden groß. „Das macht nichts, Miss Barrett. Sie hat offensichtlich Angst vor mir. Schließlich kennt sie mich noch nicht.“

Miss Barretts Brauen zogen sich zusammen. „Entschuldigen Sie bitte, Kapitän Sterling. Lucy ist heute ein wenig unleidlich. Sie wird sich bestimmt beruhigen, wenn Sie eine Weile hier sind.“ Sie redete beschwichtigend auf Lucy ein und ließ sie sanft auf ihrer Hüfte hüpfen, wobei sie einen weiteren kühlen Blick zu William hinüberwarf.

„Willkommen auf Winterwood, meine Herren“, durchbrach Helena Barretts fröhliche Stimme die leicht angespannte Atmosphäre. „Wir haben Sie kommen sehen und deshalb den Dienstboten aufgetragen, auf dem Rasen neben dem Haus zu decken. Es ist schön draußen, vielleicht der letzte schöne Tag vor dem Winter. Wir sollten das Wetter unbedingt nutzen, finden Sie nicht auch?“

Graham und William folgten den Damen und Lucy durch den Gang und durch die Bibliothek auf denselben Balkon hinaus, auf dem Graham sich gestern Abend mit Miss Barrett unterhalten hatte. Wie anders alles im warmen Sonnenschein aussah! Auf dem Rasen unter ihnen waren zwei Dienstboten damit beschäftigt, Tische und Stühle zum Tee aufzustellen und Decken auf dem Rasen auszubreiten.

Die zwei Damen führten die Besucher die Treppe zum Rasen hinab. In diesem Moment kam George Barrett um die südliche Mauer. Er ritt einen großen Rappen und war von einem kleinen Rudel kastanienbrauner und weißer Hunde begleitet. Er sah von Kopf bis Fuß nach dem typischen eleganten Gentleman vom Lande aus: ein vorne kurz geschnittener Reitmantel, eine dunkelbraune Reithose und hohe Stiefel.

„Ah, da ist Vater.“ Helena Barrett hakte sich bei ihrer Cousine unter und winkte ihrem Vater mit der anderen Hand zu.

George Barrett blieb neben den Damen stehen. „Wie geht es euch, meine Lieben?“, fragte er und lächelte auf seine Tochter und Nichte hinab, bevor er die Männer begrüßte.

„Uns geht es sehr gut, Vater.“ Helena Barrett deutete über den Rasen. „Wir wollen gerade Tee trinken. Die Herren können uns gern Gesellschaft leisten, wenn sie möchten.“ Arm in Arm schlenderten die Cousinen zu den Tischen.

„Schön, Sie zu sehen, Mr Barrett.“ William ergriff das Zaumzeug des Pferdes. „Sie waren auf der Jagd, wie ich sehe?“

„Nein, ich bin nur ausgeritten. Das ist gut für die Figur, wenigstens sagt das meine Frau immer.“ Ein Lächeln zog über das Gesicht des Mannes. Er warf einen Blick über seine gebeugte Schulter auf die Vorbereitungen auf dem Rasen. „Ich glaube, die Damen erwarten, dass wir Tee trinken, aber mir schwebt etwas Stärkeres vor. Kann ich einen von Ihnen für ein Männergetränk gewinnen?“

„Unbedingt, Mr Barrett.“ William tätschelte dem großen Tier den Hals. „Genau mein Gedanke.“

George Barrett schwang sich aus dem Sattel und schob dem Pferd die Zügel über den Kopf. „Wie ist es mit Ihnen, Kapitän Sterling? Was sagen Sie zu einer kleinen Abwechslung? Ich kann es nicht erwarten, einen Bericht über den Krieg gegen Amerika zu hören und zu erfahren, was unsere Streitkräfte tun, um unsere Interessen in dieser Region zu schützen. Wie Sie wissen, ist meine Firma im Handel tätig, und ein großer Teil unserer Geschäfte läuft mit den Westindischen Inseln. Diese Freibeuter haben schon mehrere Schiffe von uns gekapert. Aber wie ich höre, führen Ihre Reisen Sie weiter in den Norden? Eher in die Gegend vor Halifax?“

Graham nickte und schaute über Georges Schulter zu Lucy, die auf der Decke spielte, die auf dem Rasen ausgebreitet war. „Ja, Sir, wir waren vor unserer Rückkehr nach Plymouth in Halifax.“

Ein zustimmender Blick zog über das rötliche Gesicht des älteren Mannes. „Sehr gut. Ich möchte alles darüber hören. Gehen wir ins Haus, um uns zu unterhalten und uns etwas zu trinken zu genehmigen, meine Herren.“

Zu einem anderen Zeitpunkt und an einem anderen Ort hätte Graham diese Einladung sofort angenommen. Aber jetzt beschäftigte ihn etwas anderes. „Ich glaube, ich bleibe ein wenig bei meiner Tochter. Schließlich bin ich ihretwegen gekommen. Vielleicht stoße ich später zu Ihnen.“

George Barrett tippte an seinen Hut. „Dann entschuldigen Sie uns. Wir gehen ins Haus.“

Graham nickte ebenfalls und trat zur Seite, um den lärmenden Hunden auszuweichen, die um George Barrett und William herumliefen, als sie das Pferd zum Stall zurückbrachten. Die Sonne schaute hinter den silbernen Wolken heraus, warf ihr helles Licht durch die blattlosen Zweige und malte geschwungene Muster auf das braune Gras. Ein kräftiger Nordwind wehte über das Land. Wenn er die Augen schloss, war er fast wieder an Bord seines Schiffes, stand an Deck und ließ sich den Wind ins Gesicht wehen. Aber statt des untrüglichen Geruchs der salzigen Meeresluft umgaben ihn die Gerüche des Moors. Und statt der harten Stimmen kampferprobter Matrosen hörte er nur die höflichen Stimmen von gesitteten jungen Damen.

Wie anders das Leben an Land doch war! Graham hatte sich an das Meer gewöhnt; es war das einzige Leben, das er kannte. Er fragte sich unwillkürlich, wie sein Leben verlaufen wäre, wenn er nicht weggeschickt worden wäre, wenn er der Erstgeborene wäre und Eastmore Hall geerbt hätte.

Miss Barretts Worte rissen ihn aus seinen Gedanken. „Lucy liebt es, im Freien zu sein.“

„Das kann ich gut verstehen.“ Graham bückte sich, um sich neben seine Tochter zu setzen, dann streckte er sein Bein aus. „Ich ziehe es auch immer vor, im Freien zu sein.“

Lucy krabbelte von Miss Barretts Schoß und versuchte, über Grahams Stiefel zu klettern, um die Quaste zu erreichen, die den Stiefel zierte. Offenbar hatte sie alle Vorbehalte vergessen, die sie noch wenige Minuten zuvor gehabt hatte.

„Wohin willst du, kleines Fräulein?“, fragte er und zog Lucy in seine Arme. Sie kicherte, als er sie mit verdrehten Augen anschaute, und belohnte ihn mit einem schiefen Grinsen für seine Grimasse. Ihre winzigen Beine traten ihn in den Bauch, als sie wieder auf die Decke zurückkrabbelte. Er pflückte ein paar Grashalme und breitete sie vor ihr aus. Sie kreischte vor Begeisterung und packte den Schatz mit den Fäusten. Er hielt sie zurück, als sie das Gras in den Mund stecken wollte.

Noch vor wenigen Tagen hatten die Gedanken an ein Kind ihm Angst eingejagt. Aber mit jedem Moment, den er in ihrer Nähe verbrachte, wuchs in ihm der Wunsch, mehr Zeit mir ihr verbringen zu können. Lucy wand sich und gähnte, und er schwang sie hoch und küsste ihre rundliche Wange.

Miss Barrett stand auf und strich das Gras von ihrem Rock. „Ich denke, Lucy braucht bald eine Decke. Es ist doch etwas kühl. Ich bin gleich zurück.“

Die trockenen Blätter knirschten unter ihren Schritten. Die leise Stimme einer Grasmücke vermischte sich mit dem Zwitschern einer verspäteten Amsel, und ein Eichhörnchen lief zu den Bäumen. Diese Geräusche weckten Erinnerungen an eine vergessene Kindheit, an lange Nachmittage auf Schatzsuche zwischen dem leuchtenden Heidekraut und den Felsen im Moor.

„Hörst du das, Lucy?“, fragte Graham, der eine Stimme erkannte, die er seit seiner Jugend nicht mehr gehört hatte. „Das ist ein Spatz.“

Das Kind, das vom Spielen müde war, lehnte sich schläfrig an ihn. Lucys Augenlider fielen langsam zu, und ihre langen, hellen Wimpern sanken auf ihre hellen Wangen. Er zog sie an sich heran, legte ihren Kopf unter sein Kinn und genoss den sanften Rhythmus ihres Atems und den leichten Lavendelduft ihrer Haare.

An welche Kindheitsgeräusche würde seine Tochter sich später erinnern? Wäre es das Pfeifen des Windes über freiem Gelände und das Rascheln des Grases unter ihren Füßen? Oder wäre es das lärmende Quietschen von Kutschen, die über das Kopfsteinpflaster in der Stadt rollten? Er betrachtete das eindrucksvolle Haus, die Gärten. Die Majestät von Winterwood Manor war fast einschüchternd, seine Schönheit überragte sogar noch die Schönheit von Eastmore Hall. Er musste an Miss Barretts ungewöhnlichen Heiratsantrag denken. Wenn er ihn annähme, würde seine Tochter sich später an diesen schönen Ort erinnern. Sie könnte immer hier leben, falls sie das wollte. Das weite Land und das große Haus würden ihm und Lucy gehören, wenn er Miss Barretts Angebot annähme.

„Soll ich das Kind nehmen, Sir?“

Graham blickte auf, als er eine Stimme mit einem unüberhörbaren irischen Akzent hörte.

„Ich bin Mrs Dunne, das Kindermädchen der kleinen Miss Lucy.“ Die rundliche Frau mit der weißen Haube über ihren dunklen Haaren stand neben ihm und war bereit, ihm das Kind abzunehmen. Er hatte gar nicht darauf geachtet, wie lang er schon so bei seiner Tochter saß. Miss Barrett hatte gesagt, dass sie sofort zurückkäme. Wo war sie? Vorsichtig, um den schlafenden Engel nicht zu wecken, stand er auf und reichte das Kind behutsam dem Kindermädchen.

„Keine Sorge, Sir. Ich kümmere mich gut um die Kleine.“

Er lächelte, als sie das Kind in einen Kinderwagen legte und ihn dann auf das Haus zuschob. Während er ihr nachschaute, glaubte er, laute Stimmen zu hören, die der Wind herantrug. Er runzelte die Stirn und lauschte.

Er schaute sich um. William und George Barrett standen immer noch auf der anderen Seite des Rasens vor den Ställen und hatten ihren Portwein offenbar ganz vergessen. Helena Barrett und ihre Mutter, die er beim gestrigen Abendessen kennengelernt hatte, saßen am Tisch und tranken Tee. Von ihnen stammten diese lauten Stimmen nicht. Dann entdeckte er für einen kurzen Moment etwas leuchtend Gelbes. Das Gelb tauchte hinter der Balkonmauer auf und verschwand dann wieder aus seinem Blick.

Neugierig ging er zu den Balkonstufen zurück. Mit jedem seiner geräuschlosen Schritte nahmen die Stimmen an Intensität zu.

Littletons tiefe Stimme drang zuerst an seine Ohren. „Ich will von diesem Thema nichts mehr hören. Ich denke, ich habe meine Erwartungen in dieser Angelegenheit deutlich zum Ausdruck gebracht. Als meine Frau werden Sie sich mir fügen.“

Miss Barretts Antwort kam sofort. „Ich bin noch nicht Ihre Frau. Wie können Sie das voraussetzen? Glauben Sie ja nicht, dass ich …“

Littletons Worte erstickten ihren Widerspruch. „Ich höre mir das nicht länger an. Sie haben gehört, was ich gesagt habe, und Sie wissen, was ich damit gemeint habe. Sonst …“

„Was sonst?“ In ihrer Stimme lag eine Kraft, die Graham überraschte. Sie klang herausfordernd, als solle Littleton es ja nicht wagen weiterzusprechen.

„Was für eine Frechheit! Ich würde meinen …“

Miss Barretts Stimme klang angespannt, als spräche sie mit knirschenden Zähnen. „Gott stehe mir bei, Edward. Eher sehe ich zu, wie Winterwood Manor in fremde Hände fällt und ich ins Armenhaus geschickt werde, als dass ich jemand im Stich lasse, den ich liebe.“

Littleton lachte. „Jemand, den Sie lieben? Sie lieben Lucy also mehr als mich? Ist es das? Für diese Erkenntnis ist es jetzt zu spät, Amelia. Was, glauben Sie, passiert, wenn Sie diese Heirat jetzt absagen? Ihr Erbe geht an einen anderen, und das wird sehr bald geschehen. Was wollen Sie dann machen? Glauben Sie, Ihr Onkel würde sich dann weiter um Sie kümmern? Glauben Sie, er würde Ihnen erlauben, in seinem Haus zu leben? Er hat genauso viel Interesse an dieser Verbindung wie ich. Glauben Sie keinen Moment, dass …“

Die Stimmen waren hart und laut. Graham erinnerte sich an die Angst in Miss Barretts Augen, als sie gestern Abend von Littleton gesprochen hatte. Er hatte genug gehört. Er ging, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf und bog um die Mauer. Littleton hielt Miss Barretts Arm in einem unsanften Griff fest. Die Fingerknöchel von Miss Barretts geballter Faust traten weiß hervor, und ihre saphirblauen Augen waren ganz groß. Ihr Brustkorb hob und senkte sich bei ihren Atemzügen sehr schnell.

Graham trat näher. Seine Stiefel hallten schwer auf den glatten Steinplatten wider. „Kann ich Ihnen helfen, Miss Barrett?“

Überrascht fuhr Littleton herum und schaute Graham finster an. Seine Augen waren zu eng zusammengekniffenen Schlitzen verzogen. „Was machen Sie hier?“

„Ich habe laute Stimmen gehört.“

„Das geht Sie nichts an. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten kümmern und uns nicht stören.“

Graham trat noch einen Schritt näher. „Das mag sein, Littleton, aber wenn ich sehe, dass eine Frau schlecht behandelt wird, mache ich das zu meiner Angelegenheit. Ich muss Sie auffordern, Miss Barretts Arm loszulassen.“

Miss Barrett nutzte die Gelegenheit, als Littleton kurz abgelenkt war, um sich von seinem Griff zu befreien. Sie rieb sich das Handgelenk, und ihre Augen sahen aus wie die eines Tieres, das in einer Falle gefangen war.

Littleton zwang sich zu einem süffisanten Lächeln, das an ein hämisches Grinsen grenzte. „Meine Verlobte geht Sie nichts an.“

Graham schaute Littleton so finster an, dass er den Blick abwandte. „Miss Barrett, Mrs Dunne sucht Sie.“

Einen Moment rührte sich niemand. Graham schlug den autoritären Tonfall an, den er gegenüber seinen Matrosen benutzte, und log erneut. „Miss Barrett, Mrs Dunne braucht Ihre Hilfe.“

Ohne ein Wort zu sagen, raffte sie ihre gelben Röcke zusammen und eilte vom Balkon.

Littleton zupfte an seiner Krawatte. Ein süffisantes Lächeln spielte um seine Lippen. „Ich weiß, was Sie wollen, Sterling.“

„Und das wäre?“

„Sie nutzen Amelias Zuneigung zu Ihrem Kind aus, Sir.“ Edward trat vor, und in seinen Worten lag eine unüberhörbare Herausforderung. „Was wollen Sie, Sir? Ihr Geld? Ihre Ländereien? Oder einfach … sie?“

Grahams Gesichtszüge wurden bei dieser Anschuldigung hart. „Ich will nichts von alledem. Miss Barrett hat meiner Familie eine große Freundlichkeit erwiesen, und dafür bin ich ihr dankbar. Aber glauben Sie mir: Ich werde nicht tatenlos danebenstehen und zusehen, wie Sie oder irgendein anderer Mann eine Frau, egal wer sie ist, mit einer solchen Unhöflichkeit behandelt.“

Edward schnaubte. „Ich kenne euch Sterlings. Ihr seid alle gleich. Sie und Ihr Bruder und vor Ihnen Ihr Vater. Hinterhältig. Berechnend. Vielleicht schaffen Sie es, sich Amelias Gunst zu erschleichen, aber mich werden Sie nicht ausnutzen. Ich verlange, dass Sie und Ihre Tochter meinen Grund und Boden verlassen, und ich will, dass Sie sich von meiner künftigen Frau fernhalten.“

Das Blut pochte in Grahams Schläfen. Er hatte den dringenden Wunsch, Littleton von Amelias Antrag zu erzählen und ihn damit zum Schweigen zu bringen, aber er hielt den Mund. Er konnte die Frau, die so viel für ihn getan hatte, nicht in eine so prekäre Situation bringen.

Seine Stimme blieb leise. „Mit dem größten Vergnügen. Aber ich warne Sie, Littleton. Falls ich sehe, wie Sie Miss Barrett oder eine andere Dame brutal behandeln, werde ich nicht zögern, Sie niederzuschlagen. Das würde ich mit dem größten Vergnügen tun.“

Littletons Gesicht nahm eine dunkelrote Färbung an. Eher wie ein verwöhntes, trotziges Kind als wie ein erwachsener Mann ließ er Graham stehen und stürmte so vehement in den Salon, dass seine Frackschöße hinter ihm herflatterten.

Graham entspannte seine Fäuste und zog seine Weste enger. In der Ferne sah er Miss Barrett, die mit Mrs Dunne sprach und sich über den Kinderwagen beugte. Sie warf einen nervösen Blick in seine Richtung, dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Kind. Während er auf sie zuging, hörte er die Geräusche der Natur und das Pfeifen des Windes nicht mehr. Littletons harte Worte über seine Tochter, seine Familie und Miss Barrett hallten in seinem Kopf wider.

Als seine Stiefel polternd über das Gras schritten, hoben die Damen den Kopf. Er hatte nicht den Wunsch, die Verlegenheit zu sehen, die Miss Barrett gewiss im Gesicht stand, aber er wusste, was zu tun war.

„Miss Barrett, ich fürchte, meine Tochter und ich können Ihre Gastfreundschaft nicht länger in Anspruch nehmen.“

Miss Barrett schlug die Hand vor den Mund. „Was wollen Sie damit sagen?“

Er konnte ihr nicht in die Augen schauen, als er die nächsten Worte aussprach. „Ich glaube, es ist für alle Beteiligten am besten, wenn ich mich für Lucy um eine andere Unterbringung kümmere.“

Sie stieß einen leisen Schrei aus und ergriff seinen Arm. „Falls das wegen Mr Littleton ist, dann machen Sie sich bitte keine Gedanken. Ich werde mit ihm sprechen. Ich kann ihn dazu bringen, seine Meinung zu ändern. Bitte, ich …“

Er hob die Hand, um sie zum Schweigen zu bringen. „Bitte, Miss Barrett, verstehen Sie mich nicht falsch. Ich bin Ihnen für Ihre Großzügigkeit dankbar, aber alles in allem betrachtet, halte ich es für das Beste, Lucy woanders unterzubringen.“

Sie ging um ihn herum und versperrte ihm mit ihrem schmächtigen Körper den Weg zum Stall. Ihre rosige Gesichtsfarbe war ganz weiß geworden. „Kapitän Sterling, das hier ist Lucys Zuhause. Bitte, ich flehe Sie an, Sir, bringen Sie sie nicht von hier weg.“

Graham hatte nicht den Wunsch, sie zu verletzen, aber er war auch nicht bereit, sich dafür zu entschuldigen, dass er sich in ihr Gespräch eingemischt hatte oder dass er Lucy wegbrachte. Er räusperte sich, da er es nicht gewohnt war, sein Handeln erklären zu müssen. „Meines Wissens gibt es auf Eastmore Hall kein Kinderzimmer. Wenn Sie also bitte so freundlich wären zu erlauben, dass Lucy noch bei Ihnen bleiben kann, bis ich die nötigen Vorkehrungen treffen kann, wäre ich Ihnen sehr dankbar.“ Nach einem kurzen Zögern schaute er zu seiner Tochter hinab, die friedlich in ihrem Kinderwagen schlief. Sein Brustkorb zog sich eng zusammen, und er atmete tief ein. „Guten Tag, die Damen.“

Er verbeugte sich, tippte an seinen Hut und ging an den Frauen vorbei. Je früher er sich von Winterwood und dem Wahnsinn, der sich in seinen Mauern zusammenbraute, befreien konnte, umso besser wäre es für ihn und Lucy.

Kapitel 8

Bitte sei zu Hause. Bitte sei zu Hause. Bitte sei zu Hause.

Bei jedem Schritt tönten diese Worte wie Hammerschläge in Amelias Kopf. Schneller und schneller trugen ihre Füße sie über den Weg von Winterwoods Westmauer zum Pfarrhaus.

Mit pochendem Herzen bog sie vom Weg ab und nahm eine Abkürzung durch die Bäume, die an das Moor grenzten. Mehr als einmal verlor sie auf den nassen Blättern und dem feuchten Gras fast den Halt. Ihre Haare blieben an einem Ast hängen und rutschten aus ihrem Elfenbeinkamm, als sie die Lichtung erreichte, auf der das Pfarrhaus stand. Sie lief eilig zum Haus und hämmerte an die Tür.

Sobald ein Dienstmädchen ihr die Tür öffnete, drängte Amelia sich hinein. „Jane!“, rief sie. „Jane!“

Ihre Freundin kam eilig um die Ecke. „Meine Güte, Kind, was ist denn …“ Sie brach mitten im Satz ab. Bei Amelias Anblick fiel ihre Kinnlade nach unten. „Was in aller Welt ist passiert? Komm herein, Liebste.“

„Er will sie mir wegnehmen!“ Amelia rang keuchend nach Luft.

„Was? Wer? Komm erst einmal herein und setz dich. Komm hierher ans Feuer.“ Jane legte die Arme um Amelias zitternde Schultern und führte sie zu einem Sessel am Kamin. „Ich will alles hören, aber zuerst musst du dich beruhigen. Es hilft niemandem, wenn du in Ohnmacht fällst.“

Amelia starrte ins Feuer, aber wegen der Tränen in ihren Augen sah sie das Leuchten der Glut nur verschwommen. Ihr war nicht kalt. Sie atmete ein und aus und zwang ihren schnellen Atem, sich zu beruhigen.

Jane zog den Kamm, der nur noch leicht in Amelias Haaren hing, heraus und fuhr mit den Fingern durch ihre Locken. „Was ist passiert?“

„Kapitän Sterling. Er hat gesagt, dass er eine andere Unterbringung für Lucy plant.“ Amelias Stimme wurde vor Aufregung immer höher. „Er bringt sie von Winterwood weg! Was soll ich nur machen?“

Janes Stimme war ruhig und beherrscht. „Wo ist Lucy jetzt?“

„Sie ist noch auf Winterwood, aber der Kapitän hat es unmissverständlich gesagt. Er trifft Vorkehrungen für eine andere Unterbringung.“

„Sag mir, was passiert ist.“

Amelia zögerte. „Ich bin, offen gesagt, nicht ganz sicher, was passiert ist. Der Kapitän und sein Bruder waren zu Besuch, um Lucy zu sehen. Während sie auf Winterwood waren, hatten Mr Littleton und ich eine kleine … Meinungsverschiedenheit. Kapitän Sterling schritt ein. Ich glaube, der Kapitän und Edward hatten danach noch einen Streit.“

Jane nahm ihr Spitzentuch vom Sofa und legte es um Amelias Schultern. „Wenn das der Fall ist, hat die Entscheidung des Kapitäns wahrscheinlich mehr mit Mr Littleton als mit dir zu tun.“ Sie wollte Amelias Hand drücken, aber als sie die Rötungen von Edwards brutalem Griff sah, zog sie Amelias Hand näher zu sich heran. „Meine Güte! Wie ist das passiert?“

Amelia zog die Hand zurück und steckte sie unter das Tuch. Sie sollte diese Gelegenheit nutzen, um Jane alles zu erzählen. Von der Veränderung in Edwards Verhalten und ihren Zweifeln an seinen Motiven. Von dem Heiratsantrag, den sie dem Kapitän gemacht hatte. Von ihrem Schmerz, wenn sie Lucy verlieren würde. Aber die Worte wollten ihr einfach nicht über die Lippen kommen.

Jane drängte sie nicht. „Das muss sehr deprimierend für dich sein. Ich weiß, wie sehr du Lucy liebst. Manchmal geschehen Dinge, die nicht in unserer Hand liegen. Aber Gott hat einen Plan, Liebste. Er hat einen Plan für dich und für Lucy.“

Amelia schüttelte schluchzend den Kopf. „Das glaube ich nicht. Wie könnte das sein? Glaubst du wirklich, Gott will ein Kind von dem einzigen Menschen wegholen, der es liebt?“

„Du glaubst, Kapitän Sterling würde Lucy nicht lieben?“

„Wie kann er das?“, erwiderte Amelia. „Er hat sie bis jetzt ja kaum gesehen. Außerdem ist er immer wieder monatelang oder sogar jahrelang weg! Das wusste Katherine. Deshalb musste ich ihr versprechen …“

„An dieser Stelle kommt Vertrauen ins Spiel. Du hast alles getan, was du tun kannst. Du musst fest glauben, dass alles in Gottes Hand liegt. Er wird dich nicht verlassen oder im Stich lassen, Amelia. Und er wird auch Lucy nicht im Stich lassen.“

Amelia sprang von ihrem Sessel hoch und schritt aufgewühlt im Zimmer auf und ab. Sie wollte Jane glauben. Verzweifelt zwang sie sich, auf die Worte ihrer Freundin zu hören. Die Verse, die sie heute Morgen in der Bibel gelesen hatte, schossen ihr wieder durch den Kopf. Aber was wäre, wenn sie Gott vertraute und man ihr Lucy trotzdem wegnahm? Dieses Risiko konnte sie nicht eingehen.

Jane stand auf und kam zu ihr. „Beruhige dich, Liebste. Die Dinge sind vielleicht nicht so aussichtslos, wie du denkst. Der Kapitän ist allem Anschein nach ein ehrbarer Mann, und er scheint auch ein guter Mann zu sein. Ich bin sicher, dass er für vernünftige Argumente zugänglich ist.“ Sie zog ein Spitzentaschentuch aus einer Schublade und reichte es Amelia. „Die Dämmerung wird bald hereinbrechen. Du musst nach Hause gehen und dich ausruhen. Wir werden gemeinsam eine Lösung finden. Vertraust du mir?“

Amelia nickte und ließ sich von Jane in die Arme nehmen.

„Hab Glauben, Liebste“, flüsterte Jane. „Du bist nicht allein.“

* * *

Es war nicht gelogen. Jedenfalls nicht direkt.

Tante Augusta verschränkte die Arme über ihrem üppigen Busen und schaute Amelia finster an. Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne fielen durch das Westfenster des Salons und funkelten auf dem Topasanhänger am Hals ihrer Tante. „Kopfschmerzen?“

Amelia nickte und widerstand dem Drang, den Blick zu senken.

Tante Augusta schüttelte den Kopf. „Ich verstehe wirklich nicht, was in den letzten Tagen in dich gefahren ist. Du bist so launisch wie noch nie. Und so missmutig. Der arme Mr Littleton ist den weiten Weg gekommen, um dich zu sehen, und jetzt soll ich ihm sagen, dass du nicht zum Abendessen erscheinst, weil du Kopfschmerzen hast?“

Amelia faltete wie ein Kind, das gescholten wird, die Hände auf ihrem Rücken. „Wahrscheinlich sind es einfach nur die Nerven.“

Tante Augusta tippte mit ihren langen Fingern auf den hauchdünnen Stoff ihres Ärmels. „Also gut. Auch wenn ich es nicht gut finde, werde ich Mr Littleton dein Bedauern ausdrücken.“ Sie wandte sich zum Gehen, blieb aber auf der Türschwelle noch einmal stehen. „Ich habe nie versucht, deine Mutter zu ersetzen, Amelia. Vielleicht war das falsch. Aber es wäre nachlässig von mir, wenn ich dich nicht daran erinnern würde, was für ein Glück du hast. Es lohnt sich, Mr Littleton zu heiraten. Er hat gute Beziehungen. Du stehst kurz davor, deine Situation zu verbessern. Tu nichts Unbedachtes und gib ihm keinen Anlass zu zweifeln.“

Mit diesen letzten Worten verschwand ihre Tante auf dem Flur.

Amelia hätte fast gelacht. Sie sollte nichts Unbedachtes tun? Sie sollte Edward keinen Anlass geben zu zweifeln?

Sie hatte keine Angst, dass Edward die Verlobung lösen würde. Er würde einen solchen Skandal nicht riskieren. Und er würde sich nicht der Gefahr aussetzen, ihr Vermögen zu verlieren. Aber ihre Tante hatte recht. Ob es Amelia nun gefiel oder nicht, die Zeit wurde knapp. In zwei Monaten war ihr vierundzwanzigster Geburtstag, und wenn sie bis dahin nicht verheiratet war, würde Winterwood an jemand anderen fallen. Zu diesem späten Zeitpunkt blieb ihr keine andere Wahl, als Edward zu heiraten.

Amelia trat an den Schreibtisch und dachte über Janes Rat nach. „Du musst fest glauben, dass alles in Gottes Hand liegt.“ Vertrauen war ihr noch nie leichtgefallen.

Amelia nahm die Bibel ihres Vaters und wollte ihren Psalter holen, aber das kleine Buch lag nicht an seinem gewohnten Platz. Sie tastete weiter hinten in der Schublade, konnte es aber nirgends finden. Vermutlich hatte sie es in ihrem Zimmer gelassen. Sie klemmte sich die Bibel unter den Arm und stieg auf der Dienstbotentreppe in den ersten Stock hinauf.

Die Sonne dieses Tages hatte ihr Zimmer aufgewärmt, und die Wärme lag noch im Raum, obwohl die Nacht hereinbrach. Amelia warf sich auf das hohe Bett und starrte zu dem eleganten Baldachin hinauf, während sie versuchte, die vielen Gedanken und Gefühle zu sortieren, die auf sie einströmten. Alles purzelte wild durcheinander. Deshalb setzte sie sich wieder auf und nahm die Bibel. Die abgegriffenen Seiten fielen von selbst auf, und sie sah im Geiste ihren Vater an seinem Schreibtisch sitzen und über dieselben Verse nachsinnen, die ihr jetzt entgegenschauten.

„Hab Glauben, Liebste.“ Sie versuchte, Janes Worte aus ihrem Kopf zu verdrängen. Aber die Worte kehrten hartnäckig immer wieder zurück.

Hatte sie Gott nicht wiederholt um seine Hilfe gebeten? Entweder hatte er nicht zugehört, oder ihre Bitten interessierten ihn nicht. Sie klappte die Bibel zu. Wie konnte ihr verzweifeltes Bemühen, auf einen Plan zu vertrauen – den es vielleicht gab, vielleicht aber auch nicht –, ihr nur noch mehr Kopfschmerzen bereiten?

Tränen traten in Amelias Augen. Sie hatte jedes Detail berücksichtigt. Aber war sie ihrem Wunsch auch nur einen Schritt näher gekommen? In ihrem Kampf um Kontrolle hatte sich die Schlinge nur noch enger um sie zusammengezogen. Sie war das Kämpfen und Planen müde und wollte Ruhe finden. Sie sehnte sich nach Frieden. Konnte es wirklich so einfach sein? Musste sie einfach nur Gott vertrauen?

Ein Klopfen an der Tür riss sie aus ihren Gedanken. Sie fuhr vom Bett hoch.

„Amelia, ich bin es! Helena.“ Es klopfte wieder. „Mach die Tür auf!“

Amelia rührte sich nicht.

„Was ist nur mit dir los?“ Helenas Stimme klang drängend. „Mr Littleton ist in einer furchtbaren Verfassung. So habe ich ihn noch nie gesehen.“

Amelia drückte sich die Hand auf den Mund und hatte nur den einen Wunsch: dass ihre Cousine sie in Ruhe ließe.

„Amelia? Bist du wach?“ Helena rüttelte am Türgriff. Einige lange, schweigende Sekunden folgten, dann hörte Amelia die gedämpften Geräusche von Helenas Schritten, die sich von der Tür entfernten. Amelia wartete, bis sie sicher war, dass Helena fort war, bevor sie die Vorhänge zuzog. Draußen brauten sich dicke Wolken zusammen. Sie zitterte und war den Tränen nahe.

Ich will dir vertrauen, Gott. Aber ich weiß nicht, wie. Wenn du einen Plan für mich hast, dann zeig ihn mir bitte. Ich schaffe das nicht allein.

* * *

William schenkte sich noch ein Glas Brandy ein und stützte den Arm auf den Kaminsims in der Bibliothek. „Ich sage dir, was du brauchst, Graham. Ein wenig Ablenkung.“

Graham schaute von dem Brief auf, den er gerade schrieb, und runzelte die Stirn. „Nein, was ich brauche, ist ein Kindermädchen für Lucy.“

„Hat sie nicht schon ein Kindermädchen? Diese Irin?“

„Ich kann ja wohl kaum Mrs Dunne einstellen, wenn sie noch eine Anstellung bei Miss Barrett hat. Und ich muss jemanden haben, bevor ich Lucy hierherbringe. Die Situation auf Winterwood Manor wird immer untragbarer.“

William trank einen großen Schluck und schüttelte den Kopf. „Mir war Littleton noch nie sympathisch. Und jetzt ist er mir noch unsympathischer. Dabei hatte ich ernsthaft in Erwägung gezogen, ihm die westlichen Wiesen zu verkaufen.“

Graham zog eine Braue hoch. „Ich glaube, du wärst gut beraten, dich mit diesem Kerl auf keine Geschäfte einzulassen.“

„Damit hast du zweifellos recht.“ William fuhr mit den Fingern über den gewellten Sturz des Kaminsimses, dann stieß er sich davon ab. „Aber um auf die Ablenkung zurückzukommen, von der ich sprach: Jonathan Riley drüben in Wharton Park lädt zu einem Jagdausflug auf seinem Gelände ein. Nichts Extravagantes, nur Männer, die gern den Jagdhunden hinterherreiten und danach Karten spielen und trinken wollen. Ich breche morgen früh auf und werde wahrscheinlich ein paar Tage bleiben. Rileys Jagdgebiet ist nur ungefähr eine Reitstunde entfernt. Komm doch mit.“

Graham dachte über diesen Vorschlag nach. Die Vorstellung, seine Sorgen ein paar Tage zu vergessen, reizte ihn. Aber er hatte einen zu großen Teil seiner Jugend mit „Ablenkungen“ vergeudet. Solche Vergnügungen gehörten der Vergangenheit an, und er hatte nicht die Absicht, sich ihnen neu zu widmen. „Danke, nein. Ich habe einiges zu tun.“

„Wie du meinst. Ich glaube trotzdem, dass es dir guttun würde.“

William sah aus, als wollte er das Zimmer verlassen, aber dann überlegte er es sich anders und ließ sich in einen Sessel fallen. „Natürlich geht es mich nichts an, aber ich finde es eine Schande, dass Miss Barrett Littleton heiratet. Sie liebt Lucy so sehr, dass sie dich wahrscheinlich sogar heiraten würde, nur um das Kind behalten zu können. Wenn Littleton so unehrenhaft ist, wie du behauptest, wäre sie dir dafür wahrscheinlich sogar dankbar.“

Graham starrte William argwöhnisch an. Hatte sein Bruder irgendwie von Miss Barretts Heiratsantrag gehört? Aber William schaute ihn mit unschuldiger Miene an. „Du glaubst, eine Frau würde einen Mann nur wegen eines Kindes heiraten?“

William zuckte die Achseln und legte seinen Stiefel über das andere Bein. „Vielleicht nicht viele Frauen. Aber Miss Barrett ist selbst sehr vermögend. Sie muss sich also keine Sorgen wegen der Dinge machen, die die meisten Frauen motivieren.“ Er strich über seine Jacke. „Ich würde ihr selbst einen Antrag machen, aber ich glaube, in nicht allzu ferner Vergangenheit hatte sie mich als selbstsüchtigen, Unsinn schwätzenden Idioten bezeichnet. Eine solche Ehe wäre nicht unbedingt eine Verbindung, die im Himmel geschlossen wäre.“

Graham schmunzelte. Miss Barrett war wirklich eine Frau, die kein Blatt vor den Mund nahm. Er konnte fast hören, wie sie diese Worte aussprach. „Aber sie ist mit Littleton verlobt, und ich habe nicht die Absicht zu heiraten. Damit ist die Sache also erledigt.“

William schlug sich aufs Knie. „Du bist ein kluger Mann. Ich selbst habe auch nicht die Absicht, mich zu binden. Nun ja, vielleicht wäre das Vermögen, das man durch Frauen wie Miss Barrett bekommt, die Sache wert, aber du hast recht.“ Er stand auf und nahm seinen Reitstock aus der Schreibtischecke. „Ich breche nach dem Frühstück auf, falls du deine Meinung in Bezug auf Wharton ändern solltest.“

„Ich habe nicht die Absicht zu heiraten.“ Seine eigenen Worte hallten in Grahams Kopf wider, als sein Bruder den Raum verlassen hatte. War das die Wahrheit?

Er wollte Lucy auf keinen Fall in einer fragwürdigen Umgebung zurücklassen, wenn er wieder auf sein Schiff zurückmusste. Bis jetzt erwies sich jede Möglichkeit, die er versucht hatte, als unbefriedigend, und er musste sich binnen eines Monats auf seinem Schiff zurückmelden. Der einzige Mensch, dem er im Moment seine Tochter anvertrauen könnte, war Miss Barrett. Und sie hatte ihm ihren Preis genannt.

Graham betrachtete ein Buch, das vor ihm auf dem Schreibtisch lag, ohne es wirklich zu sehen. Amelia Barrett. Die eigensinnige, entschlossene, faszinierende Amelia Barrett. Ihre Leidenschaft war ansteckend, ihre Hingabe bewundernswert. Und der Gedanke, dass Edward Littleton ihr wehtat, gefiel ihm überhaupt nicht.

Er öffnete die Schreibtischschublade, holte ein Blatt Papier heraus und nahm die Feder aus der Halterung. Er war stolz darauf, dass er ein Mann schneller, klarer Entscheidungen war. Wenn er erst einmal einen Entschluss gefasst hatte, ließ er sich davon nicht mehr abbringen.

Er tauchte die Feder in die Tinte und begann zu schreiben.

Liebe Miss Barrett …